Vorgesichte

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Autor: Ernst Willkomm
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Titel: Vorgesichte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23–26, S. 329–332, 345–348, 357–361, 369–372
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[329]
Vorgesichte.
Strandnovelle von Ernst Willkomm.


I.
Die heimkehrenden Schiffer.

Es war um die Zeit der Herbst-Tag- und Nachtgleiche. Das Wetter begann schon unbeständig zu werden und wiederholt stellten sich sogenannte fliegende Stürme ein, die indeß nur von kurzer Dauer waren. In großen Schwärmen verließen die Zugvögel ihre Sommersitze, um wärmere Himmelsstriche aufzusuchen. Freunden der Natur gewährte es Zerstreuung und Genuß, namentlich die Geschwader der fortziehenden Störche zu beobachten. In den fetten Marschen der Westküste Schleswigs, wo diese Vögel in großer Menge während der guten Jahreszeit nisten, halten sie regelmägig vor ihrem Auszuge förmliche Berathungen. Die Bewohner dieser Landstriche wissen es immer einige Zeit vorher, wenn sich ein neues Storchgeschwader zum Zuge nach Süden rüstet. Dann kommen die seltsam klugen Vögel von allen Seiten unter lautem Geklapper hervorgerauscht, lassen sich in einer Binnendeichswiese nieder und beginnen in regelmäßigen Kreisen, meistens nur auf einem Beine stehend, die Reiseroute zu besprechen, d. h. zu beklappern. Haben sie sich geeinigt, so gibt ein noch lauteres Geklapper das Signal zum Abzuge. Wie ein Sturmwind rauscht der Schwarm hoch in die Luft, zertheilt sich hier in breite Geschwader, ordnet sich auf- und niedersteigend und fliegt dann, ein langschenkliges Dreieck bildend, dessen Spitze nach vorn gekehrt ist, über die Watten hinaus nach der brandenden See.

Nach dem Wegzuge der Störche berechnen die Küsten- und Inselbewohner den früheren oder späteren Eintritt des Winters. Wie alle derartigen Berechnungen trügt auch bisweilen der Abzug der Störche, in einer Beziehung aber können sie für die zuverlässigsten Propheten gelten. Man darf annehmen, daß es viele Stürme im Herbste geben wird, wenn die Störche sich zeitig zum Aufbruch rüsten. Und da Küstenbewohner weit mehr von Sturm und Fluth abhängen, als andere Menschen, so ist es für sie immer von Wichtigkeit, auf die Zeichen Acht zu haben, welche stürmische Witterung als nahe bevorstehend verkündigen.

Zwischen Heverknobs Westbrandung und Seesand in der breiten Reutertiefe flog bei guter Bries ein schlank gebautes Fahrzeug, das drei Segel führte, von der hohen See herein. Vor der schon niedrig stehenden Sonne stand ein Wall dunkeln Gewölkes, der indeß das sanft wogende Meer nicht berührte, sondern einen breiten Saum flimmernder Goldfransen in die langsam auf- und absteigende Fluth niederhängen ließ. Süd- und nordwärts brach das Sonnenfeuer in blendender Helle hinter der Wolkenmauer hervor und goß über weite Meeresstrecken, über hohe Sande und über die wunderbar-phantastische Inselgruppe der Halligen, die so zauberhaft poetisch und so düster melancholisch die Küsten Schleswigs umgürten, ihre kühle Purpurgluth aus. Der Anblick war eigenthümlich schön, das Bild, das sich vor dem Auge entrollte, von seltener Großartigkeit. Nur das Leben fehlte ihm. Man hätte sich in die Nähe des Nordpoles versetzt wähnen können, wenn man diese endlose Meeresöde im Westen betrachtete, wo nur die graziösen Schwingen streichender Möven jetzt wie Silberpfeile, jetzt wie gekrümmte Feuerflammen den rollenden Saum einer grauen Welle berührten. Nirgends war ein Segel zu sehen, nirgends ein Laut zu hören, außer der springenden Brandung am Heverknob und dem Geschrei der Seevögel, die auf dem weißen Sandrücken des Junge-Jap im Süden Atzung suchten.

Am Bord des Fahrzeuges befanden sich zwei Männer und ein junges Mädchen. Einer der Männer saß am Steuer, der andere richtete die Segel, je nachdem Fahrwasser und Wind dies forderten. Das junge Mädchen hatte auf der schmalen Treppe Platz genommen, die zur kleinen, niedrigen Cajüte hinabführte. Seeleute sprechen selten viel, wenn sie genöthigt sind, auf Wind und Wetter zu achten. Das Fahrwasser, auf welchem das Fahrzeug segelte, gehört nicht zu den gefahrlosen. Es hat Untiefen, die jeder Schiffer genau kennen muß, um sie beim Segeln geschickt zu vermeiden, und namentlich, wenn das Wasser auf- und abläuft, d. h. wenn die Zeit der Ebbe oder Fluth eintritt, bedarf es doppelter Aufmerksamkeit.

Als die Schiffer Seesand-Steert erreicht hatten, zog der Mann am Steuer dieses fest an sich, der Andere riß die Schooten herum, braßte die Segel scharf, und heftig schaukelnd, von ein paar springenden Wellen mit salzigem Gischt übersprüht, drehte sich der Ewer, um mehr südwärts zu segeln. Die Schiffer bogen in die Süder-Aue ein, wie dieser Arm der zwischen den Inseln in zahlreiche Tiefen, Piepen und Ströme sich spaltenden Nordsee genannt wird. Ein windartiges dumpfes Brausen machte das Mädchen auf der Cajütentreppe aufblicken. Gerade über das Schiff nach den im Abendglanz der Sonne goldglühenden Dünenspitzen von Amrom hin strich ein Storchgeschwader. Es war vorüber, wie eine zerflatternde Wolke und war gleich darauf verschwunden.

„Das ist schon der dritte Schwarm seit einer Stunde,“ sagte Taken Mannis, den verschwindenden Vögeln gleichgültig nachblickend. „Es wird bald ein heftiges Wehen geben.“

Der mit dem Stellen der Segel Beschäftigte antwortete anfangs nicht; er blickte zuerst seewärts, wandte sich dann nach Osten [330] und hierauf mit gekreuzten Armen neben dem Bugspriet sich niedersetzend, sagte er:

„Da leuchtet Knudshorn; wir können noch einen halben Strich zu Ost halten.“

„Geht an,“ erwiderte Taken Mannis, „in einer Stunde ist Hochwasser, und so laufen wir gerade mit der Fluth auf’s Hooger Schlütt[1] zu.“

Die Schiffer kehrten vom Fischfange zurück. Es waren Bewohner von Hooge, jener Hallig, die schon längst durch ihre Kirche und ihre hoch ragenden Gebäude über dem Meere und den weißen Sanden, die daraus hervorschimmerten, sichtbar war. Von dem Lande selbst konnte man nichts sehen. Die Flügel der Windmühle schlugen, so schien es, bald in die fahlblaue Luft, bald tauchten sie nieder in die grauen kargen Wogen.[2]

Jetzt versank die Sonne im Meere. Die Wellen gingen höher und brachten auf den überflutheten Sandwatten jenes sausende Geräusch hervor, das für Seefahrer ein steter Warnungsruf ist. Das Jap war beinahe ganz mit weißem Brandungsschaume bedeckt. Es schien, als koche die See, so sprühte und brodelte auf dem unübersehbaren Sande die Fluthwelle.

Da der Wind gleichzeitig lebhafter ward, sahen die Segelnden außer dem hohen Dünenzuge von Amrom und den steilen, kegelartig gestalteten Wohnungen auf Hooge, Nordmarsch und Langeneß oft nichts, als ein graues, wallendes Meer. Nur zuweilen, wenn der Ewer von einer breiteren Welle emporgehoben ward, entdeckten sie den braunrothen Stumpf der alten Kirchenruine auf der Insel Pellworm.

Die Sterne funkelten bereits durch leichte Haufenwolken, als der Ewer in das Schlütt einlief. Hier war das Wasser ruhiger, die Wellen wurden kürzer und bald lag das Fahrzeug fest vor Anker. Nah und fern glänzten Lichter, die in der Luft zu schweben schienen. Ueberall blökten Schafe, dazwischen hörte man das Gebrüll von Kühen. Menschen sah man nirgends am flachen Rand des Schlütt, in dessen schlammiger Einfassung Sumpfgevögel Geschrei ausstieß und unruhig hin und wieder flatterte.

Nachdem die beiden Männer ihre Netze und andern Geräthschaften an’s Land geschafft hatten, wobei das Mädchen ihnen hülfreiche Hand leistete, schlugen sie einen kaum sichtbaren Fußpfad ein. Er führte durch äußerst kümmerlichen Graswuchs und über sehr holprigen Boden nach einer Warft, die in der nächtlichen Dämmerung einem breiten Berge glich, dessen Gipfel eine vielgethürmte Ritterburg mit seltsam geformten Zinnen und Spitzen trug. Am Fuße der Warft verlor sich das Phantastische dieses Anblicks. Es zeigte sich nichts mehr und nichts weniger, als ein nach friesischer Art gebautes Haus mit sehr steilem und hohem Dach. Daneben eine Scheuer oder Vorrathshaus von gleicher Construction, und mehrere konisch geformte Heuschober, aus denen das Ende noch höherer Stangen emporragte. Am Abhange der breiten Warft sprangen angepflöckte Schafe, fortwährend melancholisches Geschrei ausstoßend, an ihren Ketten und Stricken.

„Seid Ihr’s, Jens und Taken?“ rief jetzt von der Höhe der Warft eine etwas heisere Stimme herab, und ein hoher, breitschultriger Mann ward sichtbar auf den Stufen, die zu dem Hügel hinaufführten. „Habt sicher wenig gefangen.“

„Wenn Du willst, nichts, Vater,“ erwiderte Jens, der Jüngere, „umsonst aber war unsere Fahrt doch nicht, ’s ist uns ’was Merkwürdiges passirt.“

Nicol Mannis, ein alter Halligmann, war inzwischen die Warft schon die Hälfte hinabgestiegen und begrüßte zuerst das junge Mädchen, das ihm mit schnellen Schritten entgegen lief. Sie hatte die Brüder begleitet, nicht weil es nöthig war, sondern aus Neugierde. Lange war es ihr Wille gewesen, einmal mit auf den Fischfang zu gehen.

„Friert Dich, Karen?“ redete der Vater sein Kind an, als er die kalten Hände der leicht Zitternden ergriff, die ihn herzlich umarmte.

„Es mag wohl sein, Vater,“ versetzte Karen, „obwohl ich nichts merke von Kälte.“

„Aber Du zitterst.“

„Das macht die Angst,“ warf Taken, der ältere Bruder ein,

„Angst?“ wiederholte mißbilligend Nicol Mannis, „Eine Halligtochter kennt keine Angst, ’s müßt’ nicht mein Kind und Euere Schwester sein, wenn sie Angst hätte. Nicht wahr, lütt[3] Karen?“

„Ich hab’ mich auch nur verfehrt,“[4] sagte das Mädchen, an der Hand des Vaters, der seinen linken Arm schützend um sie schlang, die Warft vollends hinaufschreitend.

„Verfehrt?“ wiederholte Nicol Mannis in noch verwunderterem Tone. „Habt Ihr fest gesessen auf einem der Gründe?“

„Dann würde unser Ewerschiff jetzt schwerlich geborgen im Schlütt liegen,“ erwiderte Taken. „In der Außensee wehte es frisch den ganzen Tag und hätten wir uns festgesegelt, so wär’ jetzt gewiß keine Planke mehr ganz an unserm Fahrzeuge. Ich sagt’s ja schon, ’s ist uns ’was passirt.“

„Was?“ fragte Nicol Mannis gebieterisch, auf der obersten Stufe des Warft stehen bleibend und sich umkehrend zu seinen Söhnen. Er hielt die schlanke, hoch gewachsene Tochter fest umschlungen und seine mehr harten als milden Züge blickten streng auf die Söhne.

„Du sollst es gleich erfahren,“ sagte Jens, „bring’ nur lütt Karen erst unter Dach.“

Nicol Mannis verharrte noch einige Augenblicke in seiner Stellung, das Antlitz dem Meere zugekehrt, auf das jetzt die Schatten der Nacht immer dichter herabsanken.

„Die Fluth leuchtet,“ sagte er dann, die Hand nach Westen ausstreckend. „Seht dort! Es sprüht über dem Watt gegen Norderoog, als spielten die Nixen und Meerweiber mit ihrem Geschmeide. ’s wird eine steife Kühlte geben die Nacht.“

Ein scharfer Windstoß fuhr über den Kopf des alten Mannes und zerzauste seine grauen Haare. Lauter schlug die Brandung an das flache Gestade der Hallig und ein dumpfes Rollen verklang über dem dunkeln, nur hier und da von mattem Schimmer durchleuchteten Meere.

Alle traten in die gegen Südost sich öffnende Thür des geräumigen Wohnhauses, auf dessen Flur jetzt, eine Lampe in der Hand, die Mutter erschien und den heimkehrenden Kindern freundlich zunickte.




II.
Auf der Warft.

Nicol Mannis war früher Seemann gewesen. Auf seinen jahrelangen Reisen hatte er sich ein artiges Vermögen verdient, das er nun, wie dies uraltes Herkommen bei allen Uthlandsfriesen ist – so nennt man gewöhnlich sämmtliche Bewohner des Archipelagus der Westsee – auf seiner heimathlichen Hallig in Ruhe verzehren wollte. Der wetterharte Seemann entschloß sich indeß erst zu diesem Schritte, als er das Schiff, das unter seinem Commando stand, in einem fürchterlichen Sturme auf dem atlantischen Meere verloren hatte und bei dieser entsetzlichen Katastrophe wie durch ein Wunder gerettet worden war. Dies letzte Erlebniß während seiner Seereisen, von dem er selten sprach, mußte von grauenvollen Vorgängen begleitet gewesen sein. Wenigstens war Nicol Mannis, ein Mann von kaltem Blut und unerschrockenen Herzens, seit jenem traurigen Erlebniß auffallend alt geworden. Glücklich auf Hooge gelandet, verließ er die Hallig nicht mehr. Er lebte in jener geschäftigen Unthätigkeit, die man häufig bei alten Seeleuten findet und die meistentheils nur in einem Betrachten des Meeres, einem Beobachten von Wind und Wolken, in rastlosem Auslugen nach jedem Stückchen Leinwand, das am fernen Horizonte sichtbar wird, besteht.

[331] Ruhe freilich und die friedliche Stille einer in jeder Beziehung gesicherten Häuslichkeit, wie der Binnenländer sie für die späteren Jahre seines Lebens begehrt, fand der alte Mannis nicht auf seiner Warft. Wahrscheinlich wäre ihm damit auch nicht gedient gewesen. Der Halligbewohner schwebt nämlich immer in Gefahr, plötzlich von der Tücke der wilden See überrascht zu werden und ihrem Grimme zu erliegen. Er kann gegen die unbezwingliche Fluth, wenn der West sie aufwühlt, nicht kämpfen. Nur ein passiver Widerstand, furchtloses Aushalten können ihn im glücklichsten Falle retten. Gerade diese Gefahr aber, die er stets vor Augen sieht, läßt ihn wohl die Unthätigkeit leichter ertragen, weil sie seinen Geist und seine Phantasie beschäftigt.

Es war ein gar freundlicher Raum, den jetzt der alte grauköpfige Mann mit seinen drei Kindern betrat. Alles sah sauber, blank und glänzend aus. Das Mobiliar des nicht sehr hohen, oblongen Zimmers hätte einen städtischen Salon nicht verunziert. An den mit weißen, sehr zierlichen Kacheln gleichsam tapezierten Wänden hingen Abbildungen segelnder Schiffe. Auch der Untergang eines Dreimasters auf stürmischem Meere befand sich darunter. Es stellte dies Bild den Schiffbruch der Fregatte dar, welche Nicol Mannis das Seemannsleben verleidet hatte. Es war von nicht ungeschickter Hand nach seinen eigenen Angaben gemalt. In dem weißen, niedrigen Kachelofen, dessen Obertheil mit einer glänzenden Messingplatte geschlossen war, brannte ein stilles Torffeuer. Die Nordseite des Zimmers war von blüthenweißen Gardinen umfaltet, hinter denen nach altfriesischer Sitte die Lagerstätten des Hausherrn und seiner Gattin, in die Wand hineingebaut, sich befanden.

Die mittelgroßen, beinahe viereckigen Fenster, in hellgrün gemalte Rahmen eingefaßt, waren noch nicht durch Wetterläden geschlossen. Man überblickte daher die ganze Hallig nach Süd und West und bemerkte eine Anzahl gelbrother Lichtpunkte, die wie stille Irrlichter auf der mageren Erdscheibe standen. Sie zeigten die Wohnungen anderer auf hohen Warften liegender Halligleute an.

Frau Ellen, die Gattin des alten Capitains, hatte schon den abendlichen Theetisch gedeckt. Jetzt setzte sie weißes Feinbrod auf, nebst Butter und Zucker in einer werthvollen Dose aus getriebenem Silber.

Jeder der Bewohner nahm seinen Platz ein. Dann sagte Nicol, an alle drei Kinder sich gleichzeitig wendend:

„Nun laßt hören, was Euch passirt ist!“

Diese Frage ward kühl und durchaus nicht in einem Tone gethan, welcher Neugierde durchblicken ließ. Nicol Mannis fragte wie Jemand, der nur den Grund einer geschehenen oder unterlassenen Handlung erfahren will und ein Recht dazu hat.

„Wir hatten uns auf der Landtiefe vor Anker gelegt,“ nahm der älteste Sohn Taken das Wort. „Die See rollte leichte Wogen, die Sonne brach ab und zu durch das niedrig ziehende Gewölk. Im Ost waren uns die Dünen von Amrom gerade in Sicht, nordwärts schimmerte wie ein weißlicher Nebel die Sandeinöde der Sylter Südspitze. Schon hatten wir uns ein paar Stunden lang vergeblich abgemüht, ohne einen erträglichen Fang zu thun. Jens meinte, wir thäten besser, weiter landwärts zu segeln und bei Capitains Knob[5] unser Netz auszuwerfen. Ich stimmte bei, wir holten den Anker ein und drehten ab. Kaum waren wir abermals mit unserer Arbeit beschäftigt, als es dunkler und immer dunkler ward. Eine Bö aus Südwest zu Süd machte das Meer schäumen, wir mußten die Segel einnehmen; die Luft sah aus, als werde ein Sturzregen sich über uns entladen. Es fiel aber kein Tropfen. Die Wolken verzogen sich bald wieder, brachen sich an den Amromer Dünen und der blaue Himmel blickte alsbald wieder auf uns herab. Recht hell wollte es jedoch nicht werden. Als dämmere der Abend, gerade so sah das Meer aus, und die Luft blieb undurchsichtig, obgleich es nicht nebelte.

„Karen fiel diese Dämmerung früher auf, als uns Brüdern, die wir hart arbeiteten. Sie sprach darüber und meinte, es könne uns doch wohl noch ein schweres Wetter überfallen. Ob es nicht besser sei, weiter in See zu gehen?

„Beinahe hätten wir uns bestimmen lassen, da blieben wir alle Drei wie versteinert stehen und unser Netz spülten die Wogen fort.“

„Was versteinerte Euch?“ fragte der Vater.

„Ich kann’s nicht sagen, was es war, und doch sah ich’s, so deutlich wie Dich und die Mutter.“

„Und wir sahen es auch,“ bekräftigten Jens und Karen zugleich.

„Es war ein Ding, wie ein rollender Nebel,“ fuhr Taken fort, nachdem der Vater den andern Beiden durch einen Wink Schweigen geboten hatte. „Das Ding strich gegen den Wind gerade von Hörnum auf uns zu. Es konnte eine Wolke sein, wie die Sonne sie in den Dünenthälern ausbrütet. Solche Wetterwolken haben ihren eigenen Wind bei sich und können steuern, wie sie wollen. Auf einmal aber sahen wir, daß es ein Schiff war, ein Dreimaster, just so groß, wie der hinter Dir an der Wand. In’s Vormarssegel waren zwei Reefe geschlagen, das große Bramsegel aber blähte sich in seinen Nockbindseln voll im Winde. Alles war steif back gebraßt und das Fahrzeug rauschte auf uns zu, daß die Wogen schäumend am Buge hinaufliefen. An der Gaffel drehte die dänische Flagge und unter der Gallion erkannten wir deutlich den Namen „Der indische Nabob“.“

„Mein Fregattschiff, das ich verloren?“ unterbrach hier Nicol Mannis seinen Sohn, sich die Haare aus der runzligen Stirn streichend und ernst den Erzählenden anblickend.

„Das Schiff hieß gerade so,“ fiel Jens, der jüngere Sohn ein, „auch war’s genau so getakelt, wie das verunglückte.“

„Ich hielt unsern Ewer scharf leewärts, die Fregatte glitt vorüber, kaum aber sahen wir ihren Hintersteven, da zerrann auch das Ding, und die Luft klärte sich wieder auf. Karen fror, daß ihr die Zähne klapperten. Das bedeutet auch nichts Gutes, meinte sie, und trieb zur Heimkehr. Uns war auch wunderlich dabei zu Muthe, und da wir doch kein Glück hatten, drehten wir ab, und liefen mit halbem Winde südwärts.“

Nicol Mannis sah nachdenklich vor sich hin. Ellen störte ihn auf aus diesem Grübeln.

„Ich begreife nicht,“ sagte die einfache, klar verständige Frau, „wie Du über ein Wolkenspiel, deren es alljährlich in unserer Gegend so viele gibt, Dir Gedanken machen kannst. Haben wir nicht schon mehrmals um die Zeit der Dämmerung segelnde Schiffe gerade über die Hallig steuern sehen, ohne daß es Meerwasser gab, das sie tragen konnte? Es waren pure luftige Dünste, die gewöhnlich schnell zerrannen. Solch ein Dunst ist’s auch gewesen, der die Kinder getäuscht hat.“

„Will’s gern glauben, Frau,“ erwiderte Nicol, „nur vergiß nicht, daß ich ein Halligmann bin und Du ein Kind der festen Welt. Wir haben zweierlei Augen, mit denen wir die Dinge um uns her in verschiedener Weise betrachten. ’s wär also möglich, daß es mehr auf sich hätte, als Du meinst!“

„Man muß nicht darauf achten,“ bemerkte Ellen.

„Hast gut reden, lieb Weib,“ entgegnete Nicol, „hättest Du aber erlebt, was ich mit angesehen habe in der spanischen See, ein halb Jahr vor meinem Schiffbruche auf dem „indischen Nabob,“ Du würdest bald genug alle Segel einnehmen und Dich gefangen geben einem Glauben, den Keiner wegschwatzen kann.“

„Du hast mir noch nie etwas davon erzählt, Nicol,“ sagte Frau Ellen, mit Hülfe Karens den Theetisch abräumend. „Warum warst Du so zurückhaltend?“

„Weil ich’s gern vergessen hätte. Aber ich werd’ es nimmer los aus dem Gedächtniß. Und da’s nun gerade heute zur Sprache kommt, mögt Ihr es denn Alle erfahren! Zuvor aber schließt die Wetterläden! Die See geht hohl; wenn ein Sturm aufspringt, findet er Alles in Ordnung. Mag heute die Lichter nicht mehr sehen; es könnten Strandlichter sein, deren Leuchten noch Niemand Heil gebracht hat.“

Dem Befehle des plötzlich ernst gewordenen Vaters gehorchend beeilte sich Karen, die Läden zu schließen. Die Wohnung der Halligbewohner ward dadurch um Vieles gemüthlicher. Und wenn es je einen Ort gibt, der sich zur Mittheilung eines geheimnißvollen Ereignisses oder einer furchtbaren Begebenheit eignet, so bietet das windumrauschte, von der anprallenden Salzwoge des Meeres umbrandete Haus eines Halligmannes auf einsamer Warft gewiß einen solchen dar.




III.
Nicol’s Gesicht in der spanischen See.

Frau Ellen stellte drei Gläser heißen und steifen Grogs auf einem aus Canton stammenden Theebret auf den Tisch. Es war dies des alten Seemannes und seiner jungen Söhne gewöhnlichee [332] Trank nach genossenem Abendbrod. Die meisten Männer auf den Westsee-Inseln pflegen sich Abends einen solchen „Slummer“, wie man wohl scherzweise sagt, zu gönnen. Das rauhe, häufig wechselnde Wetter und die nebelfeuchte Luft rechtfertigen diese Gewohnheit.

„Es war Mittsommer,“ hob Nicol Mannis seine Erzählung an, ein Stückchen Kautaback zwischen seine noch völlig gesunden Zähne schiebend. „Der indische Nabob, schon oft mit Schätzen vollgestaut, die mehr wie Einen zum Nabob hätten machen können, lief mit frischer Bries zwölf Knoten in der Stunde. An Bord Alles wohl, an Deck Alles klar. Kein Seemann konnte sich besseres Wetter wünschen. Blieb darum auch, als es Nacht ward, auf Deck. Machte mir immer Vergnügen, wenn See sprühte und funkelte, als pflüge der Kiel unter den blauen Wellen in gelbgrünem Feuer. Ganze Tonnen von Brillanten und Türkisen und andern Edelsteinen flogen vom Bug ab und stürzten in funkelnden Lichtschauern auf die dunkel fluthenden Wellen.

„Die Nachtwache war eben aufgezogen, als ich in Lee ein Segel bemerke. War aber noch ziemlich weit ab und steuerte nicht meinen Cours. Konnte aber doch das Besahnstagsegel und den Flieger über dem großen Stengenstagsegel durch mein Glas erkennen. Fiel mir diese Segelstellung auf, denn sonst war Alles beschlagen; dacht’ aber, ’s wär’ einer von den wilden Schiffern von der afrikanischen Küste. Eine Stunde verging, und ich kam dem Fahrzeuge näher. Es war eine prächtige Schooner-Brigg, die jetzt alle Segel aufgesetzt hatte, was ich wieder nicht begreifen konnte. Wie es nun noch etwa drei Kabellängen von meiner Fregatte entfernt ist, was geschieht? Die Schooner-Brigg schwankt hin und her, die Stengen auf der Steuerbordseite berühren die Wellen, und ehe ich mich noch besinnen kann, kentert das Schiff und versinkt spurlos im schäumenden Meere. Zu begreifen war’s nicht, was wir sahen – ich, der Mann am Steuer und der wachthaltende Mat. Es sagte Keiner von uns ’was, den Mann am Steuer aber hörte ich seufzen und stöhnen, und mir selber wurde das Athmen ebenfalls schwer.

„Cap’tain,“ sagte der Mann – ‘s war ein Ostfriese von Norderoog – „Cap’tain, sollt’s wohl ein wirkliches Schiff gewesen sein, was da die See eingeschluckt hat?“

„Weiß nicht, Mann,“ gab ich zur Antwort, und mein Auge haftete noch immer auf der Stelle, wo ich die Schooner-Brigg versinken sah.

„In der spanischen See ist manchem Schiffer schon ‘was begegnet.“

„Ich stand schweigend auf dem Hinterdeck, und sah hinab in die schäumenden Wogen, da sah ich –“

Ein starker Windstoß, der das Haus gleichsam in fester Umarmung schüttelte, unterbrach hier den Erzähler. Nicol Mannis stand auf und untersuchte die Fenster, ob sie auch fest geschlossen seien. Von außen erklang das ängstliche Geblök der Schafe, die man der im Ganzen milden Witterung wegen noch im Freien ließ.

„Wir thun besser, die Schafe im Schauer unterzubringen,“ sagte Nicol. „Wenn’s Hochwasser gibt und schwere Regenböen, leidet das arme Vieh. Kommt! Sechs Hände schaffen mehr als zwei.“

Diese Worte richtete der alte Seemann an seine beiden Söhne, die schnell ihre Gläser leerten und dem voranschreitenden Vater folgten, um die Schafe mit bergen zu helfen.

„Geschwind, Karen,“ sprach die Mutter zu der hübschen jungen Tochter. „Bereite Vater und Brüdern noch einen recht süßen und heißen Slummer. Vater spinnt seinen Faden dann viel besser zu Ende. Nur fürchte Dich nicht und sieh Dich nicht so ängstlich um, wenn es ’was Schreckliches zu hören gibt. Ich hab’ immer gefunden, daß alte Seeleute Geschichten erzählen, die gar nicht passiren können.“

„Aber Vater lügt nicht, Mutter!“ fiel Karen ein, den blanken Wasserkessel auf die hell polirte Messingplatte des Ofens stellend. „Und daß auf See entsetzliche Dinge geschehen und unerklärliche Bilder aus der Tiefe aufsteigen, hab’ ich doch selber mit angesehen. Du kennst aber die See nicht, Mutter!“

„Kenne sie wohl, mein Kind,“ erwiderte Ellen, „aber ich konnte mich nie entschließen, für lange Zeit ein Schiff zu besteigen. Die Schrecken der See hab’ ich erlebt, wie ich es Dir nicht wünschen mag. Ich sah die brüllenden Sturmwogen unser Haus zerschlagen, und wurde doch nicht ohnmächtig bei diesem Anblicke und bei den treibenden Leichen, die auf den Wellen schaukelten.“

Die Männer kehrten jetzt zurück, und nahmen ihre vorigen Plätze wieder ein.

„Nun, Vater, was sahest Du?“ wandte sich Karen mit neugieriger Frage an diesen, indem sie ein volles Glas vor ihn hinsetzte. Nicol erprobte das heiße Getränk, schob ein neues Priemchen in den Mund und fuhr fort:

„Ja, Kinder, wie ich so in die Wogen starrte, die wie von unterseeischem Feuer strahlten und ganz durchsichtig waren, da sah ich, die Gesichter mir zugekehrt, drei Männer, die Hände über die Brust gefaltet, als ob sie beteten, gerade mit dem Schiffe auf dem Meere treiben. Ueber den Körpern spülten und sprühten die Wellen, die Köpfe aber ragten über das Wasser empor. Die Gesichter waren bleich und farblos, wie die soeben Verstorbener, die Augen aber standen offen und ihre Blicke hielten sie unbeweglich auf mich gerichtet.“

„O Gott, Vater!“ rief Karen aus, ihre Augen mit beiden Händen bedeckend. „Das ist zu furchtbar! Ich sehe die drei Männer mit den Todtengesichtern schon auf unser Haus zutreiben.“

„Auch mir pochte das Herz lauter als sonst, mein Kind,“ fuhr Nicol in seiner Erzählung fort. „Ein Seemann muß indeß auf Alles gefaßt sein und sich jeder Zeit geschwind resolviren können. Der Ausbruch eines bösen Wetters läßt uns nicht Zeit zu langem Nachdenken. Man muß rasch handeln, sonst gehen alle Masten mit einer einzigen Sturzsee über Bord. Hab’s erlebt, daß sechs Mann meiner Equipage auf einmal über Bord gespült wurden, und daß die nachstürzende große Raa zwei mit ihren Nocken die Schädel mitten auseinander schlug. Es war ein furchtbarer Augenblick für mich, ich mußte aber das Schiff und seine noch übrige Bemannung zu retten suchen, und darum blinzte ich nicht mit den Augen, und rief meine Befehle durch’s Sprachrohr in das Wettergeheul hinein, als sei nichts passirt.“

„Du setztest das Boot aus, um sie wo möglich zu retten, wenn sie noch am Leben waren?“ fragte Jens.

Nicol that einen kräftigen Zug aus seinem Glase.

„Bei Sanct Patrick, wie die Irländer sagen, das that ich nicht,“ versetzte der Alte. „Und hätt’ ich’s gewollt, es wäre verlorne Müh’ gewesen! Die Todten, die mit dem Schiffe trieben, waren keine Todten, sie sollten erst später sterben. – Ich kannte sie, ich hatte eben erst mit ihnen gesprochen! – Freilich, wollt’ ich meinen eigenen Augen nicht trauen, aber ich mußt’s zuletzt doch! – – Cap’tain – flüsterte der Mann am Steuer mir zu, und seine Hand fiel schwer auf meine Schulter – Cap’tain, kennt Ihr das Blaßgesicht da unten? Ich denk’, so werd’ ich aussehen. ehe das Jahr zu Ende geht.“

[345] „Ich weiß nicht, ob ich dem Manne eine Antwort gegeben habe. Die Zunge klebte mir am Gaumen und ich glaube, meine Hand zitterte, als schüttelte mich ein Fieber. – Es war in der That das Gesicht, die Tracht, die ganze Figur des Mannes am Steuer. – Die drei Leichen trieben eine nach der andern längs dem Schiffe fort, etwas schneller als dieses segelte. Da rief der Mat auf Wache: Cap’tain! Wie ich mich umkehrte, sah ich den Mann am Bugspriet knieen und in die See hinabstieren. Ich ging zu ihm.“

„Kennt Ihr den Burschen, Cap’tain,“ sagte der brave Junge, „der sich jetzt gerade am Bug zu so unpassender Zeit im Salzwasser badet? Wenn’s nicht ein verfluchter Wechselbalg ist, bin ich’s – Gott verd– mich, selber!“

„Entsetzlich!“ lispelte Karen.

Eine neue Bö rüttelte an dem Hause und klappte mit der äußern, nicht fest schließenden Thür.

„Der Bursche sah recht, wie der Mann am Steuer,“ erzählte Nicol weiter. „Das Gesicht des dritten Mannes war mir nicht bekannt oder ich konnte die Züge desselben nicht deutlich erkennen. Wohl aber wußte ich, daß wir die Reise nicht ohne Unfall zurücklegen würden.“

„Es war ein Vorgesicht,“ sprach jetzt eine wohltönende Stimme, die von der Thür herkam, deren Oeffnen die aufmerksam Zuhörenden nicht bemerkt hatten. „Solche Zeichen gibt’s, ich weiß! Der Himmel schickt sie uns, daß wir uns bei Zeiten vorbereiten und unsere irdischen Angelegenheiten in Ordnung bringen sollen. Mein Vater und Großvater hatten bei allen wichtigen Vorkommnissen in ihrem Leben Vorgesichte.“

Karen war längst aufgestanden, um den späten Gast, einen jungen Mann, der eben vom Steuermanne zum Capitain avancirt war und noch vor Ende October die Führung eines holländischen Schiffes nach Ostindien übernehmen wollte, zu begrüßen.

„Du kommst spät, Geike,“ sagte das junge Mädchen. „Ich glaubte schon, Du würdest heute gar nicht nach mir fragen.“

Geike Woegens drückte Karen an seine Brust. Dann reichte er deren Eltern und Brüdern die Hand zum Gruße. Es war der Verlobte der Tochter des Hauses.

„Hast Du gelauscht?“ fragte Nicol lächelnd.

„Fast eine ganze Minute,“ erwiderte eben so Geike. „Deine Zuhörer verschlangen Deine Worte ja mit solcher Andacht, daß es grausam gewesen sein würde, hätte ich sie gestört. Nun fahr’ aber fort, Vater Nicol, damit wir hören, wie die Sachen ausliefen.“

„Du hast es schon ausgesprochen,“ erwiderte der alte Capitain. „Es war ein Vorgesicht und es erfüllte sich, ehe das Jahr zu Ende ging. Der „indische Nabob“, mein prächtiges Fregattschiff, kehrte mit reicher Ladung aus Brasilien zurück. Bei den Azoren überraschte uns mit Blitzesschnelle, mitten in der Nacht, der Orkan. Ehe es möglich ward, die Segel zu reffen, hatte die Wucht des Sturmes mein Schiff schon auf die Seite gedrückt. Eine fürchterliche Woge spülte darüber hin. Es hob sich zwar wieder, nun aber splitterte ein zweiter Stoß den Fockmast. Er brach und fiel über Bord mit allem Tauwerk, das ihn hielt. Da war keine Rettung mehr; der große Mast und der Besahn folgten mit sammt dem ganzen Schiffsrumpfe. Ihrer Zwölf retteten wir uns auf die strudelnden Trümmer. Wir wurden wunderbar erhalten. Während der ganzen ersten Nacht aber trieben auf dem wild brüllenden Meere drei Leichen mit uns, ganz so, wie ich sie gesehen hatte in der spanischen See. Die eine war mein Steuermann, der Ostfriese, die andere der Mat, der in jener Nacht die Wache hatte. Die dritte Leiche gehörte dem einzigen Passagiere an, den wir in Rio an Bord genommen. Es war ein Kaufmann aus Portugal, der in sein Geburtsland zurückkehren wollte. Wie er hieß, weiß ich nicht. Ich hatte nicht nach seinem Namen gefragt.“

Die Zuhörer saßen einige Minuten lang still, Nicol Mannis heftete seine blaugrauen klaren Augen auf das Wrack des Schiffes, bei dessen Untergange das eben Erzählte begegnet war. Taken brach zuerst das Schweigen.

„Ist Dir schon ein Wiedergänger[6] vor Augen gekommen?“ fragte er den ernst gewordenen Vater.

„In meinen jungen Jahren glaub’ ich deren zwei gesehen zu haben,“ versetzte dieser.

„Hier oder anderwärts?“ fiel Jens ein.

„Wiedergänger gibt’s nur in der Westsee,“ sagte Nicol. „Die junge Welt und die Festlandsmenschen spotten zwar darüber, aber die Sache hat und behält dennoch ihre Richtigkeit. Es lebt auf allen Inseln und Halligen kein Seemann, der nicht in seinem Leben einem Wiedergänger begegnet wäre. Mein Vater sah seinen eigenen Bruder nach vielen Jahren wieder, als er am Strande allein spazieren ging, und mich besuchte der treueste Freund meiner Jugend. Er kam um in einem Sturme, der das Schiff, auf dem er als Vollmatrose diente, an die Godwin-Sands schleuderte.“

„Wie begegnete er Dir?“ fragte Taken.

[346] „Ganz in der Gestalt eines Menschen, der eben aus dem Wasser gezogen wird. Seine Kleider trieften, die Haare hingen ihm feucht um’s Gesicht, die Augen sahen mich traurig und als ob er mich um etwas bitten wollte, an. Sein Gang war der eines gewöhnlichen Menschen, nur schwebender und geräuschlos. Als ich ihn anrief, zerrann das Bild in der Luft und ein Klageton zitterte das einsame Gestade entlang.“

„Dann sind uns heute Mittag vor Capitainsknob Wiedergänger begegnet,“ fiel Jens ein. „Ihr saht doch wohl die fahlen Gesichter mit den lang herabhängenden Haaren?“ fuhr er fort, seinen Geschwistern sich zuwendend. „Der Eine hing in den Wanten des Fockmastes, der Andere stand am Steuerrade. Ihre Kleidung triefte von Wasser und als das Schiff vorübersegelte, zerrannen sie zuerst in der matt nebligen Luft.“

„Es war so, wie Jens sagt,“ sprach Karen, ihren Verlobten fester umarmend und ihr Gesicht an seiner Brust bergend. „Das Auge des Mannes am Steuer war so fest auf mich gerichtet, daß ich vor Furcht laut aufschrie.“

„Und den Namen des Schiffes konntet Ihr deutlich erkennen?“

„Wir sahen ihn alle drei zugleich,“ versetzte Taken.

Nicel Mannis schüttelte den Kopf.

„Mich dünkt,“ nahm er nach einer abermaligen Pause das Wort, während welcher die ungläubige Mutter besorgte Blicke mit Karen wechselte, „mich dünkt, Euer Begegniß soll uns Allen eine Warnung sein. Wiedergänger bringen nichts Böses, sie zeigen sich uns, damit wir Vorkehrungen gegen ein drohendes Unglück treffen. Auch zeigen sie böses Wetter, hohe Fluthen, verheerende Stürme an. Am meisten müssen wir uns vor dem Orte hüten, wo sie uns begegnen. Solche Orte werden uns gefährlich. Wenn Ihr also wieder in See geht, dann legt Euch nicht im Angesicht der Amromer Dünen vor Anker! Die dortigen Gründe und Schwellen sind ein gefahrvolles Fahrwasser. Eine plötzliche Regenbö kann Euch rettungslos auf Sandbänke werfen, wo Ihr verhungert oder ertrinkt, eh’ ein anderer Schiffer Euch entdeckt. Das ist’s, was das Nebelschiff mit seiner stummen Bemannung, in der ich wohl meinen ostfriesischen Steuermann und meinen Mat vom indischen Nabob wieder erkannt haben würde, Euch hat andeuten wollen.“

Ellen machte einen Versuch, die Behauptung ihres Gatten zu bestreiten. Das war aber kein leichtes Unternehmen; denn Nicol Mannis hing an dem mit der Muttermilch eingesogenen Aberglauben seiner Landsleute so fest, wie an den Aussprüchen des Evangeliums. Auch stand die vorurtheilsfreie Festlandsfriesin mit ihrer Ansicht ganz allein. Ihre Kinder, desgleichen ihr künftiger Schwiegersohn schlossen sich, als echte Uthlandsfriesen, unbedingt dem Vater an. Und als Geike Woegens ziemlich spät die Warft verließ, waren die Zurückbleibenden fester denn je überzeugt, daß sie von mitleidigen Wiedergängern vor einem ihnen bevorstehenden Unfalle gewarnt worden seien.




IV.
Fahrt nach dem Wrack.

Am nächsten Morgen verließ Nicol Mannis schon mit Sonnenaufgang sein Haus. Der erste Blick des alten Seemanns war auf die Windfahne gerichtet, die er auf einem Giebel des Hauses in Gestalt eines segelnden Schiffes angebracht hatte. Sie zeigte dick West. Hierauf umschritt Nicol die ganze Warft, oft ausblickend nach der Binnen- und Außensee. Noch gewahrte man nirgends ein Segel. Der Wind hatte sich gelegt und da die Fluth eben erst aufzulaufen begann, lagen die endlosen Watten noch größtentheils trocken. Die Morgensonne warf glührothe Lichter über Sand- und Schlickwatten, so daß der Meeresboden stellenweise von dunkeln Feuerwogen durchfluthet zu sein schien. Den seltsamsten Anblick aber boten jetzt die Halligwohnungen dar. Manche der entfernter gelegenen glichen Zuckerhüten oder Bienenkörben, um deren Borde das Sonnenlicht in goldglitzernden Strahlen sich brach. Andere hoben sich zugleich mit ihren Warften wie breite Opferaltäre aus dem Meere, noch Andere konnte man für ungeheuere Bautasteine halten. Eine Reihe von der Sonne angeglühter Felszacken abenteuerlichster Gestalt schloß im Süden dies eigenthümliche Seepanorama.

Ganze Heere von Möven schwebten hier über grauen Wattenfeldern oder stiegen in Pausen über den Priehlen[7] auf und ab, die jetzt von den hereinbrausenden Fluthwogen mit silbernen Brandungen sich füllten.

Nicol Mannis beobachtete dies Leben auf dem Meere geraume Zeit. Obwohl es dem Capitain nichts Neues war, beschäftigte es ihn doch immer noch und erquickte sein Seemannsauge und sein Herz. Hörte er das Rauschen der Fluth, dann zog es ihn unwiderstehlich hinunter von der Warft. Er mußte das Rollen, Schäumen und Springen der dunkelgrünen Wogen sehen, die in ununterbrochener Reihe gegen den Grasbord der Hallig brandeten; der weiße Schaum einer springenden Welle mußte ihn benetzen, sonst war er nicht ruhig, nicht zufrieden. Hatte er aber den Duft der See mit vollen Zügen eingesogen, dann stieg er wieder die Warft hinauf, setzte sich an’s Fenster, nahm seinen Dolland und beobachtete durch das treffliche Fernrohr, ohne das er keine Stunde leben konnte, die verschiedenen Seepfade, die aus der Binnensee zwischen Halligen, Halliggründen, Sandbänken und Untiefen auf das hohe Meer hinausführen.

Nach seiner Gewohnheit lehnte sich Nicol Mannis an die Umfriedigung, die sein gut erhaltenes Haus umgab. Ihn fesselte nichts als das Meer, die Segel, die sich nah und fern zeigten, die Richtung, welche vom Süden herkommende Küstenfahrzeuge einschlugen, und ihre Bauart und Takelage.

Heute schien Nicol noch mehr als gewöhnlich in die Betrachtung des Bildes vertieft zu sein, das er seit Jahren jeden Tag wieder sah und so genau kannte. Die Stimme seiner jugendlichen Tochter störte ihn in seinem Sinnen und Träumen.

„Vater,“ redete Karen ihn an, „wenn Geike nach Tönningen reist, um sein Schiff zu übernehmen, darf ich ihn dann begleiten?“

Nicol bewegte kaum merklich das Haupt. Diese Bewegung war aber eine beistimmende.

„Will Euch selber durch die Hallige steuern,“ versetzte er, „Hab’ zu lange still gesessen, wird mir eine Mütze voll Seewind gut thun. Wann gedenkt Geike zu reisen?“

„In zwei oder drei Tagen.“

„Sollte ein paar Tage länger warten.“

„Weshalb?“

„Es ist dann gerade Neumond. Da wechselt gern der Wind.“

„Das Schiff ist befrachtet und muß in See gehen.“

„Kenne das, mein Kind, werd’ also Geike nicht halten. Ein Seemann muß pünktlich sein. – Kiek’, ist das nicht ein Boot dort bei Hains Halliggrund?“

„Der schwarze Punkt?“

„Es treibt mit der Fluth und ist unbemannt.“

„Die heftige Bö gestern Abend wird es irgendwo losgerissen haben.“

Nicol ging in’s Haus, um sein Fernrohr zu holen. Zurückkommend, durchforschte er die Meerespfade, auf denen jetzt die Fluth wogte und wallte, mit großer Gewissenhaftigkeit.

„Es ist kein Boot von den Halligen,“ sagte er. „Seine Form ist anders; es muß von See hereingetrieben sein.“

So sprechend kehrte er sich um, ging nach der Westseite, lehnte sich hier an die Befriedigung und betrachtete die majestätische Nordsee, auf deren blaugrünen Woge» häufig breite Silberhügel aufstiegen und blitzend im Sonnenlicht zerrannen. Er suchte lange auf dem endlosen Meere, ohne etwas zu entdecken, das ihn fesselte. Endlich aber blieb sein Auge auf schattenhaften Umrissen haften, die ein Nichtseemann schwerlich beachtet haben würde. Auf der einförmig wogenden See entdeckte Nicol einen Gegenstand, der ungleich dunkler war als die wallende Wasserfläche. Es konnte der Schatten einer Wolke sein, deren viele langsam durch die Luft segelten. Der Halligbewohner bemerkte aber, daß der dunkele Punkt sich nicht bewegte und daß häufig blendend helle Lichter um ihn aufzuckten. Er wußte jetzt, was er vor sich hatte. Das Fernrohr rasch zusammenschiebend, rief er seinem jüngeren Sohne zu, der beschäftigt war, von einem der Heudiemen Futter herabzuholen:

„Jens, mach’ Dich fertig und rufe Taken! Draußen bei Engelssand sitzt ein Wrack. Bei nächster Ebbe zerschlägt es die Brandung. Wollen sehen, ob ’was zu bergen ist und ob die Mannschaft sich gerettet hat.“

Die schnell herbeispringenden Brüder fanden sogleich den vom Vater ihnen bezeichneten Punkt. Auch sie erkannten mit scharfen Seemannsaugen in dem dunkeln Schatten ein gestrandetes Fahrzeug. Auch Karen und selbst Ellen blickten durch das Fernrohr, und alsbald machte sich eine quecksilberne Lebendigkeit auf Nicol [347] Mannis’ Warft bemerkbar. Die drei Männer setzten ihre Südwester auf, warfen die Busseruntjen über, fuhren in schwere, weite Schifferstiefeln, beluden sich mit zusammengerollten Tauen und stecken kurzhalmige, handlige Beile zu sich. Dann winkten sie Mutter und Schwester einen flüchtigen Gruß zu und stiegen die Warft hinab.

Obwohl über diesen Zurüstungen kaum eine Viertelstunde vergangen war, hatte doch jetzt die ganze Scenerie eine veränderte Gestalt angenommen. Auf allen Warften sah man belebte Gruppen. Männer, vollständig zu einer Seefahrt gerüstet, eilten dem nahen Strande zu, wo die schweren Boote losgekettet, unter monotonem, unharmonischem Johlen in’s Wasser geschoben und sodann eiligst bemannt wurden. Aber auch auf der Binnensee ward es lebendig. Von Langeneß und Nordmarsch, von Gröde und Apelland, von den Deichrändern Pellworms her stießen Fahrzeuge in See, die offenbar einem und demselben Ziele zuzusteuern beabsichtigten. Die scharfen Augen fast aller Halligbewohner hatten zu gleicher Zeit das gestrandete Fahrzeug entdeckt und alle schickten sich an, die auf demselben etwa noch befindlichen Güter dem gierigen Meere zu entreißen.

Die große Eile, die sich überall kund gab, war übrigens unnöthig. Noch lief die Fluth auf, der Wind, obwohl schwach, wehte landwärts, und gegen Fluth und Wind anzusegeln, war auch dem trefflichsten Fahrzeuge und der geschicktesten Führung desselben nicht möglich.

Nichtsdestoweniger gingen die Halligmänner mit wenigen Ausnahmen ungesäumt an Bord ihrer stark gebauten seehaltigen Sloops. Durch geschicktes Laviren gewann man doch einen kleinen Vorsprung, und trat dann die Zeit der Ebbe ein, wo nicht selten auch der Wind kentert, so konnte mit Benutzung des Ebbestromes, der Segel und Ruder ein Fahrzeug das andere überholen.

Geike Woegens, der Verlobte Karen’s, gesellte sich seinem künftigen Schwiegervater zu und bestieg mit diesem und seinen Söhnen ein und dasselbe Boot.

„Ich vermuthete schon gestern Abend eine Strandung,“ sprach der junge Mann, mit Hülfe Taken’s und Jens’ die Segel richtend. „Es wehte hart gegen Mitternacht und die Böen waren ungewöhnlich heftig. Wahrscheinlich ist’s ein Neapolitaner oder ein Schiffer aus Smyrna, der zum ersten Male nach der Elbe steuert. Solche Schiffer trügt die doppelte Fluthströmung bei heftigem Winde und treibt sie östlich ab nach unsern Watten.“

Der alte Mannis pflichtete kopfnickend bei. Er saß am Steuer und beobachtete mit großer Seelenruhe jede Bewegung des Meeres, wie den Lauf der vielen andern Segelboote, die von Süd und Nord dem Orte zustrebten, wo das gestrandete Schiff fest im Sande saß.

„Die Pellwormer kommen uns zuvor,“ sagte Nicol nach einer Weile. „Die sind des Schiffes wohl etwas früher ansichtig geworden, auch begünstigt sie die Richtung des Windes.“

Auf diese Bemerkung machte Geike eine beistimmende Bewegung. Inzwischen erreichten die Segelnden tieferes Fahrwasser und bei der nächsten Wendung des Bootes zeigte sich der Rumpf des Wrackes bereits in größerer Deutlichkeit.

Nun entspann sich ein eigenthümlicher Wettkampf zwischen den verschiedenen Segelbooten, die einander mit jeder Minute näher kamen. Alle Führer derselben benutzten jeden kleinsten Vortheil, der sich ihnen darbot, und griffen nicht selten zu gewagter Segelstellung, um ein paar Fuß Wasser mehr zu gewinnen und wo möglich einen kleinen Vorsprung zu erlangen. Gesprochen ward während dieses Wettsegelns kein Wort, nur einzelne gurgelnde Kehltöne hörte man, die bald ein Commando vorstellten, bald als Zeichen der Anfeuerung gebraucht wurden.

Das Wrack zeigte sich jetzt schon deutlich. Die See brandete wild um den dunkeln Rumpf und überschüttete diesen bisweilen mit weißem Gischt. In den heransegelnden Booten war das Rauschen und donnernde Anprallen der breiten Wogen, die sich zerstörend am Schiffsrumpfe brachen, deutlich zu hören. Hunderte von schreienden Seevögeln umflatterten den Strandungsort und schwebten bald als breite Wolke in ziemlicher Höhe über demselben, bald fielen sie nieder auf die Wellenkämme, die weißhäuptig über den Sand rollten und an den Planken des Wrackes zum Bord hinaufstrebten.

Noch wenige Minuten vergingen und alle Boote zogen ihre Segel ein. Auf dem seichter werdenden Wasser konnte man sich nur noch der Ruder bedienen.

Nun galt es abermals, die Hände zu rühren und mit nicht ermüdender Ausdauer zu arbeiten, was denn auch redlich geschah.

Die Sloop des alten Mannis war die sechste, welche das Wrack erreichte, dessen Deck sich nunmehr schnell mit Menschen füllte. Das Schiff war verlassen und allem Anscheine nach hatte sich die ganze Mannschaft in den Booten gerettet. Die Schiffspapiere und Sachen von Werth hatten die Schiffbrüchigen mitgenommen. Im untern Raume, der schon zur Hälfte mit Wasser gefüllt war, rollte die nicht bedeutende Ladung hin und wieder, je nachdem eine hohe Woge den Rumpf umspülte, hob und ihn heftig stampfend wieder auf den sandigen Grund fallen ließ.

Nicol und seine Begleiter sahen ein, daß die zu machende Beute ihren Erwartungen nicht entsprach. Es war in der That ein von Smyrna kommendes Schiff, mit Südseefrüchten und etwas Wein beladen. Erstere, in Kisten verpackt, mußte man bereits verloren geben, da sie ganz von Salzwasser überfluthet waren. Die Weinfässer trieben im Schiffsraume auf und ab, und manches war durch die starken Schwankungen schon zertrümmert worden.

Um nicht mit den immer zahlreicher sich einfindenden Insulanern, unter denen manche überaus beutegierig waren, und bereits unter drohend klingenden Worten das Deck erklommen, in nutzlosen Streit zu gerathen, begnügten sich die Halligmänner von Hooge mit zwei kleinen Fäßchen, die Wein zu enthalten schienen. Vielleicht hätten sie auch diese nicht unbehindert in ihr Boot bringen können, wäre nicht gerade über einige andere auf Deck befindliche Gegenstände zwischen Mehreren, welche gleichzeitig ihre Hände darnach ausstreckten, ein heftiger Streit ausgebrochen, der durch das Bemühen derer, die ihn schlichten wollten, schnell in Thätlichkeiten ausartete.

Nicol Mannis und seine Begleiter, wohl wissend, daß auch ihr Wort ungehört verhallen würde, benutzten gleich manchen Andern diesen Moment, verließen das Wrack und stiegen ab. Der Lärm des Kampfes, an dem sich jetzt alle am Bord Zurückgebliebenen betheiligten, hallte weithin über das Meer, und ward von den heimwärts Steuernden noch vernommen, als sie das Watt von Engelssand bereits glücklich passirt hatten, und die Ruder wieder mit den Segeln vertauschen konnten. Auch die Rückfahrt dauerte lange. Wie vorher gegen die Fluth, mußten sie jetzt gegen die Ebbe kämpfen, d. h. sie waren gezwungen, fortwährend zu kreuzen, um sich langsam der Hallig zu nähern. So ward es beinahe Abend, ehe die Schiffer das Ziel erreichten.

Nicol blieb auch während dieser Rückfahrt sehr einsylbig. Sein Aussehen war ernst, ja düster, und als er endlich bei dicht aufbrodelndem Nebel das Boot in das Schlütt steuerte, sagte er, mit scharfem Auge rückwärts nach dem Meere blickend, das wie eine graue Wüste sich unter dem Nebel ausbreitete:

„Hab’ Acht, Geike, wenn Du in See stichst! Lichte die Anker an keinem Freitage! Der Leichenzug, den ich vorhin von der Reutertiefe über Backsand nach dem Jungejap mitten durch den Nebel streichen sah, verkündigt uns Halligleuten nichts Gutes! Mich dünkt, es waren viele Bekannte unter den Trägern.“[8]

Die Brüder wechselten sprechende Blicke mit einander, Geike aber reichte dem Alten die Hand und sagte:

„Werd’ Deiner gedenken, Vater Mannis, und an keinem Freitage lichten. Sollst selbst dabei sein, wenn ich ausclarire.“

Nicol schien beruhigt. Er befestigte die Sloop mit eigener Hand, während jeder seiner Söhne eins der geborgenen Fäßchen an’s Land trug, und Geike den kleinen Anker des Fahrzeuges mit kräftigem Druck in die Erde der Hallig bohrte.




V.
Die Nacht auf der Holmer Fähre.

Anderthalb Wochen später treffen wir den alten Halligmann mit Jens und Karen am Hafen von Tönningen. Es ist Nachmittags in der dritten Stunde. Graue Wolken bedecken den Himmel, und lassen nur selten die Sonne auf kurze Zeit durchbrechen. Die Wogen der Eider kräuseln sich unter der Einwirkung einer frischen Bries. Mehrere Schiffe, deren Raaen sich schnell mit Segeln bedecken, steuern hinaus nach der offenen See. Ihre Flaggen und [348] Wimpel wehen lustig im Winde, und wenn ein heller Strahl der Sonne, die Wolkenmauer spaltend, sie trifft, kann man die Farben und Zeichen der Flaggen noch deutlich vom Ufer aus erkennen.

„Gott gebe ihm eine glückliche Reise, und laß ihn im nächsten Frühjahr gesund und munter zurückkehren!“ sprach jetzt Nicol Mannis, seine Mütze abnehmend und sie nochmals grüßend gegen die schnell sich entfernenden Schiffe schwenkend. „Ich fürchte, ehe Geike den Canal passirt, macht der Wind ihm noch was zu schaffen.“

Karen, die auf den Arm des Vaters gestützt, unverwandten Auges den fortsegelnden Schiffen gefolgt war, richtete sich auf, um ein paar Thränen an ihren Wimpern zu trocknen.

„Laß uns gehen, Vater!“ sprach das junge Mädchen mit fester Stimme. „Ich habe nun weiter nichts mehr zu suchen.“

Nicol widersprach nicht. Er sah noch einmal nach dem wogenden Strome und dem grauen Himmel, dann erfaßte er die Hand der Tochter, und wendete sich der Stadt zu. Jens verweilte noch einige Minuten länger am Strande, dann folgte auch er den Vorangegangenen.

Die Uthlandsfriesen blieben noch eine Nacht in Tönningen, und machten nöthige Einkäufe für den Winter, um in keine Verlegenheit zu kommen, wenn etwa böses Wetter sie für längere Zeit an allem Verkehr mit dem Festlande verhindern sollte. Am andern Morgen erst verließen sie die belebte Hafenstadt, um auf einem offenen Wagen durch die Landschaft Eiderstedt nach Husum zu fahren. Hier nämlich lag des alten Mannis Ewer im Hafen.

[357] Die Reise im offenen Wagen auf den Deichkronen, von deren Höhe man die so wunderbar fruchtbaren Marschen mit ihren endlosen Feldern und noch immer frischgrünen Wiesen übersehen konnte, zwischen denen die großen, stattlichen Höfe, von einem Kranz rauschender Frucht- und Nutzbäume umgeben, lagen, gewährte trotz der Monotonie der Farben doch ein mehrfach fesselndes Bild. Gegen Osten war Alles fruchttragendes, fettes Land. Die Höfe und Ortschaften hinter den Deichen verriethen den Reichthum ihrer Besitzer. Zu Tausenden weideten breitstirnige Rinder und muthige junge Rosse auf den Wiesen, deren Graswuchs unerschöpflich zu sein schien. Gegen Westen aber wogte die wilde See unabsehbar und schlug in weißen, langen Brandungswellen gegen die hohen, schräg abfallenden Deiche. Fern und nah sah man weiße Segel wie Vogelfittiche über den Wellen schweben, die bald sich näherten, bald sich entfernten, je nachdem sie land- oder seewärts steuerten. Gewöhnlich hatte der Anblick des Meeres etwas unbeschreiblich Düsteres, weil der schwere Wolkenhimmel es mit eintönigem Grau bedeckte. Nur, wo die Sonne die Wolken auf kurze Momente theilte, erglänzte die See in blendend weißem oder in rothem Feuer, und es schien dann, als rollten Massen geschmolzenen Silbers oder flüssigen Feuers in graublauer Umbordung. Mitten durch diese auf dem Meere schwimmenden Licht- und Gluthoasen zog hin und wieder still und sicher, wie von Geisterkräften geführt, der Leib eines Schiffes.

Nicol Mannis beobachtete ausschließlich das Meer, sein Aussehen und was auf demselben vorging, für die beiden Geschwister dagegen hatte die landschaftliche Scenerie ihrer Neuheit wegen mehr Anziehungskraft; denn Beide kamen selten auf das Festland. Geschah es aber, so hielten sie sich meistentheils am Strande auf, und so hatten sie eigentlich noch nie so viel Land und so viel ländliche Wohnungen gesehen, als bei dieser Fahrt durch das Eiderstedt’sche, die sie innerhalb acht Tagen schon zum zweiten Male machten.

Zu Nicol’s Verdrusse kamen sie viel langsamer vorwärts, als er wünschte. Es war in den letzten Tagen häufig starker Regen gefallen, und regnete es nicht, so lag gewöhnlich ein schwerer, feuchter Nebel auf dem Lande. Dadurch waren die Wege auf den Deichkronen schlecht geworden. Auch die kräftigsten Pferde vermochten nur selten in dem schweren Boden zu traben. So kam es, daß die Uthlandsfriesen erst ziemlich spät am Nachmittage das alterthümliche Husum erreichten.

Mannis hätte sich gern von der für ihn sehr langweiligen Fahrt etwas erholt, weil aber der Wind günstig war und der Wasserstand der Hewer ein Aussegeln erlaubte, gönnte er sich kaum so viel Zeit, um sich durch ein gutes Glas Grog zu erquicken. Jens mußte auf der Stelle am Bord des Ewer Alles klar machen, und ehe eine Viertelstunde vergangen war, glitt das wohl gebaute Fahrzeug des Halligmannes schon langsam die Heweraue hinab und erreichte bei Sonnenuntergang die Gewässer der Binnensee.

„Zwei Stunden können wir noch segeln,“ sprach der erfahrene Seemann zu seinem Sohne, „dann müssen wir Anker werfen und die nächste Fluth abwarten. Der Wind ist steif, das Gewölk hebt sich und der Mond wird uns leuchten.“

Nicol erfaßte sofort das Steuer, Jens befolgte schnell jeden Befehl des Vaters, Karen hatte sich wieder, gegen den kälter werdenden Abendwind dichter in ihren Mantel hüllend, auf die schmale Cajütentreppe gesetzt.

Den einsamen Seglern begegnete kein Fahrzeug. Die Insel Nordstrand lag wie ein schwarzer Schatten zur Linken, rechts auf den Deichen zeigte sich im matten Abendscheine des langsam verlöschenden Tages eine wandernde Menschengestalt, die riesengroß erschien. Hinter den Deichen ließ sich Hundegebell hören und in langen Zwischenpausen der Schlag einer Glocke.

Die grauen Wogen der Wattensee rauschten am Bug des sie durchfurchenden Ewers. Das Rauschen verminderte sich aber mit jeder Viertelstunde. Die Bewegung des Wassers, anfangs stark und rollend, ward immer unbedeutender. Bald schlugen die Wellen nur matt und wie spielend gegen die Wände des Ewers, die Segel flappten, und eine Ruhe auf dem Meere wie in der Luft machte sich bemerkbar, als fühlten auch die Elemente das Bedürfniß, eine Zeitlang zu schlummern, um Kräfte zu neuem Wirken zu sammeln.

Die Ebbe war eingetreten, mit ihr zugleich fiel der Wind südlich ab und ward sehr schwach.

„Stop!“ sagte Nicol Mannis, das Steuer scharf anziehend. „Wir wollen hier Anker werfen. Sobald er in diesem Sandgrunde angebissen hat, ruhen wir sicher, wie in Abraham’s Schooß.“

Während Vater und Sohn den Anker auswarfen, erhob sich Karen und trat an’s Steuer. Der Mond blinkte lauschend durch dünne, sanft fortsegelnde Wolken. Er verbreitete ein mildes Dämmerlicht über das Meer und seine Inselbrocken, die jetzt ein poetischer Zauber umwallte. Im Südwest lag Nordstrand mit seinen hohen Deichen, über welche nur steile Dächer, Windmühlenflügel und die Spitzen der Kirchen emporragten. Im Norden hob sich gespenstisch öde aus glitzernder Wattennacht die Hallig Nordstrandischmoor, [358] ganz im Westen schimmerten von höher gebauten Warften einzelne Lichter auf der entfernteren Insel Pellworm. Der Ewer lag, sanft schaukelnd, an sicherem Anker auf dem breiten Meeresschlauche, den die Wattenschiffer „Holmer Fähre“ nennen und welcher in seiner Erweiterung das Fahrwasser der mittleren und neuen Hewer bildet, die zwischen Pellworm und der Hallig Südfall in die Nordsee mündet.

Der Anker saß fest im Grunde. Nicol Mannis näherte sich der Tochter, um das Steuer in einen Riemen zu hängen, damit es sich nicht willkürlich bewegen möge.

„Ein schauerlich-schöner Abend, Vater,“ hub Karen an. „Sieh, wie dort die Watten glitzern und funkeln, als ob sie mit silbernen Geweben überdeckt wären! Und dort, südwestwärts – sieht es nicht aus, als wolle ein unermeßlicher Schwanzstern aus der Tiefe des Meeres heraufsteigen? – Wie das zuckt, blitzt, schillert, im Wasser, auf und über den Wogen! – Kann der Mond im Spiel mit den Wolken solche wunderbare Lichtbilder in die Luft zeichnen?“

„Es sind Möven, meine Tochter, die sich in seinem Lichte baden.“

„Aber der hellweiße Streifen darunter? Das kann doch nicht der Wiederschein des Mondes im Meere sein?“

„Das ist ein Sand,“ fiel Jens ein, der jetzt ebenfalls herankam.

„Rungholt-Sand!“ bekräftigte Nicol. „Ein schlimmer Ort! Schiffer vermeiden ihn gern.“

„Da hat vor alten Zeiten eine Stadt gestanden, die im Meere versunken ist?“ fragte Karen.

„Wie Sodom und Gomorrha,“ versetzte Nicol. „Darum heißen wir’s auch das todte Meer in der Westsee.“

Karen überlief es kalt. War es ein Frösteln der Furcht, das sich ihrer bemächtigte auf dem öden Meere, auf dem jetzt weit und breit kein Nachen, kein Segel mehr sichtbar ward, oder durchschauerte sie der kalte Octoberwind? Sie ergriff den Arm ihres Vaters und zog ihn mit sich fort.

„Es ist doch unheimlich,“ sprach sie, der Cajüte zuschreitend. „Wenn ich ein Schiffer wäre, ich würde mich oft fürchten.“

Nicol lächelte.

„Diese Furcht würde sich bald verlieren,“ erwiderte er. „Sie beschleicht uns Alle, wenn wir die erste Nacht auf der See zubringen. Bald aber gewöhnen wir uns daran und später empfinden wir nichts mehr davon.“

Vater und Tochter stiegen in die Cajüte hinab, Jens blieb allein auf Deck, das er auf- und niederschritt, als müsse er das vor Anker liegende Fahrzeug bewachen.

In dem engen und sehr niedrigen Raume, welcher auf so kleinen Schiffen als Cajüte dient, deckte Karen inzwischen den Tisch, entzündete dann ein Torffeuer in dem winzigen Zugofen, dessen Schornstein beweglich war, um ihn je nach der Richtung des Windes anders stellen zu können, und bereitete Thee. Ihr Vater streckte sich halb liegend in die Coje und schloß die Augen, als wünsche er zu schlafen. Die einförmige Bewegung des Fahrzeuges am Anker, das murmelnde Plätschern der Wellen, die den Kiel umspülten, und die Stille ringsum konnten allerdings dazu einladen. Karen summte während ihres Schaffens ein friesisches Lied, dessen Worte nicht zu verstehen waren. Ueber sich hörte sie die Schritte des auf- und abwandelnden Bruders, der sich dem dunstigen Raume, wo die einzige Thranlampe und der brenzlige Geruch des Torffeuers die Atmosphäre durchaus nicht angenehm machte, so lange wie möglich zu entziehen suchte.

Plötzlich vernahm Karen einen Ruf des Erstaunens. Die Tritte verhallten, es schien ihr, als zittere der Ewer an seinem Kabel, und Nicol, der, wie alle Seeleute, für gewisse Laute ein eigenthümlich scharfes Gehör hatte, erhob sich eilig aus seiner halb liegenden Stellung. Ehe er noch die wenigen Treppenstufen zum Deck hinaufstieg, rief Jens mit starker Stimme seinen Namen.

Nicol antwortete und hob im nächsten Augenblicke den grauen Kopf aus der Luke.

„Was gibt’s?“ fragte er, das Auge nach allen Seiten kehrend. Er gewahrte den Sohn, wie er unfern des Steuers kniete und mit weit vorgebeugtem Kopfe zu lauschen schien.

„Hörst Du nichts?“ lautete die Gegenfrage des jungen Mannes.

Nicol trat dicht an Jens heran. Die Luft war beinahe still, das Meer oder vielmehr der Wattstrom, auf welchem der Ewer vor Anker lag, zeigte nur wenig Bewegung. In weiter Ferne aber, westwärts, verhallte in dumpfem Gesurr das Rauschen der Brandung, die sich an den Schwellen und Gründen vor den Hewer-Mündungen brach.

„Ich höre nichts, als die Brandung,“ sagte der alte Capitain.

„Wirklich? Weiter gar nichts? Auch jetzt nicht?“

Nicol kniete nieder und legte sein Ohr auf den Bord.

„Es sind Glocken, so wahr ich lebe!“ betheuerte Jens.

„Glockengeläut? Und hier?“

„Und der Schall kommt von Westen her! – Jetzt, wie laut – wie helltönend! Hörst Du’s, Vater?“

„Ich höre.“

„Die Glocken von Hooge sind’s nicht.“

„Auch nicht die von Pellworm.“

„Und auf Föhr kann das Geläut’ auch nicht sein.“

„Nein!“

„Der Schall kommt mir gar nicht bekannt vor.“

„Ich kenne ihn.“

„Dann weißt Du, wo man so spät noch die Glocken läutet?“

Nicol stand auf. Er sah geisterbleich aus und zum Erschrecken ernst. Seine Hand deutete nach dem Meere.

„Die Glocken von Rungholt sind’s, mein Sohn,“ sprach er mit halblauter, zitternder Stimme. „Selten nur hört ein Lebender das unterseeische Geläute, wenn es aber des Nachts über den Wogen verhallt, dann gilt’s den Uthlandsfriesen. Die in eitler Lust, frevlem Hochmuth und sündhafter Schwelgerei versunkenen Rungholter müssen die Glocken läuten, wenn den Ueberresten ihrer ehemaligen irdischen Wohnstätte Unheil droht. Wir gehen einem verhängnißvollen Winter entgegen.“

„Hast Du dies Geläut’ schon einmal vernommen?“

„Es vernahmen’s alle Schiffer der Halligen im Herbst vor der letzten fürchterlichen Sturmfluth.“

„Vater!“ rief jetzt Karen und das vom Feuer geröthete Gesicht des Mädchens blickte aus der Luke.

„Still!“ gebot Nicol dem Sohne. „Das Kind soll nichts erfahren. Sie trägt ohnehin schon Sorge genug um Geike. – Gleich, mein Kind,“ fuhr er unbefangen fort, „wir kommen schon. Steig’ wieder hinunter und nimm die Rumflasche aus dem Raume. Der Nachtwind hat mich tüchtig durchkältet.“

Karen war schon wieder in der Lukenöffnung verschwunden. Vater und Bruder folgten und bald saßen alle Drei bei dem mehr als frugalen Mahle, äußerlich munter, im Herzen ernst gestimmt. Von den Geisterklängen der Glocken von Rungholt, die über dem surrenden Meere verhallten, war mit keiner Sylbe die Rede.




VI.
Strenger Winter.

Der friesische Winter ist in der Regel milder als der deutsche. Tritt auch zeitweilig starke Kälte ein, so dauert sie doch in Folge der häufig wechselnden Winde selten längere Zeit. Die Westsee- Inseln erfreuen sich deshalb eines sehr gemäßigten Klima’s, was trotz ihrer nördlichen Lage den Aufenthalt auf ihnen angenehmer macht, als man annehmen sollte. Dennoch aber kommen von Zeit zu Zeit Winter vor, in denen die Kälte einen hohen Grad erreicht und die wildesten Schneestürme auf dem Wattenmeere wüthen. Dann friert der Binnensee, d. h. jener Theil des Meeres, der die Inseln und Halligen gegen das Festland hin umfluthet, fest zu und die Bewohner derselben überschreiten die meilenbreite Krystallbrücke zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen, um mit dem Festlande in engere Beziehungen zu treten.

Ein solcher Winter stellt sich nur im November ein. Wenige Tage nach Mannis’ Heimkehr lief der Wind nach Norden. Einem mehrstündigen Sturme, welcher alle Halligen viele Fuß tief unter Wasser setzte und manches Menschenleben kostete, folgte undurchdringliches Schneegestöber mit rasch steigender Kälte. Die Schlütte bedeckten sich mit Eis, das sich auf die Priehle erstreckte und alsbald auch die tieferen Wattströme mit schwer treibenden Schollen erfüllte. Der hohe Kältegrad, verbunden mit häufigem Schneefall, fügte Scholle an Scholle, bildete Eishügel und Schneedämme und lange vor Weihnachten glich die ganze Westsee mit ihren zerstreuten Inselbrocken einer großen, mit zahllosen Hügeln und wunderlich gestalteten Blöcken besäeten Ebene. Man konnte ohne Gefahr vom Festlande nach den Inseln gehen, die wieder durch Pfade über das [359] Eis untereinander verbunden waren. Nicht alle diese Eispfade aber konnten für sicher gelten, da unter der krystallenen Decke die tieferen Ströme fortwährend die Fluth- und Ebbe-Bewegung der Nordsee fühlten. Auf diesen Eisbrücken gab es unsichere Stellen in Menge, die sich von den festeren Pfaden jedoch nur wenig unterschieden. Damit nun aber nicht ein Wanderer auf den weiten, öden Eisfeldern auf falsche und gefahrvolle Pfade gerathen möge, wurden die sicheren Eisstege durch aufgepflanzte hohe Stangen, deren obere Enden an großen Stroh- oder Heubüscheln kenntlich waren, bezeichnet.

Auf den Halligen entstand durch diese Witterungsverhältnisse ein ungewöhnliches Leben. Bewohner des Festlandes, die kaum jemals einen Besuch auf den so einsam gelegenen, von einer tückischen See umbrandeten Inseln gemacht hatten, kamen jetzt zu Schlitten über das Eis. Auf allen Warften gab es Fremde, die mit großer Gastfreiheit empfangen und bewirthet wurden. Man veranstaltete kleine Feste, selbst für etwas Musik und Tanz ward gesorgt. Kurz, die Gewohnheiten der stillen Halligleute schienen ganz andern Sitten Platz machen zu wollen.

Auch auf Hooge ging es sehr lebhaft zu. Capitain Mannis war ein Mann von Ruf. Durch seine Gattin den Festlandsfriesen verwandt, zählte er unter diesen eine Menge Vettern und Freunde. Von diesen machten namentlich die Jüngeren ohne Ausnahme Ausflüge nach den Westsee-Inseln.

So fänden sich denn um die Weihnachtszeit ganze Gesellschaften zusammen, welche den gemeinsamen Beschluß faßten, das Neujahr auf diesem Archipelagus unter Verwandten oder Bekannten anzutreten.

Bei Nicol Mannis trafen am Weihnachtstage zwei junge Mädchen und vier Männer ein, um dem Vetter Capitain, wie sie den alten Halligmann nannten, auf ein paar Tage Gesellschaft zu leisten. Es waren Landleute aus Bredstedt, wohlhabend, lebensfroh, zu Lust und Scherz aller Art aufgelegt. Das originelle Leben auf der Hallig amüsirte sie und da sowohl der alte Mannis wie dessen Kinder ihre Freude über den unvermutheten Besuch offen an den Tag legten, so herrschte alsbald die ungezwungenste Heiterkeit im Hause des Halligmannes.

Schon am zweiten Tage ihres Verweilens äußerten die Verwandten den Wunsch, weitere Ausflüge über das zugefrorene Meer zu machen. Die im winterlichen Schmuck noch seltsamer als im Sommer sich präsentirenden Wohnungen der Halligmänner reizten ihre Neugier. Sie wollten mit eigenen Augen sehen und sich gleichsam hineinleben in das Treiben und Thun dieser durch die Natur von aller Welt so abgesonderten Menschen.

Taken und Jens waren sogleich erbötig, ihre Vettern als Führer zu begleiten. Die beiden jungen Mädchen zogen es vor, Karen Gesellschaft zu leisten und von der Höhe der Warft aus die Stege durch des Capitains treffliches Fernrohr zu beobachten, die nach allen Richtungen hin über das Eis liefen und erst weit draußen im Westen sich verloren.

Am Tage konnte Niemand ahnen, daß man dem wogenden Meere so nahe wohne, des Nachts aber, wenn Alle in das Innere der Häuser sich zurückzogen, vernahm man gewöhnlich das hohle Brausen der Nordsee. Es klang wie das grollende Murren eines tief erbitterten, verschlossenen Gemüthes oder wie dumpfes Drohen einer Macht, die sich ihrer Kraft nicht recht bewußt ist.

Fünf volle Wochen hatte der Frost schon angehalten. Der Wind blies immer aus Ost oder Nordost; selten nur nahm er, dann aber stets auf Wenige Stunden, eine mehr nordwestliche oder südliche Richtung an. Helle Luft wechselte ab mit bedecktem Himmel. Häufig fiel Schnee, gewöhnlich bei sehr lebhaftem Winde. Immer aber blieb die Luft kalt und der Thermometer zeigte auch an den mildesten Tagen um die Mittagszeit noch mehrere Grad Kälte.

Die Verwandten hatten in Begleitung ihrer erfahrenen Vettern schon die nahegelegenen Halligen durchstreift und bei diesen für sie höchst ergötzlichen Wanderungen alle bedeutenderen Persönlichkeiten kennen gelernt. Da man weite Umwege machen mußte, um die gefahrvollen Stellen zu vermeiden, nahmen diese Besuche ziemlich viel Zeit weg. Man bedurfte eines ganzen Tages, um nach Langeneß zu kommen, eines anderen, um Grode zu besuchen. Fühlten aber die jungen Abenteurer erst festen Boden unter sich, dann verweilten sie gewiß länger, als es ihre Absicht war; denn die treuherzige Offenheit, das gerade, ehrliche Wesen und das ungewöhnlich starke Gottvertrauen, das sie bei allen Halligbewohnern wiederfanden, hielt sie immer von Neuem fest und ließ sie erquickende Stunden und Tage verleben.

Nicol freute sich regelmäßig auf die Rückkehr seiner Gäste. Man dachte gar nicht daran, sich bald zu trennen, wohl aber gab der alte Capitain gern das Versprechen, im Sommer mit seinem ganzen Hause auf ein paar Wochen nach dem Festlande zu kommen. Auch sogar den Vorschlag, alsdann die Vermählung seiner Tochter Karen mit Geike, der schon im Frühjahr zurückerwartet wurde, bei seinen Verwandten zu feiern, hieß er nach einer längeren Besprechung mit Ellen gut.

Eines Abends, als die Familie Mannis mit ihren Gästen wieder in fröhlicher Stimmung um den Theetisch und resp. bei ihrem trefflichen Grog saß, ließ Taken die Bemerkung fallen, die Vettern müßten eigentlich vor ihrer Rückreise auf’s Festland auch noch eine der Inseln und ihre Dünen besuchen.

„Im Winter war ich selber noch nie auf einer Düne,“ schloß er. „Ich möchte schon wissen, wie sich von ihren beschneiten Gipfeln jetzt die Nordsee ausnimmt.“

„Das müssen wir sehen!“ fiel sogleich lebhaft der Jüngste der Vettern, ein starker, äußerst gewandter, nicht selten aber auch waghalsiger Mann von einigen zwanzig Jahren, ein. „Wie ist’s? Brechen wir morgen auf?“

„Ich bin dabei,“ sprach Taken. „Nur bedarf es größter Vorsicht, wenn wir ohne Unfall den Strand von Amrom erreichen wollen. Wir werden uns mit Tauen und tüchtigen Kluthstöcken versehen müssen. Wie man damit umgeht, das habt Ihr uns ja bereits gelehrt.“

„Nach Amrom wollt Ihr?“ fiel Nicol ein. „Und über’s Eis? Laßt das lieber bleiben.“

„Das Eis trägt,“ sagte Jens. „Erst vor einigen Tagen erzählten uns Amromer Fischer aus Nebel, daß sie ohne den geringsten Aufenthalt nach Westerlandföhr über das Eis gegangen wären.“

„Recht,“ erwiderte Nicol. „So lange der Wind steht und die Thermometer sich nicht heben, ist gar keine Gefahr dabei. Wer aber will sagen, wie lange das noch dauern wird!“

„Im gegenwärtigen Winter hat das keine Noth, Vater,“ tröstete Taken. „Der Dreikönigstag ist mit scharfem Frost eingetreten und der Wind blies östlich beim ersten Mondviertel. Das Alles sind Zeichen, daß wir in den nächsten Tagen noch keine Wetterveränderung zu gewärtigen haben.“

Nicol brachte noch verschiedene Bedenken vor, der Wunsch seiner jungen Vettern aber, die ihnen völlig unbekannte Wildniß selten besuchter Dünen kennen zu lernen, entkräftete alle Einwürfe des alten Mannes. Zuletzt achtete man kaum noch auf seine Rathschläge. Die jungen, abenteuersüchtigen Männer beschlossen, schon am nächsten Morgen aufzubrechen, und rüsteten sich zu der sie reizenden Partie in jeder Hinsicht, ehe sie sich zur Ruhe begaben.

Mit Vorbedacht verließen sie, da Nicol Mannis entschieden darauf drang, sehr früh das Lager. Der Mond stand noch am kalten, blaßgrauen Winterhimmel, und bestreute die Schnee- und Eiswüste mit funkelnden Silberflocken. Es war still und kalt. Wie Riesenkegel, hier hell erleuchtet, dort finster, lagen die zerstreuten Warften der Hallig. In keiner noch bemerkte man Leben.

Nicol gab seinen Gästen das Geleit bis zur Treppe der Warft. Hier schüttelte er Allen noch einmal die Hände, warnte sie vor unzeitigem Uebermuth und wünschte ihnen das beste Glück auf den Weg.

„In drei oder vier Tagen sind wir wieder da,“ rief Taken dem Vater zu die Stufen hinabschreitend. „Es kommt Alles darauf an, wie uns die Partie behagt, und welche Aufnahme wir auf der Insel finden.“

Mannis antwortete nicht. Er lehnte sich an die Umfriedigung und sah den Fortgehenden, die quer über die Hallig wanderten, nach, bis sie im Schatten der Kirche seinen Blicken entschwanden. Dann ging er zurück in seine Wohnung, nahm den Kalender von der Wand und sah nach der Fluthtabelle.

„In drei Tagen, ist Vollmond,“ sprach er nachdenklich. „Hochwasser haben wir dann um Mittag und Mitternacht. Sie können doch Recht haben, das Wetter wird sich halten, wenn der Wind nicht rasch umläuft.“




VII.
Die Jagd auf dem Eise.

Wohlgemuth schritten die Gebrüder Mannis mit ihren lebhaften Gefährten über das Eis. Sie sahen bald ein, daß der Rath ihres Vaters begründet gewesen sei, denn ohne den schimmernden [360] Glanz des Mondes würden sie schwer die Pfade gefunden haben, die in zahllosen Krümmungen sich über die zugefrorenen Watten schlängelten. Als ein paar Stunden vor Sonnenaufgang der Mond unterging, lag die schwierigste Wegstrecke hinter ihnen, und bald darauf betraten sie die östliche Küste von Langeneß.

Auf dieser Hallig erwarteten sie den Tag. Einige Jugendfreunde der Gebrüder Mannis schlossen sich den Wanderern an, um Vergnügen und Gefahren derselben zu theilen. Die Gesellschaft bestand jetzt aus zehn Personen. Von diesen waren die Langenesser mit Büchsen bewaffnet, weil sie am Strande von Amrom Seehunde anzutreffen hofften, die in der Westsee in ziemlicher Anzahl vorkommen und von den Halligbewohnern häufig erlegt werden.

Unter Scherzen und Lachen zog die kleine Karawane weiter. Die mühsam zu beschreitenden Eispfade gaben zu allerhand Bemerkungen Anlaß, und boten nicht selten Gelegenheit dar, den entschlossenen Muth und die körperliche Gewandtheit der jungen Leute in das hellste Licht zu setzen. Bald gab es übereinander geschobene zackige oder spiegelglatte Eisblöcke zu erklimmen, bald mußte über gefährliche Spalten gesetzt werden, bald brach man durch weißliches Schneeeis, das eine hohle Brücke bildete, und durch sein Aussehen auch die Erfahrensten täuschen konnte. Häufig hörten die Wanderer fern und nah ein knatterndes Geräusch, die Eisdecke bebte, ein dumpfes Gurgeln ward vernommen, und gleich darauf zerklüftete unter heftigem Krachen die unebene Brücke.

Schon vertraut mit diesen Erscheinungen, empfanden die eingebornen Halligmänner keine Furcht darüber. Nicht einmal beunruhigt zeigten sich diese unerschrockenen, an Gefahren aller Art und an ununterbrochene Kämpfe mit den Elementen gewöhnten Naturen. Die Festlandsfriesen blieben ab und an lauschend stehen, nicht aber aus Furcht, sondern nur, um die für sie neuen und deshalb interessanten Erscheinungen genauer beobachten zu können. Der jüngste Vetter, Hendry, that es sogar manchem seiner Begleiter zuvor. Er war beinahe immer voran, unermüdlich, der Heiterste von Laune, der Keckste, wo es galt, rasch einen Entschluß zu fassen und ihn eben so schnell auszuführen. Ja, seine Keckheit artete bisweilen dergestalt in verwegenes Wagen aus, daß selbst seine Vettern ihn zu warnen für Pflicht hielten.

Es dämmerte schon, als die Gesellschaft die Häusergruppen auf Westerlandföhr mehr und mehr aus dem kalten Nebel auftauchen sah. Die hohen Spitzen der St. Johannis- und St. Laurentiuskirche hatte sie nie aus dem Gesicht verloren. Sie dienten den Fußwanderern ebenso wie in der guten Jahreszeit den Schiffern als sichere Wegweiser.

Die späte Tagesstunde und die große Anstrengung geboten den Männern, auf Föhr zu bleiben. Alle bedurften nach den überstandenen Strapazen der Ruhe. Auch wäre selbst bei hellem Mondschein die Ueberschreitung der mit Eis bedeckten Watten und Priehle für Alle ein höchst gefahrvolles Unternehmen gewesen, da auch den Uthlandsfriesen die jetzt vor ihnen liegenden Eisstege nicht bekannt waren.

Taken schlief unruhig trotz der Ermüdung. Er mußte immer an seinen Vater denken. So oft er die Augen schloß, sah er regelmäßig im halben Traume den alten Mann, wie er mit ernsten, besorgten Zügen auf der Warft stand, und westwärts nach der See hinausblickte. Dies immer von Neuem wiederkehrende Traumbild beunruhigte ihn oder störte doch seine unbefangene Heiterkeit. Etwas trug wohl auch das Pfeifen des Windes dazu bei, der sich während der Nacht erhob.

Der Anblick von Land und Watten am Morgen war düster. Dunkle Schneewolken bedeckten den Himmel, und ein fahles, schmutziges Roth hing wie ein zerrissener Vorhang im Osten, den Aufgang der Sonne verkündigend. Ihre Strahlen vermochten das Gewölk nicht zu durchbrechen; es ward vielmehr noch dichter, als die Friesen sich zum Aufbruche rüsteten. Um sicher zu gehen, nahmen sie einen bekannten Schlickläufer als Führer mit.

„Das Wetter scheint sich doch ändern zu wollen,“ meinte Taken, als sie die holperige Eisfläche betraten, welche Föhr jetzt von Amrom schied.

„Hm,“ brummte der jütische Einwanderer – denn ein solcher war ihr Führer – „der Wind steht noch.“

Das Gespräch mit dem einsylbigen Menschen ward nicht weiter fortgesetzt. Es wehete stark, bald aus Ost, bald aus Nordost. Die Dünengipfel auf Amrom waren in dem Nebel, der sie einhüllte oder vielmehr aus ihnen aufzubrodeln schien, nicht zu erkennen. Schaaren grauer Möven schwärmten über offenen Stellen im Eise und flatterten schreiend hoch auf, wenn der Zug der Wanderer sich ihnen näherte. Die ganze Gesellschaft schien verstimmt zu sein. Jeder ging für sich, und wechselte kaum einige Worte mit seinem Vor- oder Hintermanne. Gegen elf Uhr ward Amrom erreicht. Der Wind blies jetzt aus Norden, ein feiner Schneestaub rieselte aus dem Gewölk nieder.

„Es kann Sturm geben zu Nacht,“ sprach Jens. „Bei solchem Wetter wird eine Besteigung der Dünen wenig lohnend sein. Ich schlage vor, bis morgen zu warten.“

„Hast Du bange?“ fiel lachend der übermüthige Hendry ein. „Pflege Dich, derweil wir Andern uns von jenen Sandspitzen die mit Eisblöcken spielende Nordsee ansehen wollen.“

„Bange?“ erwiderte fast beleidigt der junge Mannis. „Ich kenne keine Furcht, aber ich bin für eiligen Aufbruch, wenn wir das Unternehmen ausführen wollen.“

Niemand von der Gesellschaft widersprach. Alle brachen auf nach den Dünen. Einzelne Bewohner Amroms sahen den jungen Männern verwundert nach, ein warnendes oder bedenkliches Wort aber entschlüpfte Keinem. Jeder hielt die Fremden für kühne Jäger.

Die Dünen boten das Bild einer gänzlichen Wildniß dar. In den kesselartigen Thälern lag tiefer Schnee, die steilen Gipfel glänzten von Eis, und der immer wilder brausende Wind trieb dichte Wolken eisiger Schneenadeln, mit Sandstaub gemischt, in solchen Massen über sie hin, daß Niemand ein Auge zu öffnen vermochte.

Dennoch ließen sich die abenteuerlustigen jungen Männer nicht abschrecken, ihre Zwecke zu verfolgen. Je nach Lust und Neigung zerstreuten sie sich in den Dünenthälern nach Süd und Nord. Einige, welche die Spuren von Kaninchenbauen entdeckten, die gerade in den Amromer Dünen in großer Menge vorhanden sind, machten es sich zum Vergnügen, die harmlosen Thierchen in ihrer Winterruhe zu stören. Andere kletterten über die am Strande zusammengeschobenen Eisschollen, und suchten nach Schalthieren, noch Andere wagten sich weiter hinaus auf das sehr rissige Eis, und verlockten zu gleichem Wagniß später auch die meisten ihrer Gefährten, als es ihnen glückte, ein paar Seehunde zu entdecken und durch wohlgezielte Schüsse zu verwunden.

Im Eifer der Jagd achtete Keiner mehr der Gefahren, denen sich Alle aussetzten. Die Seehunde waren schwer zu transportiren, und doch wollte man die werthvolle Beute nicht im Stiche lassen. Zwei waren in nicht gar langer Zeit und unter verhältnißmäßig geringen Anstrengungen bereits an’s Land geschafft. Damit jedoch nicht zufrieden, eilten die glücklichen Jäger von Langeneß weiter hinaus. Sie stießen bald auf offenes Wasser; weiter nordwärts aber zeigten sich wieder breite Flächen harten Eises, an dessen weit vorgeschobenen Rändern die Wogen der Nordsee in Schaumsäulen sich brachen. Auf dieser Eisinsel, die man springend erreichen konnte, lagerten mehrere Robben. Den größten erlegte eine Büchsenkugel des geübtesten Schützen. Das getroffene Thier sank unfern der Brandung auf dem eisigen Bette todt zusammen. Es hier den Wellen zu überlassen, kam den muthigen Uthlandsfriesen nicht in den Sinn. Durch Rufe und Zeichen lockte man auch die bereits an den Strand Zurückgekehrten abermals auf die zerbrechliche Eisbrücke. Alle folgten dem Rufe, ohne auf die bedenkliche Bewegung der großen Fläche zu achten, über die jetzt ein Schauer feinen Hagels hinstäubte, den der heulende Nordwest vor sich herjagte.

Nach Verlauf einer halben Stunde war die ganze Gesellschaft am westlichen Rande des Eisfeldes versammelt. Den vereinigten Anstrengungen der kräftigen Männer gelang es, das gewichtige Thier von der schon umbrandeten Stelle fortzuschaffen. Jetzt umschnürte man es mit Stricken, und indem die vier Jäger, deren Eigenthum es ja war, unter lautem Halloh es an den Stricken fortzogen über das Eis, eilten die Uebrigen voraus, um bei einigen schwer zu passirenden Stellen für Erleichterung des Transportes Vorkehrungen zu treffen.

Seltsamer Weise konnten diese den Punkt jetzt nicht wiederfinden, wo sie vom sandigen Strande aus durch einen Sprung die mehrere Fuß dicke Scholle erreicht hatten. Ein breiter Streifen wogenden, brausenden Salzwassers wälzte sich zwischen Scholle und Land, das durch den jetzt in dichten Flocken fallenden Schnee kaum noch in unklaren Umrissen zu erkennen war.

[369] In richtiger Würdigung der gefahrvollen Lage theilte sich der Trupp der jungen Männer sofort in zwei Parteien. Die eine derselben wandte sich südwärts, die andere nordwärts, um einen Punkt aufzufinden, wo die immer beweglicher werdende Eisfläche mit dem Lande zusammenhing. Es war keine Zeit zu verlieren, denn schon verdunkelte sich die Luft mit jeder Minute mehr. Der Wind lief westwärts und ward heftiger. Der in großer Menge fallende Schnee war feucht. Es ließ sich nicht zweifeln, daß binnen wenigen Stunden vollständiges Thauwetter eintreten werde.

Die Gebrüder Mannis befanden sich bei dem südwärts streifenden Trupp. Sie feuerten ihre beiden Begleiter zur größten Eile an.

„Mein Gott,“ bemerkte darauf der übermüthige Vetter, „wie habt Ihr Euch denn! Ich bin wohl zwanzig Mal von weit schlimmerem Wetter auf den Deichen überrascht worden, war ganz allein, konnte keine zwei Schritte weit sehen und kam doch immer, wenn auch verspätet, unangefochten nach Hause. Das Bischen Wind wird uns die Seele nicht aus dem Leibe blasen.“

„Der Wind nicht, aber die See kann’s thun,“ sagte Jens.

„Die See! Stehen wir nicht auf festem Eise?“

„Noch ist es fest, aber wie lange!“ sprach Taken. „Ihr kennt nicht die Gewalt der Fluth, wenn der Thauwind sie aufwühlt. Ein paar Stunden genügen dann, die festeste Eisdecke zu brechen und sie in Brei zu zermalmen.“

„Ah bah,“ versetzte Hendry. „In höchstens einer halben Stunde müssen wir am Strande sein.“

Taken ging den Uebrigen ein paar Schritte voraus. Plötzlich blieb er stehen und horchte. Ein Brausen, als stürzten große Wassermassen über Felsblöcke, schlug drohend an Aller Ohren.

„Zurück! Zurück!“ schrie Taken mit entsetzter Stimme. „Die Brandung von Capitains Knob brüllt dort im Süden!“

Alle standen erstarrt.

„Es kann nicht sein,“ sprach Jens nach kurzem Schweigen.

„Und doch ist es so,“ erwiderte Taken, fühlst Du nicht die Bewegung unter Deinen Füßen? Hörst Du das Krachen im Westen? Das Eisfeld treibt vor der Fluth und wir haben Nordwestwind.“

Diese Worte des Halligmannes verfehlten nicht ihre Wirkung. Alle sahen ein, daß nur ein Zufall ihnen Rettung bringen konnte, wenn die Vermuthung Taken’s sich bewahrheitete.

Das dicke, jetzt bereits mit Regentropfen vermischte Schneegestöber verhinderte jede Aussicht. Keine Baake auf den westlichen Sandbänken war zu erkennen und der Mond war noch nicht aufgegangen! Es ward dunkler und immer dunkler und die Gewalt des Windes nahm in beunruhigender Weise zu.

Nach etwa fünf Minuten gewahrten die Zurückgehenden die bewaffneten Langenesser. Von Norden her dröhnte gellendes Gepfeife. Man antwortete, um den noch fernen Gefährten anzuzeigen, wo man auch ihrer harre. Als die Gesellschaft sich wieder geeinigt hatte, traten die Männer zu einer ernsten Berathung zusammen. Taken’s Vermuthung bestätigte sich. Wenn das Gewölk momentan zerriß oder rascher, von den Fittigen des heftigen Windes erfaßt, über die wüste See fortflatterte, konnten die scharfen Augen der Halligbewohner die weißlich schimmernden Dünen Amrom’s erkennen. Wind und Fluth hatten das Eis gelöst, es trieb offenbar immer weiter ab vom Lande und mußte entweder auf den Untiefen zerschellen oder von den wild gehenden Wogen auf’s hohe Meer hinausgeschleudert werden.

In dieser furchtbaren Bedrängniß konnten wohl auch den Muthigsten bange Ahnungen beschleichen. Kaum aber hatten die jungen Männer sich über ihre Lage vergewissert, als sie auch gemeinsam zu handeln entschlossen waren.

„Wir dürfen kein Mittel unversucht lassen,“ sprach einer der Langenesser. „Laßt uns also, so lange wir noch Munition haben, von Zeit zu Zeit einen Schuß abfeuern. Insulaner haben ein scharfes Gehör und wenn es tüchtig anfangen sollte zu blasen, wird es die Schiffer und Strandvögte von Amrom nicht lange in ihren Häusern halten. Bei Sturm und Fluth sucht der echte Seemann immer den Strand. Hören sie aber unsere Nothsignale, so werden wir gerettet.“

„Der Vorschlag ist gut,“ sagte Taken, „es fragt sich nur, ob lange Zeit vergeht, ehe man uns irgendwo entdeckt und ob die Fluth uns weit abtreibt. Wir haben keinen Proviant!“

„Aber Tabak und Rum, Tabak die Hülle und Fülle,“ fiel Jens beruhigend ein.

Einer der Langenesser drückte seine Büchse ab. Der Schuß verhallte im Gebrause des Windes.

Düster traten die jungen Männer zusammen. Ihre Kräfte waren augenblicklich völlig paralysirt, ihr Scharfsinn konnte nichts entdecken, woran ihre Hoffnung sich klammern mochte. Die Lage war entsetzlich, verzweiflungsvoll.

Aber noch hielt das Eis, auf dem das kleine Häuflein, von aller Welt verlassen, der Unbarmherzigkeit rasender Elementarkräfte preisgegeben, stand! Sie fühlten, daß die gewaltige Scholle, von [370] Wind und Wogen erfaßt, immer weiter nach Süden abtrieb. Der Wind heulte, Schnee und Regen peitschte ihre Gesichter, Eisschollen krachten, Sturmvögel schrieen, Spottmöven stießen ihr schauerlich gellendes Lachen aus und dazwischen rollte das Gedonner der hochgehenden See, die ihre langen Riesenwellen an den eisumstarrten Sandbänken zerschlug.

Da fühlten die Verunglückten zwei, drei heftige Stöße, als bäume sich die vom Sturme wild geschüttelte Erde unter dem Meere. Die Festlandsfriesen stürzten bei diesen furchtbaren Stößen nieder und verwundeten sich an den scharfen Kanten des Eises.

„Wir sind gestrandet,“ sagte düster Taken Mannis.

„Gestrandet vor Capitains Knob!“ ergänzte noch düsterer sein Bruder Jens.

Wieder bewegte sich das Eisfeld, eine neue Fluthwoge hob es empor, dann stürzte es mit seiner ganzen furchtbaren Schwere zurück auf den unsichtbaren Sand und barst mitten auseinander.

„Um Mitternacht hat uns die See verschlungen,“ sprach Taken gelassen. „Dann ist Hochwasser und unser zerbrechliches Eiswrack zersplittert in tausend Stücke.“

Niemand wagte zu widersprechen. Die Langenesser luden stumm ihre Büchsen, und während Woge nach Woge das Eiswrack hob und senkte, der zum Sturme angeschwollene Wind Schauer von Schnee und Hagel auf die Verlassenen herabschüttete, die Wellen Stück nach Stück von dem Eisfelde abbröckelten und die Brandung ihren Gischt weiter und immer weiter an den scharfen Wänden heraufspritzte, krachte Schuß auf Schuß in die Nacht hinein, bis der letzte Rest des Pulvers erfolglos verbraucht war.

Gegen Mitternacht zerbrach das Eis abermals. Die Hochfluth machte die einzelnen Schollen wieder flott und unter dem bleichen Zwielicht, welches der von Wolken umhüllte Mond über die wilde Scene verbreitete, trieben die Unglücklichen, auf drei mächtige Schollen vertheilt, in die rasende Nordsee hinaus.




VIII.
Nicol Mannis in der Sturmnacht.

Auf den Halligen beobachtete man das rasche Umspringen des Windes und die gleichzeitig eintretende Veränderung der Luft nicht ohne Besorgniß. Vielfache Erfahrungen lehrten, daß stürmisches Wetter in solcher Jahreszeit alle Berechnungen der Vorsicht zu Schanden macht. Die Zeit des Vollmondes führt jedes Mal ein höheres Anschwellen der Fluth herbei, jene räthselhafte Erscheinung, welche die Küstenbewohner Springfluth nennen. Gesellt sich dann noch ein Sturm von längerer Dauer hinzu, so erreicht das Meer oft eine unglaubliche Höhe und schlägt mit verzehnfachter Gewalt gegen alle von Menschenhand zum Schutz gegen die Verwüstungen empörter Wogen aufgeführten Bollwerke.

Nicol Mannis hatte eine Wetterveränderung erwartet, dennoch überraschte auch ihn der so frühe Eintritt derselben. Er beobachtete von seiner Warft aus mit großem Interesse die Verwandlungen in der Atmosphäre. Alle Zeichen verkündigten einen heftigen Sturm. Dies veranlaßte ihn, sein Haus zu ordnen und gewissermaßen in Vertheidigungsstand zu setzen. Alle Sachen von Werth, seltene Kostbarkeiten, die er sich während seiner Seefahrten unter fremden Völkern auf der anderen Erdhälfte erworben hatte, wurden auf den Boden des Hauses geschafft und hier in starke Kisten verpackt, die mit Eisenklammern an die gewaltigen Balken befestigt waren, welche die eigentlichen Grundpfeiler des Hauses bilden, da sie durch die Erdmasse des Warftes in den Grund der Hallig gleichsam festgenagelt sind. Einmal schon hatte der alte Capitain es erlebt, daß die Warft fast ganz von den Wogen zerschlagen wurde und von dem Hause, das auf ihr ruhte, nur der Dachraum übrig blieb.

Frau Ellen, seine Tochter Karen und die zwei jungen Mädchen vom Festlande, ihre weitläufigen Verwandten, waren dem vorsichtigen Manne dabei eifrig zur Hand. Den Fremden machte dies Schaffen und Sorgen sogar Vergnügen. Sie bekamen dabei das Heirathsgut Karen’s, einen Schatz ausgezeichneter Leinwand, zu sehen und konnten dasselbe mit ihrer eigenen dereinstigen Aussteuer vergleichen, die, nach friesischer Sitte, schon längst in schön gemalten Koffern wohl verpackt in ihren Kammern stand. Vor einer wirklichen Gefahr, die augenblicklich noch nirgends zu erblicken war, bangte den fröhlichen Andern nicht. Die ernste Miene Nicols nahmen sie für allzugroße Bedenklichkeit des Alters. Erst nachdem Alles geordnet und auch die Bänder der beweglichen Treppe, welche aus der Hausflur nach dem Boden geleitete, gelockert worden waren, brach Mannis sein bisher beobachtetes tiefes Schweigen.

„In wenigen Stunden schon wird die Fluth das Eis brechen,“ sprach er. „Dann treibt es der Sturm über die Halligen und wirft es an unsere Warften, daß alle Nägel im ganzen Hause erzittern. Mir ist’s nur lieb, daß der Sturm vor dem Vollmonde rast, das schützt uns vor einer Sturm-Springfluth.“

Mannis ließ nun seine weiblichen Hausgenossen gewähren. Er verwandte kein Auge mehr von dem immer dunkler sich färbenden Himmel. Das ruhelose Hin- und Herfliegen der Windfahne war sein zweites Augenmerk. Diese Unruhe gefiel ihm nicht. Er schüttelte wiederholt den Kopf und sah durch’s Fernrohr. Es war jedoch wenig, in größerer Ferne nichts zu erkennen. Der bereits heftig wehende Nordwest trieb Schnee- und Eisnebel vor sich her und hüllte Alles in trübe, kalte Schleier.

Von seinen Söhnen und ihren Begleitern sprach Nicol nicht. Ellen nur erwähnte ihrer, als sie Licht anzündete und das Gekrache des Eises sich bereits mit dem Pfeifen des Nordweststurmes mischte. Oft klang es, als rollte der Wiederhall eines Kanonenschusses von dem brüllenden Meere herein.

„Die sind geborgen,“ versetzte er mit Zuversicht. „Sie werden auf Föhr oder Amrom, wo sie nun eben sein mögen, ganz ruhig das Unwetter abwarten. Es ist aber leicht möglich, daß sie viel später zurückkommen, als sie ursprünglich beabsichtigten. Denn wenn starkes Thauwetter eintritt und Alles rund um die Inseln von Sturm und Fluth zertrümmert wird, ist die Binnensee kaum vor ein paar Wochen in einem starken Boote sicher zu befahren. Werdet Euch also ein paar Tage länger bei mir gedulden müssen.“

Den Mädchen leuchtete dies ein. Sie blieben heiter und gesprächig und die Windstöße, welche wiederholt an den Wänden des Hauses rüttelten, beunruhigten sie eben so wenig, als das Dröhnen berstender Schollen und der Schwall der Wogen, der schon ein paar Stunden nach Sonnenuntergang den Fuß der Warft umspülte und eine Mauer dicken Eises um sie aufhäufte.

Zu gewohnter Stunde begaben sich Alle zur Ruhe. Nicol Mannis aber konnte nicht schlafen. Die Warft und das Haus zitterte unter den Umarmungen des Sturmes und den Fluthwogen der See, als bebe fortwährend die Erde. Das entsetzliche Krachen nahm gar kein Ende, es wurde eher von Stunde zu Stunde heftiger. Hagel und Regen schlugen prasselnd an die Fensterladen und durch alle, auch die feinsten Ritzen, rieselte Wasser. Verstummte auf Augenblicke das Heulen des Sturmes, dann klang noch viel schauerlicher das Gebrüll der See durch die wüste Nacht.

Mit geschlossenen Augen lag Nicol auf seinem Lager. Die weißen Vorhänge waren zugezogen und ohne die Aufregung in der Natur würde der bejahrte Seemann sich so sicher geglaubt haben, wie der Städter in seiner ringsumschlossenen, von unübersteiglichen Mauern umgebenen Wohnung.

Es kam ihm vor, als funkele dann und wann etwas Helles vor seinen Augen. Oeffnete er dann die schweren Lider, so sah er nichts, als den dämmernden Schimmer der Vollmondnacht, die durch die Ritzen der Läden brach. Indeß wiederholte sich dies zuckende Aufflammen mehrmals, der Sturm wuchs, alle Balken im Hause ächzten. Nicol stand auf, kleidete sich schnell an und versuchte, die äußere Thüre zu öffnen.

Ein Strom weicher, fast warmer Luft wehte ihm entgegen. Der Wind war ganz nach Westen gelaufen und trieb jetzt berghohe Wogen gegen die Inseln und Küsten, auf deren rollenden Kämmen weiße Eisblöcke wie Marmorsteine blinkten.

Im Zenith schimmerten die Sterne, um den Mond standen Wolkenmassen von Silber umsäumt, die sein Licht beträchtlich abdämpften. Gegen Westen thürmten sich schwarze Wetterwolken empor, aus deren Schooße oft grell rothe Blitze brachen und als feurige Schlangen in die schäumenden Wellen untertauchten. Ob diese Blitze von Donnerschlägen begleitet waren, ließ sich nicht unterscheiden, da Wind, Fluth und zerberstendes Eis ein fortwährendes Donnern und heulendes Sausen erzeugten.

Noch hatte der Sturm nicht seine größte Höhe erreicht, dem alten Seemanne aber sagte die Richtung, aus der er wehte, daß er sich bald legen werde. Umlaufende Stürme pflegen nicht von langer Dauer zu sein.

Nicol suchte eine Stelle zu gewinnen, wo die Windsbraut ihn [371] nicht zu sehr beunruhigte. Hier hielt er sich fest und ließ seine noch scharfen Augen, die des Nachts fast eben so gut sahen als am Tage, über das wild schäumende Meer mit seinem Chaos zerborstener und fortwährend donnernd gegen einander prasselnder Eisschollen schweifen.

Auf allen nicht zu fern gelegenen Warften bemerkte er Licht, ein Zeichen, daß ihre Bewohner sich weniger sicher wähnten, als er selbst mit seinen Angehörigen. Der Windmühle unfern der Kirche hatte der Sturm ein paar Flügel geraubt, auch schien es ihm, als sei das Dach auf Geike Woegens’ Warft stark beschädigt.

Gern wäre er dem Nachbar, der ganz allein mit einer schwächlichen Tochter in seinem Hause lebte, zu Hülfe geeilt. Das war jedoch vorläufig unmöglich, denn nicht nur brauste das Meer sechs bis sieben Fuß hoch über die Hallig fort, es rollten auf den grauschwarzen Wogen auch noch zahllose Schollen schweren kantigen Eises, die selbst das stärkste Fahrzeug wie Glas zermalmt haben würden.

So stand Nicol Mannis lange. Erst als er die Gewißheit erlangt hatte, daß sein Besitzthum diesmal nicht gefährdet werde, zog er sich wieder zurück in den Schutz des Hauses. Das Gewitter näherte sich nicht. Es strich unter außerordentlich heftigem Wetterleuchten mit dem Winde mehr südwestwärts.

In der dritten Morgenstunde brach der Mond in hellem Glanze durch das Gewölk. Die Luft ward bald darauf stiller und als Nicol zum zweiten Male in dieser Nacht sein Lager aufsuchte, hörte er an dem gleichmäßigen Rauschen der Woge- und dem monotonen Anschlage derselben gegen den festen Hügel der Warft, daß die Gefahr vollständig vorüber sei.




IX.
Am Strand von Hooge.

Bei Anbruch des Tages ward es auf allen Halligen lebendig. Noch ging die See hoch und rollte in langen, breiten Wellen über die niedrigen, schutzlosen Erdscheiben. Die Fluth war aber bereits machtlos geworden und man durfte hoffen, daß mit der Tiefebbe alles Land größtentheils wieder frei von Salzwasser sein werde.

Die Westsee selbst bot einen merkwürdigen Anblick dar. Das Bild einer großartigen Naturverheerung lag in unübersehbarer Ausdehnung vor Aller Augen. Die Halligen waren mit unzähligen Eisblöcken übersät, die bald zerstreut und vereinzelt sich zeigten, bald hoch übereinander geschoben zu phantastischen Massen sich emporthürmten. Jede Warft umstarrte ein mächtiger Wall blaugrünen Eises. Da, wo der Fluthstrom mit größerer Gewalt gegen die künstlich aufgeführten Erdhügel angeprallt war, zeigten sich diese unterhöhlt, manche sogar halb zertrümmert. Indeß war doch keine Wohnung ganz zerstört oder vom Sturme umgeweht worden.

Noch chaotischer stellte sich das Binnenmeer dem Auge dar. Die Sturmfluth hatte alle Wasserstraßen zwischen den Watten gefüllt, überall das Eis gebrochen, es hüben und drüben auf den seichteren Stellen angehäuft und die auf den tieferen Strömungen treibenden Schollen mit der Ebbe der offenen See zugeführt. Das ganze Binnenmeer schien mit erratischen Blöcken funkelnden Gesteins besät zu sein.

Der alte Mannis war einer der Ersten, die von ihrer Warft herabstiegen, um die etwaigen Verwüstungen von Wind und Fluth in Augenschein zu nehmen. Sein erster Gang galt dem Vater Geike’s, den er schon beschäftigt fand, das stark beschädigte Dach seines Wohnhauses auszubessern. Als guter Nachbar legte Nicol sogleich selbst mit Hand an. So gelang es den beiden Männern, noch vor Abend den angerichteten Schaden nothdürftig wieder herzustellen.

Der abwesenden jungen Männer ward nicht gedacht. Erst Abends warf eins der Mädchen die Frage hin, wie lange dieselben wohl noch ausbleiben könnten.

„Das hängt von Umständen ab,“ erwiderte Nicol vollkommen ruhig. „Bleibt die Luft mild, wie heute, so wird die Binnensee bald fahrbar sein. In diesem Falle, der mir wahrscheinlich dünkt, dürfen wir sie in zwei, spätestens in drei Tagen erwarten.“

Wirklich blieb auch das Wetter mild. Die Luft war weich wie im April, der Himmel unbewölkt. Es trat fast gänzliche Windstille ein, so daß das Meer sich beruhigte und keine andere Bewegung, als die von Fluth und Ebbe herrührende, zeigte. Die jungen Männer kamen aber nicht zurück.

Karen’s Unruhe steigerte sich zur Sorge, sie wagte aber nicht, dem Vater ihre Befürchtungen mitzutheilen, da dieser selbst von trüben Gedanken gequält zu werden schien.

Als auch der dritte Tag verging und Keiner der jungen Männer sich blicken ließ, machte Nicol seinen Ewer segelfertig.

„Was hast Du vor?“ fragte Ellen.

„Segeln will ich und mich umschauen, ob irgendwo Einer verunglückt ist.“

„Unsere Söhne!“ rief mit thränenerfüllten Augen die geängstete Mutter.

„Darf ich Dich begleiten?“ fragte Karen, die mit Mühe eine Ruhe erheuchelte, von der ihr gequältes Herz nichts wußte.

„Darfst.“

„Und wir, Vetter Nicol?“ fragten die Mädchen vom Festlande.

„Ihr bleibt ruhig auf der Warft, bis wir wiederkommen.“

„Wie lange gedenkst Du fortzubleiben?“ warf Ellen hin.

„Weiß ich nicht.“

„Und wohin willst Du segeln?“

Mannis deutete mit vielsagendem Blicke nach Norden.

Die Zurückbleibenden gaben Vater und Tochter das Geleit bis an den Strand. Mannis hißte die Segel auf, drehte ab und fuhr mit stummem Abschiedsgruße hinaus in die Wattensee.

Sein Ziel war Amrom. Er erreichte die Insel nach einigen Stunden. Unterwegs entging seinem scharfen Auge nichts, was ihn interessirte. Namentlich achtete er auf die zusammengeschobenen Schollen, die hie und da auf den Sanden festsaßen, und von der jetzt nur schwachen Fluthwoge noch nicht überall zerstört waren. Trümmer eines zerschellten Fahrzeuges, die nach vorangegangenem Sturme ein paar Tage später von den Wellen gewöhnlich an’s Land gespült werden, begegneten dem alten Halligmann nicht.

In der Ortschaft Nebel auf Amrom fand Nicol die ersten Spuren der Vermißten. Hier erfuhr er auch, daß die Gesellschaft aus zehn kräftigen Männern bestanden hatte, von denen vier mit Büchsen bewaffnet gewesen waren. Am Morgen nach der Sturmnacht fanden auslugende Schiffer einen getödteten Seehund am Fuße der Dünen. Die Amromer nahmen deshalb an, daß die Jäger, deren Abzug nach den Dünen kein Geheimniß geblieben war, ihre Beute beim Ausbruch des Unwetters aufgegeben und sich nach Süd- oder Norddorf zurückgezogen hätten.

Mannis machte sich ungesäumt mit seiner Tochter auf den Weg, um die bereits entdeckten Spuren seiner Söhne und ihrer Begleiter weiter zu verfolgen. Er durchwanderte die ganze Insel, erkundigte sich überall nach den Verschwundenen, erhielt aber nirgends eine beruhigende Antwort. Weder im Süden noch im Norden waren die jungen Männer gesehen worden!

Eine große Niedergeschlagenheit bemächtigte sich jetzt des alten Seemannes, doch sprach er seinen Schmerz nicht in Worten aus. Er hatte zu viel Furchtbares erlebt auf seinen Reisen, um sich selbst von dem entsetzlichsten Unglücke ganz niederbeugen zu lassen. Am meisten schmerzten ihn die Klagen Karen’s, die sich gar nicht mehr zu fassen wußte.

Mannis blieb eine Nacht auf Amrom. Am andern Morgen segelte er nach Föhr, um auch dort seine Nachforschungen wieder aufzunehmen. Der Erfolg war kein glücklicher.

„Nun ist es Zeit, heimzukehren,“ sprach er darauf entschlossen zu seiner Tochter. „Man wird uns daheim alsbald brauchen.“

Ruhig und kalt lichtete er wieder den Anker und steuerte westwärts in die Norder-Aue. Bei Seesand-Steert bog er in die Süder-Aue ein und hielt gerade auf Knudshorn, um mit auflaufender Fluth das Jap zu gewinnen.

Ueber Heverknob’s Westbrandung stieg eine Wolke schreiender Seevögel auf und nieder; eine zweite, noch dichtere gewahrte Mannis weiter südlich auf Backsand, er schenkte diesen Vogelgeschwadern aber keine große Aufmerksamkeit, da es täglich vorkommende Erscheinungen über Untiefen sind, wo das Meer eine Menge Fischleiber und todter Schalthiere auswirft,’welche den Seevögeln zur Nahrung dienen.

Die Sonne übergoß die Warften mit purpurner Gluth, als Hooge nur noch ein paar Büchsenschüsse weit von dem schnellsegelnden Ewerschiffe Mannis’ entfernt lag. Rechts von dem Schlütt gewahrte der alte Capitain einen Menschentrupp, unter denen zwei Drittheile Frauen waren. Auch Karen fiel diese Versammlung der [372] Halligbewohner auf, weshalb sie fragend die Worte an den Vater richtete: „Was kann es dort geben?“

Nicol stand aufrecht am Steuer und sah unverwandt nach dem Strande. Sein Ewer war Allen auf Hooge bekannt, und ehe das Fahrzeug noch anlegen konnte, näherten sich Mehrere dem Landungsplatze. Mannis erkannte unter diesen auch den Pfarrer.

„Ich weiß schon, was Ihr bringt,“ rief er jetzt mit gepreßter Stimme vom Schiffe aus den tief ernsten Männern zu. „Ihr habt gefunden, was ich vergebens suchte. Von dorther, wo die Andern stehen, sah ich den Leichenzug quer über die Hallig sich fortbewegen, und von Heverknob’s Sand her strich er feierlich ernst über die Süder-Aue.“

Das Wort des alten Mannes erregte bei Niemand Anstoß. Es widersprach ihm Keiner, der Geistliche aber reichte ihm die Hand, bot dann dem jungen Mädchen, das sich weinend an ihn schmiegte, den Arm, und so schritt der ganze Trupp der Stelle zu, wo noch immer mehr Halligbewohner sich einfanden.

Die letzte Fluth hatte hier vier Leichen an’s Land gespült. Unter diesen befand sich Jens Mannis und der übermüthige Vetter Hendry aus Bredstedt. Die andern Beiden waren zwei Langenesser. Ueber das Schicksal der noch Uebrigen konnte sich der unglückliche Halligmann keine Illusionen mehr machen.

„Sie sind Alle ein Opfer des Sturmes geworden,“ sagte er gefaßt. „Es war unrecht von mir, daß ich sie nicht mit Gewalt zurück hielt. Hörte doch Jens zuerst die Geisterglocken von Rungholt läuten!“ –

Ellen war von dem Geschehenen bereits unterrichtet. Sie begrüßte die Heimkehrenden stumm, aber herzlich. Bald darauf brachte man die Leichen Jens’ und Hendry’s. Nicol ließ sie auf die Diele nebeneinander betten.

Mit der nächsten Fluth trieben noch vier der Vermißten theils auf Nordmarsch, theils auf Südfall an, die dritte Fluth warf den Neunten abermals an Hooge’s Strand. Nur Taken’s Körper fand man nicht auf.

„Sein Leib wird dem Meere verbleiben,“ sprach Nicol.

Er traf Anstalten, die Todten bestatten zu lassen.

Zu diesem Leichenbegängniß trafen von allen Halligen theilnehmende Männer und Frauen auf Hooge ein. Es war ein langer, düsterer Leichenzug, der sich im matten Schein der Wintersonne über die öde Hallig fortbewegte nach dem kleinen Friedhofe, wo die Verunglückten in eine weite gemeinsame Gruft gesenkt wurden. Diese Feierlichkeit war eben beendigt, als unter den zahlreich Versammelten eine Bewegung entstand.

„Ein Schiff, ein Schiff von Nordstrand!“ rief laut eine Stimme. „Er ist gerettet, durch ein Wunder gerettet!“

Die Menge theilte sich und auf zwei starke Männer in Schifferkleidung gelehnt, bleich, mit verstörten Zügen und kaum wieder zu erkennen, schwankte Taken auf den gebrochenen Vater zu, der, keines Wortes mächtig, den Sohn in seine geöffneten Arme schloß und dann laut schluchzend mit ihm auf den frischen Erdhügel, der sich über den Särgen der eben Beerdigten wölbte, niedersank. –




Unter Ellen’s und seiner Schwester Pflege erholte sich Taken bald so weit, daß er die näheren Umstände seiner Rettung mittheilen konnte.

Vom Sturm erfaßt, war das in’s Treiben gerathene Eisfeld am äußersten Rande jenes hohen Sandes, welchen die Schiffer Capitainsknob nennen, und der an der Mündung der Reutertiefe im Westen Amroms liegt, geborsten. Das wilde Sturmwetter jagte die nunmehr getheilten Schollen seewärts. Bald verloren sich die Getrennten gänzlich aus dem Gesicht. Taken mit zwei der büchsenbewaffneten Langenesser hatte der Zufall auf die kleinere, aber sehr feste Scholle geworfen. Die dem Tode Geweihten trieben, von mancher Woge überschüttet, immer weiter nach Süden. Hier geriethen sie in eine Wetterwolke, die unter Blitz, Donner und Hagel über sie fortbrauste. Eine Woge überstürzte die Scholle und spülte die Langnesser in die Tiefe. Taken sah sich allein. Mit der Riesenkraft der Verzweiflung klammerte er sich fest an das Eis, bis schauernde Kälte ihn durchrieselte, und er, von nagendem Hunger gepeinigt, mit erstarrten Gliedern besinnungslos niedersank.

Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Schifferkahne. Eine mitleidige Woge hatte ihn auf den Strand von Süderoog geworfen, wo Schiffer, die hier Schutz vor dem wilden Sturmmwetter gesucht und gefunden, ihn entdeckten.

Anfangs hielten die wackern Männer ihn für todt. Bald aber bemerkten sie, daß noch Leben in ihm sei, und ihren unablässigen Bemühungen gelang es, den schon dem Tode Geweihten wieder in’s Leben zurück zu rufen.

Es waren Männer von Nordstrand. Dahin brachten sie zuerst ihren Findling. Dieser aber, kaum so weit erstarkt, daß er sich wieder regen konnte, hatte keine Ruhe bei seinen braven Rettern. Ihn verlangte zurück nach Hooge, um zu erfahren, ob die Kunde des Geschehenen bereits bis in das Haus seiner Eltern gedrungen sei. Unter dem Geläut der Glocken, die über dem Grabe seines Bruders, seiner Verwandten und Freunde verhallten, betrat er, der einzig Ueberlebende, die Hallig.

Der Seemann von ächtem Schrot und Korn ist eben so fromm als abergläubisch. Wie Nicol Mannis fest überzeugt war, daß da schattenhafte Schiff, welches seine Kinder unfern der Insel Amrom im vergangenen Herbst an sich hatten vorüberstreichen sehen, ein Zeichen gewesen sei, das ihnen in jener Gegend Unglück prophezeie; wie er Tags darauf mit eigenen Augen einen Leichenzug mit Begleitung von der Süder-Aue über das Jap nach Hooge durch den Nebeldunst des Abends gleiten sah und darin einen Wink erblickte, daß viele Halligleute ihren Tod in den Wellen finden würden: so von Herzen froh und dankbar war jetzt der alte Mann, daß Gott doch nur einen Sohn von ihm gefordert hatte.

Ellen war schwerer zu beruhigen. Sie machte sich im Stillen Vorwürfe über ihren Unglauben, und zieh sich unnützerweise eines Leichtsinnes, den sie in der That gar nicht besaß. Es bedurfte langer Zeit, ehe die gebeugte Frau ihre frühere geistige Elasticität wieder gewann.

Im Frühjahr kehrte Geike Woegens glücklich von seiner Reise zurück. Er betrauerte tief und wahr das Unglück, das sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und führte ein paar Monate später die sinnig-ernste Karen als Gattin heim.

Die in der wilden Sturmnacht Umgekommenen zeigten sich Niemand als Wiedergänger. Der Friedensklang der Kirchenglocken auf Hooge, Langeneß und in Bredstedt hatte sie für immer sanft in’s Grab gebettet.





  1. Seichte Fahrrinne an den Halligen.
  2. Zu besserem Verständniß binnenländischer Leser sei hier bemerkt, daß die „Halligen“ kleine, nur spärlich bevölkerte Inseln in der sogenannten Westsee sind, wie von den Seefahrern der Theil der Nordsee genannt wird, welcher von der Mündung der Eider nordwärts bis an die Grenzen Jütlands die Küsten Schleswigs bespült. Die „Halligen“, gegenwärtig noch 15 an der Zahl, sind Ueberreste der im Jahre 1634 durch eine furchtbare Sturmfluth zertrümmerten Insel Nordstrand. Sie erheben sich nur wenige Fuß über die Meeresfläche und sind durch keine Deiche gegen die Wuth der Stürme und des Wogendranges geschützt. Daher werden sie bei jeder Sturmfluth von dem Meere überfluthet. Um gegen diese immer wiederkehrenden Fluthbedrängnisse sich zu vertheidigen, führen die Halligbewohner künstliche Hügel, „Warften“, auf und bauen auf diese ihre in der Regel sehr stattlichen Häuser.
    Der Verfasser. 
  3. Lütt: klein, häufig gebrauchtes Schmeichelwort.
  4. Erschreckt.
  5. Ein hoher Sand im Westen von Amrom.
  6. Wiedergänger nennen die Uthlandsfriesen Ertrunkene, welche dem Volksglauben zufolge ihren Anverwandten und Freunden, triefend von Wasser, später und oft erst nach Jahren, begegnen.
  7. Schmale Stromrinnen zwischen und auf den Watten.
  8. Nach dem friesischen Volksglauben wird der Tod naher Angehöriger den Ueberlebenden oft dadurch angezeigt, daß sie bei Abenddämmerung im Nebel einen vollständigen Leichenzug der Gegend zugleiten sehen, wo die Leiche später der Erde übergeben werden soll. Die Friesen nennen sclche Erscheinungen Vorspuk oder Vorgesicht.