Stadtgericht Berlin - Bürgeransammlung kein Rowdytum

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Entscheidungstext
Gericht: Stadtgericht Berlin
Ort:
Art der Entscheidung: Urteil
Datum: 27. Februar 1990
Aktenzeichen: BSK 32/90
Zitiername:
Verfahrensgang: vorgehend Stadtbezirkgsgericht (20. November 1989)
Erstbeteiligte(r):
Gegner:
Weitere(r) Beteiligte(r):
Amtliche Fundstelle:
Quelle: Scan von NJ 1990, H. 4, S. 179
Weitere Fundstellen:
Inhalt/Leitsatz: Die Beteiligung an Bürgeransammlungen zur Wahrnehmung verfassungsmäßiger Rechte begründet mangels Erfüllung des subjektiven Tatbestandsmerkmals der Missachtung der öffentlichen Ordnung keine Strafbarkeit wegen Rowdytums.
Zitierte Dokumente: § 215 StGB/DDR
Anmerkungen: Zur Aufhebung einer Verurteilung wegen Rowdytums aufgrund des StrRehaG siehe etwa Landgericht Berlin (28. Februar 1991, 506 Kass 64/91).
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§ 215 StGB; § 244 StPO.

Die Beteiligung an Bürgeransammlungen zur Wahrnehmung verfassungsmäßiger Rechte ist keine Mißachtung der öffentlichen Ordnung i. S. des § 215 StGB, sondern Verwirklichung einer gesellschaftlich anzuerkennenden Zielstellung.

Stadtgericht Berlin, Urteil des Präsidiums vom 27. Februar 1990 – BSK 32/90.

In den Nachmittagsstunden des 7. Oktober 1989 befand sich der Angeklagte auf dem Berliner Alexandenplatz. Dort hielten sich zu dieser Zeit mehrere Gesprächsgruppen auf. Als er erfuhr, daß an der Gethsemanekirche eine Mahnwache stattfindet, fuhr er mit seinem Pkw in Richtung dieser Kirche. Wegen einer Menschenansammlung verließ er das Fahrzeug in der Stargarder Straße und ging in Richtung S-Bahnhof Schönhauser Allee weiter. Dort bemerkte er eine Absperrkette der Volkspolizei, hinter der sich eine Menschenansammlung befand, aus der Rufe: „keine Gewalt“ und „wir bleiben hier“ erschallten. Er begab sich zu dieser Personengruppe und beteiligte sich an den Rufen. In der Dänenstraße wollte die Ansammlung verlassen, was ihm jedoch nicht gelang. In einem Hausflur wurde er festgenommen und dem VP-Revier zugeführt.

Auf Grund dieses Sachverhalts hat das Stadtbezirksgericht den Angeklagten mit Urteil vom 20. November 1989 des Rowdytums nach § 215 Abs. 1 StGB schuldig befunden, von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach § 25 Abs. 1 Ziff. 3 StGB abgesehen und ihm die Auslagen des Verfahrens auferlegt.

Gegen dieses Urteil richtet sich der zugunsten des Angeklagten gestellte Kassationsantrag des Direktors des Stadtgerichts, mit dem Verletzung des Strafgesetzes durch fehlerhafte Anwendung gerügt und Freispruch angestrebt wird.

Der Kassationsantrag hatte Erfolg.

Aus der Begründung:

Auf der Grundlage der zum objektiven Tatgeschehen im wesentlichen richtig getroffenen Feststellungen sah es das Stadtbezirksgericht als erwiesen an, daß sich der Angeklagte an einer Zusammenrottung von Personen beteiligte, die aus Mißachtung der öffentlichen Ordnung grobe Belästigungen gegen Personen begingen (§ 215 StGB). Es hat jedoch dje Tatbestandsmäßigkeit nur aus objektiven Kriterien abgeleitet. Ob aber ein Täter aus dem von § 215 StGB geforderten Motiv der Mißachtung der öffentlichen Ordnung handelte, ist nicht nur anhand des äußeren Tatablaufs festzustellen; vielmehr ist in diese Betrachtung auch die gesamte Tatsituation und deren Zustandekommen einzubeziehen.

Im vorliegenden Verfahren ist davon auszugehen, daß sich die Bürgeransammlungen in der Schönhauser Allee in Wahrnehmung solcher verfassungsmäßig garantierten Rechte wie des Rechts auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungsfreiheit u. a. bildeten. Von diesen Ansammlungen wurde eine Veränderung der politischen Verhältnisse, wurden Freiheit und Demokratie gefordert.

Die Beteiligung an solchen Ansammlungen und deren gewaltlosen und friedlichen Bekundungen gegen die Einschränkung der genannten Verfassungsrechte durch polizeiliche Maßnahmen geschah nicht aus Mißachtung der öffentlichen Ordnung, vielmehr aus gesellschaftlich anzuerkennenden Zielstellungen. Es fehlt also an dem vom Tatbestand des § 215 StGB geforderten Motiv der Mißachtung der öffentlichen Ordnung, so daß der Angeklagte ohne weitere tatsächliche Erörterungen im Wege der Selbstentscheidung freizusprechen war (§§ 244 Abs. 1, 322 Abs. 1 Ziff. 3 StPO).

(Durch Beschluß des Präsidiums des Stadtgerichts wurde dem Freigesprochenen gemäß § 373 StPO ein Anspruch auf Entschädigung für den durch die Untersuchungshaft entstandenen Vermögensschaden dem Grunde nach zuerkannt.)