Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/127

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 In der dritten Bodengattung ist uns eine Art von natürlicher Empfänglichkeit für alles, für Gutes und Böses geschildert, bei der es aber dahin ausgeschlagen ist, daß das Böse wuchernd überhand nahm und für das Gute wenig Hoffnung und Möglichkeit übrig ließ. Menschen von dieser Beschaffenheit begegnen einem im Leben nicht selten. Es sind die, welche sich mit den Fröhlichen freuen und mit den Weinenden weinen, aber nicht aus Tugend, sondern weil sie so weich sind, daß sie keinem Eindruck Widerstand leisten können. Am Morgen faßen sie in der Kirche die besten Vorsätze und beweinen ihren Leichtsinn, am Abend spielt ihnen die Welt ihre verführerischen Lieder mit dem gewohnten siegreichen Erfolg. Die Thräne der Andacht und der Jubel der Sinnenfreude sind ihnen gleichverwandt. Sie sind des Hosiannas fähig, wie des Kreuzige. Je nachdem man sie von etwas Gutem oder Bösem ergriffen sieht, kann man sie für Kinder des Lichtes oder der Bosheit halten. Im Grunde aber sind sie doch Kinder der Bosheit und werden auch als solche erfunden. Das Herz ist einmal von Natur böse, es neigt sich zum Bösen immer mehr und lieber und wird davon auch je länger, je mehr beherrscht. Diese Herzensbeschaffenheit ist um so gefährlicher, weil sie dem Menschen so gar viel Anlaß zum Selbstbetrug gibt, wohl noch weit mehr, als die zweite, von der wir gesprochen haben. Nimmt man doch das Gute auch auf! Kennt man doch geistliche Eindrücke! Man hat innere Erfahrungen; man versteht die Rede derer, die ins Labyrinth innerer Wege eingeweiht sind; man kann mitreden, mitklagen und mitwimmern. Es kann kommen, daß man sich andern, vielleicht viel entschiedeneren, redlicheren Christen gleich stellt, daß man doch auch einen gewissen, ja gar einen ziemlich hohen Grad inwendigen Lebens erreicht zu haben glaubt. Ja, man kann sich einbilden, in einem siegreichen Kampf zu stehen und mit dem Apostel Gemeinschaft machen zu dürfen, der gerufen hat: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes!!“ Und doch wühlt inwendig die Wurzel der bösen Saat, senkt sich tief ein, greift weit um sich, wird des Landes mächtig, das Gute erstickt sammt der Liebe dazu, man wird lau, nachsichtsvoll gegen alles Uebel in sich und andern, weitherzig, voller Liebestraum, voll Schonung für Welt und Weltlust, selbst weltförmig und weltlustig, − und je länger je mehr zeigt es sich und tritt es heraus, wie grauenhaft das Böse gesiegt hat, wie hochbedenklich, hochgefährlich es ist, wenn das Herz nicht einfältig und rein ist. Denn das ists, was bei dieser Herzensbeschaffenheit mangelt: Einfalt und Reinigkeit mangelt, − und ohne diese ist Weichheit und Tiefe nur Sündentiefe, nur Ackerland für eine reiche, grausige Aernte der Hölle. − Es ist wahr, diese Herzensbeschaffenheit ist grade die entgegengesetzte von der vorigen, aber beßer ist sie nicht.

 Dagegen die vierte ist gut, aber eben deshalb keine natürliche Beschaffenheit, sondern ein Werk der Gnade. Keine äußere Kruste, kein inwendig verborgener Fels, keine Hingebung zugleich an böse Einflüße ist da. Gottes vorlaufende Gnade, Gottes Beruf und Licht hat da schon eine Wirkung gethan, und wenn nun das Wort kommt mit den Kräften der zukünftigen Welt und in die Seele strömt, da ists, wie wenn der Same in ein bereitetes, wartendes Land niederwallt. Der Same wird aufgenommen; es keimt, sproßt, wächst und reift, wie wenn es sich so schon längst und von selbst verstanden hätte, und der ganze nachfolgende herrliche Zustand, da hundertfältige Frucht die gute Saat belohnt, ist nur ein Beweis, wie auserwählt und gesegnet die Beschaffenheit der Seelen ist, in der man Gottes Wort hört und bewahrt in einem feinen und guten Herzen.

 Da haben wir also viererlei Herzensbeschaffenheit: die erste läßt den Säemann ohne Aernte, die zweite hat nicht lange, die dritte nicht viele Frucht, aber die vierte, die ist reich, die ist fruchtbar. Es ist so, meine Freunde! Das fruchtbare Land ist nur der vierte Theil, und der ist wohl nicht mit der Ruthe abgemeßen, nicht im genauen Verhältnis eines Viertheils zu der ganzen Menschheit. Es ist also das gute Land der unverhältnismäßig kleinere Theil, und es folgt daraus unzweifelig eine Minderzahl derjenigen Seelen, die Frucht bringen fürs ewige Leben. Es sagen so viele andere Bibelstellen dasselbe! Wenn Christus von einem schmalen Wege spricht, den wenige finden, und von einem breiten, auf welchem Unzählige zur Hölle wandern, − wenn Er ausruft: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“: ist es etwas anders? Werden wir nicht aus dem Munde der Wahrheit die gewisse Lehre annehmen und gelten laßen müßen, daß Gottes Wort seiner heiligenden Kraft und Wirkung auf die Mehrzahl der Menschen durch deren eigene Schuld verlustig

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/127&oldid=- (Version vom 28.8.2016)