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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
1. Thess. 5, 1–11.

 DIe Erde, sagt man, ist eine Kugel, auf der einen Seite ist Tag, auf der andern ist Nacht. Wechselsweise hat eine Hälfte Tag und die andere Nacht. So ist auch die Welt getheilt in Betracht der Erkenntnis Christi und Seines heiligen Worts. Der eine Theil hat Finsternis, und für den andern ist Tag, nur daß nicht abwechselnd der eine Theil Tag hat, der andere Nacht, sondern der Tag bei den Kindern des Tages bleibt, die Nacht aber wächst und zunimmt bei den Kindern der Finsternis. Die Kinder des Lichtes, welchen der Heilige Geist Erkenntnis Gottes und Seines Christus gegeben hat: sie gehen, sind sie nur treu, von Licht zu Lichte! Aber freilich um treu zu sein, muß man nüchtern sein, wachen und beten. Denn die Kinder der Finsternis bezaubern unsere arme Seele, daß sie nicht mehr weiß, was Finsternis und Licht ist, daß sie anfangs in Dämmerschein und dann in Finsternis, in Blindheit und Verkehrtheit des Sinnes und Urtheils geräth. Die Kinder des Tags sollen nüchtern sein und darum wachen und beten, ja streiten in Glaub und Lieb und Hoffnung wider die Verführung der Finsternis. Selig sollen sie werden durch Den, der für sie gestorben ist; selig werden sollen sie, wenn Er kommt − und weil sie nicht wißen, wann Er kommt, sollen sie immerdar wachen, auf daß sie selig werden. − Wann kommst Du, wann bringst Du ein Ende unsers Tages in der finstern Welt, wann dürfen wir aufhören zu wachen, zu sorgen, zu streiten? Es ist uns bang, daß uns die Nacht umfahe, und unsre Augen sich schließen! − Wir wißen Deine Antwort auf unsre Frage. Du kommst mitten in der Nacht, wenn die Nacht um sich gegriffen und die Kinder des Tags übermocht hat, wenn kein Mensch mehr von Dir und von Deinem Tage spricht und weiß, wenn alle sagen: es ist Friede, es hat keine Fahr! Also wenn Dein Wort nicht mehr helfen will, wenn Dein Licht keine Aufnahme mehr findet, wenn die Menschen Dich und Deine heilige Religion nicht mehr wollen: wenn alles ganz irdisch, weltlich, sündlich wird − und man es für Weisheit hält, so zu sein und zu werden: dann kommst Du! − Kommst Du bald? Es ist finster, es wird finster und finsterer umher. Kommst Du bald? − O HErr, es sei daß Du eher zu mir kommst, oder ich eher zu Dir; wie es werde und gehe mit Deinem jüngsten Tage und meinem Leben, das Eine laß mir, daß meine Seele an Deinem Worte, Deinem Lichte hange und die Straße finde, die zum ewigen Leben führt. Das Licht des Lebens schenke mir; im Finstern, in Unkenntnis Deiner und Deines Weges, laß mich nicht wandeln, − und mein Licht verlösche mir nicht mitten in der Finsternis! Licht, o HErr, Licht am Abend, Licht in der Mitternacht, − Licht am Lebensabend, − Licht, wenn Dein Tag kommt, schenke mir nach Deiner Gnade! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/554&oldid=- (Version vom 1.8.2018)