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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Daß Elisabeth, daß Maria Werkzeuge in Gottes Hand zu großen und heiligen Zwecken gewesen sind, geben alle zu, welche auf den Christennamen Anspruch machen. Dagegen ist es auch für solche, die von der herrschenden Geringschätzung der heiligen Personen nicht angesteckt sind, überraschend, an Elisabeth und Maria das wahrzunehmen, was unser heutiges Evangelium wahrzunehmen gibt. So wie sich nemlich die beiden Frauen im Hause Zachariä begegnen, kommt über sie der Heilige Geist − und des Geistes voll spricht Elisabeth ihre herrliche Antwort auf Maria’s Gruß − und Maria an ihrem Theil antwortet hinwiederum mit einem Lobgesang, den ihr nur Gottes Geist gelehrt haben kann. − Elisabeth erscheint dabei ganz in der mächtigen, strömenden Begeisterung, welche wir an den Propheten des Alten Testamentes begegnen; etwas von der Art ihres Sohnes, den sie unter dem Herzen trug und der voll Freuden und lebensvoll im Mutterleibe hüpfte, als Maria grüßte, ist an ihr zu spüren, etwas Mächtiges, was bei dem Alter ihres Leibes desto jugendlicher, aber auch desto ungewohnter auffällt. Anderer Art sehen wir die jugendliche Gottesmagd, die heilige Jungfrau. Auch an ihr erscheint nichts weichliches und weibisches; im Gegentheil sind alle ihre Worte lauter Zeugnisse einer in Einfalt starken, hohen, großen Seele; dennoch aber ist alles so weiblichmilde, jungfräulich, ruhig, klar und stille, daß man an die Worte: „Gott man lobt Dich in der Stille zu Zion“ erinnert werden könnte. In ihr steht das Neue Testament dem Alten gegenüber, die Ruhe und Klarheit des seligsten Besitzes gegenüber dem Drange und dem siegenden Verlangen der Heiligen, die nach langem Harren endlich mit vollen Segeln der Erfüllung aller Verheißung entgegenziehen. − Mariens Lobgesang ist ganz von dem Bewußtsein der größten Mutterschaft durchdrungen und getragen; aber was sie sagt, und was sie verschweigt: die heiligste Schönheit und Schicklichkeit ist über ihr Verhalten ausgegoßen − jungfräulich hehr verkündigt sie ihr einziges, hohes Glück. Anders Elisabeth. Auch hier die schönste Schicklichkeit, aber eine Schicklichkeit, wie sie der Gattin, der Greisin geziemt, die auf Wunderwegen und doch natürlicher Weise Mutter geworden. Sie verkündigt jubilierend die Mutterschaft Mariens frank und frei − und eben so die ihre, die sie bei dem wunderbaren, prophetischen Geiste, der ihre Leibesfrucht bewegt, nun grade mächtig faßt und seliglich erfährt.

 Jedoch, meine Lieben, treten wir näher, betrachten wir den Inhalt deßen, was Elisabeth weißagt, was Maria singt.

 Laut ruft Elisabeth, wie St. Lucas Zeugnis gibt, − laut ruft sie und spricht: „Gebenedeit bist du unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes!“. Redet sie nicht, wie wenn sie in Nazareth bei der Verkündigung gewesen wäre, wie wenn sie den Engel gehört hätte? Wie aus seinem Munde genommen klingen die Worte, denn auch er hat ja Marien die Gebenedeite unter den Weibern genannt. Diese Aehnlichkeit, ja Gleichheit der Worte, deutet auf Eine Quelle, aus der beide schöpften, der Engel und die prophetische Seele Elisabeths, nemlich auf die Quelle des Heiligen Geistes, der Engeln und Propheten Licht und Wahrheit gibt. Eine Prophetin ist Elisabeth, die Prophetenmutter, das sehen wir hier, das sehen wir im Verfolg ihrer Rede. Wie schön und voll demüthiger Hingebung aber ist zugleich diese hohe prophetische Rede! Wie erquickt sie nicht allein durch die Erkenntnis der Würde Mariens und ihrer Leibesfrucht, sondern auch durch die fröhliche Unterordnung ihres gesammten, hohen Glückes und Berufes unter Mariens Glück und Beruf! Auch sie, auch Elisabeth könnte eine Gebenedeite genannt werden, auch ihre Leibesfrucht eine gebenedeite Frucht; aber vor Marien verschwindet sie selbst, vor ihrer Leibesfrucht ihr Johannes. Voll seliger Beugung gibt sie Marien die Ehre.

 Ganz dieselbe Gesinnung zeigt sich auch in dem nächsten 43. Verse. „Woher, ruft sie, woher kommt mir das, daß die Mutter meines HErrn zu mir kommt? Siehe, da ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte vor Freuden das Kind in meinem Leibe.“ − Meine theuern Freunde. Niemand wird leugnen, daß Elisabeth durch den Stand und Beruf ihres Mannes, durch ihre Trefflichkeit und ihre Jahre eine sehr achtungswerthe Stellung in Juda einnahm. Eben so wenig wird sich jemand, der ein Christ heißt, weigern, ihr eine ausgezeichnete Stellung im Reiche Gottes zuzuschreiben. Und doch stellt sie Marien so hoch über sich. Die arme Braut des Zimmermanns steht weit über ihr und ihrem Loose. Sie weiß sich’s kaum zu erklären, daß

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/511&oldid=- (Version vom 31.7.2016)