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Schon die häufigen Epitheta zeigen jedoch, dass ein bestimmter, auffallender Vogel für die Urform vorauszusetzen ist. Von besonderem Gewicht aber sind die Fassungen der Länder, die der mutmasslichen Heimat des Märchens am nächsten liegen, sie nennen den Papagei. Es liegt infolgedessen nicht der geringste Grund dafür vor, zu bezweifeln, dass die Urform gerade diesen bunten Vogel gekannt habe, der begreiflicherweise in anderen Gegenden durch einen bekannteren, einheimischen ersetzt worden ist. Dazu kommt noch eine andere Erwägung. Die Forschungen van Genneps[1], denen auch Vierkandt in seiner gehaltvollen Besprechung beistimmt[2], zeigen, dass Lokalisierung und Individualisierung (entgegen Wundt) die frühesten Stadien einer Erzählung kennzeichnen, und dass die egozentrische und überhaupt konkrete Auffassung und die Gebundenheit der Phantasie auf einer primitiveren Stufe der Entwicklung zu finden sind als die abstrakte Anschauung und jenes undefinierbare und so oft missbrauchte ‘freie Spiel der Phantasie’.

Die Märchenforschung hat allen Grund, dieser Ansicht van Genneps beizupflichten. Geht man von den jungen Aufzeichnungen in Westeuropa zu denen im Osten über, die unzweifelhaft auf einer im Stofflichen wie Formalen altertümlicheren Stufe stehen, so merkt man deutlich, wie die allgemeine Gebundenheit und die konkreten Beziehungen zunehmen[3]. Ähnlich verhält sichs beim chronologischen Vorgehn. Die älteren Aufzeichnungen, besonders auch die orientalischen sind in ihrem ganzen Habitus ungemein erdenhaft, realistisch und voll von individuellen Zügen, wie z. B. die häufigen Orts- und Personennamen es deutlich zeigen. Das ältere, literarische Märchen ist in diesem Punkt primitiver, es liebt noch die genaue Bestimmung, will noch den Eindruck des Glaubhaften machen und führt darum den Hörer gern zu bekannten Orten und zu Menschen, die ihm vertraut sind. Es hat noch nicht den Drang in das Reich der ungebundenen Phantasie und ist noch nicht erstarrt im Typischen, Formelhaften und Allgemeinen.

Die erwähnten indischen Märchen stehn also in ihrer Angabe über den Papagei ebenfalls noch auf einer älteren Stufe, als die zahlreichen Fassungen, die nur unbestimmt von einem Vogel sprechen; es ist daher auch aus diesem Grunde wahrscheinlich, dass die Urform den buntfarbigen, schon von der Natur als etwas Besonderes gekennzeichneten Vogel gekannt habe, der sich auch äusserlich zur Rolle eines Zaubervogels eignete.

Eine ähnliche Lücke lässt Aarne in der Urform des Märchens vom Zauberring. Es bleibt völlig ungewiss, wer eigentlich der Dieb des


  1. La Formation des Légendes, Paris 1910, vgl. besonders livre 1.
  2. Psychologische Grundfragen der Mythenforschung, Archiv f. d. gesamte Psychologie 23, Heft 1 u. 2.
  3. Für ein Teilgebiet vgl. Verfasser, Der Held im deutschen und russischen Märchen, Jena 1912.
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_160.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)