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geblieben. Noch singt Steinacker beim Konzert nur seine Tenorarien; aber die Wendung des Geschmacks, die das Volkslied allmählich auch wieder in die Geselligkeit der bürgerlichen Klassen einführte, bahnt sich in Männern wie ihm schon an.

Berlin-Pankow.


Kritisches zur vergleichenden Märchenforschung.
Von August von Löwis of Menar.

Die historisch-geographische, vergleichende Märchenforschung, deren Methode nach ihrem Erfinder und ihren Hauptvertretern auch den Ehrennamen der finnischen trägt, hat jüngst in Antti Aarne ihren berufenen Darsteller gefunden. Sein ‘Leitfaden[1] ist eine vortreffliche Einführung in das wogende Leben der Märchen; denn Aarne geht besonnen zu Werke, stellt sich allenthalben auf den verlässlichen Grund der Tatsachen und vermeidet dadurch Hypothesen. Die Darlegung ist kristallklar, gleich dem Meerwasser der finnischen Schären, vielleicht hier und da von spröder Härte, dem heimatlichen Granit nicht unähnlich, immer aber zeichnet sie sich durch eine ruhige, selbstverständliche Sicherheit aus, die den zwingenden Ergebnissen des als wahr Erkannten entspringt.

Soll sich daher die Kritik mit dieser im Positiven so zuverlässigen Methode beschäftigen, so wird sie im allgemeinen weniger auf Behauptungen, als auf Übersehenes oder Übergangenes zu achten haben. Die Mährchenforschung ist aber trotz ihrer Jugend doch schon so reich und stark an inneren und äusseren Beziehungen geworden, dass es nicht zum Verwundern ist, wenn auch Aarnes Einführung Lücken aufweist, die man gerne ausgefüllt sähe.

Es darf vor allem nicht vergessen werden: Julius Krohn gab der Methode die erste Anwendung, und zwar ausschliesslich auf die Kalevalalieder, Kaarle Krohn folgte mit den Tiermärchen, und erst Aarne untersuchte mit ihrer Hilfe die sogenannten Zaubermärchen. In diesen Tatsachen liegt unleugbar eine Entwicklung und ein Fortschritt, aber hat man jeweils immer die gebührende Rücksicht auf die zu untersuchenden Texte genommen? Müssen nicht die langen, zusammengesetzten Märchen anders behandelt werden als kurze Tiergeschichten oder Lieder? Seiner festen Form wegen bietet das Lied Veränderungen gegenüber den stärksten Widerstand und lässt der individuellen Betätigung des Vortragenden


  1. Vgl. Boltes Anzeige, oben 24, 330.
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_154.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)