Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze/Kapitel 2

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II.
Weib, siehe, das ist dein Sohn.
Siehe, das ist deine Mutter.


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Joh. 19, 25–27.
25. Es stunden aber bei dem Kreuze JEsu seine Mutter, und Seiner Mutter Schwester, Maria, Cleophas Weib, und Maria Magdalena. 26. Da nun JEsus Seine Mutter sahe, und den Jünger dabei stehen, den er lieb hatte, spricht er zu Seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn. 27. Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter. Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
 Das erste Wort JEsu vom Kreuze betraf Seine Feinde, deren Andenken sich Ihm durch die schweren Leiden aufdrängte, welche sie Ihm auferlegten. Sein zweites Wort betrifft die Seinen, und ist an sie gerichtet, an Seine Mutter, an den Jünger Johannes. Sie nahten Ihm in den sechs letzten Stunden so leiblich nicht wie die Feinde, die Ihn kreuzigten und Ihm Hände und Füße annagelten, aber sie standen Ihm dennoch nahe genug auch dem Leibe nach, und von innen, mit dem Herzen fanden sie den Weg zu Seinem Herzen in ganz anderer Weise, wie die Feinde. Es war nichts nöthiger, als das Gebet für die Feinde, darum ist es auch das Erste, was seine Zunge andern vernehmlich vom Kreuze sprach. Das Zweite aber, was Er selbst für nöthig hielt, war doch das zwiegespaltene wundervolle Wort an die Seinen. Feindesliebe ziemt dem Erlöser der Welt, dem Hohenpriester, zu allererst; aber so wenig wird durch die Wallung Seiner hohenpriesterlichen| Liebe die andere Liebe erstickt, die Er theils mit der Muttermilch eingesogen, theils in einem dreijährigen Umgang groß gezogen hat, die bei Ihm ohnehin durchläutert und durchgeistet ist, wie bei niemand sonst, daß sie im Gegentheil schnell nach der erstgenannten Liebe auf den Plan tritt und ihr Zeugnis ablegt, daß sie auch am Kreuz noch lebt, und mitten in der Heilandsarbeit ihren Platz behauptet. Wie schön ist, meine lieben Brüder, diese Vereinigung der Feindesliebe und der süßen Liebe zu den Angehörigen in Christo JEsu! Als der HErr in Cana Sein erstes Wunder that, und in die Werke Seines Berufes die edelste aller Mütter, die je gewesen, sich durch ihre Fürbitte, sei es auch in der bescheidensten Weise, mengen wollte, da weist sie Sein majestätisches Wort ab und scharf wie Schwertesklang tönt es von Seinen Lippen: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen.“ Nun aber ist es ganz anders. O wie viel mehr als in Cana ist Er jetzt in der Erlösungsarbeit begriffen; auch die hohe reife Seele der Gebenedeiten wird bei aller Tiefe, mit der sie glaubte, doch kaum nach Würden erfaßt und erkannt haben, welch einen Heldengang der Erlösung ihr zitterndes bebendes Kind am Kreuze nun gieng. Was wär’s zu verwundern, wenn sich neben dem großen, wahren, ihr geziemenden heiligen Mitleid auch ein falsches menschliches, irdisches eingemischt hätte, das Er nicht merken durfte, das nicht für Seine Stimmung paßte? Aber siehe, das Gegentheil! Seine Seele und Sein Leib sind nicht so hingenommen von dem Todesleiden und dem Erlösungskampfe, daß nicht Sein Geist die Mutter gesehen und Sein Auge sie bemerkt hätte. Er durchschaut ihr Inneres, Er durchforscht das Mitleid ihres Leibes und ihrer Seele. Mit derselben Hoheit, wie dort zu Cana redet Er| sie an und nennt sie „Weib“. Aber Er sagt nicht, daß sie in ungebührender Weise mit Ihm wolle zu schaffen haben, er macht sich mit ihr zu schaffen und spricht nach der majestätischen Anrede Sohnesworte ohne Gleichen, und in engem Anschluß Worte an den Jünger Johannes, die gleichfalls denkwürdig sind und bleiben bis ans Ende der Tage und bis in Ewigkeit. So geht in Seinen letzten sieben Worten das Gedächtnis Seines Amtes und Seine heilige Familienliebe zusammen, auf daß männiglich erkennen müße, wie mit Seinem Willen die Familie unter dem Kreuze ihre Hütte aufschlägt, Gruß, Wort und Segen von Ihm bekommt. So sehr ich mich nun aber mit euch über diese Vereinigung freue, so darf ich doch nicht bei ihr stehen bleiben, sondern ich muß mich den Worten selbst zuwenden, die der HErr am Kreuz gesprochen, denn sie will ich ja mit euch betrachten, und um dies zu thun, müßen wir uns die Umstände vergegenwärtigen, unter welchen der HErr zu jener Zeit am Kreuze hieng.
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 Die Gesellschaft heiliger Menschen, welche sich durch nichts abhalten ließ, mit nach Golgatha zu gehen und dem HErrn auch noch in Seinem bitteren Leiden an die Seite zu treten, wie sie Ihm von Galiläa dienend und menschlich helfend gefolgt war und sich Sein gefreut hatte und Seines Thuns, – sie bestand, um genau bei der Erzählung des heiligen Johannes zu bleiben, aus Seiner Mutter, aus Seiner Tante Maria, Cleophas Weib, aus Maria Magdalena und aus dem treuen Jünger Johannes. Drei Marien, deren eine jede schon um der Stunden willen, die sie am Kreuz verlebten, den Namen verdient, der von bitterem Wehe seine Deutung nimmt, obschon er unter allen Frauennamen süß und lieblich geworden ist durch die Menschen, die ihn trugen,| stehen am Kreuze. Man könnte über die Vereinigung und über den Unterschied der drei gar vieles denken oder reden. Jedenfalls aber gehören diese Marien zu den Angehörigen JEsu, und ebenso der Jünger Johannes, von den Männern der einzige, der seit der Stunde, da der HErr verrathen ward, aus Seiner Nähe nicht gewichen war. Diese vier müßen so ganz das Gepräge von Angehörigen getragen haben, daß die Wache sie nicht zurückwies, sondern ihnen gestattete, in JEsu Nähe zu verweilen bis ans Ende. Was sie gedacht, was sie gefühlt, wie sie sich benommen haben, davon schweigt die Schrift: vermuthen läßt sich da viel, sagen aber kann man nichts, als was der Geist Gottes geweißagt hat durch Simeon und zwar von Marien der Mutter: „Es wird ein Schwert durch deine Seele dringen,“ – Worte, die selbst wieder nicht bloß einer einfachen Deutung unterliegen. Auf dies Gebiet wollen wir uns auch gar nicht begeben, wir haben es mit den Worten JEsu zu thun. Was Er zu diesem Kreise der Seinen gesprochen hat, das ist Thema der Betrachtung. Da hängt Er, der Schmerzenreiche; das Auge der Mutter muß an Ihm gehangen haben und ebenso Johannis Auge, sonst hätten sie ja das Deutens JEsu nicht verstanden, sonst hätte Er nicht die Mutter auf den Jünger, den Jünger auf die Mutter weisen können. Sein liebevolles, sprechendes, ja deutendes Auge vertritt die angenagelte Hand, mit der er wol sonst die Rede begleitet und deutlich gemacht haben würde. „Weib, spricht Er, siehe,“ und wohin sie sehen soll, das sagt ihr die Wendung Seines Blicks. Auf Johannes schaut Er und sie mit ihm, und Sein Mund spricht: „das ist dein Sohn.“ Johannis Ohr hatte ja die Worte JEsu vernommen, desto mehr ruhte sein Aug auf Ihm, dem| HErrn, desto gehorsamer folgte es dem Blicke JEsu, desto tiefer verstand sein Herz, auch ohne daß er mit Namen genannt wurde, die Rede Deßen, der Seine Kleider den Kriegsknechten ohne Bemerken überließ, nun aber mit ernsten Worten seine leztwillige Verfügung traf und sprach: „Siehe, das ist deine Mutter.“ Dieß Doppelwort grünt und blüht um’s Kreuz und macht den Gekreuzigten zu einem Liebling der Menschheit. Wer unter heißen Todesschmerzen, an einem Kreuze hangend, so sprechen kann und handeln, Dem gegenüber kann man, wenn man weiter nichts von ihm weiß, wohl erst überlegen, ob und wie sehr man ihn verehren soll, aber die Liebe der Menschen, die das sehen und hören und lesen und sich vergegenwärtigen, bleibt sein gewisses Theil. Wir aber dürfen dabei nicht einmal stehen bleiben, uns führt der Weg der Betrachtung weiter. Nachdem ich euch auf diese Weise die Umstände des zweiten Wortes vom Kreuze vergegenwärtigt habe, will ich euch sagen und erklären,
wovon diese Worte Zeugnis geben.
 Indem ich bei Beantwortung der von mir aufgestellten Frage stufenaufwärts gehe von dem, was die mindere Bedeutung hat, zu dem, was die höhere, sage ich zuerst: Seine Worte geben Zeugnis von dem ungebrochenen Frieden Seines Gewißens. Die Menschen haben Ihn unter die Uebelthäter gerechnet, Er aber nennt ohne Wanken den, zu welchem Er betet, schon im ersten Seiner Worte vom Kreuz Seinen Vater. Auch der Hohn derer, die feindlich um Sein Kreuz hergehen und spotten, ihre ungerechten Vorwürfe und Lästerungen vermögen Ihn nicht, den Seinen gegenüber eine zweifelnde Haltung anzunehmen. Mit dem vollen Frieden des guten Gewißens wendet Er sich unbekümmert| um die Oeffentlichkeit, in welcher Er nun alles thun und reden muß, Seiner Mutter zu, ohne daß irgend ein Wort aus Seinem Munde kommt, das von Anfechtung des Gewißens Zeugnis gäbe. Zwar wäre es nicht unmöglich, daß der Versucher es gewagt hätte, dem Reinen, Heiligen und Unbefleckten unter den schweren Leiden, welche Er nun zu erdulden hatte, auch Seine Wege und Werke als tadelhaft und verfehlt hinzustellen, und das „warum, warum hast Du mich verlaßen,“ welches später Seinem Munde entflieht, gestattete für eine solche Versuchung Raum, sie anzunehmen. Aber ob der HErr, den niemand einer Sünde zeihen konnte, und Deßen Bewußtsein allezeit unbefleckt blieb, irgend einmal für solche Versuchung empfänglich war, ob sie an Seiner Seele haftete, das ist und bleibt dennoch eine andere Frage. Jedenfalls erscheint auf der Stufe des Leidens, auf welcher der HErr beim Ausspruch Seines zweiten Wortes am Kreuze stand, noch keine Spur von einer solchen Anfechtung; die volle Ruhe Seiner reinen und ungetrübten Seele war, so zu sagen, die Grundlage, auf welcher Er sich bei Seinem Worte an die Seinen ergieng. Er weiß, was Er vorhat; ganz Seiner HErr und mit der Majestät des Heiligen Gottes bestellt Er Sein Haus. Er erscheint hier wie später in jener sittlichen Erhabenheit, welche dem Hauptmann am Kreuze Glauben und Bewunderung abgenöthigt hat. Alles ist an Ihm untadelig. All Sein Thun gibt Zeugnis von Seiner Sündenreinheit, ebenso all Seine Leiden und die Art, wie Er sie trägt. Und so ist auch das Wort, von dem wir reden, das zweite des HErrn vom Kreuze, dem sehenden Auge und hörenden Ohre ein Zeugnis der Lauterkeit und Reinheit| JEsu. So handelt niemand, so spricht niemand, der einen Bann oder Stachel im Gewißen hat.
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 Doch mag man immer sagen, daß man gerade in diesen Worten JEsu weniger Seine Unschuld und sittliche Reinheit, als anderes suchen und finden müße, und wir wollen auch nichts behauptet haben, als nur das eine, daß dem sehenden Auge auch bei diesem Worte, die Herrlichkeit und Unschuld JEsu erscheinen kann. Dagegen aber dürfen wir bereits in höherem Maße betonen und in dem Worte JEsu ausgesprochen finden ein starkes Zeugnis von der ungebrochenen Macht des Gekreuzigten auf die Seinen und über sie. Oder ist es nicht wahr, daß Er mit dem Worte: „Weib, siehe, das ist dein Sohn,“ über Seine Mutter und deren noch übriges Leben schaltet? Und ist es nicht ebenso wahr, daß er mit den Worten: „Siehe, das ist deine Mutter,“ über den Jünger Johannes eine Macht ausübt, die sich auf deßen Kraft und Zeit und alle seine Verhältnisse ausdehnt? Das Testament vom Kreuze konnte unnöthig und hinderlich erscheinen. Die Mutter Maria war ja nach JEsu Tode nicht ganz und gar verlaßen: stand doch Maria Cleophä, ihre Schwester, mit ihr theilnehmend am Kreuze; war doch ihre andere Schwester Salome gleichfalls unter den Frauen, die nicht ferne waren. Da hätte sich ja Maria, die Mutter JEsu, zu ihren Schwestern halten können, anstatt zu Johannes, der, wenn auch selbst ihr Schwestersohn und also naher Verwandter, dennoch ein thatkräftiger Mann und ein Apostel war, der durch Annahme einer Mutter in seinem Beruf und Laufe gehindert werden konnte. Ebenso übernahm ja auch Johannes nicht bloß den Namen eines Sohnes, sondern die Pflichten und die Aufopferung eines Sohnes,| er konnte den Auftrag JEsu vom Kreuze nicht anders verstehen, und verstand ihn auch nicht anders, wie er denn selbst in unserem Texte bezeugt, daß er Maria von jener Stunde an zu sich und in sein Eigenes genommen habe. So traten also Maria und Johannes von der Stunde an trotz möglicher Einwendungen auf das Wort JEsu hin äußerlich und ohne Zweifel auch innerlich in ein Verhältnis, wie es das vierte Gebot bedingt, und wie man mit Rücksicht auf die Umstände sagen kann, in ein einziges Verhältnis ohne Gleichen. Denn es gab ja keine Mutter und gibt keine und wird keine geben, der man, sei es den Verlust oder den Gewinn eines Sohnes, wie Marien zuschreiben könnte, und ebenso hat es nie einen Adoptivsohn gegeben, noch kann es einen geben, dem eine solche Frau als Mutter zugewiesen würde und der so gestaltete Kindespflichten zu übernehmen hätte. Bei dem eingehenden Gehorsam beider in den letzten Willen des HErrn am Kreuze ist es gewis vollkommen offenbar, daß JEsus Christus, auch in jenen Stunden der höchsten Noth und der Anfechtung der Seinen, dennoch im vollen Besitze ihres Vertrauens und in der vollen Macht über ihre Seelen sich wußte und erwies. Was der Teufel der Gebenedeiten und dem Jünger Johannes in die Seele raunen mochte, um sie anzufechten, in welchem inneren Zustande beide gewesen sein mögen, es ist doch aus dem augenblicklichen Gehorsam beider offenbar, daß sie JEsu, auch da Er am Kreuze hieng, ihre Seelen, ihr Leben und ihre ganze Zukunft vertrauten und Ihm einen Gehorsam weihten, der über Sein irdisches Lebensziel hinaus gieng. Damit stehen wir auf der zweiten Sproße der Leiter, die ihr an meiner Hand zur Verehrung eures HErrn am Kreuze| emporsteigen sollt. Er ist ein Reiner und Lauterer, das sahen wir, und in Seiner Reinheit und Lauterkeit ist Er ein Mächtiger, ein König der Seelen und zwar der edelsten, der Seelen Marien und Johannis.
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 Mit dem bereits Gesagten haben wir jedoch noch nicht angedeutet, geschweige dargelegt, wie vortrefflich die letztwillige Verordnung JEsu Christi gewesen ist. Es ist ja schon etwas Außerordentliches, daß der HErr in solcher Noth für die Seinen sorgt, und nicht alle Gedanken und Kräfte Seiner Seele in Erduldung Seiner Leiden aufgehen. Selbstvergeßen darf man Ihn nicht nennen, denn damit würde man Ihn nicht ehren, sondern unehren: was Er zu dulden und zu leisten hatte, durfte nicht einen Augenblick aus Seinem Gedächtnis, aus seinem Bewußtsein, aus Seinem Gefühle treten, und konnte es auch nicht, denn Er duldete Versöhnungsleiden für die ganze Welt. Aber eben das ist das große und wunderbare Ding, daß Er so ganz ergriffen war von Seinen Leiden, und dennoch für die Seinen nicht bloß dachte und sorgte, sondern so dachte und sorgte, daß Er ein eben so nachahmungswerthes als unerreichbares Vorbild für alle wurde, die in ihrem Tode für die Ihrigen sorgen wollen. Warum ordnet der HErr etwas an, warum überläßt Er die Mutter nicht ihren theuren und getreuen Schwestern, in deren Kreis ja auch Johannes, sein Jünger, war? Wenn Er sie Johannes übergibt, übergibt Er sie, äußerlich genommen, derselben Familie; immer dieselben Menschen müßen Seine Mutter versorgen. Aber es ist Ihm eben auch nicht um die pur äußerliche Versorgung zu thun, es gilt hier höhere Zwecke. Seine Mutter steht Ihm hoch; Er kennt sie und weiß, was für ein Entwöhnen und Entbehren es für sie gilt, da gibt| Er ihr einen Ersatz, wie Er ihn nur geben kann, und legt sie ans Herz dessen, der selbst beim Abendmahle an Seiner Brust gelegen war und den Er vorhatte, an Pfingsten so recht nach Seinem eignen Bilde zu begaben und zu verklären. Da hatte denn Seine Mutter nach Ihm den besten Sohn, den die Erde zu bieten vermochte, dazu Seinen treuesten Jünger und innigsten Verehrer und Anbeter. Sie lebte damit in der möglichst ähnlichsten, geistlichen Athmosphäre fort, und ihr schmerzenreicher, entbehrungsvoller Gang bis zu ihrer sehnsuchtsvoll erwarteten Heimfahrtsstunde war ihr damit versüßt, so viel es sein konnte. Sie war damit den Schwestern nicht entnommen, aber ihr Neffe wurde dadurch zu ihrem Sohne, und der Auftrag JEsu, Sohn Seiner Mutter zu sein, schuf und erschloß in seiner Brust eine kindliche Liebe, die er ohne den Befehl JEsu weder gefunden noch gewagt hätte. – Zugleich aber auch, was für eine Freundschaft erwies der HErr Seinem Freunde Johannes in dem Auftrag: Maria, die arme, bedürfnislose in Leid und Entbehrung geübte, konnte ja dem Jünger keine Last sein. Ihre leibliche Versorgung war dem Sohne Zebedäi ein Leichtes. Dagegen aber was für einen Schatz an Erlebnis, Erfahrung, Erkenntnis und Weisheit, was für eine reiche Quelle der seligsten Erinnerungen an JEsu Leben, was für ein unerschöpfliches Buch der heiligsten Geschichte in getreuester Auffaßung und herrlichster Darlegung, was für ein Förderungsmittel seines inneren Lebens, seines Wirkens, seines Apostolates bekam Johannes an der hochverehrten Mutter Maria. Wenn man sie glücklich preisen muß, nach JEsu doch wenigstens Johannem als Sohn zu besitzen, so könnte man ihn, den Jünger Johannes, diesen überglücklichen, der einen großen| Theil seiner Lebenszeit in der innigsten und nächsten Gemeinschaft mit dem HErrn und Seiner Mutter, mit dem ersten Manne und dem ersten Weibe im Himmel und auf Erden zubringen durfte, um dies Loos beneiden, wenn anders der Neid hier nicht ebenso große Thorheit als Bosheit wäre. Wahrlich, eine solche letztwillige Verfügung konnte nur Der am Kreuze machen und sonst niemand: Er ist allewege vollkommen, auch in Seinem Testament. Und wahrlich, man kann in diesen unseren Textesworten die Macht JEsu über die Seinen, von der wir geredet haben, begreiflich finden, weil Er sie, wie es am Tage ist, auf eine Weise anwendete, die schon allein hinreicht, alles Vertrauen und alle Ergebung zu rechtfertigen, mit welcher sich Ihm, auch in Seinem Sterben, Maria und Johannes ergaben.
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 Doch laßt uns einmal unsere Worte auch als eigentlichen Passionstext faßen und versuchen, die Frage zu lösen, ob sie auch ein Zeugnis des fortschreitenden Leidens JEsu seien. Ein Fortschritt des thätigen Gehorsams JEsu liegt allerdings in ihnen, denn wie hat Er das vierte Gebot und Freundestreue erfüllt, indem Er der Mutter diesen Sohn und Johannes diese Mutter gab! Wie aber zeigt sich in ihnen der leidende Gehorsam des HErrn? Ein kurzes Nachdenken führt dich, mein lieber Bruder, dahin, es wahrscheinlich, ein etwas tiefer eingehendes, es unleugbar und gewis zu finden, daß ein mächtiger Fortschritt des Leidensganges JEsu in Seinem zweiten Worte vom Kreuze geoffenbaret ist. Wir haben den Ausdruck gebraucht, der HErr mache in den Worten Sein Testament; wer aber das thut, der ergibt sich ins Sterben. Noch stirbt der HErr nicht, noch übergibt| er Seine Seele dem Vater nicht, neigt noch nicht Sein Haupt; aber man sieht, er ist entschloßen, es zu thun. Er hängt nicht etwa in der Schwebe zwischen Lebenshoffnung und Todesfurcht; eher denken die Priester und die Pharisäer unten am Kreuze daran, daß Er mit Händen und Füßen die Nägel wegwerfen und vom Kreuze herabsteigen könnte, als daß Er diese Möglichkeit noch setzte. Nein, Er geht unaufhaltsam, mit aller Sicherheit dem Tode entgegen, deshalb versorgt er die Seinen. Er wußte ja wohl, daß Er Seiner Mutter und Johanni auch nach diesem Erdenleben, im Leibe der Auferstehung nahen könnte und nahen würde, und daß nun auf die Gemeinschaft, die Er bisher mit den Seinen gepflogen, eine andere folgen würde, welche in jeder Beziehung der ersteren vorzuziehen war; aber Er ist auch so ganz ein wahrer Mensch, und auch Sein Leiden und Sterben ist so vollkommen unser Leiden und Sterben, daß der Blick in das Jenseits voll Herrlichkeit, den Er überschwänglich hatte, das tiefinnere Weh nicht aufheben konnte, welches ein jeder Mensch bei der Lösung der irdischen Bande und beim Abschied von allem Zeitlichen empfindet. Eher könnten wir annehmen, daß wir, abgestumpft durch Sünde und Sündenfolgen, als daß Er über die Schmerzen des Abschiedes mit leichtem Fuße hinweggehen konnte. Ich weiß, was ich sage und was man einwenden kann. Auch ich habe in den Acten der Blutzeugen des HErrn von deren bewundernswürdiger Todesfreudigkeit gelesen, und wie sie den Tod nicht geschmeckt haben unter dem Zufluß der übernatürlichen Gnade, unter der Labung und Erquickung himmlischer Kräfte. Auch brauche ich mir gar nicht in den Hintergrund drängen zu laßen die sichere Gewisheit, daß der Herzog aller Kämpfer und| Ueberwinder muthiger und stärker als die andern alle gewesen sei; im Gegentheil, Er kämpft für sie alle, unerschütterlich ist Sein Wille, Entschluß und Muth, unüberwindlich Seine Kraft. Aller Märtyrer gesammtes Leiden ist gering gegen das Seine; sie leiden alle in Seiner Kraft, also nicht in eigner; Er aber leidet ganz allein in der Seinigen, und wenn Er auch unbegreiflicherweise im heiligen Geiste Sich Gott geopfert hat, wie geschrieben steht, also am Kreuze wie am Jordan Einfluß des heiligen Geistes hatte, so verstehen wir das doch nicht, und die wunderbare Bemerkung hebt nicht die Gewisheit auf, daß Er, Er allein und nicht der heilige Geist und nicht der Vater der leidende Erlöser der Welt ist, von dem es geschrieben steht, daß Er für alle den Tod schmeckte, ja schmeckte. In der rohen Todesverachtung menschlicher Helden liegt eine Zuflucht ihrer innern Todesfurcht und Verzweiflung; die rohen Worte des Adoni-Beseck: „Also muß man des Todes Bitterkeit vertreiben“, nämlich mit trotzigem Muth, sind fern von dem Helden, der sich in der Zeit der Leiden weder durch einen leiblichen, noch durch einen geistlichen Schlaftrunk betäuben und die Aufgabe kleiner machen läßt, als Er sie hat; schmecken, schmecken, den Tod schmecken, ihn mit allen Fasern Seines Leibes, mit allen Kräften Seiner Seele faßen und inne werden, das will Er, um ihn gründlich, völlig und von Herzen zu überwinden. Eben deshalb glaube ich auch, daß in dem zweiten Worte vom Kreuz nicht bloß ein Zeugnis Seiner Unschuld, Seiner ungebrochenen Macht über die Seelen und Seiner Treue, sondern auch des bitteren Abschiedes liegt, welchen Er von den Seinen nimmt, um dann nach Auflösung aller irdischen Banden sich desto völliger der Aufgabe| hinzugeben, daß Er den Tod erwürge, indem Er sich von ihm würgen läßt. „Weib, siehe, das ist dein Sohn,“ so sagt Er, damit wendet Er sich von ihr, hat Er sich schon von ihr gewendet; schon mit dem ersten Worte „Weib“ statt „süße Mutter“ beweist Er, daß Er sich von ihr losgelöst hat, daß Seine Seele von ihr frei wird, daß die irdisch menschlichen Gefühle ersterben, daß Er arm wird an natürlichem Gefühl, um sich für die Aufnahme anderer, überirdischer Sohnesgefühle zu bereiten und empfänglich zu machen. Nun hört Er auf, die süße Mutterliebe zu genießen, nun verzichtet Er auch auf den Trost, der Ihn und Seinen Geist so tief erfüllt hat, daß Er in der Weißagung das Bild davon genommen und gesagt hat: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Nicht mehr Seine, sondern Johannis Trösterin soll sie von nun an sein. Alle Schätze dieses mütterlichen Herzens verleiht Er dem Jünger, den Er lieb hat, Er aber bleibt gottesarm, in bitterer Entsagung an Seinem Kreuze hängen, einsamer als einsam, mit Aufgabe jeder Erdenliebe und trinkt in grausiger Nacht, wie einer, dem die Leuchte verlöscht mitten in der Finsternis, die jammervolle Gewisheit hinunter, daß Er um deren willen, für die Er leidet, auch niemand, niemand mehr haben soll, der Ihm zum Troste wäre. Von der Mutter reißt Er sich los, von dem treuen Jünger desgleichen: keine Mutter, kein Freund mehr ist bei Ihm: das tiefe Leid des Absterbens, des Verlierens aller Personen und Dinge, der Vereinsamung, der Trennung, des Todes kommt über ihn, und während Er vor dem zweiten und nach dem zweiten Worte Seine Feinde im liebevollsten Andenken hat und für sie sorgt, unter den grausigen Schächern sichs gefallen| läßt, ist der Trennungsschnitt von den Seinen geschehen und Er ist fertig, und hat damit erfahren, was Sterben und Tod heißt, noch ehe Ihm die Augen brechen. Ach! es ist eine grausige Leidensstufe in den Worten an die Mutter und an Johannes, und ich kann mich nicht erwehren, zu denken, Maria müße das gefühlt und um so mehr vom eignen Weh durchbebt worden sein, weil sie das ungeheure Weh des Abschieds in Seiner Seele merkte. O es ist groß, wenn Er in Cana spricht:. „Was habe ich mit dir zu schaffen“; aber wie groß ist es, daß Er nun am Kreuze, wo Ihm doch der Trost so süß gewesen sein muß, als in Gethsemane, wo Er die Jünger darum bat, mit der Mutter nichts mehr zu schaffen haben will, sondern in den Krieg und die Schlacht, die nun bevorsteht, allein hineingehen will. Es ist groß, wenn Er auf dem Todeswege das Mitleid der Weiber Jerusalems von sich abwendet, aber was ist das, daß Er sich nun so vereinsamt auch von der Mutterliebe, wie Er thut? – Herr Gott, mir ist, wie wenn Er nun dran wäre, durch diese Entsagung die Sünden des vierten Gebotes zu büßen, wie wenn Er die Sünden der verkehrten Mutterliebe, ich sage nicht der heiligen Liebe Marien, der Mutter Gottes, wie wenn er die Sünden der verkehrten Vaterliebe, der verkehrten Kinderliebe, sammt allem Mangel an Liebe zwischen Eltern und Kindern, auf sich genommen hätte und büßte. So mußt Du verarmen, vereinsamen und Dich verabschieden, Du Sohn ohne Gleichen von einer Mutter und einem Freunde ohne Gleichen, weil ich und meine Brüder und Schwestern gegen unsere Eltern und Kinder und, daß ichs nicht vergeße, auch gegen unsere Freunde, ja auch gegen unsere Freunde, so gar das Gegentheil von Dir gewesen sind. Um| unsertwillen hebt sich Deine Brust zu schweren Seufzern des Abschieds, rinnen vielleicht Deine bittern Thränen; wir aber mangeln der Liebe, oder der rechten Liebe, zu den Unsrigen, ohne Seufzer, ohne Thränen und gehen, wenn alles um uns her stirbt und uns verläßt, selbstsüchtig und zufrieden, Dir misfällig und grausig vor Deinem Angesicht dem Grab entgegen.

 Was soll ich sagen und was soll ich thun? O HErr, ich habe in mir nichts, als ein Kyrie Eleison, und kann vor Dir nichts, als an meine Brust schlagen und mich schuldig geben. Verzeih mir, wenn Du kannst, und Du kannst, daß ich an Deinem Kreuze und Dir gegenüber ein so verdammungswürdiger Vater, Sohn und Freund gewesen bin und noch bin, und hilf uns allen, die wir uns vor Dir, Du allerheiligster Sohn, schämen müßen, durch eine Vergebung über Bitten und Verstehen zu dem Frieden, den wir sonst bei jedem Blicke auf uns selbst verlieren, um heulend unterzugehen. Erbarme Dich unser, o JEsu! gib uns Deinen Frieden, o JEsu! Amen.




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