Seite:Wilbrandt Einleitung des Herausgebers.pdf/2

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Ich habe mich unterfangen, durch die hier vorliegende gesichtete Auswahl seiner Schriften einen Versuch zu machen, ob dieses Mißgeschick – nicht für ihn, sondern für die Nation – nicht noch heute gutzumachen ist. Die Kühnheit meines Unternehmens fühle ich sehr wohl; denn ich nehme damit eine Verantwortung auf mich, die mir vielleicht keiner der Leser dieses Buches völlig abnehmen wird. Dem einen wird die Auswahl zu ängstlich, zu eng, dem andern noch zu lang und zu breit erscheinen; der dritte würde sie im einzelnen ganz anders gemacht, der vierte nirgends gekürzt oder weggelassen, der fünfte noch ganz anders gekürzt haben. Indessen man ist dazu da, um Verantwortung zu tragen; und meine liebende Verehrung für Lichtenberg, mein Wunsch, meinen Landsleuten zu nützen, gibt mir mehr Kühnheit, als ich irgend brauche.

Die Frage konnte nur sein: was verdient zu leben? was lebt? Ich wollte eine wirkliche Auslese aus dem gesamten Schriftstellerischen (nicht rein gelehrten) Nachlaß des Verfassers machen; nicht eine Anthologie von „Gedanken und Maximen“ – oder „Lichtstrahlen aus seinen Werken“ – wie sie Eduard Grisebach herausgegeben hat, sondern den ganzen Lichtenberg, aber etwa so aus sich herausgeschält, wie er selber, wenn er heute statt meiner hier am Schreibtisch säße, sich wohl herausschälen möchte. Seine eigentliche Stärke liegt ganz ohne Frage in den Aufzeichnungen seiner Gedenk- oder Tagebücher, die nach seinem Tode erschienen; in der unendlichen Verschiedenheit dieser ernsten und heiteren, tiefsinnigen und leichtbeschwingten Gedanken entfaltet sich der ganze Reichtum dieses echten Deutschen, der zugleich Physiker, Astronom, Aesthetiker, Satiriker, Physiognom, Natur- und Menschenforscher, Philosoph und Humorist war. Aus einem so vielfarbigen Chaos (das die ersten Herausgeber nur oberflächlich gesondert hatten) galt es vor allem einen Hausschatz zu gewinnen, wie wir meines Erachtens noch keinen besitzen; ein „Buch der Weisheit und des Witzes“, wie vielleicht auch keines der andern Völker vorzuweisen vermag: denn so tiefem Ernst fehlt gewöhnlich so leichtfüßiger Witz und so unwiderstehlichem Humor fehlt gemeiniglich so edle Weisheit. Meine Aufgabe schien mir zu sein, aus allen