Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/476

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 O HErr, verleih, daß von uns allen keiner jemals vor Dir die Sprache führe: „Ich will Dir alles bezahlen.“ Verleih, daß wir alle von Herzensgrund Deine Vergebung suchen und empfangen, auf daß auch wir von unserm Nächsten nicht das strenge Recht suchen, sondern gern und oft vergeben! Ach gib, daß ferner unter uns nicht mehr Väter und Kinder, Brüder und Brüder, Nachbarn und Nachbarn zürnen und sich im Zorn verhärten und also die Religion der Versöhnung schmähen! Gib, gib, o HErr, Demuth, Glauben, Versöhnlichkeit, um JEsu Christi willen! Amen.




Am dreiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Matth. 22, 15–22.
15. Da giengen die Pharisäer hin, und hielten einen Rath, wie sie Ihn fiengen in Seiner Rede; 16. Und sandten zu Ihm ihre Jünger, sammt Herodis Dienern, und sprachen: Meister, wir wißen, daß Du wahrhaftig bist, und lehrest den Weg Gottes recht, und Du fragest nach niemand; denn Du achtest nicht das Ansehen der Menschen. 17. Darum sage uns, was dünket Dich? Ist es recht, daß man dem Kaiser Zins gebe, oder nicht? 18. Da nun JEsus merkte ihre Schalkheit, sprach Er: Ihr Heuchler, was versuchet ihr Mich? 19. Weiset mir die Zinsmünze! Und sie reichten Ihm einen Groschen dar. 20. Und Er sprach zu ihnen: Wes ist das Bild und die Ueberschrift? 21. Sie sprachen zu Ihm: Des Kaisers. Da sprach Er zu ihnen: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! 22. Da sie das höreten, verwunderten sie sich, und ließen Ihn, und giengen davon.

 UNmittelbar vor unserm heutigen Texte steht JEsu Gleichnis von dem hochzeitlichen Kleide. Die in demselben ausgesprochene Wahrheit hatte getroffen und die zuhörenden Pharisäer giengen mit einem Stachel im Herzen von hinnen. Allein was half es ihnen, da sie JEsu Liebe zu ihnen nicht erkannten, da sie sich nicht schuldig geben, nicht bekehren wollten? Wenn man die Wahrheit annimmt, ist sie heilsam und heiligt die Seele; wenn man aber ihrer Führung widersteht, ist man hernach härter und schlimmer als zuvor. Das bewies sich schnell. Die von den Worten JEsu nicht gedemüthigten Pharisäer versammeln sich. Wozu versammeln sie sich? Es wäre gut gewesen, wenn sie mit sich zu Rathe gegangen wären und ihr Herz geprüft hätten: vielleicht hätte sie das Wort des HErrn in der Erinnerung kräftiger erfaßt, als da sie es aus Seinem Munde hörten; aber daran denken sie nicht. Auch stellen sie keine Untersuchung über das Wort JEsu oder über Seinen Wandel an, keine über Seine Werke. Vielleicht hätte sie eine genaue und eingehende Beschauung eines solchen Mannes und Seines Thuns und Laßens auch ein wenig zur Besinnung gebracht. Das geschieht aber auch nicht. Sie sind voraus über ihre eigene Vortrefflichkeit und über das im Reinen, was sie von JEsu zu denken haben. Ohne Abrede und Verhandlung besteht eine gewiße Einigkeit unter ihnen, daß JEsus fallen und ausgetilgt werden solle. Ihre Versammlung und Verhandlung soll bloß Einleitungen zum Gegenstand haben, Einleitungen zum Verderben des HErrn. Sie wollen Ihm Schlingen legen, man will Fragen stellen, die Er entweder nicht beantworten kann oder die Er nach der Kenntnis seiner Denkungs- und Sinnesart, welche sie besitzen, so beantworten muß, daß Ihm das Volk gram wird. Ist nur einmal das gelungen, ist Ihm nur einmal das Volk abwendig gemacht, dann wird es schon kürzere Wege und geradere Mittel zum Ziele geben; für jetzt hat man mit der Einleitung zu schaffen genug. Die Pharisäer mögen nicht wenig Witz und Klugheit aufgewendet haben, bis sie den Rath fanden, der ihnen dann doch so wenig half und auf welchen doch anzuwenden war, was der Prophet spricht: „Beschließet einen Rath und wird nichts daraus.“

 Als endlich der Rath gefunden war, galt es,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/476&oldid=- (Version vom 31.7.2016)