Weltverbesserer/Einige Weltverbesserungsversuche im kleinen

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Autor: Dr. J. O. Holsch
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Titel: Einige Weltverbesserungsversuche im kleinen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 362–364
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: sozialistische Ideen von Charles Fourier und Étienne Cabet
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Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
V.
Einige Weltverbesserungsversuche im kleinen.

Wer sich in die Lehren eines Morelly, Rousseau und ihrer Geistesverwandten vertieft, jener Philosophen, welche Welt und Menschenleben gleichsam in mechanische Formeln bannen zu können vermeinten, dem eröffnet sich ein ahnungsvolles Verständniß für die gefühllose Grausamkeit, mit welcher die französische Revolution ihre Bahn dahinschritt, für die starre Härte, mit welcher die Guillotine unter einem Robespierre und Genossen ihres fürchterlichen Amtes waltete. In den Köpfen dieser Gewaltmenschen war kein Raum für Duldsamkeit. Was sich nicht glatt in den unverrückbaren Rahmen der von ihnen „zum Beschluß erhobenen“ Welt einfügte, das wurde einfach abgestoßen, weggeschnitten, vertilgt. Eine neue Zeit sollte beginnen, darum fing man auch die Jahre ganz frisch mit I zu zählen an. In grausam kurzer Frist erlebte diese Lehre freilich ihren erschütternden Bankerott, und mit der alten Zeitrechnung erhob auch die scheinbar zertretene alte Welt wieder ihr Haupt. –

Es läßt sich nicht verkennen, daß den Männern und Frauen, welche in der ersten französischen Revolution bedeutsam hervorgetreten sind, ein utopistischer Zug anhaftet, ja daß bis zu einem gewissen Grade eine Utopie, ein in unbestimmter Gestalt vorschwebendes fernes Ziel von Glückseligkeit, die treibende Kraft in ihrer Seele bildete. Trotzdem wäre es falsch, zu behaupten, diese Revolution sei selbst nichts als eine Utopie gewesen. Sie war vielmehr ein wichtiger Fortschritt, eine Art von Reinigungsvorgang, nicht bloß für Frankreich, sondern auch für die übrigen Völker Europas, denn sie verwandelte den beschränkten Unterthan in einen politisch mehr oder weniger freien Staatsbürger. Daß jedoch dieses mehr oder weniger freie Staatsbürgerthum wieder hinterher „unfrei“ gemacht werden kann, wenn nicht ein gewisses Maß von wirthschaftlicher Freiheit und Sicherheit dazu kommt – das zunächst zu spüren und zu erfahren, später aber klarer und immer klarer einzusehen, war dem nun zu Ende gehenden neunzehnten Jahrhundert vorbehalten.

Gerade der Verlauf und das Ende der französischen Revolution aber mußte jedem Tieferblickenden nahelegen, systematische Weltverbesserer und Staatsumwälzer eindringlich auf die Durchführbarkeit ihrer Ideen und Vorschläge hin zu prüfen. Je mehr dies geschah, je mehr Kritiker die eine furchtbare Erfahrung erzog, um so enger mußte auch der Kreis zusammenschrumpfen, in welchem jene Verkündiger einer neuen Welt die praktische Gestaltungskraft ihrer umwälzenden Vorschläge erproben konnten. Und auch auf diejenigen selbst, die sich mit Weltverbesserungsgedanken trugen, mußte das ungeheure geschichtliche Ereigniß, das sie schaudernd erlebt, als ein mächtiger Dämpfer wirken. So nehmen denn auch bei einer Reihe von Männern, die in diesem Zeitalter durch inneren Herzensdrang oder durch die Einwirkung ihrer Umgebung zur planmäßigen Verbesserung der Lebenslage ihrer Mitmenschen getrieben wurden, die Gedanken bestimmtere Formen an. Wohl ringt in ihnen noch ein utopistisches Hoffen, eine unabgeklärte Gesamtauffassung mit den harten Thatsachen der wirklichen Außenwelt. Aber ihr Streben geht doch auf näherliegende, eher erreichbare Ziele. Sie stecken sich ihr Gebiet schärfer [363] ab und versuchen theilweise die Umbildung der Gesellschaft im kleinen oder wenigstens unter bestimmter Beschränkung. Dies hat auch zur Folge, daß Hand in Hand mit dem Abstreifen des bewußt utopistischen, also vaterlandslosen Wesens eine nationale Eigenart in Umgebung, Auffassung und Anwendung der Mittel mehr hervortritt.

Aus der Masse hierher gehöriger Gestalten greifen wir einige Typen heraus, die Franzosen Fourier und Cabet, den Engländer Owen und den Süddeutschen Rapp.

Charles Fourier und Etienne Cabet.

Am deutlichsten trägt das zwischen Wirklichkeit und Utopie getheilte zwiespältige Gepräge das Leben und Denken des Franzosen Charles Fourier (1772 bis 1837). Dieser mit überaus scharfer Beobachtungsgabe und kritischem Blick für die sozialen Schwächen seiner Zeit und seiner Umgebung ausgestattete Handlungsgehilfe aus Besançon, der sich nie mit der betrügerischen Natur derjenigen Manipulationen, die man dazumal Handel nannte, befreunden mochte, bekämpfte zwar mit Entrüstung Rousseau und „die Philosophen“; thatsächlich aber steht auch er noch unter dem Bann ihrer mechanisch-physikalischen Denkweise. Er ging von der fixen Idee aus: wie Newton durch die Entdeckung der Gesetze der Anziehungskraft der Weltkörper das innere Bewegungsgesetz für die stoffliche Welt gefunden habe, so müßten die Gesetze der sozialen Entwicklung gefunden werden, auf denen die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch beruhen. Dieses letztere Gesetz nun glaubte Fourier gefunden zu haben, und zwar, wie er selbst sagt, rein zufällig. Es ist das Gesetz der „Attraktion der menschlichen Triebe.“ Im Jahre 1808 hat Fourier sein System, vielfach[WS 1] mit phantastischen Träumereien vermischt, niedergelegt in dem Werke „Die Theorie der vier – später wurden es jedoch fünf – Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen“ und dasselbe in den nächsten 20 Jahren noch mehrfach wiederholt und weitergebildet.

Nach dem Gesetze der sozialen Bewegung, der Anziehung der verschiedenen menschlichen Triebe, dessen Darlegung den Angelpunkt der weitschweifigen Ausführungen Fouriers bildet, ist die Bestimmung des Menschen das Glück, das durch die Entwicklung aller seiner Anlagen und durch die Befriedigung aller seiner Triebe erreicht wird. Die Grundlage des inneren Glücks ist die Gesundheit, die des äußeren der Reichthum. Die bekannten fünf Sinne sind die Triebe des Körpers; Liebe, Freundschaft, Auszeichnungs- und Familientrieb sind die vier Triebe der Seele. Diese neun Triebe werden ihrerseits von drei sie lenkenden und bewegenden Trieben beherrscht, vom Trieb der „Intrigue“, der auf den Willen wirkt, dem Schmetterlingstrieb (papillon, wie denn Fourier überhaupt derartige Bilder außerordentlich liebt), der nach beständiger Abwechslung drängt, dem Begeisterungstrieb, der nach Gutem und Schönem lenkt. Diese drei Kräfte wirken zunächst auf die vier seelischen, diese hinwiederum auf die fünf körperlichen Triebe. Wir ersehen hieraus, daß die verschiedenen Menschen, in der jeweiligen Befriedigung je eines oder mehrerer ihrer Triebe begriffen, die verschiedensten „Gruppen“, „Serien“ etc. bilden können; sie einigen, trennen sich je nach Zeit und Wunsch, wobei jeder der Reihe nach seine Triebe befriedigt. Dieser ganze Kreislauf spielt sich innerhalb einer berechenbaren Personenzahl ab. Will demnach der Mensch eine möglichst allseitige Befriedigung dieser seiner Trieb„serie“ erlangen, so müßte er dazu – und hier erhalten wir den Schlüssel zu den Fourierschen Plänen – eine Organisation vorfinden, die ihm ebensowohl alle körperlichen Bedürfnisse landwirthschaftlicher, industrieller und sonstiger Natur lieferte wie zugleich die wechselnde Bethätigung der seelischen Triebe ermöglichte. Dies vermöchte allein „die hauswirthschaftlich-landwirthschaftliche Association“, welchen Titel Fourier auch einem seiner grundlegenden Werke gegeben hat, oder die ausgebildete „Phalanstère“. „Phalanx“ nennt Fourier – nach der keilartig in den Feind eindringenden Schlachtordnung Philipps von Macedonien – die erste nach den von ihm gefundenen „Gesetzen“ zu bildende, in die jetzige Organisation der Erdoberfläche eindringende Genossenschaft, von der aus durch gleichartige Neugründungen die ganze Erde mit etwa zwei Millionen solcher Phalangen netzartig überzogen werden soll. Eine Art phantastischer „Omniarch“ steht an der Spitze des Ganzen, der seinen Sitz aber nicht in Paris, sondern in Konstantinopel haben wird[.] Die Anlage der Phalanstère muß so erfolgen, daß häusliche Arbeiten, ländliche Arbeiten, industrielle Arbeiten, Austausch, Unterricht, Wissenschaft und Kunst möglichst angenehm und zweckmäßig abwechseln können.

Dazu genügt, wie Fourier genau berechnet, eine Zahl von 1800 bis 2000 Menschen, weil in ihr alle Triebe und Charaktereigenschaften zur Entfaltung kommen können; jede größere oder kleinere Zahl würde die Ausgleichung stören. Wie das Kreuz der Typus der mittelalterlichen Kirchen ist, so ist die „Serie“ der Typus des Wohn- und Arbeitsgebäudes der Phalanx, d. h. ein Centrum mit zwei mittleren oder Hauptflügeln und zwei äußersten oder Nebenflügeln. Die Gemeinwirthschaft bedingt diese Form. Das Centrum enthält die Räume, wo die 2000 Personen mehrmals des Tags verkehren, die zwei Hauptflügel enthalten die verschiedenen Werkstätten, die geräuschvolleren nach außen; in den oberen Stockwerken sind die Wohnräume. Gegenüber der Phalanstère, d. h. hinter ihr, liegen die wirthschaftlichen Nebengebäude. Die Länge des ganzen Bauwerks beträgt 600 Meter, alles ist doppelt und parallel laufend mit dazwischen liegenden Hofgärten gebaut. Eine breite gedeckte Galerie verbindet im Inneren alle Theile des Gebäudes und dient als Hauptader des Verkehrs. Mit der größten Breite und Anschaulichkeit verweilt Fourier bei der Schilderung der Vortheile, welche die gemeinsame Arbeit in diesen genossenschaftlichen Betrieben allen Angehörigen gewährt, wie die beständig abwechselnden Befriedigungen aller Triebe beständig neue Reize und Genüsse bringen, welche Ersparnisse an Arbeitszeit und -kraft erzielt werden und wie schließlich „Luxus“, d. h. volle Einheit des Genusses, erreicht wird. Der Areopag und die aus ihm gewählte oberste Regentschaft haben sehr wenig zu thun, da sich alles durch gegenseitige Anziehung und durch den Korpsgeist der Stämme, Chöre und Serien regelt. In echt französischer theatralischer Manier geht alles vor sich. Der Unterschied des Besitzes hört keineswegs auf, wird jedoch durch die verschiedensten Umstände gemildert. Die Vertheilung des Arbeitsertrags findet nach drei Fähigkeiten, die der einzelne hinzubringt, statt: nach Arbeit, Talent und Kapital. Die Arbeit erhält 5/12, das Kapital 4/12 und das Talent 3/12. Man sieht, Fourier liebt die „bestimmten Zahlen“; warum er gerade diese Abstufung gewählt hat und überall gelten lassen will, sagt er uns nicht.

Die Kosten der Errichtung einer Phalanx berechnete Fourier auf 15 Millionen Franken. Bis zu seinem Tode erwartete er, wie feststeht, in unauslöschlichem Glauben an die Wahrheit seiner Lehren Tag für Tag um die Mittagsstunde in seiner Wohnung den Mann, der ihm die Mittel zur Gründung der ersten Versuchsphalanx zur Verfügung stellen würde. Dieser Mann ist aber nie gekommen, und so starb Fourier, ohne daß sein heißer Wunsch in Erfüllung gegangen wäre. Ein Versuch mit 500 Hektaren, der 1832 in der Nähe von Rambouillet gemacht worden, war aus Mangel an Mitteln schon in den Anfängen stecken geblieben. Die wenigen Anhänger Fouriers, Muiron, Viktor Considérant, Bürkli und andere, gründeten zwar eine Zeitschrift zur Verbreitung der Lehren ihres Meisters, aber dieselbe ging schon nach 10 Jahren in einem gewöhnlichen Tageblatt auf. Dagegen wirkte Fourier innerlich befruchtend nach allen Seiten hin, nach Deutschland, Amerika und in die Schweiz; in Zürich erschienen nach dem Tode Fouriers mehrere Schriften, in denen die Auswanderung nach Texas empfohlen wurde, damit man dort seine Pläne verwirkliche.

Diese letztere Anregung verschmolz mit den Wirkungen eines noch ganz der romantischen Utopie angehörigen Werkes, der „Reise nach Ikarien“ von Etienne Cabet. Das Buch – streng genommen ein Plagiat nach dem Englischen eines gewissen F. Adams – ist insofern eine Ergänzung der Werke Fouriers, als es die Befriedigung aller menschlichen Triebe, namentlich aber der sinnlichen, mit wahrhaft vollendetem Wohlbehagen schildert. Im übrigen ist die ganze Art der Darstellung dieses Romanes nichts Neues; neu aber ist die Thatsache, daß dieser Cabet, geboren 1788 zu Dijon, seines Zeichens ein rabiater Rechtsanwalt, der wegen Aufreizung zum Bürgerkrieg verbannt gewesen war, nach seiner Rückkehr in Paris sofort eine Zeitung für seine Pläne gründete und nach allen Seiten hin die größte Propaganda entfaltete. Tausende begeisterten sich in den Jahren 1840 bis 1848 für diesen „Ikarus“, und am 3. Februar 1848 verließ eine Vorexpedition von 69 „Ikariern“ Frankreich, um drüben im Staate Texas in Fanin County eine große Kolonie zu gründen. Allein nach kurzer Zeit brach das Gelbe Fieber aus, und nur ein kümmerlicher, kranker und entmuthigter Rest kehrte nach New-Orleans zurück. Nach kurzer Zeit traf aber Cabet selbst von Frankreich in New-Orleans [364] ein, und im März des Jahres 1849 brachen abermals 250 Seelen von New-Orleans auf, um im jetzigen Staate Illinois am mittleren Mississippi ihr Glück zu versuchen. Hier in einer früheren Mormonenniederlassung trat die neue Kolonie ins Leben und die Leute kamen wirklich, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, vorwärts. Cabet selbst jedoch, welcher durch zurückgekehrte Mitglieder der ersten Expedition in seinem Vaterland des Schwindels angeklagt worden war, reiste nach Frankreich zurück, wo er 1851 seine Freisprechung erwirkte. Als er in seine Gründung zurückkehrte, war der Geist der Zwietracht in ihr ausgebrochen; Cabet wurde selbst von den Kolonisten verläugnet und starb bald darauf in St. Louis (1856). Ein Rest dieser Unternehmung ist heute noch übrig, das kleine Dorf Ikaria in Adams County im Staate Yowa.

Es ist merkwürdig, daß Fourier stets jeden Zusammenhang mit den Männern der Revolution ablehnte; seine Theorie, so versicherte er mit Entrüstung, habe nichts zu thun mit den Umsturzgelüsten der Jakobiner, sie sei vielmehr in hervorragendem Sinne friedliebend und Frieden bringend. Das ist wahr. Aber in einem Punkte theilte er doch, wie das naturnothwendig ist, durchaus die Vorurtheile jener Männer und jener Zeit. Er, und mit ihm Cabet, hatte keine richtige Einsicht in das Wesen der Entwicklung. Beide, besonders aber Fourier, wähnten, daß die menschliche Gesellschaft ebenso mechanisch sich konstruieren lasse wie etwa leblose Körper, lediglich vermittelst einiger allgemeiner Formeln. Das Irrige dieser Anschauung hat sogar August Bebel eingesehen, welcher die vielfach verkannte und manchmal absichtlich entstellte Gestalt Fouriers in einem besonderen Buche vorgeführt hat. Er sagt: „Jeder solche Versuch“ – wie Fourier ihn ersehnte – „ist ein Zeichen geistiger Unreife, die nur die Wirkung haben kann, Enttäuschungen hervorzurufen. Der große Fortschritt unseres Zeitalters ist, daß die Utopisten ausgestorben oder im Aussterben begriffen sind; in der Masse fanden sie nie Boden, sie finden ihn heute weniger als je. Auch der einfachste Arbeiter fühlt, daß sich künstlich nichts schaffen läßt, daß das, was werden soll, sich entwickeln muß, und zwar mit dem Ganzen und durch das Ganze, nicht getrennt und isoliert von ihm.“

Wie Charles Fourier in Frankreich, so steht Robert Owen in England auf der Schwelle der neuen Zeit, mitten inne zwischen Utopie und Wissenschaft. Von ihm in einem weiteren Artikel!



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: viefach