Skizzen aus Niederdeutschland (5)

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Autor: Ferdinand Lindner
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Titel: Sturmfluth
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 838–842
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Serie Skizzen aus Niederdeutschland
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Skizzen aus Niederdeutschland.
Von Ferdinand Lindner.
5. Sturmfluth.

Sturmfluth – ein wildes, unbändiges Wort, das ein ungeheures Bild in unserer Seele erregt – ein klares und vollkommenes aber wohl kaum. Wer den Ocean nicht selbst sah, wie er sich, vom Sturm belastet, dem Lande zuwälzt, dem kann keine Schilderung, auch die leidenschaftlichste nicht, ein vollständiges Bild geben, noch weniger aber das Bild einer in den Wirbeln des Meeres versinkenden Landschaft.

Was wir in Folgendem dem Leser vor Augen führen wollen, ist eine geschlossene Darstellung der Sturmfluthen überhaupt und ihre Einwirkung auf die Verhältnisse unserer Nordseeküste, und wenn wir diese Darstellung mit dem Versuche beginnen, eine Sturmfluth flüchtig zu skizziren, so bezweckt dies allein, dem Leser das sinnlich nahe zu rücken, was in der folgenden Geschichte der Sturmfluthen den gewaltigen elementaren Hintergrund bildet.

Erdfahl hat sich der Himmel umzogen; erdfahl färbt sich die See, und aus der unruhigen düstern Fläche blickt es weiß auf – kurz und schnell, bald hier, bald dort: die See zeigt die Zähne, wie das Raubthier vor dem Ansprung; kurze weiße Schaumkämme tauchen auf und versinken; höher beginnen sich die Wogen zu heben; länger dehnen sich die Schaumrücken; hohl tönend kommt es über die See herüber – der Sturm ist da.

Doch was kümmert das den Marschbewohner, der vom sichern Deiche hinaus in die Wasserwüste und hinab in die stille Landschaft blickt, deren gesegnete Gefilde, weithin gestreckt, sich in der grauen Ferne verlieren.

Aber mächtiger, wuchtiger stößt der Sturm auf Meer und Land nieder; schon rollt die See brausend über den Groden heran; nicht lange und sie bricht sich schäumend an der Bärme des Deiches – über die rückprallende Woge gießt sich rauschend und zischend die folgende und über die im Schaum zerberstende wälzt sich donnernd die nächste den Deich hinauf; höher und höher, Fuß um Fuß klimmen sie empor. Schon zuckt die erste Spritzwelle über der Kappe auf, und wie nun die Wogenhäupter anfangen, gierig über den Deich zu spähen, wie der Schaum geradaus in’s Land fegend sich schneegleich auf die braunen Moosdächer wirft und an die Lehmwände schlägt, da blickt der Marschbewohner nicht mehr ruhig, sondern beklommen späht er zwischen den tief jagenden Wolkenfetzen zu dem düstern Himmel hinan. Doch dort schreibt der Orkan nur drohende Zeichen. Er blickt in die finstern Sturmcolonnen des Oceans hinaus, aber als triebe sie ein furchtbarer höherer Wille, ein unerbittlicher Gedanke, so rastlos stürzen sie in wilder Energie heran. Der Tag versinkt ohne Abschiedsgruß in der wüsten Nacht, und mit der Nacht kommt das Ende.

Längst schon ging der Alarm durch’s Land; längst schon stehen die Posten auf Auslug und arbeiten die Männer verzweifelt hier und dort, die Kappe, den obersten Theil des Deiches, zu halten; denn wenn diese verloren, ist es auch der Deich.

Alles umsonst! Die vernichtende Woge rollt endlich heran; in Schaum und Gischt zerbröckelt die Kappe; hinterdrein stürzt der zermalmte Deich, und triumphirend donnern die Fluthen durch die Bresche; mit Gedankenschnelle sind die nächsten Höfe weggefegt wie Kartenhäuser, in Nacht und Grauen, in Sturmgeheul und dem rasenden Wirbel der Elemente beginnt der Todeskampf der Landschaft, das große Sterben, das letzte Ringen mit den Wogen.

Wenn auch die nun folgenden Scenen in ihren Einzelnheiten denjenigen binnenländischer Überschwemmungen zum Theil ähneln oder gleichen, so liegt doch in dem Bewußtsein, daß das uferlose Weltmeer sich auf den Menschen herabstürzt, eine so furchtbare [839] Größe der Hoffnungslosigkeit, wie sie den Scenen einer Flußüberschwemmung nicht im gleichen Grade eigen sein kann.

Da aber die Mehrzahl der Sturmfluthen in das Winterhalbjahr fällt, so treten zu den Schrecken der Fluth noch die eisige Kälte, die Schneeböen und manchmal sogar das Treibeis, dessen Schollen die Wogen dann wie Sturmböcke gegen die Deiche und Häuser schleudern. Nicht immer aber wächst die Sturmfluth so allmählich an, sondern oft ist sie plötzlich da, wie aus dem Ocean emporgestiegen, und die Vernichtung kommt dann um so schrecklicher über die nichts ahnende Landschaft.

Neben den entsetzlichen Scenen des Kampfes mit den Fluthen – manchmal tritt sogar das vom Sturm erreichte und angefachte Herdfeuer als vernichtender Bundesgenosse des Wassers auf, ja die Gräber speien ihre Todten aus – finden sich Fälle der wunderbarsten Errettung. Die Kinder in der Wiege fehlen auch hier nicht; dagegen sind Rettungen, wie z. B. die folgenden, merkwürdig genug: So wurde einmal ein Bürgermeister von Tönningen in einem Braubottich schwimmend an die Dithmarschen getrieben; eine alte Frau von den Meereswogen in ihrem Bette an den Strand getragen, „ohne daß die Oberdecke naß wurde“, wie die Chronik ausdrücklich bemerkt; ja ein Ehepaar mitsammt dem Hause fortgeführt und ganz gemüthlich auf einem Deiche abgesetzt.

Ein Irrthum wäre es, wollte man die Zerstörung des Landes und den Untergang zahlloser Menschen als die alleinige, grauenhafte Wirkung einer Sturmfluth ansehen; nicht weniger unheimlich ist sie in ihren Folgen für die Ueberlebenden. Nicht allein die Aussaat wird zerstört, die eingeheimste Ernte vernichtet, die Heerde ertränkt, sondern auch das Land ist, soweit die See wieder abgelaufen, durch die „salze Fluth“ auf Jahre hinaus unfruchtbar geworden, zum Theil versandet; die Brunnen sind verdorben, und aus dem Schutt und Wust steigt ein anderes Gespenst empor – die Seuche. Oft sind nach einer Sturmfluth ganze Ortschaften ausgestorben. Und doch ist das noch nicht Alles. Wenn die unermüdlichen jahrelangen Versuche, das Verlorene dem Meere durch neue Eindeichungen abzugewinnen, sich als vergeblich herausstellen oder die Hülfsmittel zur Neige gehen, dann müssen diejenigen, welche einst hier als freie Hausmänner auf stattlichen Höfen saßen, in die Fremde wandern, in Seedienst gehen oder wohl gar bei Fremden, die, mit Mitteln und Privilegien ausgestattet, Besitz von ihrer alten Heimath nehmen, sich als Knechte verdingen. –

Die Sturmfluthen, welche der naive Volksglaube zu allen Zeiten als göttliches Strafgericht über menschliche Sündhaftigkeit aufzufassen liebt, sind auch der Stoff, an welchen die sonst wenig fruchtbare Sagenbildung in den Küstengebieten anknüpft. Ja die Sage greift in die Zukunft hinüber, indem sie von untergegangenen Ortschaften erzählt, welche dann wieder auferstehen sollen – hier ahnungsvoll vielleicht mit dem geologischen Thatbestand zusammentreffend. Ebenso berichtet das Volk – freilich immer erst hinterher – von drohenden Vorzeichen, welche der Sturmfluth vorausgingen, von den landesüblichen Unheilpropheten, den Kometen, dann von Mißgeburten, wunderbaren Thieren und anderen Erscheinungen, welche die Chroniken aufzählen.

Das Bild der Sturmfluth wächst zur Riesengröße empor, wenn wir den Jahrhunderte langen Kampf auf der ganzen Linie unserer Nordseeküste zu einem historischen Ganzen zusammenfassen: dies zeigt uns den Menschen nicht mehr als das den Fluthen hülflos verfallende Pygmäengeschlecht, sondern – ein großartiger Gedanke – als den ebenbürtigen, ja oft siegreichen Gegner des Weltmeeres, und was diesen Kampf unserem Herzen noch näher rückt, ist der Umstand, daß es germanisches Blut, daß es ein Bruderstamm und der besten einer, der Friese, ist, welcher denselben Jahrhunderte lang durchgekämpft hat. „Deus mare, Batavus litora fecit!“ („Gott schuf das Meer, der Holländer die Küste!“) – dieser verwegene Spruch sagt trotz der Kühnheit des Gedankens doch nur die Wahrheit: das Auge auf den Ocean gerichtet, schuf sich der Mensch hier Land und Staat.

In den frühesten Berichten, denen des Plinius, finden wir die Küstenbewohner schon mitten in diesem Kampfe, und zwar auf ihren einzeln liegenden Wurten der ganzen Willkür des Meeres preisgegeben. Dann, nach schwachen Einzelversuchen, beginnt erst in späten Jahrhunderten der Deichbau und schafft die Grundlage zu einem höheren Gemeinwesen: Kein Land ohne Deich, kein Deich ohne Land – in diesem Satz gelangt auf’s Deutlichste der Gedanke zum Ausdruck, daß der Deich das Rückgrat alles Culturlebens bildet.

Aber mit dem Widerstande wächst der Kampf und der Verlust – hinter dem Deiche finden die Fluthen immer mehr zu zerstören, als vordem, und so wachsen die einzelnen Katastrophen zu gesteigerter Höhe – mit ihnen wächst aber auch der Kampfmuth, der Trotz, und staunend blicken wir auf die fast unglaubliche Zähigkeit der um ihre Existenz ringenden Stämme. Was der Großvater dem Meere abgewinnt, wird dem Enkel wieder entrissen, und von seinem rückwärtsgeschobenen Deiche aus blickt er auf die Gewässer, welche über den Gräbern seiner Väter, über seiner Geburtsstätte, über den Triften seiner Heimath wogen. Doch unverdrossen beginnt er von Neuem die Deiche vorzuschieben, wieder und wieder zurückgeworfen, von Neuem vordringend, bis er endlich festen Fuß gefaßt und ein blühendes Heimwesen hinter seinen Deichen geschaffen hat – um dann mit ergrautem Haare in einer einzigen Sturmnacht das Werk seines Lebens mit Kindern und Enkeln in den Fluthen versinken zu sehen, den wenigen Ueberlebenden es überlassend, da wieder zu beginnen, wo er, wo der Urgroßvater begann. Wahrlich, es gehörten Menschen von hervorragenden Eigenschaften dazu, solches zu leisten. Schon Tacitus rühmt die Tugenden gerade unserer Küstenbewohner, und so hat auch die Nordsee im Verlaufe der weiteren Geschichte viele derjenigen Stämme in’s Binnenland gesandt, welche sowohl als Staatenzerstörer, wie als Staatengründer mit Ruhm genannt werden. Ebenso prächtig wie treffend charakterisirt ein Chronist des siebenzehnten Jahrhunderts diese Küstenbewohner, indem er sagt, sie seien „stark von Leib, hoch von Geist, steif von Sinnen, ernsthaft und landbegierig“.

Wie die Geschichte dieser Menschen und ihrer Gemeinwesen, so ist aber auch die Gestaltung unserer Küste selbst eine Riesenchronik der Sturmfluthen. Jahrtausend um Jahrtausend hat das Meer dem Lande neues Land zugeführt, in jeder Stauzeit eine neue, fruchtbare Schicht ablagernd, aber es hat sich auch als furchtbarer Wucherer erwiesen, was es gab, hat es nur allzu oft mit Zinseszinsen in einer einzigen Sturmnacht zurückgenommen.

Wollten wir ein Bild der Küste entwerfen, wie sie einst war, so müßten wir den Leser theils weit hinaus in’s Watt oder in die See führen, theils an der Küste allenthalben Verlorenes ersetzen. Hier riß das Meer die Küste aus einander und schuf Inseln daraus; dort zerriß es Inseln und häufte den Ueberrest als Dünen an’s Festland; hier drang es meilenweit in’s Land ein; dort spaltete es Flußmündungen zu breiten Meerbusen aus einander; wo einst stattliche Viehheerden auf üppigen Wiesen weideten, zieht jetzt Fluth und Ebbe durch eine viel befahrene Seestraße, wo reichbevölkerte Städte und Dörfer lagen, streckt sich jetzt ödes, graues Watt – kurz, unsere ganze zerklüftete Küste bietet das Bild der Zerstörung. War doch z. B. zu Karl’s des Großen Zeit das Land der Friesen doppelt so groß wie jetzt; wird doch der Gesammtverlust der Niederlande auf 125 Quadratmeilen berechnet. So ist das jetzige Nordfriesland nur der Ueberrest glücklicher Marschlande, und wenn der mythische Südstrand wirklich existirte, konnte man einst trockenen Fußes bis eine Meile vor Helgoland gelangen. Wer vom Felsen Helgolands in die See und Dünen hinausblickt, denkt schwerlich, daß hier einst vieh- und kornreiche Ländereien, viele Kirchspiele mit Kirchen und Klöstern sich weit hinaus erstreckten; von Wilhelmshaven blickt man auf ein Gebiet, wo jetzt die „salze Fluth“ wogt, auf den Jahdebusen, wo einst blühende Ortschaften lagen, von denen jetzt nur als trauriger Rest die oberahnischen Felder wie ein grüner Grabhügel über dem Versunkenen emporragen, und so wird man, Meile um Meile an der Küste hinschreitend, allenthalben auf die Spuren der Sturmfluthen treffen – besteht doch der ganze Inselkranz nur aus Ruinen, aus den zerrissenen Ueberresten einer zusammenhängenden Dünenkette.

Bei diesen Zerstörungen sind zwei Erscheinungen aus einander zu halten – einerseits die einfache Ueberschwemmung des Landes durch die See und andererseits der wirkliche unmittelbare Substanzverlust, wenn man so sagen darf. Es wäre ganz unbegreiflich, wie Hunderte von Quadratmeilen vollständig aus der Küste herausgerissen werden könnten, wenn die Erklärung nicht in einer geologischen Erscheinung läge, die sich längs der ganzen Küste wiederholt: in den Unterwassermooren. Zur Zeit einer früheren Senkung der Küste ist die darauf befindliche Vegetation zu Torf umgebildet [840] worden, auf dem sich Sand- und Marschboden ablagerte; bei einer folgenden Hebung der Küste wurde das Ganze gleichfalls gehoben, die Sand- und Humuslast preßte aber das Torflager darunter zusammen und sank in Folge dessen unter das Niveau des Meeres. Eine tief in’s Land hereinbrechende Sturmfluth wühlte sich dann in die untenliegende Torfschicht ein, hob sie und zog so der darauf ruhenden Marschlandschaft gleichsam den Boden unter den Füßen weg. So entstanden die Meerbusen vom Jahdebusen bis zur Zuidersee. Manchmal wurden von diesen zerstörten Strecken zusammenhängende Theile durch die See fortgetragen und anderwärts auf die Küste geworfen, wie es z. B. den Eiderstedtern in der Marcellusfluth von 1300 erging, denen sich ein Torflager auf ihre Aecker legte, um das sich dann ein Proceß mit den früheren Eigenthümern des Torflandes auf Nordstrand entspann.

Wenn wir nun an die chronologische Zusammenstellung der hauptsächlichsten Sturmfluthen herantreten, machen sich zunächst einige allgemeine Gesichtspunkte geltend.

Bei einem Ueberblicke über die Reihenfolge der Sturmfluthen tritt die Thatsache hervor, daß bis zur Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts Zahl und Umfang der Katastrophen zu-, von da an abnimmt. Es wäre nun ein großer Irrthum, dies einer Veränderung der elementaren Gewalten zuzuschreiben. Die Erklärung dieser Thatsache liegt vielmehr in der früheren Unzulänglichkeit der Deiche bei zunehmender Bedeichung und Besiedelung des Landes. War es anfangs mangelhafte Organisation, Mangel der Mittel oder auch theilweise Trägheit, so kam später, wo man dem Deichbau die eingehendste Sorgfalt widmete, eine wirkliche Unkenntniß der Zulänglichkeit des Deiches hinzu, wofür uns ein recht deutliches, geradezu tragisches Beispiel von der nordfriesischen Insel Nordstrand überliefert worden ist. Nachdem Nordstrand in der Fluth von 1615 furchtbar mitgenommen worden war, baute man die Deiche fester und höher, sodaß der Deichgraf, nach Vollendung der Arbeiten, den Spaten einstieß mit dem kecken Rufe: „Trotz nun, blanke Hans!“ Und die See nahm die Herausforderung an; wenige Jahre darnach brach sie an vierundzwanzig Stellen zugleich in die Deiche ein und verwüstete die Insel so, daß nur noch geringe Ueberreste in unseren Tagen bestehen.

Eine anderweitige auffallende Thatsache ist die, daß besonders verheerende Fluthen im Laufe der Jahrhunderte an gewissen Tagen wiederkehren, sodaß diese letzteren eine düstere Bedeutung erhielten und zu Buß- und Bettagen wurden. So sind am „St. Gallus-Tag“ sieben große Fluthen verzeichnet, weshalb man in ganz Friesland den 16. October als großen Unglückstag feierte. Schlimm ist auch „Allerheiligen“, worauf der folgende Vers deutet:

„Allerhiligen Tag
Freßland wohl beklagen mag.“

Diesen Unglückstagen schließen sich noch an Weihnachten, die heiligen drei Könige, der Tag der heiligen Cäcilie, Walpurgis und einige mehr. Besonders hohe Fluthen haben sich im Gedächtniß des Volkes unter dem Namen der „Manntränke“ erhalten, insofern die Menschen „Mann an Mann“ ertranken. Der Glaube, alle vierzig Jahre breche eine große Fluth herein, steht mit der Geschichte nicht gerade im Widerspruche. Diese Wiederholung an bestimmten Tagen hängt wesentlich damit zusammen, daß bei Voll- und Neumond, besonders in Verbindung mit einem Umschlagen des Sturmes aus Südwest nach Nordwest, die verderblichsten Fluthen einzutreten pflegen.

Die früheste, in ihren Wirkungen großartigste Sturmfluth hat keines Menschen Hand verzeichnet; sie hat sich selbst ihre Geschichte in der Gestaltung der Küsten geschrieben: Sie brach das felsige Bindeglied zwischen Frankreich und England; sie schuf jene Seestraße, die wir heute den Canal nennen, und streute den Schutt der einbrechenden Mauer hundert Meilen weit in’s Land. Aber wenn auch kein Mensch uns von diesem gewaltigen Erreignisse berichtet, Menschen gab es doch schon damals; denn die Spuren ihres Daseins finden wir zwischen jenem Schutt. Eine Sage deutet – um dies nebenbei zu bemerken – auf jene Zerstörung hin, indem sie erzählt, eine englische Königin habe, um sich an einem dänischen Könige zu rächen, die Scheidewand durchgraben lassen, und so Land und Leute des Dänenkönigs vernichtet.

Die erste sichere Erwähnung einer Sturmfluth knüpft an das Erscheinen der Germanen auf der Weltbühne, an die Invasion der Cimbern und Teutonen im römischen Reiche an. Von dieser, speciell von der Wanderung jener Stämme, berichtet Strabo, sie solle durch eine große Fluth veranlaßt worden sein, doch, setzt er ungläubig hinzu, sei dies nicht anzunehmen, da ja Fluth und Ebbe eine ganz regelmäßige Erscheinung sei. Er wußte also offenbar nichts von Sturmfluthen, um so deutlicher spricht hier aber die Ueberlieferung einer solchen aus seinen Worten. Aus den späteren Zeiten besitzen wir keine oder nur ungenaue Nachricht über Sturmfluthen; erst mit dem elften Jahrhundert, das drei größere Fluthen aufweist, beginnt die unheimliche Reihe der uns mehr oder weniger genau überlieferten Katastrophe.

Das zwölfte Jahrhundert bringt namentlich in seiner ersten Hälfte eine Reihe schwerer Fluthen; so 1144, wo die See zwölf Meilen tief in’s Land drang, und 1162, die erste „Manntränke“, welche viele Tausende von Menschen und Massen von Vieh ertränkte. Gegen Ende des Jahrhunderts nimmt die Bildung der Zuidersee ihren Anfang.

Das dreizehnte Jahrhundert, ein an mächtigen Sturmfluthen besonders reiches, beginnt und endet mit furchtbaren Fluthen. 1216 kam eine solche mit schrecklicher Gewalt über die Marschen; sie raffte auf Nordstrand allein 10,000 Menschen fort, und schon am 16. November 1219 wüthete dann die Marcellusfluth, welche ihrer Vorgängerin nichts nachgiebt und wohl ebenso viel Menschen ertränkte. Jahr auf Jahr neue Fluthen. Darunter die Weihnachtsfluth von 1277, in welcher die Bildung des Dollart beginnt und dreißig Ortschaften zu Grunde gehen. Das begonnene Zerstörungswerk vollendet die zehn Jahre später, am 14. December 1287, hereinbrechende Sturmfluth, welche der Zuidersee und dem Dollart ihre heutige Gestalt gaben, wobei 80,000 Menschen ihr Leben verloren. Aber als hätte das verderbliche Jahrhundert mit der verderblichsten Fluth schließen wollen, so kam am 16. Januar 1300 die zweite Marcellusfluth, welche vier Ellen hoch über die höchsten Deiche schwoll und bei der in Schleswig allein gegen 7600 Menschen zu Grunde gingen, auf Helgoland Alles bis auf zwei Kirchen zerstört wurde.

1330 versinkt in Nordfriesland Rungholt mit sieben Kirchspielen, und andere Fluthen folgen in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, während zugleich der schwarze Tod Verderben über die Lande trägt. Dann bricht um die Mitternacht des 8. December 1362 die große Manntränke herein; in Nordfriesland gehen dreißig Kirchspiele, in Ostfriesland Torum mit fünfzig Ortschaften zu Grunde, und dieser Fluth folgen im Laufe des Jahrhunderts noch sechs weitere.

Das fünfzehnte Jahrhundert bringt elf größere Fluthen, namentlich die vom 1. December 1421, in welcher an der Rheinmündung der Biesbosch entstand, wobei 72 Dörfer und 100,000 Menschen untergingen, und die Fluth von 1425, bei welcher 10,000 Menschen an den Elbufern ertranken.

Das sechszehnte Jahrhundert beginnt mit der Antoniusfluth von 1511, bei welcher die Fluthen in die alte Wesermündung einbrechen und den Jahdebusen bilden, drei Dörfer vernichtend. Es folgt die Manntränke vom 2. November 1532; dann aber stehen wir vor der schrecklichsten Fluth aller Jahrhunderte – der Allerheiligenfluth von 1570, in welcher, mitten in der Nacht losbrechend und achtundvierzig Stunden wüthend, der Ocean sich über die ganze Küste von Holland bis Jütland warf; alle Deiche wurden gebrochen; nichts widerstand, gegen 400,000 Menschen ertranken, und jahrelang lagen da, wo einst blühende Marschen waren, öde Wüsteneien, weil Niemand vorhanden war, der die Deiche wieder aufrichten, das Land wieder bebauen konnte.

Es folgt das siebenzehnte Jahrhundert mit elf größeren Fluthen, vor Allem die schwere vom 11. October 1634, welche fast ganz Nordfriesland zerstörte und ihm im Wesentlichen die jetzige Gestalt verlieh; 44 Deichbrüche fanden statt; 20 Kirchspiele gingen zu Grunde; 15,000 Menschen ertranken.

Eine höchst wunderliche Fluth – man könnte sie in Vergleich mit den anderen eine gemüthliche nennen – erschien 1630 in den Wesermarschen; an einem schönen Sommertage stieg das Wasser still höher und höher, überströmte den Deich, ruinirte die Ernte und zog sich gerade so still wieder zurück.

Im achtzehnten Jahrhundert ist es hauptsächlich die schreckliche Weihnachtsfluth von 1717, welche über die gesammte Küste schweres Unheil brachte; 15,000 Menschen gingen zu Grunde. Drei andere hohe Fluthen folgten im Laufe des Säculums.

In unserem Jahrhunderte ist es namentlich die Fluth in der Nacht des 3. Februar 1825, welche noch in dem Gedächtniß aller

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Die Sturmfluth.
Nach der Natur gezeichnet von Ferdinand Lindner.

[842] Küstenbewohner, namentlich Nordfrieslands und der Elbmarschen, lebt, da diese ganz besonders litten. Es war eine Vollmondspringfluth mit schwerem Sturm, und seit einem Jahrhundert war keine Fluth von solcher Höhe hereingebrochen. Aber trotzdem nahmen die Verluste nicht die Ausdehnung an, wie in dem vorhergehenden Jahrhundert; denn seitdem waren die Deiche doppelt so hoch und stark geworden, sodaß nun auch die Fluthen von 1845, 1850 und 1855 nicht mehr Zerstörungen von größeren Dimensionen anzurichten vermochten.

Dem Geschilderten brauchen wir kein Wort hinzuzufügen – diese furchtbare Chronik liest sich wie ein Bericht von den Schlachtfeldern eines endlosen, blutigen Krieges, und wenn wir staunend den Blick von diesem titanenhaften Ringen der Menschen mit dem Ocean abwenden, liegt es nahe, daß wir ihn besorgt auf die Zukunft richten, und die Frage tritt an uns heran: Sehen unsere Marschen nochmals solchen Katastrophen wie den geschilderten entgegen? Die Antwort hierauf kann nur eine relative sein.

Insofern die Deiche in ihrem gegenwärtigen gewaltigen Bau, und die nächste Zukunft, die nächsten Jahrhunderte in Frage kommen, kann man, soweit menschliche Erfahrung reicht, von einer ziemlich absoluten Sicherheit sprechen; eine Gefahr könnte wohl nur dann entstehen, wenn zwei ganz ungewöhnlich furchtbare Fluthen einander unmittelbar folgten, sodaß Alles, was die erste zerstört hatte, beim Andringen der zweiten noch nicht wieder hergestellt war.

Anders gestaltet sich die Lage, wenn wir über die nächsten Jahrhunderte weg in die Zukunft blicken. Der Inselkranz vor unseren Küsten unterliegt einer fortwährenden Zerstörung; gemessen mit dem Umfange, den sie in sicheren Jahrhunderten hatten, haben einzelne Inseln über die Hälfte ihrer Ausdehnung eingebüßt und in unserer, der neuesten Zeit ist z. B. Wangerooge zum verlorenen Posten geworden, den die Bewohner räumen mußten. Hand in Hand mit den Zerstörungen durch die Fluthen geht nun eine Senkung des ganzen Küstenstriches von Jahrhundert zu Jahrhundert, und wird diese nicht durch eine Hebung abgelöst, so sind die sämmtlichen Inseln ihrem Schicksal verfallen. Sind aber erst diese Wellenbrecher im Meere versunken, so ist das Vorland das nächste Angriffsobject der Fluthwellen, und ist dieses zerspült und zerstört, dann hat wohl die Stunde neuer Kämpfe für unsere Marschen geschlagen.[1]

  1. Ueber die zum Schutz unserer Nordsee-Inseln bekanntlich regierungsseits vorgenommenen Maßregeln werden wir bald einen Aufsatz aus der Feder eines Fachmannes bringen.
    D. Red.