Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten/2. Der Verkannte

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Autor: Hugo Müller
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Titel: Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten/2. Der Verkannte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 390–393
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.
2. Der Verkannte.

Wohl in keinem Stande der civilisirten Welt ist eine solche Zerfahrenheit und Unbeständigkeit in den häuslichen Verhältnissen anzutreffen, als speciell bei den Theaterangehörigen. Leichtsinnig eingegangene und ebenso getrennte Ehen, Kinder, die vom ersten Momente des Selbstdenkens an durch alles dies in eine verkehrte Richtung gebracht werden, häufiger Mangel stetigen und gleichmäßigen Schulunterrichts infolge des Saison-Vagabondirens, Mißachtung der äußeren Formen, die sich so leicht bei Leuten einfindet, die in Bezug auf jede an ihnen wahrgenommene Form eine nicht immer wohlwollende Aufmerksamkeit zu gewärtigen haben – [391] alles Dies producirt eine große Summe häuslichen Elends, selbst da, wo die Schlange des Mangels noch nicht die ohnehin schlaffen Glieder umringelt hat. Aber all’ die lebendigen Folgen dieser Ausnahmezustände, diese geschiedenen Weiber, diese in die Welt hinausgestreuten Kinder, diese Töchter, die ihren Vätern nicht nahen dürfen, und diese Söhne, die den Wohnsitz ihrer Mutter nicht zu kennen wünschen – sie sind meist nur die Producte einer vereinzelten Handlung, und die moralische Wirkung äußert sich demzufolge auch meist nur in einzelnen Handlungen, nicht in allgemeinen Zuständen. Ein solcher Schlag trifft hart, aber nicht nachhaltig; – die Steine, die aus einem Ordenskreuze herausgeschlagen worden, funkeln jeder in besonderer Fassung weiter und erinnern sich nicht mehr, daß sie einen gemeinsamen Glanz gestützt haben. Weit schlimmer, als dieses durch äußere Mißstände herbeigeführte Elend, ist, weil unausrottbar, der Jammer, der sich in die Seele des Unglücklichen einnistet, der ihm durch sich selbst und seine Empfindung reichlich Nahrung spendet und keines Anstoßes von außen her bedarf, um sich täglich zu zerfleischen. Gerade zu dieser Species der schon auf Erden Verdammten stellt der Künstlerstand im Allgemeinen, der der Schauspieler im Besonderen, das reichste Contingent. Es giebt da eine Menge von Leuten, die kein pflichtvergessenes Kind, keine entartete Tochter, keinen verlorenen Sohn zu beklagen haben, die von ihren Mitbürgern geachtet, von ihrer Familie zärtlich geliebt werden, und doch, sobald sie sich am Altare der Kunst die Finger versengt haben, einer nimmer ruhenden Geißel verfallen sind, welche sie, unbarmherziger als ihr bitterster Feind, selbst gegen sich schwingen. Das sind die Verkannten. Ich spreche hier nicht von der lächerlichen Sorte, die der Talentlosigkeit eine himmelanstürmende Bornirtheit paart – sie ist amüsant, sie amüsirt sich und Andere, und Nichts in der Welt, nicht einmal faulige Aepfel an den Kopf, würde sie in ihrer Unfehlbarkeit wankend machen können. Die Sicherheit dieser Herrschaften ist rührend; sie tragen das Verkanntsein mit einem gewissen Prunk zur Schau; mit Hohnlachen serviren sie es der Menschheit, die sich an ihrer Höhe nicht emporzuschwindeln vermag, bei jeder Gelegenheit, und der Gedanke, daß doch Einer im Publicum mit einem mißgünstigen Urtheile Recht haben könne, ist ihnen nie gekommen.

Es giebt in dieser Species wunderbare Exemplare, die, nachdem sie die Provinz lange gepeinigt, durch Protection oder Gunst des Zufalls in den Verband eines Hoftheaters gelangt sind und dort vom Publicum, das es doch nicht ändern kann, in dritten und vierten Rollen „hingenommen“ werden. Es kann nicht Jeder Consul sein; man braucht auch Lictoren, und unter Umständen kann ein braver Schauspieler im untergeordneten Fache dem Ganzen wichtiger erscheinen, als mancher nur im allerengsten Kreise trottirende „große Künstler“. Aber da kommt das Unglück mit dem „Verkanntsein“. Achtzig Procent dieser Gattung sind „Verkannte“.

Wenn der erste Held den „Egmont“ spielt, steht der „Verkannte“ in der ersten Coulisse und bemerkt, zu nahestehenden Choristen gewandt: „War ’ne Lieblingsrolle von mir,“ oder: „Hab’ ich auch oft in Bamberg gespielt“ – während er zwar nicht so laut, aber nicht minder vernehmlich hinzufügt – „aber etwas anders, wie Der.“ Er verliert sich schließlich so in Erinnerungen und Vergleiche, die sämmtlich zu Ungunsten des Darstellers ausfallen, daß er sein Stichwort überhört, herausgeschoben wird und nun als „Zimmermann“ oder „Seifensieder“ dem Hohngelächter des Publicums verfällt.

Dieses „fröhlich heiter wirkende Geschlecht“ ist eine unerschöpfliche Fundgrube für die Scherze der Collegen, denn „es fällt,“ wie man zu sagen pflegt, „auf Alles ’rein.“ Ihr Martyrium haben sich diese Leute selbst mit der Unfehlbarkeitskrone geschmückt; so sind sie ein Gegenstand der heitersten Seelenruhe für sich selbst und ein Object der Freude für das leidende Publicum. Von ihnen sei hier nicht die Rede, sondern von den Unglücklichen, auf denen die Qual, verkannt zu sein sitzt, wie der herrliche Geier mit dem ewigen Leberappetit, von jenen Unglücklichen, denen der Zweifelswahn unablässig in die Ohren bläst, bis das Trommelfell der Seele geplatzt ist und die Zweifel sich mit dem Zweifler auflösen in das Nichts, an dem nicht mehr zu zweifeln ist. –

In einem dürftig, wenn auch nicht verwahrlost ausgestatteten Zimmer ruht ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren auf dem altmodischen Sopha, das Haupt durch ein Kissen gestützt, von dessen tiefem Roth sich seine scharfen, erdfahlen Züge sonderbar abgrenzen. Die großen Augen blicken über die Zimmerdecke hinaus in’s Reich der Träume und zeigen ihm eine ganz andere Umgebung, als die, die in liebevoller Sorgfalt um ihn beschäftigt ist, – unheimliche kreisrunde Flecken von rother Farbe, die an den Wangenknochen zuweilen auftauchen, sind die Zeichen einer im letzten Stadium wühlenden Brustkrankheit. Hin und wieder zittert ein Fieberschauer durch die gebrochene Gestalt, und ein trockener Husten entwindet sich mit Anstrengung der Kehle. Aber sein Geist scheint diesem irdischen Leid schon vorausgeeilt; er muß schon in ungeahnten Wunderlanden umherpilgern, denn manchmal zuckt’s in den erschlafften Mienen wie ein Begeisterungsblitz empor.

Am runden Tisch vor seinem Schmerzenslager sitzen zwei Frauen, ihre Blicke unablässig auf den schon halb Entschlummerten gerichtet; die Eine, Ausgangs der Dreißig stehend, in ihrem noch immer schönen Antlitz die stillen, wenig auffallenden Spuren tragend, die stiller Kummer, der es verschmäht, der Welt aufzufallen, in seinem Gefolge trägt; sie blickt auf die alte silberne Taschenuhr, die vor ihr liegt, und zählt die Minuten, um den Kranken aus seiner Lethargie zu wecken und ihm Medicin zu reichen, obwohl die Hoffnung an deren Wirkung längst in ihr erloschen ist. Neben ihr eine junge frische Blondine von reizenden sanften Zügen, nur daß die Centifolien der Wangen durch Anstrengung und Nachtwachen zu Theerosen erbleicht sind. Gattin und Tochter sind’s, die mit tiefem Weh der Auflösung des ihnen theuersten Wesens entgegenblicken. Sie haben an seiner Seite nicht viel frohe und fast nie sorgenfreie Stunden verlebt, und doch concentrirt sich Alles, was der Schöpfer von Neigungsbedürfniß in ihre Seele gelegt, in diesem Unglücklichen. Denn wie es eine traurige Erfahrung ist, daß gerade in Theaterkreisen die Familienbande so leicht gelockert sind, so ist es auch eine unumstößliche, daß, wenn sie einmal dort Wurzeln geschlagen haben, sie ausdauernd in rührender Weise Elend und Tod zu überragen wissen. Diese zwei Frauen wissen, daß sie mit dem Tode ihres Ernährers auf ihre Arbeit angewiesen und nicht viel besser als Bettlerinnen sein werden, und doch vermag dieser Gedanke nicht einmal neben dem tiefen menschlichen Weh, das sie um den Geliebten empfinden, in ihnen lebendig zu werden.

„Wecke den Vater, Mama! Es ist Zeit.“

Die Mutter ergreift sanft den Arm des Starrliegenden; er fällt zurück – sie ruft ihn bei Namen; er hört nicht.

„Schlimm, schlimm, liebe Marie, wenn er jetzt nicht erwacht. Dann verbringt er später die ganze Nacht schlaflos und unter schrecklichen Schmerzen. Für diesen Fall hat der Arzt die Erneuerung der Schlafpulver angeordnet. Eile, mein Kind – es ist noch nicht so spät – schnell zur Apotheke!“

Marie erhebt sich, schlingt das dünne fadenscheinige Umschlagetuch über Kopf und Brust, huscht unhörbar von dannen und fliegt wie ein Elfenschatten an den Wänden der engen, schlechtbeleuchteten Gasse entlang.

Im Krankenstübchen ist es ganz still geworden, nur die unregelmäßigen Athemzüge des Kranken und der Pendelschlag der alten Uhr geben Kunde, daß hier noch etwas lebt. Die Mutter hat den Schirm der Lampe herabgelassen, der geisterhafte Schatten zur Decke sendet. Ein trübseliges Colorit zu einer trübseligen Scene; es ist, als wenn an der Decke dieses Zimmers ein Alp säße, der Jeden, der die Schwelle passirt, mit in seinen Bann zieht. Einen Augenblick hat die Mutter durch die trüb angelaufenen Fensterscheiben ihrer Marie nachgeblickt; dann kehrt sie zu ihrem Sessel zurück und versucht mechanisch, eine Handarbeit vorzunehmen. Vergebens! Wolle und Nadel entfallen den sonst so fleißigen Fingern – die Hände falten sich unwillkürlich; jetzt, wo Marie nicht zugegen ist, stehlen sich auch zwei große Thränen hervor; die Thränen, die nicht niederfallen, die die Wimpern nicht verlassen, wer sie geweint, der kennt sie, diese Thränen. Sie betet ohne Worte, ohne Gedanken; der dumpfe Hauch des Zimmers nimmt auch ihre Sinne gefangen, und gleich dem Kranken verfällt sie in wachen Starrsinn. So ist Alles im Zimmer starr. Es ist, als ob ein mitleidiger Geist in dem Elend, das da drinnen herrscht, einen Ruhepunkt schaffen wollte.

Plötzlich klingelt es heftig auf dem Corridor, und Alles im Zimmer schreckt empor. Die arme Frau fährt auf und reibt [392] die Augen, die Ermattung für einige Minuten geschlossen. Auch der Kranke ist erwacht; der schrille Ton der Glocke hat seine Nerven getroffen und ihn aus irgend einem rosarothen Feenschloß zurückgerufen auf die Stätte der Leiden, von der er sich noch nicht losringen soll, weil es die Vorsehung so wünscht.

„Wer stört mich? Ich lag in so schönen Träumen. Sieh’ nach, Elise, wer es ist! Nur nicht der Arzt – er peinigt mich nur und nützt mir doch nichts mehr.“

Elise öffnet; sie wünscht, es wäre der Arzt, der dem Gatten die liebevollste Aufmerksamkeit widmet, um, wie von allen Kranken, Undank dafür zu ernten. Er ist es nicht.

„Lieber Mann, es ist nicht der Arzt, es ist Walter, Dein treuer Freund Walter.“

„Walter? Ah, nur herein, nur herein! Du bist mir willkommen; ich hätte sonst nach Dir geschickt,“ ruft mit seltener Lebhaftigkeit der Kranke, indem er sich halb auf seinem Lager erhebt und dem alten Collegen beide Hände entgegenstreckt. Walter, ein hochgeachteter Künstler von seltener Begabung, drückt sie mit Wehmuth, und der Lampenschirm entzieht dem Kranken die Schreckenswolke, die über das Antlitz des alten Freundes plötzlich dahinglitt.

„Laß’ uns eine Viertelstunde allein, liebe Elise! Ruhe Dich! Ich habe Mancherlei mit Walter zu besprechen.“

„Du wirst Dich wieder aufregen, theurer Mann. Laß’ mich hier!“

„Nein, mein Kind! Ich schwöre Dir’s, ich bin ganz ruhig; geh’ – es muß sein.“

„So nimm wenigstens erst die Medicin! Die Stunde ist schon vorüber.“

„Nein, nein,“ entgegnet der Kranke hastig, und aus den tiefen Augenhöhlen schießt ein unheimlicher Blitz. „Nichts mehr von dem Zeug! Es hilft doch zu Nichts. Gieb mir ein Glas Wein, Elise!“

„Aber, lieber Eduard!“

„Ich beschwöre Dich um ein Glas Wein; es ist seit Wochen das erste Verlangen, das ich ausspreche; ich fühle, es wird mir gut thun.“

Die arme Frau wirft einen ängstlich fragenden Blick auf den Freund, der ihn mit einem stummen Nicken seines Hauptes erwidert. Aus den Augen spricht es deutlich: es ist doch Alles Eins; – was er jetzt noch zu sich nimmt, kann ihm weder nützen, noch schaden. Sie geht, dem Armen das gewünschte Labsal herbeizuschaffen; aber sie hat keinen Wein im Hause, und die wenigen Groschen, über die sie noch verfügen kann, reichen auch nicht hin, welchen zu kaufen. Was beginnen? Sie faßt sich ein Herz und klopft bei der Nachbarin an. Die Nachbarin ist sonst eine harte, strenge Frau, die von dem Komödiantenpack nichts wissen will. Aber die weiche Stimme Elisens rührt sie; sie reicht ihr das Erbetene und weint herzlich mit der Armen. Sonderbare Erfahrung! Das böseste Weib wird vor einem Krankenbette mild und zahm. Ja gewiß, die Bosheit wurzelt nicht in des Menschen, am wenigsten in der Frauen Seele; sie ist eine schändliche Krankheit, die außer uns liegt und die uns unverschuldet erfaßt wie das Miasma der Cholera.

Mit gierigen Zügen hat der Aermste den Wein getrunken. Den abgeschwächten Körper erfüllt er mit plötzlichem Gluthhauch und täuscht die Sinne mit dem Truggefühl gewonnener Kraft. Mit einem fast seligen Lächeln küßt er der Gattin Hand, die, ihre Züge zum Spiegel der Heiterkeit pressend, ihm zuwinkt und das Zimmer verläßt.

Die beiden Freunde sind allein.

„Walter,“ spricht der Kranke, während seine Stimme durch den genossenen Wein größere Festigkeit als bisher gewonnen zu haben scheint, „Walter, nicht umsonst habe ich meine Frau hinausgeschickt; was ich Dir jetzt zu sagen habe, ist das Letzte, ist mein Testament.“

„Aber Eduard,“ entgegnet Walter, „Du fängst schon wieder an, Dich aufzuregen.“

„Nein, nein, mein Freund, ich bin ruhig, glaube mir, ruhiger als seit vielen Wochen; ich bin ruhig im Vorgefühl des Endes, das sich, Gott sei Dank! mir naht. Aber ich kann nicht von hier scheiden, ohne wenigstens einem Menschen gebeichtet zu haben, gebeichtet das Elend eines ganzen nichtswürdigen, zerschlagenen Lebens, zuerst des materiellen, nachher des geistigen. Du bist ein Mann und verstehst mich. – Seit fünfundzwanzig Jahren quäle ich mich in redlicher Arbeit dahin, und nun liege ich vor der Grube mit dem Jammergedanken, daß Weib und Kind, wenn sie mich eingescharrt haben, nicht wissen werden, woher, wohin? Sage mir selbst, Du kennst mich seit langer Zeit: habe ich jemals leichtsinnig gelebt? Habe ich meine Bedürfnisse nicht auf’s Aeußerste beschränkt? Und bin ich bei alledem im Stande gewesen, auch nur so viel zu erwerben, um Weib und Kind für eine geringe Zeit Sicherheit zu bieten? Denke an das jammervolle Loos, das allen Denen blüht, denen Fortuna mit Gewalt nicht zulächeln will! Von Saison zu Saison bin ich herumgewandert, und was ich mühsam in acht Monaten am Munde abgespart, verzehrte das Privatisiren der Zwischenzeit, verzehrten die Reisen hin und her, verzehrten die Zinsen, die ich an Pfandhaus und Wucherer von meinem geringen Erwerb zu zahlen hatte. Hätte ich Alles verpraßt, so könnte ich mir wenigstens jetzt noch sagen: Du bist schuld an dem Elend der Deinigen; aber Du hast etwas davon gehabt. Aber so bleibt das Elend dasselbe und ist doch nur das Facit langjähriger Ehrlichkeit. Glaube mir, ich wäre längst todt, wenn dieser verfluchte Gedanke mich nicht immer und immer wieder wie Moschus in’s Leben zurückriefe. Darum gelobe mir Eins: dulde nicht, daß mein Andenken befleckt wird! dulde nicht, daß, wenn ich die Augen geschlossen habe, man für Weib und Kind collectirt! Beide sind stark und groß, erhärtet in der Schule des Mangels; sie werden gleich mir Alles eher ertragen als den Schimpf. Ich bin Logenbruder. Du bist es auch; Du wirst dafür sorgen, daß man mich anständig bestattet und mir nach meinem Tode das Achselzucken erspart, das, so lange ich lebte, wie ein Fluch auf mir gelastet. Das ist Eins. Und nun das Zweite, das Schlimmere. Dir will ich’s sagen, woran ich sterbe, nicht seit drei Monaten, nein, seit mehr als zwanzig Jahren; Du sollst es wissen, damit ein Mensch die Qualen kennen lernt, der allein sie zu begreifen im Stande ist. Sage mir, Walter, mit welchem Recht habe ich mein ganzes Leben vergebens nach der Stellung gerungen, die mir von Gott und Rechts wegen zukommt? Mit welchem Recht sind Dutzende und Dutzende neben mir emporgekommen, die weder Bildung, noch Talent genug besitzen, um sich mit mir messen zu können, mit welchem Recht –?“

Ein neuer Hustenanfall überkommt den Kranken, und er lehnt sich erschöpft in seine Kissen zurück. Theilnehmend legt der Freund seine Hand auf die glühende Stirn des Fieberkranken und versucht ihn zu beruhigen.

„Mein guter Eduard, das sind Deine alten Phantasien; Du bist nicht so krank, wie Du glaubst. Du wirst genesen, und wenn Du der Welt wieder gesund zurückgegeben wirst, so bitte ich Dich, bleibe es auch, nicht nur gesund am Körper, nein, auch am Geist und Urtheil! Lerne endlich Dich überzeugen, daß, so mächtig der Zufall auch mit uns spielen mag, doch auch wir selbst und unsere Fähigkeiten unseren Erfolgen gegenüber in die Wagschale gelegt werden müssen.“

„Wie,“ ruft der Kranke und rafft sich auf’s Neue empor, „soll ich Das auch von Dir hören? Willst auch Du meine Fähigkeiten in Zweifel ziehen? Freilich, Dich hat das Glück ja begünstigt, Dir hat es ja auf Schritt und Tritt versichert, daß Du ein begabter Mensch, ein vollendeter Künstler bist; an mir hat man herumgemäkelt, so lange ich denken kann – und was war’s? Neid, Bosheit, weiter Nichts, und, glaube mir, kein strengerer Richter gegen sich selbst konnte existiren, als ich es war. Wenn ich nach einer anstrengenden Rolle in mein einsames Stübchen mich flüchtete, während die rohen Cameraden im Bierhaus zechten, dann nagte die Unzufriedenheit mit mir selbst an meiner Seele und untergrub die Kraft des ganzen Baues, und wenn ich einsah, daß ich gefehlt, so marterte ich mich Tage und Wochen lang, bis ich den Fehler überwunden, und hatte ich ihn überwunden, war ich seiner Herr geworden und trat triumphirend damit vor das Publicum, dann fühlten sie es nicht, dann glaubten sie es nicht. Was ihnen fünf Monate lang unbedeutend erschienen war, blieb es ihnen auch in den letzten Monaten der Saison; darum war ich zur Rolle des ewigen Juden verdammt. Als man mir vorwarf, mein Organ wäre nicht ausgiebig genug, studirte ich wie die griechischen Redner der Vorzeit; meine Brust, meine Lunge habe ich dabei zertrümmert, und als ich endlich das Richtige gefunden, haben die Leute mich verhöhnt. – Wenn ich [393] mit dem stolzen Bewußtsein: ‚das hast du richtig empfunden, das hast du richtig wiedergegeben,‘ in die Gesellschaft trat und ängstlich wie ein Schulbube auf eine gute Censur harrte, was war’s? Von gleichgültigen Dingen sprach man, wich geflissentlich jeder Anspielung meinerseits aus und ließ mich doppelt und dreifach tiefer fühlen, daß ich ihnen als ein Nichts erschienen sei, als hätten sie mir die Grobheit unverblümt in’s Gesicht gesagt. – Mit Geschrei und Gelärm wurden Andere neben mir auf der Bühne und im Leben gefeiert, nur mir, mir allein, mir wollte nicht die Anerkennung blühen. Mit Zittern sah ich der Stunde entgegen, wo die Zeitungen erschienen; ängstlich wie ein Verbrecher schlich ich im Kaffeehaus um das geheimnisvolle Blatt Papier herum; zwanzig Mal ging ich ihm aus dem Wege; beim einundzwanzigsten Male ergriff ich es, legte mich in meine Ecke und las ewig und ewig wieder, daß es nichts mit mir sei, und es war nicht wahr, nicht wahr; ich war doch etwas. Wenn ich dann nach Haus kam, mißtrauisch und scheu, wenn ich in den Augen von Weib und Kind zu entdecken glaubte, daß sie die Schmach des Gatten und Vaters schon gelesen, daß sie Mitleid mit dem haben, den sie verehren sollten – o! es giebt keine Worte für die Qualen, die ich da durchlebte. Wie hundert Mal haben wir gesessen, still in unserer armseligen Stube, stumm vor dem erkaltenden Abendbrod; ein Jeder mußte seine Thränen hinunterfressen. Das war mein Leben durch so und so viele Jahre. – – Da sieh’ her, noch vor wenigen Tagen – ich hab’s verborgen – unter meinem Kopfkissen liegt’s; ängstlich mied ich’s, damit meine Lieben es nicht lesen; da steht’s: Als ich zum letzten Male spielte – – daß ich ein Mensch ohne Kraft und Auffassung, ohne jede Wiedergabe sei; o, und Du weißt, daß ich mit dem Tode im Herzen gespielt, daß ich spielen mußte, denn nach meinem Contract hat der Director das Recht, mich nach vierwöchentlicher Unthätigkeit zu entlassen, und so schleppte ich mich hinaus vom Jammerbett, ehe die vier Wochen abgelaufen waren, um die Galgenfrist eines Monats für Weib und Kind zu retten – dafür machen sie mich schlecht. – O, diese Menschen, diese Menschen – –“

Erschöpft fällt der Kranke zurück; die Abspannung folgt naturgemäß seiner geistigen Aufregung; seine Augen schließen sich halb, und sein Geist scheint sich auf’s Neue in unbekannte Regionen zu verirren. Kaum hört er die milden Trostesworte des redlichen Freundes.

„Du bist im Unrecht, mein guter Eduard,“ spricht Walter, „wenigstens in diesem letzten Fall.“

„Im Unrecht?“ entgegnet Eduard, und es schnellt ihn empor wie ein Blitz, „im Unrecht? Und das sagst Du mir? Willst Du es Recht nennen, wenn man einen Kranken mißhandelt?“

„Aber, mein Freund, dem Mann, der unten im Parquet sitzt und Dich zu beurtheilen hat, liegt keine Verpflichtung ob, danach zu fragen, ob Du krank bist oder nicht – er nimmt Dich, wie Du ihm auf der Bühne erscheinst, und richtet sein Urtheil darnach.“

„Wie ich ihm erscheine? Also war’s in der Ordnung, daß ich ihm schlecht erschien? Das willst Du damit sagen? O, o! auch Du, auch Du? Du warst noch der Einzige, an dessen Meinung ich glaubte; sprich, sprich! Nun ist es doch ganz gleichgültig – gieb mir den Todesstoß, schnell! Glaubst auch Du, daß ich ein schlechter, nichtssagender Schauspieler gewesen?“

„Mein guter Eduard, wenn es Dich trösten kann, so nimm die aufrichtige Versicherung, daß jeder billig denkende Mann Dich stets für einen verständigen Darsteller erklärt hat, wenn auch keine großen Erfolge, kein lärmender Beifall, kein äußeres Glück Deine Leistungen begleitet haben.“

„Ein verständiger Darsteller? O!“ So ruft der Kranke mühsam und die Worte entringen sich seiner schon röchelnden Brust nur noch in kurzen Absätzen, „ein verständiger – Darsteller, o – ich weiß es –, das heißt so viel, – als: ein langweiliger – Esel –, ein talentloser Narr! Das ist die Leichenrede, die Du mir – noch bei Lebzeiten hältst? – – Das ist die Freundschaft? Das ist – – – o Thor, Thor, der ich überhaupt an etwas glaubte! Thor, der sein Leben daran setzte, für eine Idee zu ringen, und mit Ehrlichkeit nach dem Ziel strebte, das der Charlatan in drei Bocksprüngen erreicht –“

Die Aufregung hat ihn überwältigt; kraftlos sinkt er in seine Kissen zurück. Tief erschüttert steht der Freund diesem Anblick gegenüber; er hat den unglücklichen, den braven, ehrlichen Freund, den liebevollen Familienvater, den nüchternen, gegen sich selbst unerbittlich strengen Mann verehrt und vermag sich doch nicht, selbst in diesem Augenblicke, zu der Lüge emporzuschwingen, ihn über seine Fähigkeiten zu täuschen.

„Hättest Du,“ so lispelt er fast hörbar vor sich hin, „bei Zeiten diesem Traum entsagt, wärst Du nach den ersten Mißerfolgen in ein stilles, bürgerliches, ruhiges Leben zurückgekehrt, für das Dich Gott der Herr geschaffen: wie glücklich hättest Du mit Deiner Gemüthstiefe Dir und den Deinigen das Leben gestalten können! Der Theaterteufel hat Dich als eins seiner Opfer auserkoren; Du hast gebüßt für tausend Andere; fahre dahin! Dir ist nicht mehr zu helfen.“

Er drückt noch einen Kuß auf die halb erkaltete Stirn des Freundes und geht. – Draußen ist es kalt und stürmisch geworden; der Regen peitscht gegen die niedrigen Scheiben des kleinen Zimmers; die Lampe droht zu verlöschen; leise sind die Frauen eingetreten und haben vor dem Lager des Kranken Platz genommen. Marie ergreift die Hand des Vaters und beugt ihre glühende Wange darauf hernieder; die Mutter hat den Rosenkranz um ihre zitternden Finger geschlungen. Da öffnet der Kranke noch einmal die welken Lippen, und in dem Tone eines begeisterten Propheten spricht er von Visionen, die seine der Welt entrückten Sinne umgaukeln.

„Hörst Du, Marie? hörst Du das Toben des Beifalls? das Rufen der Menge? siehst Du die Lorbeerkränze, die auf mich herniederfliegen? Ha! welch’ ein Ton? Es ist ein begeisterter Tusch, den das Orchester mir darbringt.“

Die schwache Gestalt fliegt vor Erregung empor; in demselben Augenblick schrillt der durchdringende Ton der Nachtwächterpfeife, welche die erste Stunde verkündet, in das stille Zimmer.

„Nein,“ schreit der Kranke entsetzt, „gepfiffen haben sie, gepfiffen, auch in meinem letzten Augenblick.“ Seine Augen öffnen sich noch einmal mit vollem Glanz; krampfhaft preßt seine Hand die der Tochter und verhallend spricht er die Worte. „Schwöre mir, Marie, daß Du nicht zum Theater gehen wirst! Arbeite lieber, bettele lieber, aber fliehe das Theater! Es ist die Stätte des Jammers, des Elends, der Verzweiflung.“

Sein Haupt sinkt zur Seite; der Todesschatten neigt sich auf seine Stirn; die Glieder strecken sich im letzten Krampfe. Man hört nichts mehr im stillen dunkeln Zimmer, als stilles Schluchzen – weinen können die Armen nicht mehr.

Ob Marie Wort halten wird? Wir glauben es nicht.
Dr. Hugo Müller.