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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 1. Ein Oberster der Pharisäer lud unsern HErrn am Sabbath zu Gaste und es wurde zugleich veranstaltet, daß der HErr bei Seinem Kommen einen Waßersüchtigen finden mußte. Der Pharisäer und seine übrigen pharisäisch gesinnten Gäste wußten wohl, daß JEsus den Kranken gerne half, − vermutheten auch, ja wußten, daß dem HErrn der Sabbathtag kein Hindernis der Hilfe sein würde. Das wollten sie nun sehen; sehen, ob der gefeierte Rabbi wirklich ein Ketzer sei, denn nach ihrer Gesetzesauslegung war der ein Ketzer, der am Sabbath einen Kranken heilte. − Dagegen kam JEsus − kam mit der Freundlichkeit des Erlösers, mit der Ruhe eines Heiligen Gottes, sah den Waßersüchtigen, fragte: „Ists auch recht auf den Sabbath heilen?“ und gab Seine Antwort durch die That, denn ER „griff ihn an, und heilete ihn und ließ ihn gehen.“

 Da haben wir nun eine doppelte Gesetzauslegung. Die Auslegung des dritten Gebotes, wie sie von den Pharisäern gehegt wurde, hatte den äußern Anschein der Strenge und Heiligkeit: es sollte kein Werk, welcherlei Art es hätte, geschehen, die strengste leibliche Ruhe sollte herrschen. Wenn dann eine sonst lebhafte Stadt, ein sonst bewegtes Haus am Sabbath in tiefster Stille und Feier erschien, − wenn so zu sagen die Geschäfte der Welt, ihr Streit, ihre Unruhe mit dem Einbruch des Sabbaths wie mit einem Zauberschlag vertrieben, wenn sie zu einem Bilde jener Welt, wenigstens wie man sich diese träumte, geworden war, − wenn nur Gottes Wort, Lobgesang und Gebet laut hervortraten; da schien verwirklicht, was geschrieben steht: „Gott, man lobt Dich in der Stille zu Zion“; − das imponirte, das wirkte und man schwur, daß der rechte Gott sei zu Zion.

 Ganz anders erscheint die Gesetzauslegung des HErrn. Seine Jünger reißen am Sabbath Aehren aus, körnen sie mit den Händen aus und eßen. Das war verboten. ER vertheidigt Seine Jünger. Ja, Er erklärt, der Mensch sei nicht um des Sabbaths willen, sondern der Sabbath um des Menschen willen gemacht, − des Menschen Sohn sei ein Herr auch des Sabbaths. − Er thut große, Menschen unmögliche Werke am Sabbath, ER heilt den Waßersüchtigen und läßt ihn gehen. Und das alles thut ER nicht heimlich, sondern öffentlich, wohl wißend, wie sehr ER anstoße, − und wenn man Ihn darüber angreift, spricht ER: „Sein Vater wirke bisher, und ER wirke auch.“ Während bei den Pharisäern kaum ein größeres Gebot, als das vom Sabbath gefunden wurde; geht dem HErrn die Liebe und Barmherzigkeit weit über die feierliche Ruhe und gemüthliche Stille eines Sabbathtages.

 Wer hat nun Recht? Wir antworten, ohne uns zu besinnen: der HErr hat Recht. Ja, ER muß Recht behalten in Seinen Worten und rein bleiben, wenn ER gerichtet wird. Wie sollte der Heilige Gottes irren können? Der Vater hat die ganze Welt an Ihn gewiesen und gesprochen: „Den sollt ihr hören“. Alle Pharisäer der Welt, auf einen Haufen versammelt, verdienen kein Vertrauen, wenn sie anders reden, als ER, da kann ein Kind Richter sein − denn hier brauchts keiner Rechtsgründe. Doch wollen wir ein wenig auf Rechtsgründe weisen − um der Ungläubigen willen, die da gerne glauben möchten. Die strengste Auslegung ist die leichteste, aber auch die ungerechteste und unbarmherzigste. Das Recht ist nicht mehr Recht, wenn es auf die Spitze getrieben wird, sondern es wird zum höchsten Unrecht. Die Pharisäer legten das Gesetz von der Sabbathsruhe aus, als gäbe es sonst keines, − bei Collisionen dieses Gesetzes mit andern war es das entscheidende, sie vergaßen dabei, daß die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist. Sie ließen die Kranken ohne Arzt und die Sterbenden ohne die letzte Unterstützung − und trösteten sich über solche Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit wie über nothwendige Uebel mit dem Bewußtsein, dem Sabbathtag sein Recht widerfahren zu laßen. Aber Barmherzigkeit ist beßer denn Opfer und Sabbathsruhe, und die Liebe ist über alles, sie ist eine Meisterin aller Dinge und vollkommen in ihrem Thun. Die Liebe aber heißt JEsus − das ist klar und die Liebe hat immer recht gegen lieblose, unbarmherzige Auslegungen des Wortes Gottes. Die Liebe heiligt den Sabbath und alle Tage durch Erfüllung des göttlichen Wortes − und behauptet, daß es recht sei, am Sabbath Gutes zu thun.

 Nun ja, sprecht ihr. Aber wie ist denn das Gastmahl des Pharisäers ein Bild der Welt. Das Bild, ja das Urbild der Kirche sehen wir wohl in JEsu; aber wienach sind denn die Pharisäer ein Bild der Welt? Die Welt ist ja eben gar nicht pharisäisch, denn sie unterläßt nicht bloß am Sabbath, wie alle Tage, Barmherzigkeit und Liebe, sondern sie thut

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/443&oldid=- (Version vom 24.7.2016)