Weihnachten eines Seekadetten

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Autor: Helene Pichler
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Titel: Weihnachten eines Seekadetten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 828–831
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Weihnachten eines Seekadetten.

Von Helene Pichler. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Eine lustige Nacht! Eine tolle Nacht! Seiner Majestät Schiff „Jason“ tanzt im Wogengetümmel mit dicht gerefften Segeln nach der Musik, welche der Meister Sturm aus allen Tonarten pfeift. Bald fiedelt er in den höchsten Regionen der Tonleiter und sämmtliches Tauwerk vibrirt in dem Triller; bald rauscht und brummt er im tiefsten Baß und giebt dabei der Fregatte einen Stoß, daß sie eine Verbeugung nach der Seite macht, die befürchten läßt, das Schiff werde kopfüber auf den Meeresgrund gehen. Aus nachtschwarzem Himmel gießen Wasserfluthen herab und von unten schäumen die übermüthigen Wellen über die Reeling des Schiffs. Auf dem Schiff selbst stehen achterwärts vier Mann am Steuer; mit aller Kraft haben sie das Steuerruder in dem vorgeschriebenen Kurse zu erhalten; die ungebärdigen Wogen möchten es ihnen entreißen, aber keinen Strich Ost oder West lassen sie sich rauben. Eine hohe Mannesgestalt, dicht in einen Regenrock eingeknöpft, dessen Kapuze das Haupt umgiebt, steht auf dem Hinterdeck in Luv, und mittels eines Nachtglases späht sie hinaus in die dunkeln Meeresweiten: das ist der „wachthabende Officier“. Vorn, im Bereich des Fockmastes stehen ebenfalls mehrere Gestalten wie angenagelt, der „Ausguck“ und ein Theil der Backbordswache. Und weiter: mittschiffs, so in der Nähe des Großmastes, kauern an gedeckten Stellen mehrere menschliche Körper, denen in dieser Nacht das süße, wenn auch unerlaubte „Nickerchen“ von selbst vergeht: es sind die Kadetten der Wache. Diese letztere junge Schar vielleicht ausgenommen, empfinden aber die Männer, welche zur Zeit auf dem Oberdeck der „Jason“ sich befinden, von dem Pfeifen und Orgeln, Brausen und Zischen rings in Luft und Wasser keinen stärkeren Eindruck, als hörten sie einige Knaben ihre neuen Jahrmarktspfeifen probiren oder als sei ein Weinglas an fröhlicher Tafel ins Schwanken gerathen. Das macht die strenge Zucht, welche „von oben“ kommt und den Menschen zur heilsamen Disciplin erzieht, daß er selbst in Noth und Tod nicht den Kopf verliert und allzeit den alten friesischen Seemannsspruch: „Rum Hart, klar Kimming“, „Weites Herz, klarer Horizont“, vor Augen hat.

In dieser Zucht sollen auch die blühenden Jünglinge, die Seekadetten, erstarken, um derentwillen die „Jason^ auf jener Hälfte des Erdballs sich befindet. Vor Allem ist die Zucht Einem nöthig, den die Kameraden in der Kadettenmesse den „Durchgänger“ nennen; in der Liste der „Jason“ steht er als Bruno Stein, Seekadett, verzeichnet: er, der Jüngling-Mann, welcher, von einer Kanone gegen den Sturm geschützt, seine vier Stunden Wache durch einige höchst unstatthafte Gedanken zu verkürzen strebt. Die schaurige Nacht ist dem langen Burschen schon recht. Solchen energischen Beweisen einer „höheren Macht“ kann er einigen Respekt nicht versagen. Aber die Menschen? Besonders diejenigen auf Seiner Majestät Korvette „Jason“? – Ach, nicht so viel giebt er drum, wenn er sich auch freilich wohl hütet, dem „Wachthabenden“, oder gar dem Bootsmann, dem Gestrengen des Vorderdecks, auch nur die leiseste Ahnung eines solchen Gedankens zu erwecken.

Da kauert er nun im Nachtdunkel und lehnt sich im Herzen gegen alle Ordnung und alle Pflichten auf; am meisten gegen die nächsten Vorgesetzten. Da ist der „Wachthabende“, der ein so gemüthlich Fahrzeug war, so lange er, selber Kadett, mit den Kadetten auf einer Bank saß; seit er aber den Officier herausgebissen hat, ist er der schlimmste Chikaneur von allen; und der Bootsmann gar? Na, der kennt ja ohnedies keine grimmigere Freude, als wenn er dem ersten Officier eine recht lange „schwarze Liste“ vorlegen kann und dieser die darauf stehenden Schuldigen den Strafarbeiten des Bootsmannes überweist. Außerdem ist Bruno Stein sich bewußt, bei dem ersten Officier ebenfalls nicht gut angeschrieben zu stehen. Mit geheimem Zähneknirschen gedenkt er des häufigen Bordarrestes, während die Kameraden mit Sang und Klang an Land gehen durften. Na, wartet nur, wenn ich erst Officier bin – nein, so lange wird nicht gewartet. Ihr sollt noch mit mir zu thun haben, ihr Disciplinhelden, ihr Ordnungsphilister, ihr Reinlichkeitsnarren, ihr – ihr –! Weiter kommt der junge Mensch nicht mit seinem geheimen Raisonnement, denn der wachthabende Officier ruft ihn an und schickt ihn mit einem Auftrag an den Bootsmann.

Das paßt ihm wieder nicht. Ihm paßt überhaupt nichts an Bord der „Jason“. Gehorchen und wachen – wachen und gehorchen! Das wird dem neunzehnjährigen Kopfe blutsauer. Er hatte sich die Wirthschaft auf solchem Kriegsschiff ganz anders vorgestellt, und nun ist sie schlimmer als „daheim“ der Schulzwang und die unerträgliche väterliche Autorität. Die letzten Beiden sind vollständig abgeschüttelt worden, so vollständig, daß nicht mal der Zwang eines Briefes auf ihm liegt. Er ließ alle elterlichen Briefe unbeantwortet; mögen sie daheim doch warten, bis es ihm beliebt zu schreiben. Eben so wird auch die Kette, welche das Vaterland ihm durch die Admiralität anlegen ließ, bei erster Gelegenheit abgestreift werden. In irgend einem Schlupfwinkel der vielbuchtigen Küste Ostasiens wird der kühne Plan ausgeführt werden. Freiheit! Freiheit! Das Wort erregt in der Brust des jungen Menschen ein merkliches Zittern. Das Schimpfliche seines Vorhabens empfindet er nicht, weil die Stimme der Ehre schweigt vor der begehrlichen Sprache der Lust.

Gährend umbraust ihn die Finsterniß; unten in der Tiefe blitzen grünliche Funken auf. Der Wind wächst von Minute zu Minute. „Großsegel weg!“ tönt das Kommando, welches alsbald durch die schrillen Pfiffe des Bootsmanns der ganzen Mannschaft zur Kenntniß gebracht wird und hundert Hände zugleich in Bewegung setzt, a tempo das mächtige Stück Tuch dicht an die Raa zu bringen.

Sicher, als hätten sie den Boden eines Tanzsaales unter ihren Füßen, laufen die Leute an den Wanten empor; als leuchte ihnen das strahlende Tagesgestirn, so genau wissen sie ihren Weg in der schwankenden, vom Sturme gepeitschten Takelage zu finden. Auch der Kadett der Wache hat mit hinauf müssen in den Großmars, um die Ausführung des Kommandos zu überwachen. Jetzt ist es ausgeführt; wie die Katzen gleiten die Matrosen hernieder. Bruno Stein als der Letzte setzt eben den Fuß in das Großwant, [829] als eine brüllende See das Schiff hebt und, plötzlich in sich zusammenstürzend, auch diese Bewegung dem Fahrzeug mittheilt. Der heftige Stoß wird von dem Kadetten hoch oben in dunkler Luft nicht genügend parirt. Ein furchtbarer Schrei und durch die Finsterniß fliegt ein Körper hinab in den Ocean. „Mann über Bord,“ schreit es auf Deck und – es geschieht, was in solcher Zeit in solchem Falle gethan werden kann.

Bruno Stein fühlt beim Stürzen einen entsetzlichen Druck, unter dem er zu ersticken meint, purpurne Lichter zucken vor seinen Augen; an sein Ohr dringen Stimmen, halb höhnisches Gelächter, halb donnerndes Strafgericht. Ihm vergehen die Sinne. Nur für einen Moment, dann rieselt es glühend durch seine Adern. Instinktiv macht sein Körper die Bewegung des Schwimmens. Der entsetzliche Druck auf Haupt und Brust mindert sich. Schneidende Kühle umgiebt sein Haupt. Er kann Athem schöpfen. Er öffnet die Augen. Er ist emporgekommen aus der grausigen Tiefe und wird von den Wellen hin und her geschleudert.

Da, dort, einem schwarzen Phantom gleich, schaukelt die „Jason“ – auf den nachtschwarzen Wassern. Jetzt schwebt sie auf der Spitze eines Berges, nun stürzt sie in ein Wellenthal. Ha, jetzt saust das Schiff in einem großen Bogen herum, ein Sternlein fliegt vom Schiff auf die tobende See herab.[1] Zu ihm! Zu ihm! Mit verzweifelter Anstrengung sucht der Schwimmende das auf dem Wasser glimmende Lichtlein zu erreichen. Jetzt hat er es erreicht; er streckt den Arm aus, sinkt aber kraftlos in die Tiefe zurück, und aberwals umfassen ihn die Schauer des Todes. Jähe Blitze zucken hin und her, tiefe Orgeltöne in zermalmender Fülle dringen in sein Ohr. Dazwischen unterscheidet der Ertrinkende deutlich eine weinende Menschenstimme; er sieht dicht über sich das liebe Antlitz seiner Mutter, welche schluchzend sagt:. „Mein Sohn, warum hast Du mir das gethan?“

Und so ermuthigend dringt ihr Weinen in seine dahinschwindende Seele, daß er mit letzter Kraft wieder die Arme bewegt, und als bohrten sich glühende Nadeln in sein Hirn, denen er entfliehen müßte, schnellt er abermals empor zur Oberfläche. Nur nicht das Weinen hören! Und welche Vorstellungen, welche Gedanken drängen sich blitzschnell in seiner Seele!

Leben! Leben! Gehorsam! Subordination! Briefe schreiben! Gleich, sofort will er schreiben, daß nur die Mutter wieder lächle! „Wir wollen den Burschen schon ’rumkriegen,“ hört er den Bootsmann sagen. Keine Ermahnungen mehr, liebe Mutter! Nicht sterben! „Der störrische Sinn muß gebrochen werden!“ Nein, nein, nicht mehr störrisch! Mutter, Mutter! –

Das Sternlein erlischt, er hat es nicht erreicht.

„Kamerad! Bruno Stein! Wir sind da! Muth, Muth!“ Aus weiter Ferne hört er den Ruf, kann aber nicht mehr antworten, nur ein dumpfes Stöhnen dringt aus der Brust. „Mutter, liebe Mutter,“ seufzt er matt und weiß ferner nicht, was in Nacht und Graus mit ihm vorgeht; er fühlt nicht, daß kraftvolle Arme ihn packen und den Wellen entziehen. Bruno Stein ist besinnungslos: aber er lebt. – –

Um einige hundert Meilen ist die Korvette nordwärts gesegelt, und seit ihn der Ocean in seinen todbringenden Armen wiegte, ist mit dem Kadetten Bruno Stein eine große Veränderung vorgegangen. Der störrische Bursch ist ein pflichttreuer Mensch geworden, der sich weder vor dem ersten Officier, noch vor dem alten grauen Bären, dem Bootsmann, zu fürchten hat. „Der wird! Er hat den Wind von vorn gekriegt!“ sagt der „Gewalthaber vor dem Maste“ und schiebt ein neues Stück Tabak in seine ausgeweitete Mundhöhle. Einen Haken hat die Sache aber doch. Der sonst so überkecke Kadett leidet seit jener Nacht an Schwermuth; je näher die „Jason“ ihrem nächsten Hafen kommt, je mehr das Datum dem 24. December entgegenrückt, um so düsterer wird seine Stimmung.

Weihnacht! Trotz fester Disciplin und strammen Dienstes schlagen zwanzig Kadettenherzen schneller, wenn das Wort im leise geführten Gespräch auftaucht. Weihnacht! Wo auch Seiner Majestät Schiff sich befinden möge, es wird den jungen Menschenkindern eine fröhliche Feier bereitet werden, freilich nicht von Eltern und Geschwistern, sondern von der „großen Mutter“, der Marineverwaltung. Nur für den unglücklichen Bruno Stein wird es kein Christfest geben. Er glaubt durch seine trotzige Nichtachtang der elterlichen Liebe das Anrecht auf dieses Fest der Liebe verscherzt zu haben; kaum darf er hoffen, daß die Eltern seiner gedenken.

Die Korvette ist nach Amoy beordert. Hier findet sie Befehl, die „Ariadne“ zu erwarten, die zur Ablösung unterwegs ist. Also in Amoy muß Weihnacht gefeiert werden. Nicht gerade zur Erbauung für Officiere und Mannschaften, die lieber in einem großen Welthafen, etwa Hongkong, binnengelaufen wären , aber das Kadettenvölkchen ist ganz aus Rand und Band; der Platz ist einerlei, Weihnacht ist eben Weihnacht.

O Welt, wie bist du weit! Wo Amoy liegt? An der Ostküste des chinesischen Reichs. Genauer: unter 24 Grad nördlicher Breite und 118 östlicher Länge, auf einer dem Festlande [830] nahe liegenden Insel. Bis vor wenigen Jahren war der Ort verrufen als Schlupfwinkel für Seeräuber. Es konnte geschehen, daß ein segelfertiges Schiff den Hafen nicht verlassen durfte, weil eine Piratenflotte sich vor der Ausfahrt festgelegt hatte und darauf lauerte, das gute deutsche Schiff sammt seiner kostbaren Theeladung so mir nichts dir nichts herunterzuschlucken und die dabei etwa unbequem werdenden Seefahrer einfach ins Jenseits zu expediren. Volle vierzehn Tage dauerte die unerhörte Blokade. Erst als ein englisches Kriegsschiff, das Amoy anlaufen wollte, um dort frisches Wasser einzunehmen, einige Kanonenschüsse unter die freche Bande schickte, machte diese sich eiligst mit allen Segeln davon und das deutsche Schiff konnte unter dem Schutze des Engländers auslaufen.

Heute ist Amoy ein durchaus sicherer Platz; heute hat auch Deutschland selbst seine herrlichen Kriegsschiffe in jenen Gewässern, und die deutsche Flagge wird nicht nur von den Wasserbanditen mit banger Scheu gemieden, sie erfreut sich des höchsten Ansehens unter der einheimischen Bevölkerung, vom braunen oder gelben Eingeborenen an, der ohne Schuhe läuft, bis zum reichen Handelsherrn, welcher von Gold und Silber speist.

Sobald die Anker gefallen sind, schwebt Weihnachtsstimmung über Schiff und Mannschaft. Zwar muß der Dienst versehen werden; aber die Zügel werden nicht so straff gehalten, daß nicht Jugendlust ihre fröhlichsten Purzelbäume schlagen könnte. Die gestrengen Herren hoch oben wissen ganz genau, wie es zur gesegneten Weihnachtszeit in jungen Menschenseelen zu rumoren pflegt, und da unsere Marineverwaltung ihren Zöglingen nicht nur eine ernste Lebenserziehung angedeihen läßt, sondern ihnen auch – sobald Ort und Zeit angemessen sind – ein sorgliches und herzliches Eingehen auf ihre jugendlichen Gefühle und geistigen Bedürfnisse gewährt, so haben die jungen Leute unter der Kriegsflagge des Deutschen Reichs das Bewußtsein, ein großes gütiges Mutterauge wache über ihnen.

Des Putzens, Scheuerns, Spülens ist kein Ende; die „Jason“ will am Feste sich selbst übertreffen. Die Küchenmeister haben unendlich zu schaffen und ihr Hilfspersonal weiß nicht aus noch ein vor lauter Festzurüstungen. Schon kommen einzelne Sanpans, von schlitzäugigen, gelben Weibern gerudert, langseits der „Jason“. Sie sind hochbeladen mit Tannengrün, Stechpalmen und allerlei exotischem Gebüsch. Um diese kostbaren Dinge entspinnt sich alsbald eifriger Handel, der damit endigt, daß die deutschen Matrosen den Grünkram eiligst unter Deck schaffen.

Unter den Kadetten wird großer Rath gehalten: es soll etwas Außerordentliches geschaffen werden, und um es in Scene zu setzen, wird aus ihrer Mitte ein Weihnachtsvorstand gewählt. Bruno Stein, als der Aelteste der Schar, soll Vorsitzender sein; der aber sagt: „Laßt mich mit Euren Kindereien in Ruhe,“ und geht abseits, damit er das dünne Stäubchen wegwischen kann, das ihm ins Auge flog.

Es hilft nichts! Die mageren wie die runden Börsen müssen ihr Innerstes ausschütten und das artige Häuflein wird feierlichst dem Vorstand anvertraut, daß er für Geschenke und Ausschmückung der „Messe“ sorge.

Amoy ist eine echt chinesische Stadt; nur wenige Europäer wohnen dort, und diese stehen meist in chinesischen Diensten. Während nun die fröhlichen Kameraden sich in der Stadt umhertreiben, kaufen und feilschen, bei den verwickelten Münzverhältnissen großartige Proben ihrer Rechenkunst ablegen und sich schließlich doch anführen lassen, schreitet der schwermüthige Bruno die Küste entlang. Er will allein sein; jedes heitere Wort verletzt ihn; er kann gar nicht lachen hören. Außerhalb der Stadt ersteigt er einen der im Mittelgrunde der Insel sich erhebenden, konisch gerundeten Berge. Zu seinen Füßen liegt das Dächergewirr der chinesischen Häuser; hier und dort hebt sich ein phantastisch geschweifter Tempel heraus. Aber so seltsam die Gegend, sie ist reizlos, weil das Waldesgrün fehlt. Und leuchtete nicht drüben das Meer in farbensattem Spiel – der junge Seemann würde die Empfindung der Heimathlosigkeit haben. Er hat sie auch so.

Vier Briefe, echt mütterliche Briefe voll heißer Sorge um den geliebten Sohn, sind auf den verschiedenen Stationen der Reise in seine Hände gekommen. Er weiß, wie viel Liebe und Aufmerksamkeit alle diese Briefe bedurften, ehe sie ihn erreichen konnten – aber keinen einzigen hat er beantwortet, weil ihm die ewigen Ermahnungen zuwider waren, weil er nicht Zwang dulden wollte.

Nun steht seit jener Sturmnacht das gramvolle Gesicht der vergeblich hoffenden Mutter vor ihm. Er darf nicht glauben, daß die Liebe unerschöpflich – und dazu ist Weihnacht vor der Thür.

Wohin ist der junge Mann gerathen? Er schaut sich um. Er schreitet über ein wüstes Steinfeld, dem nur mageres Gebüsch an einigen Stellen entsproßt. Aus dem Trümmerfelde erheben sich einige regelrecht geschichtete Steine zu einer Art Hütte; aber kein lebendes Wesen ist zu schauen, nicht einmal ein Käfer oder surrendes Bienlein unterbricht die Ruhe des Todes. Bruno befindet sich auf der Todtenstätte von Amoy. Das ist ein trauriger Ort, der zu seiner Seelenstimmung paßt.

Er setzt sich auf einen Felsenklotz und – weint.

Doch auch die Stunde geht zu Ende. Bei der Rückkehr findet er die lustigen Kameraden im Begriff, mit dem Boote abzustoßen. Mit Halloh wird der „Durchgänger“ empfangen. Die hübschen Gesichter glühen; eifrig sprechen Alle zu gleicher Zeit, und tausend kleine Abenteuer werden zu großen Aktionen aufgeschwellt.

Von der „Ariadne“ ist inzwischen noch kein Lebenszeichen vorhanden. Schon wird die Hoffnung auf die Weihnachtspost recht schwach; bleibt die aber aus, dann ist dem Feste alle Freude genommen. Nicht nur dem Völkchen der Seekadetten und Schiffsjungen, auch den Officieren bis zum Kommandanten hinauf – jeder hat doch ein liebes Menschenherz im fernen Deutschland, von dem ein Festgruß zu erwarten steht.

Der 24. December bricht an. Schon bei Zeiten hört man geheimnißvolles Klopfen und Hämmern, untermischt mit Gesang aus allen Ecken und Winkeln des Schiffs. Der bärbeißigste Unterofficier, der strengste Wachthabende drückt heute ein Auge zu. Von früh Morgens an wimmelt es um die Korvette von Sanpans, welche grünen Schmuck anbieten, und ganze Berge davon werden unter Deck geschleppt, wo hundert Hände sich darnach ausstrecken, um sie zur Ausschmückung der verschiedensten „Messen“ (Speisesäle der Officiere und Kadetten) und „Backen“ (Tischgesellschaften der Matrosen und Mannschaften) zu verwenden.

Inzwischen wird die Frage wegen der „Ariadne“ eifrigst erörtert. Sowohl „vor“ als „hinter dem Mast“ entstehen zahlreiche Wetten für und gegen das zu erwartende Schiff. Selbst der trübselige „Durchgänger“ kann sich der allgemeinen Aufregung nicht entziehen. Auch er wettet, und natürlich, seinem Gemüthszustand angemessen, gegen die „Ariadne“. Wenn sie überhaupt rechtzeitig eintrifft, ihm, Bruno Stein, bringt sie sicher keinen Brief; er hat die Liebe von Vater und Mutter gründlich verwirkt. Dennoch fliegen auch seine Blicke oft zu der Citadelle empor, von woher das erste Zeichen eines in Sicht kommenden Schiffes gegeben wird.

Endlich – schon steht die Sonne im Zenith – meldet der Kadett der Wache: „Kriegsschiff signalisirt.“ Alles stürzt an Deck; mit und ohne Ferngläser sucht man dem am Horizont auftauchenden Pünktchen seine Nationalität abzugewinnen. Vergebens, die Entfernung ist zu groß. Nun rückt der Punkt näher, ein Schiff entwickelt sich daraus; aber was für eins? Zwischen dem Schiffe und der Signalstation, welche die Nationalität melden muß, ist die Aufmerksamkeit getheilt. Jetzt wird auf der Station die Flagge gehißt – aber nicht die deutsche, sondern die englische. Ach, da steht manches Herz schier still und der Triumph der Gegner der „Ariadne“ will nicht so recht zu Tage treten. Dennoch wird ein Fünkchen Hoffnung festgehalten, es kann ein Irrthum vorliegen. Man weicht und wankt nicht vom Deck, und richtig – im Moment, wo mehrere Stimmen zugleich rufen: ein deutsches Schiff, die „Ariadne“! da rauscht auch auf der Citadelle die deutsche Kriegsflagge am Mast empor. Grenzenloser Jubel! Hundertstimmiges Hurrah empfängt das bald darnach majestätisch in den Hafen dampfende Schwesterschiff!

Nun beginnt auf der „Jason“ eine Unruhe, ein Hasten, eine Aufregung, die alle Schranken zu durchbrechen droht. Die Post? die Post?

„,Ariadne‘ hat keine Post mitgebracht!“ Durch diese Nachricht wird die junge Welt völlig niedergeschmettert; Mancher schleicht bei Seite, um die unvermeidlichen Thränen der Enttäuschung und des Heimwehs zu verbergen. Doch nicht lange dauert es und die Trauer wird abgeschüttelt; es gilt, letzte Hand [831] an die festlichen Vorbereitungen zu legen. Für die abendliche Bescherung werden jetzt schon die Lose gezogen; durch sie entsteht ein gewisses Gefühl der Sicherheit, daß es doch wohl nicht so „ganz ohne“ abgehen werde. Auch müssen die Wetten zum Austrag gelangen. Bruno Stein hat unvorsichtigerweise seine „ganze Bescherung“ eingesetzt und dementsprechend händigt er seinem glücklichen Partner gleich sein Los aus; er will gar nicht sehen, durch was man ihn erfreuen wollte.

Der Abend ist da und mit ihm jenes geheimnißvolle Weben der Liebe, die in Palast und Hütte waltet, so weit die deutsche Zunge klingt. Sie waltet auch auf dem deutschen Kriegsschiffe, fern an den Grenzen der Civilisation.

„Alles klar zur Bescherung!“

Zunächst wandert Alles, Hoch und Niedrig, Alt und Jung zu den „Backen“; ein Tisch ist noch herrlicher geschmückt als der andere: Licht, Glanz, fröhliche Gesichter überall. Darnach geht’s in das wahre Weihnachtsheiligthum, in die Kadettenmesse, wo der „Vorstand“ seit Stunden im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hat. Eine in hundertfältigem Lichtschmuck strahlende Edeltanne reckt ihre Zweige bis an die Decke des Schiffsgemaches; die Wände sind mit stark duftendem Grün bekleidet, in welchem zahlreiche phantastische chinesische Lampen glühen. Auf langer weißgedeckter Tafel aber liegen die Geschenke ausgebreitet. Es werden der Kommandant und die höheren Officiere „um die Ehre ersucht,“ und erst nachdem der hohe Besuch sich entfernt hat, läßt die Jugendfreudigkeit sich nicht mehr zügeln. Ein unbeschreiblich heiteres Durcheinander füllt den Saal.

Ein Einziger nur hat sich in die fernste Ecke gedrückt und brütet dumpf vor sich hin. Im Getümmel scheint Niemand seiner zu achten: es ist Bruno Stein.

Jetzt öffnet sich die Thür abermals und herein hinkt am Krückstock eine mit Schneeflocken übersäte, vermummte Gestalt, die vorn einen langen grauen Bart hat, welcher verdächtige Aehnlichkeit mit einem aufgedröselten Stück Segelgarn zeigt; auf dem Rücken trägt die Gestalt einen schweren Korb. Eine starke Stimme ersucht die jungen Herren um einige Augenblicke Ruhe, denn – der Weihnachtsmann ist erschienen.

Im Juli, als auch das zärtlichste Mutterherz noch nicht an Weihnacht dachte, sorgte bereits die „große Mutter“, die Admiralität, für ihre Zöglinge. Durch einen Schulofficier war den Eltern der auf der ostasiatischen Reise befindlichen Seekadetten die briefliche Anforderung zugegangen, etwaige Weihnachtsgeschenke für die Söhne und Brüder verpackt in feste Kistchen, in genau vorgeschriebener Form, binnen kürzester Frist an die Admiralität in Kiel einzusenden, welche die Beförderung, respektive rechtzeitige Auslieferung derselben übernehme. Auch an die Eltern des zur Zeit unglücklichsten Kadetten auf Seiner Majestät Schiff „Jason“ war ein solcher fürsorglicher Brief gelangt und – – „es ist der Weihnachtsmann aus Deutschland angekommen, welcher einige Päckchen hier lassen möchte, ehe er seinen Spaziergang um die Erde fortsetzt.“

Athemlose Stille, freudigbange Spannung. Bruno Stein heftet die glühenden Augen auf den Sprecher, dessen Stimme ihn merkwürdig an die des knurrigen Bootsmannes mahnt. Da faßt der Weihnachtsmann in seinen Korb und hält ein Päckchen hoch: „Bruno Stein!“

Wie der Gerufene das Kistchen aufreißt, wie er aufschreit beim Anblick der schönen Bilder von Vater und Mutter, wie er nach dem lechzend ersehnten Brief sucht, wie er liest und dann im Erlösungsrausch den ersten besten Kameraden umarmt – das ist ein Anblick für Götter. „Du, das gehört mit zur ‚ganzen Bescherung‘, die ich Dir abgewonnen habe,“ neckt ein Freund den Glücklichen. Bruno hört es kaum, er hält seine Schätze fest. Die übermüthigen Kameraden, die festlichen Säle, das herrliche Schiff, die ganze Welt: sie sind nur ein schwacher Abglanz von der Seligkeit in seiner Seele. O, an dieser zauberartigen Wirkung zeigt es sich wieder: der Menschheit Höchstes ist die Liebe!

In diese Stimmung hinein tönen plötzlich die wunderbar ergreifenden Klänge des Liedes „Deutschland, Deutschland über Alles.“ Das Musikcorps der Matrosendivision schickt das Lied in die stille Christnacht hinaus zur Ehre des Vaterlandes, und mehrere hundert frische Seemannskehlen fallen ein: „Ueber Alles in der Welt.“

Während der nun folgenden Abendtafel und der Weihnachtsbowle saß Bruno Stein und schrieb Bogen auf Bogen. Die „Jason“ hatte zur Zeit keinen glücklicheren Menschen an Bord und – auch keinen besseren.

Gesegnete Weihnacht!



  1. Die leuchtende, zehn Minuten brennende Rettungsboje, welche entzündet und über Bord geworfen wird, sobald bei Nacht der Ruf „Mann über Bord“ ertönt. Gelingt es dem Verunglückten, sie zu erfassen, so wird er von dem schnell ausgesetzten Boote meist gerettet werden können.