Skizzen aus Niederdeutschland (4)

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Autor: Ferdinand Lindner
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Titel: Das Watt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, 35, S. 548-552, 568-571
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[548]
Skizzen aus Niederdeutschland.
Von Ferdinand Lindner.
4. Das Watt.


Zu den stimmungsvollsten Gedichten Freiligrath's gehört die „Wüstencarawane“, die Einöde der Sahara, bis zum Morgengrauen von Schatten und Gespenstern belebt – das ist ein großartig gedachtes Landschaftsbild, und wenn wir hier daran anknüpfen, so geschieht es, weil die Scenerie, welche wir im Folgenden darzustellen gedenken, trotz aller localen Verschiedenheit eine auffallende Aehnlichkeit mit jener hat: hier wie dort eine trostlose Wüste mit ihren drohenden Gefahren, ihren Stürmen, ihrer Fata morgana, ihren Trümmern, den Zeuge verzweifelter Katastrophen. Während es sich bei der afrikanischen Wüste um eine glühende Landschaft am Aequator handelt, wollen wir von der feuchte Einöde einer durch Wolken und Nebel oft genug umschatteten nordischen Küste erzählen und zwar von keiner anderen, als unserer heimatlichen Nordseeküste.

Wenn man eine Specialkarte dieses Strandgebietes betrachtet, so kann man genau die Linie verfolgen, welche das Festland nach dem Meere zu abschließt, aber jenseits derselben, schon im Bereiche des Meeres, erblickt man noch eine Reihe unregelmäßiger, durch Punkte oder Farbe hervorgehobener, mit der Küste parallel laufender Flecken. Dies ist das Terrain, auf dem sich unsere Darstellung bewegen wird; hier, wo die Wissenschaft des bei weitem größten Theiles unserer binnenländischen Leser wohl aufhört, soll unsere Schilderung beginnen.

Zu der Zeit, als der Canal noch geschlossen, die Nordsee ein nur nach Norden offener Meerbusen war und die vom Westen kommenden Fluthwellen nur in schwächeren Ausläufern auf die Küste trafen, in dieser Zeit konnten die großen deutschen Flußsysteme mit aller Ruhe ihren aus dem Oberlande abgeführten Schutt an der Mündung abladen und damit eine mächtig ausgedehnte Marschbildung erzeugen. Als aber die bis dahin noch zusammenhängenden Gebiete des jetzigen Frankreich und England durchbrochen wurden und der Canal entstand, ergossen sich die Fluthwellen des Oceans in den weit hinaus mit Marschland und Schlamm erfüllten Meerbusen und begannen ihr Zerstörungswerk, theils unausgesetzt das Marschland benagend, theils in wilden Sturmfluthen weite Strecken fortreißend. Wir können die Reste desselben bis in die Mitte der Nordsee verfolgen, bis an jene von den Schiffern so sehr gefürchtete Strecke, wo bei Sturm eine höchst gefährliche und unregelmäßige See steht – die Doggerbank, welche sich bis zu 12 bis 13 Faden Tiefe unter dem Niveau der See erhebt, während das Terrain daneben auf 30 bis 40 Faden Tiefe abfällt. Von den an die Küsten sich anlehnenden Resten des Schwemmlandes wurde ein Theil in späterer historischer Zeit durch kühne seevertraute germanische Stämme urbar gemacht und zu üppigen Landschaften umgestaltet; der andere Theil umzieht in weitem Bogen, nach der See zu von einer Inselkette umgrenzt, als „Watt“ die Küsten von Holland und Jütland, unserer Nordseeküste den ihr eigenthümlichen, nichts weniger als einladenden, ja fast drohenden Charakter verleihend.

Das Watt zu schildern, erscheint so einfach und ist doch, soll es anschaulich und lebenswahr geschehen, überaus schwer; denn jeder Vergleich, jede Beziehung auf ähnliche oder verwandte Scenerie läßt uns im Stich; es ist nicht Land und nicht Meer, nicht Sumpf und nicht Sand, und doch ist es wiederum dies Alles zusammen, ein düsteres, feucht schimmerndes Gemenge, als tauche der Meeresgrund soeben zum ersten Male über dem Ocean empor. Man würde sich aber täuschen, wenn man glaubte, das Watt zeige uns immer nur dasselbe einförmige Gesicht – im Gegentheil: ganz wie das Meer ein Wiederspiegeln der ewig wechselnden Luftgebilde, ist auch das Watt ein Proteus, der uns in den mannigfaltigsten Gestalten erscheint. Wenn das schwere trübe Regengewölk des nordischen Himmels über das Watt zieht, dann gewährt es in seiner starren Ruhe einen Anblick, so traurig und unheimlich, so finster und drohend, wie das Verderben selbst; weit, weit draußen läuft eine weiße unregelmäßig bewegte Linie, der Schaumkranz der dort wogenden See; noch weiter hinaus zieht ein Dampfer, eine lange Rauchsäule hinter sich, am Horizonte hin, sodaß es fast aussieht, als glitte er über das Watt selbst. Nicht weniger gespenstisch

[549]

Das Watt bei Schaarhörn.
Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.

[550] schaut das Watt drein, wenn schwere Nebelmassen darüber lagern und seine matt und trüb schimmernde Oberfläche fernhin in den feuchten Schwaden sich gleichsam aufzulösen scheint, als befände man sich, um mit den Alten zu reden, am Ende des Okeanos, wo Erde, Meer und Luft in einander verschwimmen. An den Flußmündungen liegen einzelne kleinere Flächen vom Strome umflossen, wie schleimige, schlüpfrige Riesenquallen, welche die Fluth an den Strand warf, und wer bei solch „mistiger“ Witterung, wie der Seemann sagt, unsere Flußmündungen passirte, wird sich mit leisem Grauen dieser schmutzig bleifarbenen Bänke erinnern, welche so unheimlich über den Gewässern emporragen und auf deren Rücken schon so manch wackeres Schiff geborsten ist.

Mit einem Schlage aber ändert sich die ganze Scenerie in dem Augenblicke, wo die Sonne hervortritt. Bei Mittagssonne liegt das Watt wie eine leuchtende gleißende Metallfläche vor uns, welche das Auge blendet, sodaß es unmöglich ist, längere Zeit hinauszublicken. Eine wundervolle Stimmung aber breitet sich des Morgens und Abends darüber aus, und selbst die kühnste Phantasie würde auf der bei trübem Wetter so finster und mürrisch dreinschauenden Fläche nicht jenen Farbenreichthum vermuthen, welchen die tieferstehende Sonne darüber ausstreut. Dies erklärt sich aus der Gestaltung des Watt. Dasselbe ist nämlich durchaus nicht etwa eine gleichmäßig glatte Fläche, wie es vom Strande aus erscheint, sondern im Gegentheil ein ziemlich stark coupirtes Terrain von sehr verschiedener Zusammensetzung. Risse, Rinnsale, tiefere Spalten, muldenförmige Vertiefungen kreuzen sich überall und bilden zum Theil wirkliche kleine Flußbetten, die sogenannten „Prielen“. Im Terrain selbst aber schieben sich zwischen theils gehärtete, theils noch weiche und nachgebende Schlick- und Schlammmassen gewaltige Strecken festen harten Thones, Muschelbänke und Sanddünen, auf denen das Spiel der ebbenden Wellen die zierlichsten Figuren zurückläßt. Wenn nun Himmel und Wolken in reichem Farbenschmucke leuchten, so spiegelt das feuchte Watt diese nämlichen Farben wieder, jeden Theil aber in seinem Localtone, den Schlamm anders als den Thon und diesen wieder anders als den Sand – fast alle Farben der Palette sind vertreten, namentlich aber ein intensives Violett in allen seinen Nüancen. Da aber, wo das Tagesgestirn über dem Horizonte steht, sendet es eine wahre Feuergarbe funkelnder, glitzernder und blitzender Lichtatome übers Watt, während die Prielen, vom Wasser erfüllt, wie leuchtende Schlangen sich hindurchwinden, ein Schauspiel, das namentlich von der Höhe, z. B. von einem Leuchtthurme aus gesehen, mit imponirender Großartigkeit und Eigenart wirkt.

Bei stillen warmen Frühlings- oder Sommertagen, oder auch wenn sich in der schwülen Luft ein Gewitter zusammenbraut, erscheint plötzlich über dem Horizonte, auf einer weißen Dunstschicht thronend – die Fata morgana. Schiffe schweben, ihr Bild verkehrt nach unten spiegelnd, in der Luft; entfernte, zum Theil unter dem Horizonte befindliche Gegenstände heben sich herauf und rücken näher, ja der Felsen von Helgoland wurde an der Küste oft so deutlich, über dem Watt emporsteigend, erblickt, daß man sogar die tiefliegende Düne erkennen konnte.

Um dem Bilde des Watts, sowie speciell dem unserigen gerecht zu werden, sei noch der Mondnacht gedacht! Man kann sich nach dem Gesagten wohl vorstellen, welch magischen Eindruck die Scenerie macht, wenn die breiten Wolkenschatten wie Gespenster über die im bleichen Lichte des Mondes geheimnißvoll schimmernde Fläche streichen. Der Mond aber ist es zugleich, der uns an eine Unterlassungssünde gemahnt; wir müssen nämlich darauf aufmerksam machen, daß es das Watt der Ebbezeit ist, welches wir schilderten; zweimal am Tage ebbt und fluthet das Meer darüber hin; zur Fluthzeit aber ist jene ganze Scenerie, die wir soeben beschrieben haben, verschwunden, und soweit wir blicken können, wogt die See.

Es ist nicht der wenigst interessante Moment, wenn die Fluth über das weite Watt herankommt. Ein frischer Luftzug geht ihr als Bote vorauf; dann naht ein leichtes Wellengeriesel, das sich leise zischend auflöst, um sofort wieder von Neuem zu beginnen; jetzt rauscht es da drüben an der Muschelbank auf; tiefe Stille – wiederum ein Rauschen – jetzt hier und da und dort; in langen Athemzügen naht die Fluth – nun wird es in den Rissen und Prielen lebendig, verworrene flüsternde Geräusche wie von tausend fliehenden Geistern tönen hervor, und unmittelbar darauf schießen dunkle schäumende Bäche und Flüsse heran, als wollte eine Welle die andere überflügeln, und ehe man noch recht weiß wie, ist Alles bereits eine graue schäumende Wassermenge; nur da, wo höhere Bänke liegen, hebt sich noch ein unregelmäßiges Gewoge und dringt ein dumpfes Gemurmel herüber, aber auch dieses verliert sich in der immer höher steigenden Fluth und endlich rollen in gleichmäßigen Pausen langgezogene Wellen dem Strande zu.

Anders freilich ist es, wenn zur Zeit der Tag und Nachtgleiche, vom heulenden Weststurme gepeitscht, das Meer mit stürmender Hand gegen die Deiche heranbraust: das ist die Zeit, wo jene Katastrophen eingetreten sind, denen gegenüber der Untergang von Städten wie Pompeji, Lissabon, Szegedin immer noch als ein kleineres Unglück erscheint.

Ueberall an unseren Küsten giebt es Wattstrecken, wo einst nicht die See wogte, nicht blos Schalthiere und Vögel eine Wüste belebten, sondern wo in blühenden Landschaften ein tüchtiges Geschlecht sich seines Daseins freute. Es würde uns zu weit führen, wollten wir hier von den Sturmfluthen berichten, welche unsere Küsten heimsuchten; die Geschichte dieser Jahrhundert um Jahrhundert wiederkehrenden „Manntränke“ ist so furchtbar, so großartig, daß sie eine Schilderung für sich erheischt, aber wer das Watt darstellen will, muß ihrer auch vor Allem gedenken, damit man wisse, daß meilenweite Strecken unserer Watten nichts anderes sind, als die düsteren Gräberstätten eines untergegangenen Culturlandes; allenthalben könnten wir Glocken von Vineta erlauschen, und es nimmt uns nicht Wunder, wenn auf den Inseln, wie z. B. auf Sylt, die Bevölkerung sich erzählt, daß in den Dünen am Watt Geister und Gespenster ihr Wesen treiben.

Die Erinnerung aber an jene Katastrophen führt uns überhaupt in die Vergangenheit zurück und damit auf ein Gebiet, das ein hohes Interesse beanspruchen darf. Von keiner Gegend unseres Vaterlandes nämlich besitzen wir so uralte Ueberlieferungen, wie von der Nordsee. Aus dem Mythencyclus der Hellenen dringt verschollene Sage auch von der Nordsee zu uns. Hier, im Norden des deutschen Meeres ist das Land, wo Nacht und Morgen so nahe an einander grenzen, daß der eintreibende Hirte dem austreibenden begegnet; hier geräth die Argo in so seichtes Meer, daß sie weiter gezogen werden muß; hier sinkt Phaëthon nach seiner tollen Fahrt nieder und seine herbeieilenden Schwestern, in Bäume verwandelt, erzeugen den Bernstein. Die Phönicier sind es vor Allem, deren Berichte sich in diesen durchaus localgetreuen Bildern widerspiegeln, denn schon im achten Jahrhundert v. Chr. dürfen wir sie auf ihren kühnen Fahrten an der britannischen Küste vermuthen, und wenn unter den Berichten, welche vermeintlich die anderen Nationen abschrecken sollten, ihren Handelswegen zu folgen, wenn unter diesen die Schilderung von dem im Westen immer seichter werdenden Meere erscheint, so lehrt uns ein Blick auf das Watt, daß sie ihre Angaben durchaus nicht aus der Luft griffen; denn von ihren Factoreien an der britannischen Küste aus besuchten sie die Nordsee-Inseln des Bernsteinhandels wegen und lernten das seichter werdende Meer aus eigener Anschauung kennen.

Haben wir es hier mit mehr sagenhaften Angaben zu thun, so sind wir andererseits im Besitze einer überaus interessanten Reisebeschreibung des ersten Weltumseglers, den die Geschichte kennt. Um die Zeit, da Alexander der Große griechische Cultur in das Innere Asiens trug, unternahm ein kühner Seefahrer aus Massilia, Pytheas mit Namen, eine Umsegelung der damals bekannten Welt jenseits der Säulen des Hercules, und was er sah und erlebte, legte er in einer Reisebeschreibung nieder, von der uns Bruchstücke erhalten geblieben sind.

Das höchst originelle Bild, welches wir von der Nordsee und ihren Küsten aus diesen Berichten und den Schriften derjenigen, die sie benutzten und ergänzten (unter ihnen Tacitus), erhalten, ist kurz gedrängt Folgendes: Nach einer Fahrt an der Küste hin über Island und die Westküste Britanniens gelangt Pytheas nach dem sagenhaften Thule, jedenfalls eine der Shetland-Inseln. Hier zeigen ihm die Eingeborenen am äußersten Horizonte die Stelle, wo die Sonne sich zur Ruhe legt, um nach kurzer Rast von wenigen Stunden sich wieder zu erheben. Hier beginnt auch das geronnene Meer, ein träges, beinahe unbewegliches und dunkel gefärbtes Wasser, das den Erdkreis umgürtet, von keinem Winde bewegt; ringsum ein Gemisch von Erde, Meer und Luft, wo man weder gehen noch fahren kann, einer Seequalle vergleichbar. Von hier aus kommt man in den Meerbusen Montonomon (die Nordsee), an dessen Ufern die Teutonen [551] wohnen. Der Meerbusen ist von großen und kleinen Inseln erfüllt; nirgends ist offenes Meer; bei der Ebbe scheinen die Inseln mit dem Festlande verbunden zu sein. Im Frühjahr werfen die Fluthen hier den Bernstein, eine Ausscheidung des geronnenen Meeres, aus; die Einwohner sammeln ihn und verhandeln ihn theils nach dem Festlande, theils benutzen sie ihn als Feuerung. Auf den Inseln giebt es verschiedene wunderbare Bewohner – solche, welche nur von Eiern leben; dann die Hippopoden, Menschen mit Pferdefüßen; endlich die Panotier, welche solche große Ohren haben, daß sie ihren ganzen nackten Körper damit bedecken.

Man hat früher angenommen, Fahrt und Beschreibung des Pytheas habe der Ostsee gegolten, weil ein so reichlicher Bernsteinfund, wie er ihn angiebt, in der Nordsee nicht vorkomme, aber abgesehen davon, daß man auch in der Nordsee einen nicht unbedeutenden Bernsteinfund in alter Zeit nachweisen kann, giebt vor Allem die Schilderung ein so getreues Bild der Nordseeküste, daß an die Ostsee überhaupt gar nicht gedacht werden kann. Auch die wunderliche Nachricht von der Benutzung des Bernsteins als Feuerungsmaterial findet in der Neuzeit eine Parallele, indem berichtet wird, daß noch im vorigen Jahrhundert arme Leute angezündete Bernsteinstücken als Beleuchtungsmaterial benutzten. Nicht weniger zutreffend sind die Eieresser – wer Nordsee-Inseln während der Brutzeit besucht hat, wird sich der dort lagernden Eiermassen und ausgebrüteten Vögel erinnern.

Etwas wunderlicher schaut sich der Bericht von den Pferdefüßlern an, aber auch hier giebt uns die Gegenwart die sogar sehr nahe liegende Möglichkeit der Erklärung. Wenn irgend ein Bekleidungsstück, so bietet der niederdeutsche Holzschuh Formen von wahrhaft vorhistorischem Charakter dar – hier tritt aber nun der wichtige Umstand in den Vordergrund, daß gerade, wie ja auch J. G. Kohl ausführt, das Gebiet der Nordseeküste die eigentliche und alleinige Heimath dieses in Wirklichkeit pferdefußartigen Möbels ist, während seine Verbreitung nach Frankreich aus verschiedenen Gründen als eine secundäre erscheint. Bedenkt man ferner, wie treu sich Formen, welche wir schon bei den alten Schriftstellern geschildert finden, auf niederdeutschem Gebiete bis zu unserer Zeit vererbt haben, so kann man nicht mit Unrecht vermuthen, daß in diesen Hippopoden des Pytheas die früheste Spur des gerade für diese Gegenden zweckmäßigen Holzschuhes zu suchen ist.

Jeder Anhalt fehlt uns dagegen bei der dritten Art Inselbewohner, derjenigen, welche so große Ohren haben, daß sie ihnen zugleich als Toilette dienen. Solchen Ohren gegenüber müssen freilich diejenigen unserer gegenwärtigen Küstenbewohner als höchst rudimentäre Organe erscheinen, und wenn man nicht annehmen will, daß mit der fortschreitenden Bekleidungskunst eine entsprechende Rückbildung der Ohren eingetreten ist, so bleibt Nichts übrig, als das zu thun, wozu sich der Gelehrte so schwer entschließt – nämlich zu gestehen, daß wir Nichts darüber wissen. Die Vermuthung ist höchstens berechtigt, daß es sich hier um ein Kleidungsstück, eine Art Kappe im niederdeutschen Sinne handelt.

Waren, mit Ausnahme des eben erwähnten, fast alle Einzelheiten jener alten Beschreibung zu erklären, so bleibt doch ein Theil, der allerdings Schwierigkeiten bereitet – die Erzählung vom geronnenen Meere und was damit zusammenhängt. Man muß hier eine scharfe Scheidung von zwei ganz verschiedenen Scenerien vornehmen. Das geronnene Meer, von dem später auch noch die Römer und deutschen Seefahrer sprechen, verlegt man, und wohl mit Recht, in die Nähe der Orkneys- und Shetland-Inseln, wo starke Strömungen, schwerer Seegang, Nebel und Windstillen häufiger, als in den angrenzenden Meeren der Fall ist, die Schifffahrt erschweren. Für die weitere Schilderung aber, wie „Erde, Meer und Luft in einander übergehen, ein Gemisch, das man nicht betreten und beschiffen kann, einer Seelunge vergleichbar“, müssen wir uns nach einer Localität umsehen, welche dem Bilde zu Grunde gelegen haben mag; denn dasselbe trägt so viel Localfarbe an sich, daß man nicht blos an ein allgemeines phantastisches Bild denken kann. Die Schilderung selbst aber paßt so vortrefflich auf das Watt, daß wir uns oben bei Beschreibung desselben sogar jener Vergleiche bedienen konnten.

Mit dem Bilde der „Seelunge“ als einem Mitteldinge zwischen Thier und Pflanze, wählte Pytheas einen trefflichen Vergleich zur Bezeichnung eines Mitteldinges zwischen Land und Meer, wie es das Watt ist. Das übrige, sagt Pytheas, habe er von Hörensagen – hier haben wir also eine alte Tradition der Eingeborenen auf den britischen Inseln und damit zugleich die denkbar älteste Ueberlieferung vom Watt und der Nordseeküste vor uns. Abgesehen davon, daß in vorhistorischer Zeit die Ausdehnung des Schwemmlandes eine viel größere gewesen sein wird als heute, besaßen die frühesten Bewohner der britannischen Inseln sicher ein Bild der gegenüberliegenden Küste und ihrer Wattscenerie, wohin wohl so mancher von ihnen in seinem Lederschiffe bei düsterem Wetter verschlagen worden war – wo Erde, Luft und Himmel sich vermischten, und wo auch für sie die Welt aufhörte. Dieses Bild der gegenüberliegenden östlichen Küste übertrugen sie dann im weiten Bogen auf den ganzen Horizont ihrer Weltanschauung.

Erscheint die Beschreibung des Pytheas immerhin noch in etwas sagenhaftem Gewande, so tritt unsere Landschaft in das helle Licht der Geschichte mit dem Beginn der Römerzüge gegen die germanischen Stämme der Küste, welche sich hier in ihrer ganzen wilden Großartigkeit zeigt.

Den Reigen eröffnet Drusus im Jahre Zwölf vor Christus mit seiner sowohl in den Zielen wie in den Resultaten ziemlich dunkeln Seefahrt. Nachdem er – ein riesiges Werk, eine Verbindung zwischen Rhein und dem jetzigen Zuidersee (damals ein kleiner Archipel) hergestellt und die Bundesgenossenschaft der Friesen erworben hatte, ging er mit der Flotte in das Wattenmeer und eroberte die Insel Burchanis, das jetzige Borkum, welche damals einen weil größeren Umfang hatte, als gegenwärtig. Nach einem Kampfe mit den Bructerern auf der Ems finden wir ihn plötzlich am Gebiet der Chauken im Wattenmeere festsitzen, „da die Schiffe im Ocean auf das Trockene geriethen. Von den Friesen, welche als Fußmannschaft den Zug mitmachten, aus dieser Noth befreit, kehrte er, da es Winter ward, um und begab sich nach Rom.“ Diese kurze Angabe des Dio Cassius ist ziemlich dunkel; es sieht fast darnach aus, als habe das Watt schon damals beim ersten feindlichen Angriff auf unsere Küsten sich als jener mächtige Bundesgenosse in der Vertheidigung derselben bewährt, wie dies späterhin und zuletzt noch im siebenziger Kriege der Fall war.

Der nächste Zug war der des Tiberius, der mit großartigeren Mitteln durchgeführt auch zu dem gewünschten Resultate führte, indem die durch das Wattmeer fahrende Flotte und das zu Lande vorrückende Heer sich im Gebiet der Langobarden an dem rechten Elbufer, und zwar in seinem der Mündung nahe liegenden Theile trafen. Details über diese Wattfahrt besitzen wir nicht. Desto interessanter für uns gestaltet sich der Zug des Germanicus im Jahre Fünfzehn nach Christus. Von der Insel der Balaver an der Rheinmündung zog er mit einer Flotte von tausend für die Fahrt auf dem Wattmeer besonders gebauten Fahrzeugen aus, passirte den Drusus-Canal und segelte dann durch das Watt in die Ems ein, wo die Flotte vor Anker ging, während das Heer über die Weser rückte und die Schlacht von Idistaviso schlug. Germanicus wählte zur Rückbeförderung der Armee wiederum das Watt, und hier sollte ihm das Gefährliche seiner Fahrt zum vollen Bewußtsein kommen; denn um ein Haar hätte er im Aufruhr der Elemente sämmtliche Legionen verloren. Von Böen mit Hagelwetter überfallen, wurde die Flotte schließlich durch einen schweren Südsturm in die Nordsee geschleudert, Pferde, Lastvieh, Gepäck, die Waffen wurden über Bord geworfen, um die Schiffe zu erleichtern, die Sturzseen erhielten und Wasser zogen. „Soviel, als der Ocean großartiger ist als andere Meere, soviel übertraf das Unglück alles durch seine Neuheit und Größe: ringsum feindliche Küsten, und das Meer so weit und tief, daß man annimmt, es sei das Ende der Welt.“

Im Anschluß an diesen Kampf mit den Elementen sei noch einer anderen ganz eigenartigen Thatsache erwähnt: daß die Römer an den Flußmündungen, als wollte selbst das Binnenland am Kampfe gegen die fremden Eindringlinge Theil nehmen, von schwimmenden Inseln angefallen wurden, auf denen riesige Eichen standen, deren Aeste wie das Takelwerk von Schiffen aussahen. Die Römer mußten diesen Stämmen, wie Plinius sagt, förmliche Seeschlachten liefern, da sie sonst kein Sicherungsmittel wußten. Vor längerer Zeit erzählten wir in der „Garlenlaube“ (vergl. Jahrg. 1861, S. 666) von dem wunderlichen schwimmenden Lande in Niederdeutschland – hier finden wir es im Berichte der Alten wieder.

Eine Heerfahrt von dem Umfange der römischen hat das Wattmeer nicht wieder gesehen, ausgenommen höchstens die Flotte der Sachsen, als sie unter Hengist und Horsa von der Nordseeküste [552] zur Eroberung Englands auszogen. Pipin und Karl der Große, welche beide in ihren Kämpfen mit den Sachsen bis in diese Gegenden vordrangen, haben gewiß auch Flotten an der Küste hingeführt, doch wissen wir nichts weiter darüber.

Wohl aber ist hier der Punkt, wo wir das, was wir oben andeuteten, nochmals besonders hervorheben müssen: das Watt als mächtigen Schutz unserer heimischen Küsten – das bedeutendste Beispiel hierfür ist noch in unser aller Gedächtniß – bei der Unfertigkeit unserer Küstenvertheidigung hätten die Franzosen 1870 mit der überlegenen Flotte uns unberechenbaren Schaden zufügen können, eine bei weitem größere Truppenmasse wäre der Armee im Felde entzogen worden, die Situation eine nicht unwesentlich andere gewesen – aber da lag das Watt weit hinausgestreckt in See auf der Lauer, den ersten Franzosen, der sich heranwagen würde, an seinen Bänken zu zerschellen, und die Herren Franzosen hielten es denn auch für gerathener und zuträglicher, diesem unheimlichen Vertheidiger der deutschen Küste in weitem Bogen aus dem Wege zu gehen – denn daß alle Seezeichen eingezogen waren, brauchen wir wohl nicht erst anzudeuten.

Durch alle Jahrhunderte bis in die neuere Zeit stand die Seeräuberei in dem Wattmeer in schönster Blüthe, und die Hamburger und Bremer konnten sich ihrer trotz Schiffsmacht und Bündnisse, trotz Köpfen und Pfählen selbst bis in’s siebenzehnte Jahrhundert hinein nicht ganz erwehren. Die früheste Nachricht besitzen wir durch Plinius über die Seeräuberei der Chauken, von denen er erzählt, daß sie in ausgehöhlten Baumstämmen, deren einer dreißig Mann faßte, an den Küsten hinfuhren und besonders diejenigen Galliens plünderten. Diesen folgten später Sachsen und Franken, die, wie die Britannier, sich lederüberzogener Schiffe bedienten, Friesen, Dänen und Normannen, Oldenburger, Wurstner, Dithmarschen, Engländer, Franzosen, kurz, Seeräuber von den heimischen Küsten wie aus aller Herren Ländern.

[568] Für die Schifffahrt der Gegenwart wie wohl auch der Vergangenheit spielen die Priele eine wichtige Rolle, da sie ein tieferes Fahrwasser als das Haff des Wattmeeres haben. Durch das Ab- und Anschwemmen der Fluthen sind sie aber auch unausgesetzt einer steten Veränderung und Verschiebung unterworfen, und um sie für die Schifffahrt nutzbar zu erhalten, werden sie jährlich „ausgebakt“, das heißt durch eingegrabene Birkenreiser gekennzeichnet, und zwar so, daß diese auf deutschem Gebiete für den von Nord nach Süd bis West Steuernden zur Rechten, auf holländischem Gebiete zur Linken der Fahrstraße stehen.

Die eigentlichen für die Fahrt auf den Watten bestimmten Schiffe müssen flach gehend und glatt gebaut sein und dürfen nicht mehr als ungefähr sechs Fuß Tiefgang haben. Die Fahrt im Watt ist halb See-, halb Binnenfahrt; denn im Schutze der vorliegenden Inselkette können die verschiedenen Küstenfahrzeuge mit größerer Sicherheit zwischen den einzelnen Nordseehäfen verkehren, ja selbst Flußschiffe haben die Fahrt gewagt, sind aber dabei manchmal übel angekommen. Alle Arten von Küstenfahrern beleben die See, Ewer, Tjalken, Kuffs und wie sie alle heißen. Namentlich die holländischen sind originelle Erscheinungen; das Fahrzeug bildet das einzige Besitzthum, die Geburtsstätte, die Heimath und oft genug auch die Todesstätte des Schiffers, der mit seiner ganzen Familie darauf lebt, von Holland bis Jütland immer unterwegs ist und im Winter in einem der Nordseehäfen Unterkommen findet, wo wir dann den Rauch seines Schiffsherdes behaglich in den Fleeten oder Binnenhäfen aufsteigen sehen.

Einen anderweiten Gewinn sucht der Mensch in den ausgedehnten Muschelbänken des Watts, wo er das sogenannte „Schillen“ betreibt, indem er mit Wagen oder weiter draußen mit Schiffen sich an eine solche Bank festlegt und die Muscheln mit einem einer Mistgabel ähnlichen Instrumente ausgräbt, sie in den Prielen rein wäscht und dann nach Hause schafft, wo sie an [569] Kalkbrennereien verhandelt werden, welche den sogenannten Muschelkalk daraus fabriciren.

Fragen wir nun, ob das Watt den Menschen sonst noch irgend welche Gelegenheit zur Ausnutzung bietet, so ist wohl zunächst die Fischerei zu nennen, doch ist dieselbe, wenn man von dem Schellfischfang und der Austernfischerei absieht, eine geringe und beschränkt sich wesentlich auf den Fang der Granaten und des Butt. Früher wurde dieser, und wird im Einzelnen noch jetzt hier und da auf die Weise betrieben, daß die Leute, oft bis an den Leib im Wasser watend, ein Netz vor sich herschoben, den Fang so bewerkstelligend. Jetzt hat man ihn da, wo man ihn für den Versand betreibt, praktischer organisirt, indem man die Netze, an Pflöcke befestigt, in die Mündung von Prielen legt: wenn nun die Fluth sich in letztere ergießt, spült sie die Granaten in die offenen Netze hinein. Dieselben werden alsdann mit Kähnen eingeholt und auf Schleifen über den weichen Schlamm an’s Ufer befördert.

Die Fischerei im Großen wird vielmehr von den geflügelten Bewohnern der Luft betrieben, welche, sobald die eintretende Ebbe ihnen den Tisch servirt, zu Tausenden und aber Tausenden das Watt bedecken, Möven, Kibitze, Strandläufer, Regenpfeifer etc. – hier läßt sich eine Schaar nieder, dort hebt sich eine andere empor, um nach einigen Minuten Geflatters wieder einzufallen – ein buntes, aber auch das einzige Leben im Watt, ausgenommen freilich alles, was da im Schlamme und in den Prielen schwimmt und kriecht und für jene Vogelschaaren die leckere Mahlzeit darbietet.

Noch eines Geschöpfs dürfen wir nicht vergessen: des Seehundes, der das Wattmeer in ziemlich großer Zahl belebt und bei stillen sonnigen Tagen sich auf dem Watt da sonnt, wo die Fluthen noch in der Nähe heranlecken. Der Seehund hat eine außerordentlich feine Witterung, und man muß ihn mit großer Vorsicht unter dem Winde beschleichen, wenn man zum Schuß gelangen will. Früher war er noch häufiger, und die Marschbewohner schlugen ihn im Schlafe mit Knüppeln todt. Die dicken Köpfe des Seehundes mit den glotzenden Augen, sowie die Purzelbäume des grotesken Tümmlers mögen wohl vielfach bei den römischen Soldaten die Veranlassung gegeben haben, an fabelhafte drohende Wesen in der Nordsee zu glauben, wenn ihre Urtheilskraft schon durch die Schrecken des Sturmes beeinträchtigt war.


Kugelbaake an der Elbmündung.
Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.


Wer sich aber bei der Jagd oder sonstwie zu weit in das Watt hinauswagt, ohne den Fluthkalender, die Windrichtung und die Jahreszeit in Rechnung zu ziehen, der ist rettungslos verloren, wenn er von der Fluth überrascht wird, und kaum ein Jahr vergeht, wo die See nicht hier oder da an der Küste ihr Opfer hinwegholte – und wen erst die zweite mächtigere Welle erfaßt hat, den nimmt sie auch unbarmherzig mit hinaus, um ihn erst als Leiche wieder an den Strand zu werfen. Namentlich kommt es öfter vor, daß ein leichtsinnig befestigtes Boot abtreibt und die Insassen ihrem Schicksal überliefert.

Auch bei der Fahrt mit Wagen über das Watt hin muß man stets Jahreszeit und Wind in’s Auge fassen, deshalb nämlich, weil, wenn der Wind von der See hersteht, die Fluth oft früher eintritt, als der Kalender angiebt.

Nie darf man bei Nebel das Watt betreten; einmal in der Richtung unsicher geworden, würde man der Fluth direct in die Arme laufen; in einer ebenso verzweifelten Lage ist derjenige, der weit draußen im Watt von einem jener von der See her sich plötzlich heranwälzenden Nebel überfallen wird; denn ein Wunder ist es zu nennen, wenn er in diesem Falle dem Ertrinken entgeht.

Dies sind nun freilich Gefahren des Watt, die den Einzelnen, Unvorsichtigen allein treffen – sie verschwinden neben der furchtbaren Großartigkeit der Gefahren, mit denen die Watten unserer Nordseeküste die gesammte schifffahrende Welt bedrohen. Grauen erfaßt den Schiffer, der sich bei Sturm in ihrer Nähe weiß; stundenweit bietet das Watt bei Sturm das Bild einer einzigen

[570] schäumenden Masse; eine furchtbare Brandung steht an jenen Bänken, welche theils weit hinaus in die See ragen, theils tiefer hinein die Einfahrt der in die Nordsee mündenden Flüsse verlegen und die Küstengebiete von Jütland bis Holland unnahbar, ja zu Stätten der Vernichtung machen, denen schon manch stattliches Schiff verfallen ist.

In der Elbmündung heißen jene Wattbänke „Sande“, z. B. der Marner Sand, vor den Dithmarschen, der Vogel-Sand, in der Mitte der Einfahrt, und andere. Schaarhörn, dem das auf S. 549 gegebene Bild entnommen ist, soll „steile Kante“ bedeuten, friesisch „Skorhörn“; der anderen Erklärung nach ist es eine Abkürzung von „St. Ausgarius-Bank“, was bei der halsbrechenden Geschicklichkeit des Plattdeutschen in volksetymologischen Verdrehungen durchaus annehmbar ist. In der Weser dagegen führen die Bänke meist den Namen „Plate“, z. B. Tegeler Plate, Luhne-Plate, doch kommen auch Sande, wie Lang-Lütjen-Sand, Ewer-Sand, vor. Namenlich sind Schaarhörn, Wittsand, Tegeler Plate, die alte Mellun und noch einige andere gefürchtet. Es giebt wohl kaum ein Meer von der Ausdehnung und Bedeutung der Nordsee, das so viele Opfer fordert, so viel Fahrzeuge verschlingt, wie diese. Wie in der Sahara die Karawanenstraßen von Gerippen umgekommener Thiere bezeichnet werden, so könnten wir in den Sandbänken und Wattgründen Wrack an Wrack finden, wenn nicht der größte Theil tief gesunken oder von den Fluthen nach und nach weggespült worden wäre. Es ist vorgekommen, daß in einer Nacht auf einem Raume von kaum einer Seemeile drei große Schiffe auf dem Watt scheiterten. Merkwürdig ist es, mit welcher Schnelligkeit ein auf Triebsand gerathenes Wrack von diesem eingesogen wird – ein stolzer Dreimaster ist binnen einer Woche, ja noch eher verschluckt. An manchen Bänken halten sich die Wracks lange, ja werden manchmal wieder flott und treiben an andere Stellen, wo sie ihrer Auflösung entgegengehen. Diejenigen, welche nicht ganz versinken, sondern unter dem Fluthniveau aus dem Wattgrund hervorragen, müssen durch sogenannte Wracktonnen gezeichnet werden, um andere Schiffe vor ihrer Berührung zu warnen; den Fischern, namenlich den Schellfischfängern, ruiniren sie oft ihre „Backs“, ihre Angelleinen, welche sich um die Trümmer schlingen und mit den sämmtlichen daran hängenden Fischen über Bord gehen.

In frühesten Zeiten war es eine Sache des guten Glückes, wenn man ungefährdet die Watten und Flußmündungen passirte. Zwar wird uns schon aus alter Zeit, aus dem Jahre 40 n. Chr., die Aufrichtung eines Leuchtfeuers an der Nordseeküste überliefert. Sueton berichtet, daß Caligula nach einem seiner wahnsinnigen Streiche als Siegeszeichen einen sehr hohen Thurm errichtet habe, von welchem herab, wie aus dem Thurme von Pharos, in der Nacht Feuer leuchten sollte, um den Lauf der Schiffe zu lenken. Es geschah dies aller Wahrscheinlichkeit nach im Bataverlande, also an der Rheinmündung.

In den folgenden Jahrhunderten gab es natürlich keinen Wegweiser in der Wattwüste; als schon das Binnenland zunächst der Küste sich einer fortgeschrittenen Cultur erfreute, ja selbst als die Hansastädte schon Bedeutung und Macht gewonnen hatten, sahen die Strandbewohner noch das Strandgut als einen wesentlichen Theil ihres rechtmäßigen Einkommens an, und erst nach wiederholten Kämpfen und Vertragsschlüssen mit den Hansastädten wurde der Strandräuberei ein Ende gemacht; noch 1296 belobt Papst Bonifacius der Achte die Stadt Hamburg für ihre Bemühungen in dieser Richtung. Ganz glatt scheint es aber trotzdem nicht gegangen zu sein; denn ein ganzes Jahrhundert später finden wir die Hamburger in weiteren Verhandlungen mit den Wurstfriesen wegen Beschützung und Freiheit der Handelsschifffahrt.

Die ersten Nachrichten über Einrichtungen für die Sicherheit der Schifffahrt in den Watten finden wir in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, wo z. B. auf Neuwerk ein Thurm erbaut und zu diesem Zwecke eingerichtet, auch eine „Feuerblüse“ aufgestellt wurde; eine eben solche stand auf Helgoland.

Neben den wenigen Seezeichen der alten Zeit galten überall an der Küste noch alle diejenigen Erhöhungen, die sich nur einigermaßen über dem Horizont erhoben, als Führer durch die Klippen des Watts, so z. B an der Elbmündung ein uralter mächtiger Hünenwall, der Galgenberg, an der Wesermündung der Kirchthurm von Blexen u. a. m.

Gegenwärtig bietet uns ein ziemlich vollständiges System von Seezeichen der verschiedensten Art eine so große Sicherheit der Fahrt, wie es die „höhere Gewalt“ zwischen Himmel und Erde gestattet.

Die Beleuchtung in der Nacht wird durch die Leuchtthürme, durch kleinere Signallichter auf den Deichen und durch sogenannte „Feuerschiffe“, welche Signallichter zeigen, besorgt.

Gestalt und Einrichtung von Leuchtthürmen sind ziemlich bekannt; auch würde die Darstellung der verschiedenen Arten, als: feste Feuer, Blinkfeuer, Drehfeuer, Funkelfeuer hier zu weit führen. Weniger verbreitet ist die Kenntniß des für die Fahrt am Tage nicht minder wichtigen Baaken-Systems, das überdies in seinen einzelnen Exemplaren eine bunte Mannigfaltigkeit ausweist und auch vom malerischen Standpunkte aus dem Küstenbilde oft ein sehr interessantes Profil verleiht. Diese Baaken sind mächtige schwarz angestrichene Gerüste von Eichenholzbalken, die bei den größeren bis zu sechszig Fuß Höhe aufsteigen; sie stehen meist auf einem fest gemauerten Unterbau von Quadern, der seinerseits auf einem starken Fundament von Steinen ruht, die zum Theil noch mit eisernen Klammern zusammengeschlossen sind.

Dreierlei Gesichtspunkte bedingen ihre eigenthümlichen Formen – erstlich, daß sie dem riesigen Luftdrucke des Sturmes einerseits ein stark gefügtes Gerüst, andererseits wieder keinen allzu großen Widerstand in den oberen, ihre eigenthümlichen Formen ausdrückenden Flächen entgegensetzen – diese letzteren sind daher Sparrenwerk, aus Brettern mit luftigen Zwischenräumen zusammengesetzt; der zweite Gesichtspunkt ist der, daß sie, von allen Seiten gesehen, immer ein und dieselbe Figur zeigen – würde man z. B. ein irgendwie geformtes Brett aufrichten, so sähe man von vorn allerdings deutlich seine Form, von der Seite, in der Richtung seiner Längsachse gesehen, schrumpfte es aber zu einem schmalen Streifen zusammen; deshalb hat man die beabsichtigten Formen, doppelt über’s Kreuz wiederholt, in rechtem Winkel zu einander gestellt. Endlich der dritte Gesichtspunkt: daß jede Baake sich von der andern auf das Deutlichste und leicht erkennbar unterscheidet; wir geben hier beispielsweise die Formen einiger Baaken

der Elbe und Weser. Diejenige, welche unser großes Bild auf Seite 569 zeigt, ist die Kugelbaake bei Cuxhaven, und der Leser kann an ihr mit Leichtigkeit die soeben ausgeführten charakteristischen Eigenschaften erkennen.

Auch auf unserem Bilde von Schaarhörn in der vorigen Nummer erblickt man in der Ferne die Schaarhörnbaake, eine der größten und wichtigsten; bei dieser ist noch eine besondere Einrichtung getroffen: in ihrer Mitte befindet sich eine Art kleine hölzerne Stube, und darin Stroh, Schiffszwieback, Wein und eine Signalflagge – Strandungen sind gerade in dieser Gegend häufig, und die Mannschaft eines verlorenen Schiffes kann, hat sie sich bis hierher zu retten vermocht, solange Unterkommen finden, bis Hülfe von der Küste kommt. Es wäre zu wünschen, daß auch auf einigen anderen besonders gefährlichen Stellen die Baaken mit den gleiche Einrichtungen versehen würden.

Während diese Baake mit stolzer Ruhe von ihrer Höhe herab in das Wogengetümmel hinausschauen, giebt es noch eine dritte Gattung ruheloser Seezeichen, welche mit den Wellen zusammen einen ewigen Tanz aufführen. Derjenige, welcher zum ersten Male eine Flußmündung passirt, wird plötzlich auf den

[571] Wellen ein unbestimmtes Etwas, wie ein kleines See-Ungeheuer, auf- und niedersteigen sehen – nur bewegt es sich nicht vom Flecke, und beim Näherkommen erkennt er eine Tonne. Da nämlich, wo mit dem Watt und seinen drohenden Bänken die Flußmündung beginnt, viele Meilen weit draußen in See, wo andere Seezeichen, Baaken z. B., nicht mehr angebracht werden können, tritt die Tonne oder „Boje“ in ihr Recht. Drei namentlich bekannte Tonnen sind es – gar nicht weit aus einander liegend, welche die Mündung von Jahde, Weser und Elbe bezeichnen: die Adlertonne vor der Jahde, die Schlüsseltonne vor der Weser und die rothe Tonne vor der Elbe (bei welcher, wie man zu sagen pflegt, „die Seekrankheit anfängt“).

In früheren Zeiten benutzte man statt der Tonnen einfach Klötze oder Stücken von Masten, welche mit Stricken am Grunde befestigt waren. Tonnen müssen aber schon in sehr früher Zeit eingeführt worden sein, denn ein Document aus dem fünfzehnten Jahrhundert giebt an, daß die Tonne schon seit Menschengedenken an der Wesermündung gelegen hätte. Jetzt hat jeder Fluß an seinem unteren Laufe ein vollständiges Tonnensystem; die Elbe hat zwischen 130 und 140, die Weser 159 Stück Tonnen – und zwar bezeichnen schwarze Tonnen die rechte, weiße die linke Seite des Fahrwassers; außerdem hat noch jede Tonne eine specielle Bezeichnung, und zwar die schwarze einen Buchstaben, die weiße eine römische Ziffer, in aufsteigender Reihe von der Flußmündung beginnend, indem jede der drei oben genannten ersten als Null gilt. Die Tonnen zerfallen ihrer Form nach in zwei Classen: in spitze und stumpfe, von denen die ersteren aus der Elbe, die letzteren aus der Weser in Gebrauch sind. Sie bestehen aus Eichenholz, das durch starke eiserne Bänder zusammengehalten wird; verankert sind sie durch viereckige Sandsteinquadern (früher nahm man einfach erratische Blöcke), deren Umfang mit dem der daran befestigten Tonne in gleichem Verhältniß steht – z. B. wiegt der Stein, an welchem die Schlüsseltonne befestigt ist, zweitausend Kilo. Es läßt sich denken, daß diese Tonnen, namentlich bei schwerem Sturme und Eisgang, sehr gefährdet sind, und sie werden auch in der That in schlimmen Wintern oft zu Dutzenden abgetrieben und allenthalben an die Küsten verstreut. In alten Zeiten sind sie öfter geraubt worden, um im Interesse des Strandraubes das Zeichen verschwinden zu lassen, oder auch um ein Bergegeld zu erlangen. Außer dieser Gefährdung ihrer Existenz durch die Elemente ist aber auch noch ihr reputirliches Aeußere durch den langsam wirkenden Angriff von Seegethier und Seepflanzen bedroht, welche sich allmählich wie eine feste Kruste ansetzen und da auch die Seevögel sich gern auf der tanzenden Tonne niederlassen und sie als Ablagerungsstätte für Guano ansehen, so gleicht dieselbe schließlich eher einem grauen Schalthier, als einem Seezeichen in Amt und Würde. Endlich verändern die Sande und Platen auch ihre Lage und machen dann eine Umsetzung der Tonnen nöthig.

Diese Umstände erheischen bei der Wichtigkeit der Sache für die Schifffahrt eine stete Aufmerksamkeit und Abhülfe – und es sind mit der Aufsicht über die Tonnen Beamte betraut, die oft Wochen, ja Monate lang in ihren mit allen möglichen astronomischen und Hebe-Apparaten versehenen Schiffen zwischen den einzelnen Tonnen umherkreuzen; alljährlich wird ein vollständiger Umtausch vorgenommen, die ausliegenden Tonnen werden eingeholt, um sie von dem daran festgesetzten Unrath zu reinigen, und andere frisch angestrichene Tonnen, welche in einem kleinen Arsenal in den betreffenden Hafenstädten vorräthig liegen, werden an ihre Stelle gelegt. Die Kosten für Erhaltung der Seezeichen werden zum Theil durch die von den Schiffen zu erhebenden Baaken- und Tonnengelder gedeckt.

Außer diesen gewöhnlichen Bojen hat man an wichtigen Punkten noch solche mit Glocken versehene angebracht, welche, durch die Wellen bewegt, ein unausgesetzt tönendes Seezeichen darstellen. Gegenwärtig sind, vor der Hand jedoch nur vor Wilhelmshaven, zwei neue Erfindungen zur Verwendung gekommen, welche einen wesentlichen Fortschritt bezeichnen: die automatische Signalboje und die Gasboje. Die automatische Signalboje beruht auf dem Princip der Verwendung comprimirter Luft zur Schallerzeugung, indem die Luft beim Steigen der Welle in einer Röhre comprimirt wird und beim Fallen der Boje tönend ausströmt, sodaß der Schiffer da, wo ihn alle anderen Seezeichen im Stiche lassen, durch das Gestöhn der automatischen Boje weithin gewarnt wird.

Ist diese Boje für das Gehör, so ist die Gasboje für das Gesicht berechnet und löst die Aufgabe, weit draußen in See, ohne den umständlichen Apparat des Feuerschiffes, Leuchtsignale zu geben. Diese Boje enthält in ihrem Bauche eine für mehrere Monate ausreichende Quantität Gas, das in eine über den Wellen hervorragende Laterne strömt.

Im Ganzen erreicht die Summe der an der deutschen Küste, und zwar der Nord- und Ostseeküste, vorhandenen Seezeichen die respectable Höhe von 5131 Zeichen, nämlich 138 Leuchtthürme, 20 Leuchtschiffe, 177 Baaken, 1889 schwimmende Seezeichen, 2856 in den Boden gesteckte Zeichen und 51 Landmarken.

Hier schließen wir unsere Schilderung. Zwar bildet der Inselkranz, der sich parallel unseren Küsten außerhalb und innerhalb der Watten hinzieht, einen charakteristischen Bestandtheil der ganzen Landschaft, aber er bietet zugleich auch den und zwar sehr reichen Stoff zu einer selbstständigen Schilderung, sodaß wir seiner hier nur erwähnen, um das Bild des Watts zu vervollständigen. Wir haben dem Leser da, wo die heimische Küste scheinbar abzuschließen scheint, noch eine fremde seltsame Welt vorgeführt; wir konnten aus der feuchten Tiefe Schatten und Geister längst verschollener Zeiten heraufbeschwören und Vergangenheit und Gegenwart im Rahmen eines eigenartigen Landschaftsbildes vereinigen, aber freilich war es keine freundliche Idylle, keine anmuthige Scenerie, welche wir dem Auge des Lesers zeigten, sondern ein düsteres, aber großartiges Küstengemälde voll finsteren, fast drohenden Ernstes; doch ihm zur Seite konnten wir an den Schluß ein anderes lichteres Bild stellen, das uns zeigt, wie ein höheres Culturleben zwischen Klippen und Untiefen freundliche Warner und gastliche Leuchten errichtet, und wie der Mensch dem Menschen über den Kampf der Elemente hinaus die Hand reicht.