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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Deshalb werden nun die herbeigebracht, welche an den Zäunen und auf den Landstraßen ihr Leben verbringen, d. i. die Heiden, und denen wird die größte Mühe gewidmet; sie werden nicht bloß gerufen, nicht bloß geführt, sondern genöthigt, zu kommen. Je größer die Unbekanntschaft mit dem Gnadenrathe Gottes, desto dringender die Berufung, das springt in die Augen. Jedoch erweist sich die Gnade nicht bloß in dem Maße dringender, in welchem die Blindheit, die Unwißenheit, der geistliche Mangel größer ist; sondern wir bemerken auch, daß die berufende Gnade Gottes mit der größeren Willigkeit der Berufenen Schritt hält. Die wenigste Mühe der Berufung wird auf die Geladenen gewendet, und sie sind es grade auch, welche dem Rufe am ungescheutesten und undankbarsten widerstreben. Die Zahl gelehrter Juden, welche zum Abendmahl kamen, war am geringsten. Schon zahlreicher waren die andern, geistig weniger bedeutenden Juden, die Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden − und siehe, sie werden ehrenvoll hereingeführt. Die Heiden aber, welche an den Zäunen und auf den Landstraßen der Welt wohnen, kommen in Schaaren, und sie werden mit aller Freundlichkeit und Leutseligkeit hineingenöthigt und der Ruf des Evangeliums ergeht an sie so stark, als wäre es hauptsächlich und vor allen auf sie mit dem ganzen Abendmahle abgesehen gewesen. Je mehr Willigkeit, desto mehr Entgegenkommen und Dringen Gottes. Es wird im Evangelio allen Menschen Gnade angeboten, aber die Kräfte des Evangeliums erfahren die Willigen am meisten, − und um so süßer wird das Evangelium, je lieber es an- und aufgenommen wird.


 Wenn die Berufung Gottes eine gesetzliche wäre, so könnte man sich denken, warum ein Theil der Berufenen nicht kommen mochte. Wer würde zu Gott gerne kommen, wenn sein Ruf mit Hinweisung auf das Gesetz, welches alle übertreten haben und welches deshalb über alle seinen Fluch bringt, geschehen würde? Es würde nicht zu verwundern sein, wenn gar niemand käme. Nun geschieht aber die Berufung Gottes durch das Evangelium, welches für die Vergangenheit Vergebung verkündigt und Freude die Fülle und liebliches Wesen zur Rechten Gottes ewiglich denen verheißt, welche gehorchen mögen. Wie geht nun das zu, daß da ein Mensch nicht willig ist, dem Rufe nachzugehen, der keinem droht und allen Leben und Friede verheißt? Man sollte es nicht für möglich halten, wenn man es nicht alle Tage sähe und erführe. Denn was die Geladenen vom Gehorsam gegen Gottes Ruf abhielt, das hält auch heute noch bei uns, die wir auf das freundlichste genöthigt werden, so gar viele ab. Das Wort des HErrn bewährt sich jetzt wie früher. Der Mensch vergißt sein Ziel, zu welchem er berufen ist, und hat er das vergeßen, ist es ihm entrückt oder gering geworden, dann kann er allerlei Dinge für Zweck und Ziel achten, welche nur Durchgangspunkte und nur Wege oder Mittel zum Ziele genannt werden sollten. Als Gott den Menschen im Paradiese gegen die Anfechtung des Satans sicher stellen wollte, gab er ihm Herrschaft über die Thiere und trug ihm auf das Land im Paradiese zu bauen, − und damit er nicht einsam dem ewigen Leben entgegengienge, gab er ihm eine Gehilfin zu, die ihn wie er sie fördern und niemals hindern sollte. Das ist auch jetzt noch des HErrn Wille. Indem der Mensch sein zeitlich Tagewerk an Vieh und Land vollbringt, stößt sich die Anfechtung; indem er sich mit seinem Weibe verbindet, wird es ihm desto lieblicher, Gott zu dienen; indem seine Seele nach Gottes Willen geringere Werke thut, stählt sie sich zu höheren und größeren, und die Liebe des zweiten Grades zu den Seinen hindert nicht, sondern fördert die Liebe vom ersten Grade, die Liebe zu Gott. Wie schrecklich ist es nun, wenn sich das alles verkehrt, wenn das Zweite zum Ersten, der Durchgangspunkt zum Wohnort und zur Bleibstätte, die Fremde zur Heimath und jedes von Gott verordnete Förderungsmittel zu einem Fallstrick und zur Versuchung wird, in der man fällt. Man soll vor allem und am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten, das andere soll − als unbedeutenderes Lebensgut − zufallen: und nun wird das durch Gottes Gnade zufallende Kleine zur Hauptsache, darüber man das höchste Gut verliert, und um ein Linsengericht verkauft man die Erstgeburt, welche ein Anrecht auf weit aussehende, ewige Verheißungen gibt. Welch eine Täuschung, welch ein Selbstbetrug, welch ein Jammer, ehe man ihn einsieht und fühlt, und vollends wenn man ihn fühlt und einsieht! Und welch eine Leere, welch eine Eitelkeit der Seele, wenn nun Weib und Habe dahin fährt, ein jedes seine Straße, und die arme Seele inne wird, daß sie Gottes Berufung

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 020. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/359&oldid=- (Version vom 1.8.2018)