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und ursprünglichen Bedeutung werden nicht oft nach ihrem vollen Werte eingeschätzt. Die finnische Methode erzielt schöne Ergebnisse, wo ihr eine Fülle von Material zu Gebote steht, und eine geschickte Auswahl des Stoffes hat gezeigt, wieviel sie unter günstigen Verhältnissen zu leisten vermag. Anders aber läge es bei den seltener belegten Märchen, wie etwa Dornröschen, Falada, den Brünhildmärchen oder bei solchen legenden- und sagenhaften Geschichten, die nur in wenigen, zerstreuten Fassungen vorliegen. Käme man da weit, wenn man sich auf das Gerippe der Erzählung beschränken wollte, ohne des Fleisches und der Muskeln zu achten, die über den Knochen liegen? Hier dürfte die Methode, die sich auf die Masse eines Materials stützen muss, versagen und könnte nur dann zu befriedigenden Ergebnissen gelangen, wenn sie sich fester, als es sonst geschieht, auf die bewährten Grundsätze der philologisch-historischen Forschung stützte.

Alles hier Berührte hängt nun mit den Zielen zusammen, die sich die vergleichende Forschung nicht ohne starke Einseitigkeit stellt: Rekonstruktion der Urform, Feststellung der Heimat, der Wanderwege und der Entstehungszeit. Dass darüber hinaus die wichtigsten Aufgaben noch ihrer Lösung harren, wird keineswegs verkannt, und es ist daher anzunehmen, dass die Äusserung Kaarle Krohns: „Erst danach beginnt eigentlich die Märchenforschung,“ nicht scherzhaft, sondern ernst gemeint war[1]. Sind aber alle diese Aufgaben wirklich nur der künftigen Forschung zu überlassen, wie Aarne meint? Ist nichts aus ihnen geeignet, die Methode, so wie sie jetzt angewendet wird, zu befruchten?

Gerade Aarnes ältere Untersuchungen – die neueren weisen auch darin einen entschiedenen Fortschritt auf – zeigen deutlich, wie die vergleichende Methode sich ärmlicher gibt, als sie sollte und brauchte. So ist es zweifellos richtig, dass jedes Märchen eine Erzählung von ursprünglich fester, bestimmter Komposition ist, die nur einmal an bestimmter Stelle und zu bestimmter Zeit vollzogen wurde, denn erst nach Erlangung dieser festen Form darf die Erzählung als ein Märchen betrachtet werden[2]. Die Motivforschung aber, die Aarne ganz beiseite schiebt, wird dadurch keineswegs überflüssig, denn nur mit ihrer Hilfe kann die Vorgeschichte des Märchens aufgehellt werden. Nicht durch willkürliche Mischung einzelner selbständiger Motive sind die Märchen gebildet, das behauptet heute kein ernst zu nehmender Forscher mehr, wohl aber schöpften die Dichter, die unter dem Zwang eines Unterhaltungsbedürfnisses standen, das nach bestimmter Richtung hin orientiert war, aus einem Vorrat primitiveren Erzählguts, das unter dem Volk umlief. Von ‘uralten’ Motiven möchte man freilich mit Aarne nur ungern sprechen, denn nur die Vorstellungen,


  1. Aarne, Leitfaden S. 56.
  2. Aarne, Leitfaden S. 12 geht über diesen entscheidenden Punkt mit Stillschweigen hinweg.
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_156.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)