Zwei Welten

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Otto Ruppius
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zwei Welten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21–36, S. 321–324; 337–340; 353–356; 369–372; 385–388; 401–404; 429–431; 447–452; 465–468; 481–484; 497–500; 513–516; 529–532; 545–548; 572–576
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[321]
Zwei Welten.
Von Otto Ruppius.


1. Ein Abenteuer in den Alpen.

Es war Mittag, als er auf dem steil aufsteigenden, holprigen Pfade das Ende des Waldes erreichte und sein erster freier Blick auf eine Gruppe von Reisenden und Maulthieren traf, welche, den Berg herabkommend, wie in Erwartung eines Nachfolgenden, Halt gemacht hatten. Ein ältlicher, hagerer Mann mit sorgfältig rasirtem Gesichte war in lebhaftem Gespräche mit zwei Führern begriffen, bald nach der einen, bald nach der andern Seite des zerklüfteten Berges deutend, während ein zweiter, jüngerer von seinem Thiere herab die Gebehrden der Führer zu beobachten schien. Kaum war indessen der aufwärts steigende Wanderer sichtbar geworden, als auch der Aeltere sich rasch von der Gesellschaft wandte und ihm entgegenschritt. „Haben Sie wohl Jemand auf Ihrem Wege herauf getroffen?“ fragte er, leicht seinen Hut berührend, und sein Auge schien in Sorge die Antwort zu erwarten.

„Nicht, seit ich den Weiler am Fuße des Berges verlassen!“ gab der Angeredete bereitwillig zurück, und mit einem rathlosen Kopfschütteln drehte sich der Frager wieder nach seinen Begleitern.

„Es wird schon sein, wie ich gesagt,“ klang jetzt in englischer Sprache die Stimme des Reitenden, während ein deutlicher Zug von Verdruß sich in dem steifen, von einem dünnen Backenbarte umsäumten Gesichte geltend machte; „es wird wieder auf eine Ueberraschung hinauslaufen. Miß hat ihren eigenen Weg hinab gesucht und zuckt höchstens später die Achseln über unsere Besorgnisse.“

Der Aeltere wandte sich zögernd seinem Maulthiere zu, und der Befragte, welcher jetzt für die Reisenden nicht mehr vorhanden zu sein schien, schritt mit einem leichten Zusammenziehen der Brauen an der Gruppe vorüber.

„Der Ungezogenheit nach Engländer!“ brummte er; nach Kurzem indessen glitt ein Zug von Laune über sein Gesicht. „Möchte wohl einmal die potenzirte Arroganz dieser Miß sehen, die jede Sorge der Ihren mit Achselzucken abweist!“

Er schien, still vor sich hinlächelnd, das Bild zu verfolgen, bis er zu einer Höhe gelangt war, wo sich ihm ein freier Blick in das grüne Chamounythal, dem er entstiegen, und auf die wilde Alpenkette mit ihren Häuptern voll ewigen Schnees und blinkenden Eisgipfeln bot. Da ließ er, eine Weile rastend, das Auge rund um laufen.

„All that’s bright must fade!“ begann er mit Burns zu declamiren, „muß verwelken – und meine kurze Lust nur zu geschwind!“ fuhr er mit einem halben Seufzer fort. „Morgen geht’s wieder heimwärts, an den Actentisch, und dann wird’s heißen, ich habe nur eine Modereise gemacht, deren Kosten und Zeit ich wohl zu etwas Besserem hätte verwenden können. – Auch gut!“ nickte er, „der Freudenbecher in dieser Welt soll nun einmal seinen Bodensatz haben; des Menschen Beruf ist selten seine Wahl, und wenn Pflichterfüllung nicht oft schwer würde, wäre sie kaum eine Tugend – wir werden als tugendhafter Mensch wieder treu im alten Joche ziehen. Das Heute aber,“ setzte er, mit hellem Auge den Kopf hebend, hinzu, „gehört noch ungetrübt mir, und darum vorwärts!“

Die stattliche, jugendkräftige Gestalt, wie sie jetzt elastisch die Schwierigkeiten des steilen Bergpfades überwand, bot eine der Erscheinungen, an denen unwillkürlich das Auge des Beschauers haften bleibt. Das Ränzchen mit aufgeschnalltem Plaid, der Stock mit dem Gemshorn und die stark besohlten Schuhe deuteten den Fußreisenden an, während die einfache, aber fehlerlos sitzende Kleidung, die feine Wäsche und die ganze Weise seiner Bewegung den Mann aus der „guten“ Gesellschaft verriethen. Unter dem grauen, niedrigen Filzhute blitzten ein Paar lebendige, jeden Gegenstand mit Bestimmtheit erfassende Augen hervor, und der dunkelblonde, wenn auch noch weiche Schnurrbart gab seinen frischen Zügen einen wohlthuenden Ausdruck von Männlichkeit.

Nach einer halben Stunde kräftigen Aufsteigens begann eben das „Hospiz“, eine als Erfrischungslocal ausgebaute steinerne Hütte, vor seine Augen zu treten, als ein plötzliches donnerähnliches Geprassel aus scheinbar geringer Entfernung, von zahllosen nach und nach verhallenden Schlägen gefolgt, ihn auffahren ließ. Es klang, als breche ein ganzer Berg zusammen und sende seine Felsenmassen in einzelnen riesigen Stücken in’s Thal hinab; es war nicht der Donner der Lawine, es war das ganz bestimmte Geräusch eines massenhaften Einstürzens und Zerschellens, das aber nach kaum zwei Minuten in einzelnen, aus der Ferne herüberklingenden Lauten erstorben war.

Eine kurze Weile noch horchte der Wanderer, aber kein Ton störte mehr die tiefe Stille der Gebirgswelt, und mit einem Kopfschütteln der Verwunderung begann er in bequemerem Schritte den geringen Rest der Höhe zu ersteigen; kaum hatte er aber den Bergrücken neben dem „Hospiz“ erreicht, als auch vor dem ihm werdenden Anblicke die kaum erlebte Ueberraschung vergessen schien. Das sogenannte Eismeer, der ebene, zwei Stunden weit sich erstreckende Gipfel des Bois-Gletschers, lag in seiner ganzen Ausdehnung und wilden Pracht vor ihm. Dunkele riesige Felsenmassen, nur auf ihren Häuptern mit blendend weißem Schnee geschmückt, ummauerten zu zwei Dritttheilen die Eisfläche und boten in ihrer rauhen Nacktheit und zerrissenen Form ein Bild, das durch seine Majestät erhob und in seiner trostlosen Oede zugleich niederdrückte. [322] Hinter ihnen und durch sie verdeckt liegt der Mont-Blanc, und unwillkürlich füllt sich die Seele bei dem Gedanken daran mit neuen riesigen Vorstellungen, die sich mit dem, was dem Auge geboten ist, zu einem noch gewaltigeren Ganzen vereinen. Nach der Thalseite zu aber fiel der Gletscher wie ein gefrorener Wasserfall in Hunderten der seltensten Formationen, überall von dunkeln Spalten zerrissen, hinab, und über dieser wilderhabenen, erstarrten Natur lag ein Schweigen, in welchem die hier und da aus verborgenen Höhlen aufschießenden Dunstsäulen, die einen Augenblick den Horizont umlagerten und dann in gleicher räthselhafter Schnelle versanken, wie das Auftauchen riesiger Berggeister erschienen.

Der Reisende war in stillem Beschauen langsam vorwärts geschritten und stand jetzt vor dem Pfade, der, zwischen den Hindernissen der Umgebung sich hinwindend, nach der Eisfläche hinüber führt; indessen schien sein langsam umherschweifendes Auge einen andern Punkt für sein nächstes Ziel entdeckt zu haben. Einen zweiten schmalen Fußweg, der sich am Abhange des Berges hinschlängelte, betretend, wandte er sich einer Felsenpartie zu, welche die Möglichkeit für einen noch weitern Rundblick versprach; nach halbstündiger, immer rauher werdender Wanderung indessen blieb er plötzlich stehen und sah überrascht um sich. Unweit von ihm schien der ganze Abhang einer Höhe sich losgelöst, mit den gewaltigen Trümmern seinen Weg verrammelt und Felsenstücke der größten Dimensionen bis weit hinüber nach dem Eise des Gletschers geschleudert zu haben; ringsumher starrte ihm ein Bild wilder Zerstörung entgegen; da aber, wo der Fall augenscheinlich geschehen, erhob sich, alle andern Spitzen überragend, eine wohl fünfhundert Fuß hohe, den Bruch deutlich zeigende Felsenwand, und der junge Mann vermochte jetzt sich das vernommene Geräusch beim Ersteigen des Berges zu erklären. Der Sturz ganzer Felsenmassen, die, von Gebirgswassern unterwaschen, ihren Stützpunkt verloren haben, ist in diesem Theile der Alpen etwas nur Gewöhnliches. Langsam und aufmerksam musterte er die Höhe; nach kurzer Weile aber blitzte sein Auge auf und heftete sich fest auf einen Punkt, wo die Fortsetzung der Gebirgsspitzen sich an die gebrochene Stelle anschloß. Dort oben bewegte sich etwas, aber die Entfernung war zu groß, um die Natur des auffallenden Gegenstandes zu unterscheiden, und rasch hatte der Reisende ein kleines Fernrohr hervorgezogen, bald emsig den wahrgenommenen Punkt aufsuchend. Jetzt hatte er ihn gewonnen – eine weibliche Gestalt, ein weißes Tuch schwingend, stand vor dem Glase, und der Beobachtende meinte die Augen derselben so bestimmt auf sich gerichtet zu sehen, daß er nicht zweifeln konnte, sie habe auch seine Gestalt entdeckt. Ein kleiner runder Strohhut mit wehendem Schleier deckte ihren Kopf, eine leichte Hülle, die ihren Oberkörper geborgen, war von der rechten Schulter geglitten, um dem Arme freie Bewegung zu geben, und dem jungen Manne schoß plötzlich seine kürzliche Begegnung mit den beiden bergab gehenden Reisenden durch den Kopf. Sie hatten um den Verbleib einer jungen Dame gesorgt – dort oben in der schwindelnden Höhe stand diese jedenfalls, entweder verstiegen, oder durch den Bergsturz von ihrem Rückwege abgeschnitten. Er hob beide Hände zum Sprachrohr geformt vor seinen Mund und ahmte den gellenden Ruf der Hirten nach, und wenige Secunden danach kam ein von der Luft halb verwehter Laut, von einem stärkern Schwingen des weißen Tuchs begleitet, als Antwort. Er erkannte schnell genug, daß sie Hülfe von ihm erwarte, damit aber trat auch das Bild, das er sich von dem Wesen der stolzen „achselzuckenden“ Miß entworfen, vor seine Seele, und neben dem einfachen Gebote der Menschlichkeit, ihr beizustehen, fühlte er einen sonderbaren Reiz, die Bekanntschaft eines solchen Charakters in dieser ungewöhnlichen Lage zu machen.

Eine halbe Minute überlegte er, ob er nicht zu größerer Sicherheit nach dem „Hospiz“ zurückkehren und Beistand aufbieten solle. Das Haus aber war von hier wohl eine Stunde Weges entfernt, die Abgeschnittene mochte während seiner langen Abwesenheit, in eigenen Versuchen sich zu helfen, ihren Standpunkt ändern und dann nicht wieder aufzufinden sein, und überdies war es ungewiß, ob das Hospiz augenblickliche Hülfe zu bieten vermöge. In raschem Entschlusse ward er mit sich fertig, das Wagstück allein zu versuchen. Er war kein Neuling im Erklimmen von Felsen; sein Alpenstock und ein in seinem Ranzen befindliches Hanfseil hatten schon verschiedene Male bei seinen oft führerlosen Streifereien der letzten Wochen ihn aus bedenklichen Lagen befreien müssen, und als er jetzt sein Taschentuch an den Stock befestigte, um der Verirrten ein Zeichen seiner Absicht zu geben, fühlte er sein Unternehmen kaum anders als wie ein pikantes Abenteuer auf sich wirken.

Eine geraume Weile indessen ließ er umsonst die Augen an den steil aufstrebenden Felsen umherschweifen, um irgendwo eine Möglichkeit für ein Emporsteigen zu eindecken, bis endlich sein Blick von einer weit oben befindlichen Schlucht auf eine herunterlaufende dunkele Linie fiel und er hier nach mühseligen, Ueberklimmen der seinen Weg versperrenden Steinblöcke einen aufwärts führenden Absatz von kaum sechs bis acht Zoll Breite fand. Ohne Bedenken indessen betrat er, sich hart an den Felsen schmiegend, die gefährliche Bahn, die oft, lehnansteigend, seinem Fuße kaum den nöthigen Halt bot, oft in rauhen Absätzen die volle Muskelsicherheit zur Ersteigung derselben erforderte, und halb erschöpft von der gewaltsamen Anspannung aller seiner Kräfte, aber frischen Geistes erreichte er endlich die Schlucht, in welcher das von den Felsengipfeln herabrinnende Schneewasser wie ein kleiner Bach rieselte. Hier ruhte er eine kurze Minute und begann sich dann sorgfältig zu orientiren. Er stand ein ganzes Stück seitwärts des Punktes, auf welchem er die weibliche Gestalt erblickt, und seine Aufgabe, sobald er sich einen Weg in die höheren Regionen der Felsen geschaffen mußte es sein, sich dem abgeschnittenen Orte von der Seite oder dem Rücken möglichst zu nähern, dort aber erst nach Lage der Umstände über die weitern Schritte zu entscheiden.

Vorsichtig kletterte er in der Schlucht weiter aufwärts; rechts und links erschienen einzelne Felsenstücken so vom Wasser ausgewaschen, daß sich ganze Höhlen gebildet hatten; bald aber brachen die Seitenwände ab, und der Kletternde gelangte auf eine Art schmales Plateau, das nach allen drei Seiten hin in einem Gewirr von gähnenden Abgründen und zerrissenen Granit-Pyramiden endete; nach einem langsamen, scharfen Rundblicke indessen zeigte sich ihm an der Felsenmauer, die er so eben durchschnitten, eine Art natürlicher, aufwärts führender Rinne, und mit Hülfe seines in die Brüche des Gesteins eingehakten Stockes gelang es ihm, die Höhe derselben zu erreichen. Nach einer Weile mühseligen Kletterns erweiterte sich endlich der gewählte Pfad und ward ebener; bald begann er sich aber nach verschiedenen Seiten zu theilen, und der junge Mann sah sich in ein völliges Labyrinth von riesigen Blöcken, aufstrebenden Kegeln und zerklüfteten Steinmassen versetzt, das es ihm zur Unmöglichkeit machte, eine bestimmte Richtung einzuhalten; jetzt schon wußte er nicht mehr, ob er sich nicht von seinem Ziele mehr entferne, als sich ihm nähere, und zweifelnd stand er endlich still, setzte von Neuem die Hände an den Mund und ließ wiederholt einen gellenden Ruf erklingen. Aber so scharf er auch aufhorchte und so sicher er auch überzeugt war, in der ihn umgebenden Todtenstille selbst einen schwachen Antwortlaut vernehmen zu müssen, so drang doch nichts als das vereinzelte Tropfen des schmelzenden Schnees um ihn zu seinem Ohre. Er sah ein, daß er die volle Höhe des Gebirgszugs erreichen müsse, um freien Blick und Sicherheit für seine weitern Schritte zu erlangen, und die nächste Stelle benutzend, welche ihm die Möglichkeit für ein Aufwärtskommen zu bieten schien, begann er mit Hülfe seines Hakenstockes von Absatz zu Absatz in die Höhe zu klimmen. Da sah er plötzlich die von ihm genommene Linie von einer Art Pfad durchschnitten, an welchem hier und da augenscheinlich Menschenhände thätig gewesen, und als er, mit neu erwachter Frische diesem folgend, um eine hervorspringende Ecke bog, erblickte er in kurzer Höhe seitwärts die gesuchte, den Gebirgskamm überragende Felsenwand. Dort endete deutlich erkennbar der Weg auf einem gewaltigen Felsenwürfel; vergebens aber blickte der Emporklimmende nach der Gestalt der Verstiegenen umher, und als er endlich die Höhe der Wand erreicht, ohne daß sein jetzt frei umherschweifender Blick auf irgend etwas Lebendes getroffen, als sein Auge unwillkürlich den verhältnißmäßig bequemen Pfad verfolgte, welcher zu der Spitze herauf führte und der unvergleichlichen Aussicht halber, welche sich von hier über die ganze Ausdehnung des Eismeeres und die benachbarten Gletscher bot, angelegt sein mochte – da kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er wohl von einer muthwilligen Reisenden gefoppt worden sei und diese längst ihren sichern Rückzug genommen habe, während er mit Lebensgefahr sich von der Gletscherseite einen Weg zu der Höhe gesucht. Noch einmal ließ er das Auge jeden Theil seiner Umgebung überlaufen, er glaubte mit Sicherheit den Punkt bestimmen zu können, wo das Mädchen gestanden, und ein tiefer Verdruß begann in ihm aufzusteigen. Fast [323] nur um seiner Täuschung völlig sicher zu werden, ließ er den frühern Hirtenruf über die Felsenhäupter klingen – ein zehnfaches Echo antwortete; mitten darunter aber tönte ein so heller Ruf aus geringer Entfernung, daß der junge Mann ein unwillkürliches Aufzucken nicht hindern konnte; umsonst aber flog sein Auge nach der Richtung des Schalles, um den Aufenthalt der Rufenden zu entdecken – überall blickte ihm nur der nackte, ungebrochene Kamm der Felsen, welche jenseits steil hinabfielen, entgegen. Von Neuem klang sein Schrei, von Neuem kam die Antwort, kam deutlich jenseits des Felsenkammes herauf, und mit einem Kopfschütteln der Ueberraschung hielt der Suchende die Augen fest auf die Stelle geheftet, wo die Stimme laut geworden. Mit zehn vorsichtigen Schritten ließ sich der Punkt erreichen, als aber der junge Mann sich der Kante des Felsenzuges genähert, legte er sich platt auf den Boden und schob dann seinen Körper langsam vor, bis er tief unten den von ihm früher verfolgten Fußpfad erblicken konnte. Noch einige Zoll weiter vorgerückt, bemerkte er etwa zehn Fuß unter sich den Beginn eines Absatzes an dem Felsen, welcher mit dem abgelösten Theile der benachbarten Wand in Verbindung gestanden zu haben schien und sich in seiner Fortsetzung verbreiterte. Als er jetzt seine Stimme hören ließ, klang es nur einige Schritt seitwärts in halb gebrochenem, den englischen Accent deutlich verrathendem Französisch herauf: „Hierher, Monsieur, und wenn Sie etwas, das als Seil dienen kann, bei sich haben, so lassen Sie es herab, ich denke mir dann selbst helfen zu können!“

„Nur einen Augenblick Geduld, Miß!“ gab der Angerufene in völlig schulgerechtem Englisch zurück, sich rasch der Gegend des Tones zuwendend, und in der nächsten Secunde war er bereits mit dem Oeffnen seines Ranzens beschäftigt. Das Seil erschien, und im Fluge begann er eine lange Reihe von Knoten hineinzuknüpfen. An den nächsten geeigneten Granitblock befestigte er das entgegengesetzte Ende und ließ dann die Knotenseite nach der Abgeschnittenen hinab. „Versuchen Sie nur, sich heraufzuarbeiten, bis meine Hand Sie erreichen kann,“ rief er, sich wieder platt auf den Boden streckend, und unmittelbar darauf sah er auch das Seil sich anspannen. Mit angehaltenem Athem wartete er; er wagte es nicht, den Kopf weit über den Abgrund zu strecken und damit die eigene feste Lage für die nothwendig werdende Hülfe zu gefährden, obgleich ihm dadurch der Blick in die Tiefe entging – da sah er in seinem Gesichtskreise einen niedergebogenen Kopf voll braunen, goldig schimmernden Haares erscheinen, hinter welchem der zurückgeworfene Strohhut an einem Bande hing, zwei schmale Schultern folgten, und mit fester Hand griff jetzt der junge Mann unter beide Arme der Heraufkommenden. In diesem Augenblicke aber schien es, als werde diese von ihrer Kraft verlassen; mit einer Schwere, welcher der Daliegende kaum gewachsen war, fühlte er plötzlich die ganze Last des Körpers an seinen Händen hängen und in aufsteigender Angst rief er: „Noch eine einzige kurze Anstrengung, Miß, und Sie sind oben; stemmen Sie die Kniee gegen die Felsen; jetzt –!“ eine sichtbare Anstrengung erfolgte, und mit einem kräftigen Zuge riß er den Oberkörper der Gefährdeten über die Felsenkante herauf. Krampfhaft faßte sie hier nach dem am Boden hinlaufenden Seile, in der nächsten Secunde aber war auch Jener auf seinen Füßen, ihr mit einer kurzen Anstrengung zur völligen Erreichung des sichern Grundes verhelfend. Sie erhob sich an seiner Hand langsam von ihren Knieen – und eine hohe, schlanke Gestalt, deren jugendlich volle Formen das eng anliegende, bis zum Halse geschlossene Kleid deutlich abzeichnete, ein bleiches Gesicht mit großen, dunkelbeschatteten Augen traten vor den Blick des Helfers. Sie that zwei Schritte von dem Abgrunde hinweg, dann aber streckte sie im plötzlichen Wanken die Hand nach seiner Schulter aus.

„Warten Sie, Miß, bis Sie sich erholt haben!“ rief er, rasch zu ihrer Unterstützung herantretend, und zwei Secunden lang fühlte er eigenthümlich erregt die schmiegsame Gestalt wie gänzlich machtlos an seinem Körper ruhen; kaum aber mochte sie sich des Drucks seines unterstützenden Armes bewußt werden, als sie mit einem leichten Zucken sich aufrichtete und die Hand gegen die Augen, drückte. „Es ist nur ein augenblicklicher Schwindel,“ sagte sie halblaut, „ich habe heute fast noch nichts genossen!“

„So erlauben Sie mir, daß ich Ihnen anbiete, was ich für derartige Nothfälle bei mir führe,“ versetzte er eifrig, mit den Augen nach einem passenden Orte zum Niedersitzen suchend, „es wird wenigstens das dringendste Bedürfniß befriedigen!“

Ohne Widerstand zu finden, hatte er sie nach dem nächsten niedrigen Steinblock geführt, sein Plaid war rasch gelöst und breitete sich über den kalten Sitz, und als sie sich niedergelassen, zog er aus seinem Ranzen eine Korbflasche mit Kirschwasser und einige Chocoladentafeln. „Nehmen Sie hier einige Tropfen, die jedenfalls Ihre augenblickliche Schwachheit beseitigen werden, und dann essen Sie,“ sagte er, seine Vorräthe in ihren Schooß legend, „ich werde sehen, daß ich Wasser für Sie schaffe! –“

Als er nach fast halbstündiger Abwesenheit mit seinem gefüllten ledernen Becher die Höhe wieder erreichte, stand das Mädchen emporgerichtet, aufmerksam den Horizont musternd, und der junge Mann hielt unter einem plötzlichen Eindrucke, den ihr jetziger Anblick auf ihn machte, einige Secunden lang seinen Schritt an. Der von dem üppigen dunkeln Haar umschlossene Kopf hob sich in eigenthümlicher Sicherheit auf dem weißen, stolzen Halse, während das halb abgewandte Gesicht eine fast classische Reinheit der Linien zeigte; ihre rechte Hand stützte sich auf das Felsenstück, und der leicht zurückgebogene Oberkörper ließ die ganze Schönheit ihrer Formen hervortreten. Es lag etwas wie das Bewußtsein einer hervorstechenden Lebensstellung, wie die Gewohnheit des Gebietend in ihrer Erscheinung, und als er sich unwillkürlich hierzu das kalte, stolze Achselzucken dachte, das er nicht aus dem Sinne bringen konnte, fühlte er, daß ein unvorsichtiges Herz wohl lebenslänglich durch sie elend werden könne. Kaum mochte sie aber die Schritte des Nahenden vernommen haben, als sie auch langsam den Kopf nach ihm wandte, und ein so volles, klares Lächeln breitete sich über ihre Züge aus, daß er in einer seltsamen Empfindung alle bisherigen Vorstellungen von ihrem Wesen in sich zusammenbrechen fühlte. Sie hatte einen raschen Blick über sein ganzes Aeußere geworfen und streckte ihm dann mit einem kaum merkbaren Erröthen die Hand entgegen. „Ich glaube, Sir, Sie haben mich vom Verschmachten errettet,“ sagte sie mit einer Stimme, deren sonore Fülle einer Modulation bis zum tiefen Alt fähig zu sein schien, „aber ich werde mich hier nicht lange bei meinem Danke aufhalten dürfen; dort drüben sind Wolken heraufgekommen, aus denen unsere Führer uns immer Regen im Verlauf der nächsten Stunde prophezeit haben.“

Der Blick des jungen Mannes hatte sich zwar mechanisch in der angedeuteten Richtung gehoben, senkte sich aber eben so unbewußt wieder in die großen Augen vor ihm, die kaum eine bestimmte Farbe zu haben schienen und je nach den wechselnden Seelenregungen bald sich zu einem dunkeln Blau aufhellten, bald zu einem vollen Schwarz sich vertieften; er hatte die weichen Finger des Mädchens mit einem leisen Druck in seiner Hand gefühlt und sie unwillkürlich festgehalten – da trat ein höheres Roth als vorher in ihre Wangen. „Sie haben Wasser hier, es wird mir gut thun,“ sagte sie, ihre Hand leicht befreiend und nach dem Becher greifend, „und nun lassen Sie uns keine Minute länger hier verziehen!“

„Wenn Sie nur schon stark genug für einen beschwerlichen Rückweg sind,“ erwiderte er, schnell zu sich selbst kommend, „selbst der Pfad, der Sie jedenfalls heraufgebracht hat, kann nicht frei von Schwierigkeiten sein –“

Ein rascher Aufblick traf ihn, dann sah sie in die Weite und zuckte kurz und wortlos die Achseln. Da war es! Schon im nächsten Augenblicke aber schien sie die Bewegung zu bereuen und wandte das Gesicht, in dem ein Lächeln mit einer stolzen Regung zu kämpfen schien, nach ihm zurück. „Sie haben mich freilich einen Augenblick schwach gesehen,“ sagte sie, ihren Hut losbindend und ihn wieder auf ihrem Kopfe befestigend, „das ist indessen vorüber, und ich hoffe, Sie nicht wieder daran zu erinnern. Lassen Sie uns die Zeit hier nicht länger verbringen!“

Er hatte schnell genug seine dem Ranzen entnommenen Habseligkeiten an ihren früheren Plätzen geborgen, jenen wieder auf den Rücken geworfen und folgte, den Plaid über dem Arme tragend, dem bereits vorausgeschrittenen Mädchen. Ein prüfender Blick über den Horizont hatte ihn von der raschen Aenderung des Wetters überzeugt, die Luft war fühlbar kälter geworden, und als er einen Blick nach seiner Begleiterin warf, fiel ihm erst deren dünne Bekleidung auf.

„Hatten Sie nicht einen Ueberwurf, Miß, als ich Sie zuerst sah?“ rief er der Voraneilenden zu. Sie wandte kurz den Kopf zurück, ohne ihren Schritt anzuhalten. „Er liegt da, wo Sie mir heraufhalfen,“ erwiderte sie mit leichtem Lachen, „ich konnte ihn [324] bei meiner ersten Matrosen-Uebung nicht brauchen und gehe auch jetzt bequemer ohne ihn!“

Je weiter der von den Niedersteigenden verfolgte Pfad sich in das Gewirr der Felsen hinabwand, je rauher zeigte er sich, und oft ward seine Richtung nur durch eine weiterhin deutlicher hervortretende Stelle erkennbar. Der Himmel aber begann sich mit jeder Minute mehr zu umziehen; wo sich eine Fernsicht zwischen den Felsenhäuptern aufthat, schienen die heraufgestiegenen Wolken sich von der Höhe hernieder zu wälzen, und bald waren die entfernteren Partien der wilden Landschaft völlig von Dunst verhüllt. Der junge Mann indessen hatte kaum zu Zeiten einen flüchtigen Blick für Himmel und Weg; seine Augen hingen unverwandt an den eleganten Formen und leichten Bewegungen der Vorangehenden, die in starker Willenskraft allen Rauhheiten des Gebirgspfades Trotz zu bieten schien und in stets gleichmäßig schnellen Schritten vorwärts eilte. Aber als habe sie seinen Blick gefühlt, blieb sie am Eingange einer Schlucht plötzlich stehen und wandte sich mit einem flüchtigen Erröthen zurück. „Wollen Sie nicht einmal versuchen, das Führeramt zu übernehmen?“ sagte sie, „ich habe nicht die Spur einer Erinnerung von diesen Formationen um uns, und hier scheint von einem Wege gar keine Rede mehr zu sein!“

Er hatte eine kurze Befangenheit zu überwinden, ehe er mit vollem Bewußtsein die Umgebungen zu mustern vermochte, die nirgends in dem rauhen Gestein ein leitendes Merkmal zeigten. „Bleiben Sie einen Augenblick hier, Miß,“ sagte er nach kurzer Beobachtung, „wenn der Felsenboden so gleichmäßig fortläuft, sind wir jedenfalls auf rechtem Wege, sonst müssen wir uns irgendwie einen andern Ausweg suchen!“ Er wandte sich rasch einer nahen Ecke des Gebirgszuges, welche die Aussicht nach vorwärts verdeckte, zu; aber auch hier ward ihm kein freier Blick; auf stets rauher werdendem Boden mußte er sich zwischen rechts und links aufstrebenden Felsen den Durchgang suchen. Immer mehr an der Richtigkeit des Wegs zweifelnd, aber doch auch noch nicht vom Gegentheile überzeugt, wanderte er vorwärts, bis er nach fast zehn Minuten seinen fernern Weg völlig verlegt fand, zugleich aber auch die Luft wie dicken, feuchtwarmen Nebel auf sich eindringen fühlte.

Eilig wanderte er zurück; noch hatte er aber seine Begleiterin nicht völlig erreicht, als auch schon ein leichter Sprühregen sein Gesicht näßte, und zum ersten Male trat ihm die Vorstellung, ein Unwetter mit dem gänzlich ungeschützten Mädchen in dieser Felsenöde verbringen zu müssen, drückend vor die Seele.

Sie stand, wo er sie verlassen, und blickte ihn mit gehobenem Kopfe lächelnd entgegen. „Kann ich nicht gut prophezeien?“ rief sie, mit der Hand die niederrieselnden Tropfen auffangend; er aber hatte bei ihrem Erblicken seinen Plaid auseinander geschlagen und trat damit rasch auf sie zu. „Sie müssen sich schützen, Miß,“ sagte er, ihr die dichte Hülle um die Schultern legend, ohne zuvor ihre Erlaubniß zu erwarten, „Sie sind nicht an kalte Bäder im Freien gewöhnt, wie ein Fußreisender, und ich wünsche nur, daß wir vor dem stärkern Beginn des Wetters einen Ort zum Unterschlüpfen gefunden haben. Lassen Sie uns sehen, was die Schlucht bietet, es ist ohnedies die einzige Richtung, die wir einschlagen können.“

Sie wandte mit einem großen eigenthümlichen Blicke den Kopf nach ihm, ohne das umgeworfene Tuch zu fassen. „Daß uns Frauen doch jeder Regentropfen gleich Gefahr bringen soll!“ sagte sie mit einem leichten Zucken der Oberlippe; „nach dem Geschehenen mögen Sie allerdings das Recht haben, sich auf den Sockel des stärkeren Geschlechts zu stellen –„

„Ich verstehe Sie nicht, Miß,“ erwiderte er befremdet.

„Nun, ich habe die ängstliche Sorge um die Schwäche der Frauen immer nur als eine systematische Demüthigung derselben angesehen, als ein gefälliges Mittel, ihnen die Nothwendigkeit ihrer abhängigen Stellung fortlaufend vor die Augen zu halten!“ erwiderte sie. „Aber mag es denn sein!“ fuhr sie fort, während sich plötzlich ihr früheres Lächeln durch den leichten Zug von Stolz um ihren Mund Bahn brach, „– ich darf wohl Angesichts der Lage, aus der Sie mich befreit, jetzt kaum protestiren, und so mögen Sie Ihre Genugthuung haben!“

Sie zog mit einem kurzen Griffe den Plaid dicht um sich und wandte sich rasch der Schlucht zu; kaum war er ihr aber, mit dem Reize kämpfend, welchen das ganze Wesen des Mädchens auf ihn ausübte, gefolgt, als auch schon ein erster mächtiger Donner durch das Gebirge rollte und der feine Regen plötzlich in einen gewaltigen Guß umschlug, zugleich aber auch die Vorangehende ihren Schritt anhielt.

„Kommen Sie rasch, hier ist Schutz!“ rief sie ihm zu und war im nächsten Augenblicke seitwärts in den Felsenmassen verschwunden. Der Angerufene säumte nicht zu folgen und stand nach zwei Secunden nur leicht benäßt vor einer der eigenthümlichen Grotten, wie sie, vom Gebirgswasser ausgewaschen, sich in diesen Regionen der Alpen so oft finden. Es war nur ein enger Raum, der in seiner Tiefe kaum das Aufrechtstehen erlaubte; aber der Felsen ragte wie ein Dach über dem Eingange vor, und mußte schon hier Schutz vor dem Regen geben.

Das Mädchen schien mit raschem Blicke die Eigenthümlichkeit des zeitweiligen Zufluchtsortes ermittelt zu haben, denn als ihr Begleiter sich in den Eingang flüchtete, sah er sie einen niedrigen glatt gewaschenen Vorsprung des Gesteins, welcher die Tiefe des Raumes schloß, bereits als Sitz mit dem Plaid belegen, aber beim ersten Blicke erkennend, daß neben ihr kaum genügender Platz für ihn sei, nahm er seine Stellung an der innern Oeffnung der Grotte.

Eine Zeitlang stand er hier, dem Tosen des zu voller Macht sich steigernden Unwetters folgend; Schlag auf Schlag dröhnte der Donner, in dem Wiederhall der Berge oft zu einem riesigen Gebrüll anwachsend; in vollen Strömen goß der Regen nieder, und bald war der rinnenförmige Boden der Schlucht zum Bette eines in reißender Schnelle abwärts schießenden Gebirgsbaches geworden; als sich aber das Ohr an den wilden Lärm gewöhnt hatte und er der Sicherheit des Ortes inne geworden war, wandte er seine Aufmerksamkeit fast unbewußt dem dicht hinter ihm sitzenden Mädchen zu. Er hörte das Rauschen ihrer Kleider, als versuche sie, sich eine andere Stellung zu geben, sein inneres Auge meinte die Bewegungen ihrer biegsamen Gestalt zu sehen, und die Einsamkeit des Ortes, die Abgeschlossenheit und das Geborgensein ihrer beiderseitigen Lage durchrieselte ihn mit einem noch kaum gekannten Gefühle. Er sah es nicht, daß das zu seinen Füßen vorüberschießende Wasser immer wilder schäumte und ganze Springfluthen nach ihm sandte, und erst die Stimme seiner Gefährtin rief ihn zur Wirklichkeit zurück.

„Sie werden naß, wo Sie stehen, Sir!“ sagte sie, „es ist Raum hier für uns Beide, wenn wir uns danach einrichten. Legen Sie Ihr Gepäck ab und nehmen Sie Ihren Platz hier!“

[337] Er wandte rasch den Kopf zurück und sah sie mit eng zusammengerafften Kleidern in die Ecke gedrückt – es war dadurch allerdings ein Stück des improvisirten Sitzes frei geworden, aber doch kaum genug, um nicht ein dichtes Aneinanderschmiegen zweier Sitzenden nothwendig zu machen, und es erschien ihm wie ein Mißbrauch der augenblicklichen Lage des Mädchens, einen Vorschlag anzunehmen, den ihr nur seine ungeschützte Stellung entrissen haben konnte. „Ich danke Ihnen, Miß,“ erwiderte er, „ich würde Sie nur arg beengen, und die geringe Nässe hier ist kaum der Beachtung werth!“

„Ihre Rücksicht wird mich zwingen, selbst meinen Platz zu verlassen,“ gab sie mit einer Art Ungeduld im Tone zurück; „ich hasse alle die nur vom modernen Umgangstone gebotenen Opfer und ich mag nicht auf Ihre Kosten meiner Bequemlichkeit genug thun –“

„Sie werden ungerecht, Miß,“ unterbrach er sie, und es zuckte in ihm, diesen eigenthümlichen Charakter zu nehmen, wie er sich gab; „ich gedachte nur die selbstverständliche Bescheidenheit jedes gebildeten Menschen zu üben, der die Sonderbarkeit Ihrer Lage Ihnen nicht noch schwerer machen will; indessen haben Sie völlig über mein Verhalten zu gebieten!“ und sich seines Ränzchens entledigend, machte er sich bereit, den engen Sitz neben ihr einzunehmen. Sie zog die Schultern eng zusammen und preßte sich gegen die Seitenwand; er mußte aber dennoch seinen Arm hinter ihren Rücken schieben, um den nöthigsten Raum zu gewinnen.

„Sie haben es gewollt, Miß!“ sagte er zögernd, als bei der dichten Berührung seines Körpers ihr Gesicht einen Schatten bleicher ward und ihre Züge einen Ausdruck von Starrheit annahmen; sie aber wies statt der Antwort nach dem Eingange, der nur noch wenig über die Höhe des vorüberschießenden Wassers empor stand und soeben von einer Springwelle fast bis zu den Füßen der Dasitzenden überfluthet ward.

„Wir werden aber dennoch nicht lange in dieser Situation bleiben können,“ begann er wie im leichten Kampfe mit sich nach einer Pause, welche Beide in steifer Bewegungslosigkeit verbracht; „gönnen Sie sich Bequemlichkeit, Miß, legen Sie sich an meinen Arm zurück und vertrauen Sie meiner Ehrenhaftigkeit; wir wissen ohnedies nicht, wie lange wir hier werden verbringen müssen –“

Sie warf einen raschen, festen Blick m seine Augen. „Ich habe noch nicht an Ihrer Ehrenhaftigkeit gezweifelt, Sir, sonst säßen wir nicht hier!“ sagte sie mit eigenthümlich tiefem Klänge ihrer Stimme. „Aber Sie mögen Recht haben, daß es Thorheit ist, sich jetzt noch mehr zu ermüden!“ setzte sie, leicht den Kopf neigend, hinzu, und wie von einem beschwerlichen Zwange erlöst, gab sie ihre gepreßte Haltung auf und ließ ihre Gestalt frei an der ihres Begleiters ruhen, ein leichtes Roth trat wieder in ihr Gesicht, und dann hob sie mit einem freien, hellen Lächeln langsam den Kopf nach ihm.

Der junge Mann fühlte plötzlich diese weichen, eleganten Formen, ihm völlig hingegeben, in seinem Arme, fühlte ihren klaren Blick wie einen warmen Sonnenstrahl in seine Seele fallen, und einen Moment lang überkam es ihn, als könne er der Versuchung nicht widerstehen, seinen Arm fest um das Mädchen zu schließen – ein Moment nur war es, und noch keine Muskel hatte unter dem Verlangen gezuckt; aber es schien, als habe sie dennoch empfunden, was in seiner Seele vorgegangen; eine tiefere Färbung trat in ihre Wangen, ihr Blick wandte sich, seinem Auge ausweichend, dem Freien zu, und ihre Schultern zogen sich, als wollten sie seine Berührung vermeiden, wieder leicht zusammen; schon nach einigen Secunden aber fragte sie in völlig ruhigem Tone: „Sie wissen vielleicht, wie spät es ist? Ich fürchte, der Abend überrascht uns hier!“

Der junge Mann zog seine Uhr, glücklich, der Befangenheit zu entgehen, die ihn überkommen hatte. „Erst Vier vorüber Miß,“ sagte er, „wir haben noch drei Stunden vollen Tag, und das Gewitter ist zu heftig, als daß es nicht bald enden sollte. Ihr Herr Vater und der zweite Gentleman werden aber trotzdem wohl schon schwere Sorge um Sie gehabt haben!“

„Mein Vater? Was wissen Sie denn von meinem Vater?“ fragte sie rasch und befremdet aufsehend.

„Ich vermuthete nur aus seinem ängstlichen Forschen nach Ihnen, daß er es sei!“ gab Jener zurück und begann dann in kurzen Zügen seine Begegnung beim Ersteigen des Berges mitzutheilen.

Sie hörte aufmerksam zu; als er aber der Aeußerung des zweiten Reisenden über sie erwähnte, zuckte ein Ausdruck von Geringschätzung über ihr Gesicht. „Hat er das gesagt? Nun so scheint er doch allgemach zur Erkenntniß zu kommen!“ nickte sie, wie mehr zu sich selbst sprechend. „Ich gehe allerdings gern selbstständig meinen Weg, wenn ich auch künftig die Einsamkeit in den Bergen etwas mehr vermeiden werde,“ wandte sie sich nach ihrem Gefährten, und jetzt legte sich ein Zug voller Laune um ihren frischen Mund. „Mister Graham – das ist der zweite Gentleman, welchen Sie erwähnten – konnte sich nach Besichtigung des Gletschers nicht von einem nochmaligen Frühstück im Hospiz trennen, und ich suchte während dessen eine neue Fernsicht für mich zu gewinnen. Ziemlich sicher bin ich, daß ich bei meinem Aufwärtssteigen in die Felsen stets einem gebahnten Pfade folgte, obgleich [338] ich wohl nur ein Auge für die Weite und nicht für die mich umgebenden Formationen hatte. Ich erreichte endlich die Höhe des Gebirgskamms und empfand hier einen wunderlichen Reiz, mich am Rande der jäh hinunter fallenden Steinwand zu sehen. Ein Stück unter mir war ein eigenthümlicher Vorsprung, der wie ein Altan über dem Abgrunde hing, und ich bekam ein unwiderstehliches Gelüste, mir einen Weg dahin zu suchen; ich sah auch bald einen zugänglichen Absatz, der mich völlig gefahrlos nach der Stelle leiten mußte; kaum habe ich mich aber einige Schritte jenseits des Kammes hingewagt, als sich ein Stück Felsen unter meinen Füßen loslöst und mir eben noch Zeit läßt, nach dem wahrgenommenen Absatze hinab zu springen, und wäre es möglich, daß ein so leichter Sprung eine Erschütterung auf diese Felsenmassen ausübte, so müßte ich glauben zu dem darauf Folgenden die unmittelbare Ursache gewesen zu sein. Mit dem Momente, wo ich festen Boden erreiche, bricht neben mir ein Getöse los, daß ich meine, das ganze Gebirge stürzt mit mir zusammen, und als ich nach einer kurzen Betäubung, in die mich Lärm und Schrecken versetzt, wieder meiner Sinne völlig mächtig werde, sehe ich meinen Altan sammt einer Strecke des bisherigen Felsenabhanges verschwunden, und mit ihnen auch meinen Pfad zur Gebirgsspitze – ich war abgeschnitten.“

„Und wie fühlten Sie, Miß?“ frug der junge Mann, seinen Kopf auf den vom Knie getragenen Arm stützend und so das lebendige Gesicht des Mädchens beobachtend.

„Behaglich allerdings nicht,“ lachte sie heiter, „aber ich hatte eine bestimmte Vermuthung, daß die Richtung, in welcher ich mich vom Hospiz entfernt, bemerkt worden sei, und erst als mein Harren auf Erlösung stundenlang vergeblich war, mußte ich annehmen, daß meine Begleiter, in der Erwartung, ich sei vorausgegangen, den Weg nach dem Thale eingeschlagen hatten.“

„Sie nannten mir einen Namen aus Ihrer Begleitung,“ sagte er nach einer Pause, in welcher sie das bereits nachlassende Wetter zu beobachten schien; „würden Sie mir nicht auch noch einen andern nennen, Miß?“

Ein höheres Roth trat rasch in ihr Gesicht und ging wieder. „Namen?“ erwiderte sie, halb das Gesicht nach ihm wendend, „wozu? Namen bringen uns sofort unter den ganzen Zwang der Gesellschaft zurück; ich habe jedenfalls die Pflicht, den Ihren kennen zu lernen, aber ich habe aus demselben Grunde bis jetzt vermieden, danach zu forschen. Denken Sie,“ fuhr sie fort, das Auge wieder nach außen wendend, „wir seien zwei Menschen, die sich auf einer wüsten Insel getroffen, und nennen Sie mich nach Ihrem Belieben.“

„Ich kenne,“ sagte er langsam, „eine englische, wunderbar hübsche Geschichte von einem Ritter und einer Prinzessin, die sich allein aus dem Schiffbruch auf eine wüste Insel gerettet und dort gleichfalls ihrer Namen und des fernliegenden gesellschaftlichen Zwanges vergaßen –“

Sie erhob sich plötzlich und trat an den Eingang, wo das Wasser mit derselben Schnelle, in welcher es erschienen, auch schon fast ganz wieder verschwunden war. Er blickte ihr einige Secunden lang nach und preßte dann die Augen in seine Hand. So lange er denken konnte, war ihm noch kein Charakter in so seltsamer Veränderlichkeit des Ausdrucks begegnet, und doch lag in diesem raschen Wechsel ihrer Seelenstimmungen, von denen jede ihre volle Berechtigung zu haben schien und sich ohne Hehl in dem klaren Spiegel ihrer Züge abzeichnete, etwas so wunderbar Fesselndes für ihn. Es schien, als sei sie durch seine weitere Anwendung des Bildes von der wüsten Insel beleidigt worden; dennoch konnte der Sinnende bei dem Gedanken daran ein Lächeln eigenthümlicher Befriedigung nicht unterdrücken und unwillkürlich versuchte er, sich den Ausdruck ihres Gesichts, welchen sie ihm jetzt verbarg, vor die Seele zu stellen.

Erst als er eine leichte Berührung seiner Schulter fühlte, fuhr er aus seinen Gedanken auf. Sie stand halb nach ihm gewandt und deutete in die Schlucht hinaus, in welcher sich ein Sonnenstrahl an dem feuchten Gestein brach. „Wir können gehen!“ sagte sie und drückte den Hut wieder leicht in ihr Haar; umsonst aber strebte der junge Mann in ihren Zügen zu lesen, sie waren unbeweglich und kalt, und kaum hatte er nach seinem Gepäck gegriffen, als sie auch schon in’s Freie trat, ihm voran die Schlucht weiter verfolgend.

Das Wetter hatte sich völlig verzogen, der Boden zeigte nur noch einzelne mit Wasser gefüllte Vertiefungen, und schweigend waren Beide eine Weile zwischen den Felsenwänden hin geschritten, als plötzlich die enge Gasse sich erweiterte und nach wenigen Secunden eine freie Aussicht über die von der sinkenden Sonne vergoldeten Firnen und Gletscher sich öffnete, und hier war auch ein roher Steg über einen Felsenspalt geschlagen. „Da ist der Pfad, jetzt erkenne ich ihn wieder; wir waren also doch auf rechtem Wege!“ wandte sie sich kurz zurück und überschritt dann leicht und sicher das noch vom Regen nasse Bret. Eilfertiger, als wolle sie dadurch jedes Gespräch vermeiden, wanderte sie jetzt voran, bald zeigte auch der rauhe Boden häufigere Spuren der ebnenden Menschenhand, und der Nachfolgende begann seine Gedanken bereits dem Ende ihres Weges am Hospiz, wo wahrscheinlich seine Verabschiedung statt finden würde, zuzuwenden, als das Mädchen plötzlich ihren Schritt anhielt und leicht den Kopf vorstreckend nach der Tiefe hinab lauschte. Jetzt klang es auch zu den Ohren des jungen Mannes wie einzelne entfernte Menschenlaute. Die Horchende schien kaum ihrer Wahrnehmung sicher zu sein, als sie sich rasch umwandte und ihrem Begleiter zurückzubleiben winkte. „Wir müssen uns hier trennen, Sir,“ sagte sie rasch herantretend, „ich höre meines Vaters und Mr. Graham’s Stimmen, die jedenfalls auf dem Wege sind, mich aufzusuchen, und ich mag diesem Mr. Graham nicht die Freude gönnen, ihn eine Verlegenheit wissen zu lassen, aus der ich mir nicht selbst helfen konnte.“ Sie hielt inne, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck von Unsicherheit an, aber sie wich dem Auge des jungen Mannes nicht aus, in welchem sich alle die widerstreitenden Empfindungen, welche dieser plötzliche Abschied in ihm hervorrief, widerspiegelten. „Ich habe Ihnen noch nicht für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, gedankt, Sir!“ fuhr sie dann zögernd fort, während langsam ein höheres Roth in ihre feinen Züge trat, „haben Sie Ihre Karte bei sich?“

Er griff wortlos nach seinem Portefeuille; sie nahm die Karte mit der fein gestochenen Adresse: „Hugo Zedwitz, Kammergerichtsreferendar, Berlin,“ und barg sie unbesehen in der Tasche ihres Kleides; dann reichte sie ihm die Hand und schloß ihre Finger fest um die seinigen. „Wir werden uns kaum jemals wieder sehen, Sir,“ sagte sie in den weichen, tiefen Tönen ihrer Stimme, „und so endete ja auch die Geschichte von der wüsten Insel, als das Paar noch rechtzeitig genug entdeckt wurde. – Good bye denn!“ schloß sie, aber der junge Mann sah ihr Auge, in dessen dunkler Tiefe ein eigenthümlich weicher Ausdruck aufgestiegen war, noch immer in dem seinen hängen, fühlte noch immer den Druck ihrer Finger, ihre frischen Lippen blühten ihm entgegen, und von der plötzlichen Ahnung eines unerwarteten süßen Gewährens erfaßt, hatte er leicht ihre Gestalt umschlungen und seinen Mund auf den ihren gedrückt, ehe er sich nur des Entschlusses dazu klar geworden war. Sie hing ohne Sträuben in seinem Arme; als er aber, wie von einem Rausche des Glücks überkommen, sie fester an sich zog, wand sie sich leicht und kräftig los. „Genug des Abschieds, Sir!“ sagte sie hastig; noch einen kurzen Handdruck fühlte er, und dann hatte sie sich weggedreht, mit leichten, eiligen Schritten den Weg nach der Tiefe verfolgend.

Als sie, ohne sich umzublicken, hinter der nächsten Felsenecke verschwunden war, setzte er sich am Rande des Pfades nieder und drückte das Gesicht in beide Hände, als müsse er das Erlebniß erst in sich zum vollen Bewußtsein kommen lassen.




2. Eine Wiederbegegnung und deren Folgen.

Vier Wochen waren vergangen.

„Aber was ist es denn, mit klaren, bestimmten Worten ausgedrückt, das mir zur Last gelegt wird? Ich glaube mich zu den solidesten jungen Männern ähnlicher Stellung in Berlin rechnen zu dürfen, ich arbeite so fleißig als irgend einer meiner Collegen, und wenn Jemand sich über mein Herz oder über mangelnde Pietät meinerseits zu beklagen hat, so ist es sicherlich nicht mein Vater!“

Der Referendar Zedwitz war es, der soeben einen raschen Gang durch sein Zimmer unterbrochen hatte und während der unmuthig gesprochenen Worte in der Mitte desselben stehen geblieben war.

Vor ihm auf dem Sopha lehnte ein junger Mann in wohl gleichem Alter mit dem Sprechenden; während aber die ganze Erscheinung des Letzteren Eleganz und die leichte Beweglichkeit des Großstädters zeigte, drückte sich in dem schlicht geordneten Haar, dem einfachen Schnitt der Kleidung und der anspruchslosen Haltung [339] des Dasitzenden die Weise eines gänzlich verschiedenen Gesellschaftskreises aus, der auch das milde, dunkelblaue Auge nur zu entsprechen schien.

In der Ecke neben dem mit Büchern und Actenheften bedeckten Schreibtische, von welchem eine Solarlampe ihr helles Licht über das behaglich eingerichtete Zimmer ergoß, saß noch ein Dritter der gleichen Altersstufe, aber in merkbar abgetragenem Rocke, hatte beide Ellbogen bequem auf seine Schenkel gestützt und ließ die grauen, schlau blickenden Augen abwechselnd auf den beiden Ersteren ruhen.

„Wenn ich so bestimmte Angaben machen könnte, würde ich Dich nicht erst fragen lassen,“ erwiderte der Angeredete; „es ist Vieles anders geworden, Hugo, seit Du zum letzten Male in Deines Vaters Hause warst, aber die Aenderung läßt sich nur fühlen, ohne daß sie von den äußeren Erscheinungen viel berührt hätte. Der alte Herr sitzt noch gerade wie früher an dem funfzigjährigen Schreibepulte in seinem Arbeitszimmer, Alles selbst einsehend und decretirend, und der alte Mangold trägt die verschiedenen Ordres in derselben dienstlichen Haltung wie immer nach den Büreaux, wie nach der Familienwohnung –“

„Hat einmal aus Versehen einen Ladestock verschluckt, ist aber sonst ein ausgezeichneter Alter!“ warf der Zuhörer neben dem Schreibtische halblaut dazwischen.

„Die Großmama ist nur ein klein wenig älter geworden,“ fuhr der Erstere fort, „strickt indessen noch immer Strümpfe für die Mädchen, obgleich das Hundert für jedes längst voll ist, und sonnt sich an dem Fenster nach dem Garten hinaus, und Deine Schwestern walten im Hause wie früher, Muster von Wirthinnen und echte Damen zu gleicher Zeit – im Aeußeren ist Alles wie sonst, aber es herrscht ein anderer Ton im Hause, Hugo! Wo ich sonst als Dein Freund und Schulcamerad zwanglosen Zutritt hatte, da begegnet mir jetzt ein Etwas, das ich kaum recht mit Worten ausdrücken könnte. Die Dienstleute scheinen Ordre zu haben, die Form wie bei jedem Fremden gegen mich zu beobachten; Dein Vater, wenn ich ihn im Familienkreise treffe, nimmt einen kalthöflichen Ton an; die Großmama wird augenscheinlich ängstlich, wenn ich mich in gewohnter Weise zu ihr setze, scheint ihr freundliches, liebes Herz nicht unterdrücken zu können und sich doch zu fürchten, auf ein vertrauliches Gespräch mit mir einzugehen; Helene ist blässer, als ich sie jemals gekannt, und verschwindet in der Regel, sobald ich mich zeige, und Marie ist die Einzige, welche es zu wagen scheint, sich meiner anzunehmen. Aber es ist ein eigenthümlicher Ernst, mit welchem sie mich behandelt, und sie vermeidet es sichtlich, mit mir allein zu sein, als fürchte sie die Forderung einer Erklärung. Der frühere Umgangskreis ist auch theilweise ein anderer geworden – da ist ein Schuldirector Meßner, der rasch Carriere machen muß, denn er ist ein noch junger Mann; dieser scheint völlig Hausfreund geworden zu sein und es besonders der alten Dame angethan zu haben. Ich habe oft gestrebt, das Eis durch ein Gespräch über Dich zu durchbrechen, und hier war allerdings der einzige Punkt, dessen Berührung Deinen Vater zu einer längern Aussprache vermochte, aber es war niemals eine freundliche. Du lebst ihm zu viel in Gesellschaften, welche Dir unnöthige Depensen auflegen, Du gehst ihm mit Deinen modernen Anschauungen von Welt und Dingen weiter, als es mit geordneten Zuständen verträglich sei; Du treibst ihm überhaupt zu viel wissenschaftliche Allotria, anstatt Dich nur um Dein Assessor-Examen zu kümmern, und seit Du über Dein mütterliches Vermögen verfügen kannst, scheint er an ein absichtliches Lostrennen Deiner Interessen von denen der Familie zu glauben –“

„Und die Großmutter, Fritz – hast Du diese niemals ein Wort zu meinen Gunsten sagen hören?“ unterbrach ihn Hugo Zedwitz, der mit unverwandter Aufmerksamkeit den Worten des Freundes gefolgt war; „die Mädchen mögen es nicht wagen, ich kenne das, aber die alte Frau hat immer ihren Einfluß auf den Vater zu bewahren gewußt und sie hat mich lieb –!“

Der Angeredete schüttelte langsam den Kopf. „Es ist etwas Fremdes in Euere Familie getreten,“ erwiderte er, „das den frühern Geist darin zersetzt hat, über das ich mich aber, der jetzt außerhalb des Kreises gestellt ist, nicht weiter aussprechen mag –“

Hugo trat rasch einen Schritt auf den Redenden zu. „Es gab einmal eine Neigung zwischen Dir und der Helene, Fritz,“ sagte er die Augen zusammenziehend, als habe sich ihm ein leitender Gedanke geboten; „ist irgend etwas für des Mädchens Zukunft im Werke, dem Du im Wege bist? Dann könnte allerdings auch meine Freundschaft für Dich zur neuen Sünde für mich gemacht werden!“

Der Andere war roth wie ein Mädchen geworden. „Laß das aus dem Spiele,“ sagte er, den Blick senkend, „ich bin nur Kaufmann, der keine andere Carriere machen wird, als sie meines Vaters Geschäft bietet, und so würde ich für Deinen Vater am wenigsten ein so großes Hinderniß für einen seiner Pläne bieten, daß er Dir unsere Cameradschaft entgelten ließe. Wenn ich von mir sprach, so geschah es eben nur, um Dir ein Bild von dem veränderten Tone in Euerem Hause zu geben, der sich Dir in der scharfen Beurtheilung Deines Lebens und Thuns gezeigt hat – auch Deine Schweizer Reise wird eine Extravaganz genannt, und selbst die Großmama mag darin nicht Deine Partie nehmen –“

„Und nun möchte ich auch einmal ein Wort sagen,“ begann jetzt der Dritte, sich rasch aufsetzend. „Wenn mein Vater auch nur der Büreau-Diener Mangold ist und ich vom arbeitslosen Tischler aus purer Gnade zum Hausknecht und Factotum des Herrn Referendars avancirt worden bin –“

„Sei kein Esel, Heinrich!“ unterbrach ihn Hugo.

„Danke schön, habe aber schon eine ganze Sammlung von dergleichen Ehrenzeichen!“ nickte der Tischler gleichmüthig. „Also, wenn ich auch, und so weiter, so sind wir doch alle Drei aus einer Stadt und Schulkameraden, und ich gehöre wenigstens hier in Berlin zur Familie. Fritz Römer, wie er hier sitzt, dreht noch immer den Kopf weg, wenn er Andere auf den Kirschbaum steigen sieht, und wischt sich lüstern den Mund, wenn nichts mehr zu holen ist. Wo es so eine Großmutter giebt – Gott segne sie! sie hat mir manches Butterbrod und manchen Dreier zugesteckt! – da sollte mir Niemand in’s warme Nest kommen, das mir offen wäre. Nebenbei freilich gehört für hartes Holz ein scharfes Stemmeisen, und so ein alter Herr mit starrem Kopfe kümmert sich wenig um das, was immer bescheiden vor seinem Tritte ausweicht. Es ist doch gar kein so großer Unterschied zwischen einer Geheimrathsstelle und einem gehörigen Kaufmannsgeschäfte! – Das ist indessen eine Sache, die mich nichts angeht,“ unterbrach er sich, als Römer sich unbehaglich zu bewegen begann. „Wenn aber der alte Haken zwischen Vater und Sohn jetzt immer schärfer wird, ohne daß etwas Unrechtes geschehen ist, so muß doch irgendwie ein heimlicher Schleifergeselle dahinter sitzen, dem ein richtiger Freund geschwind genug auf die Finger kommen müßte. Da ist nun die Schweizer Reise!“ fuhr er rasch fort, als der Kaufmann den Kopf wie zu einer Unterbrechung hob. „Wenn Du keine dummen Streiche machst und kein Geld von mir verlangst, so thue, was Du willst, Heinrich! sagte mein Vater, und anders könnte auch ein Geheimrath nicht sprechen, wenn ihm nicht ein besonderer Floh in’s Ohr gesetzt wäre. Von den moralischen Folgen dieser Reise, daß jetzt selbst die niedlichste Schürze keine Gnade mehr vor unseren Augen findet, daß es sich nur noch um Prinzessinnen handeln kann, wenn einmal das zweite Geschlecht in Frage kommen soll – davon läßt sich zu Hause Niemand etwas träumen –“

„Heinrich –!“

„Sei kein Esel! weiß schon! Ich habe aber doch erst vorgestern mit eigenen Augen gesehen,“ wandte er sich wieder an Römer, „daß er wie vom Schlage getroffen in eine königliche Equipage hineinstarrte, mir in den Rockkragen fuhr, als wäre der Schneidercredit etwas ganz Ordinäres, und weiß wie sein Hemdenkragen, sagte: „Das ist sie, oder ich bin toll!“ Und umsonst habe ich den Anzug für die heutige Soiree auch nicht zweimal putzen müssen! Nun ja, das geht mich wieder nichts an!“ fuhr er fort, als der Referendar mit einer Bewegung der Ungeduld seinen Gang wieder aufnahm, „bei einer so unschädlichen Lebensweise aber wäre es kaum zu verstehen, was dem alten Herrn im Kopf steckt, wenn nicht der besagte Schleifergeselle wäre, und ein rechter Freund würde dem trotz aller Bescheidenheit das Handwerk legen. Damit bin ich fertig!“

„Sieh, Fritz,“ begann jetzt Hugo vor dem Kaufmann stehen bleibend und schnitt damit sichtlich eine beabsichtigte Frage desselben ab, „es kann kaum ein Sohn seinen Vater mehr lieben, als ich den meinen, und mag auch in früherer Zeit durch meine Schuld manche Verstimmung zwischen uns geschaffen worden sein, so ist doch jetzt nirgends eine Ursache dafür vorhanden. Er kann nicht verlangen, daß ich in allen Dingen dieselben Anschauungen mit ihm theile, kann nicht so viel Unrecht in einzelnen Nebenstudien [340] finden, die ich zur Erholung vom Actenstaube treibe, und bei allen Narrheiten hat Heinrich Recht, daß sich in unserm Hause irgend ein fremder Einfluß zu meinem Schaden geltend machen muß. Du bist selbst verschüchtert worden; jetzt aber merke auf: Ich will Dein treuester Helfer in Bezug auf meine Schwester sein, wenn Du den Dingen zu Hause auf den Grund gehst, ohne Dich irre machen zu lassen – ich werde noch heute Nacht an das Mädchen schreiben, und Du magst morgen den Brief selbst mit Dir nehmen. Erst nur klar sehen, Fritz, und dann müßten die Umstände sehr sonderbarer Natur sein, wenn wir nicht mit vereinter Kraft uns Beiden helfen sollten – trotz der Eigenthümlichkeiten meines Vaters!“

Römer’s Gesicht hatte sich während der letzten Worte höher gefärbt, und mit einem kräftigen Drucke legte er seine Hand in die dargebotene des Freundes. „Ich gestehe Dir jetzt offen,“ sagte er, „daß ich meine Reise hierher zum Theil mit in der Hoffnung unternahm, mich Deinen Interessen in Bezug auf die Vorgänge in Eurem Hause anschließen zu können. Jetzt habe ich eine gewisse Berechtigung zum Handeln, und Du sollst bald genug von mir hören, verlaß Dich darauf!“

„Wenn nur der Kirschbaum nicht schon besetzt ist!“ brummte der Tischler.

„Nun aber die Schweizer Reise – was ist das mit der Prinzessin und der heutigen Soiree?“ fuhr der Erstere fort, als wolle er damit jeder weitern Bemerkung über seine eigenen Angelegenheiten vorbeugen.

„Eine von Heinrich’s Faseleien!“ versetzte der Referendar „Ich hatte eine flüchtige Begegnung in den Alpen und glaubte die Erscheinung hier wieder zu erblicken, das ist Alles!“

„Und von der Soiree halte ich Dich jedenfalls ab,“ sagte Römer sich erhebend, „Du hättest mir früher ein Wort davon sagen sollen!“

„Ich würde sie schon Deines Besuchs wegen ganz bei Seite lassen,“ erwiderte Jener, wie eine leichte Befangenheit niederkämpfend, „wenn es nicht eine Art Dienst wäre, der mich hinruft. Zu drei alten Damen den Vierten im Whist machen, oder eine unglückliche Sitzengebliebene von ihrem Stuhle erlösen, das sind die Beschäftigungen, zu denen unsereins gebraucht wird; aber sie geben den Eintritt in einen Gesellschaftskreis, durch den es doch nur möglich ist, sich einmal rasch vorwärts zu poussiren.“

„Vergiß nur in Deinem heutigen Dienste den Brief nicht, ich erwarte Dich morgen früh im Hotel!“ lächelte der Andere, sich zum Gehen anschickend; Hugo schien aber die neckende Beziehung in dem Tone des Sprechenden zu überhören und geleitete diesen mit einem Händedrucke vor die Thüre.

Als er zurückkehrte, machte er mit unmuthig zusammengezogenen Augen einen raschen Gang durch die Stube. „Heinrich –“ sagte er dann stehen bleibend.

„Ganz recht,“ rief der Angeredete, sich steif aufrecht stellend, „ich bin diesmal mit meinem Geschwätz ein wirklicher Esel gewesen; so geht es aber, wenn man seinem Factotum nur ein halbes Vertrauen schenkt. Ich habe erst gemerkt, daß ich der Wahrheit auf den Kopf geschlagen habe, als es schon zu spät war. Glaubst Du wirklich, sie heute zu treffen, und weißt Du jetzt, wer sie ist?““

„Hole mir eine Droschke!“ rief der Andere, den Schlafrock von sich werfend und nach der bereitliegenden Weste und weißen Atlasbinde greifend; aber erst nach einem forschenden Blicke in das sich wieder aufklärende Gesicht des Schulfreundes eilte der Tischler davon. –

Eine halbe Stunde darauf betrat der Referendar das von Equipagen belagerte Hotel des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten und schritt in einem Gefühle von seltsamer Beklemmung und ahnender Erwartung die mit Teppichen und Orangerien geschmückte Haupttreppe hinan, ohne fast die den gleichen Weg mit ihm verfolgende Menge in rauschender Seide, blitzenden Uniformen und geleckter Civiltracht zu beachten. Er war kein Neuling in der ihn umgebenden Gesellschaft. Den „Dienst“, von welchem er gegen den Freund gesprochen, gab es allerdings nur in kleineren Abendcirkeln der höhern Beamten seines eigenen Departements, dafür fand aber auch selten eine andere große Fete, wozu einzelne Auserwählte des jungen Beamtenstandes herangezogen wurden, statt, bei welcher er ohne Einladungskarte geblieben wäre, und er hatte jeder derselben gern als einer Auszeichnung genügt, welche er weniger seinen fachlichen Fähigkeiten, als seiner gesellschaftlichen und vielseitigen anderweiten Bildung verdankte. Heute aber begleiteten ihn andere Empfindungen zu der glänzenden Soiree. Zwei Tage waren es her, daß die Züge seiner Geretteten, welche er wie ein wundervolles, aber für immer geschwundenes Traumbild in sich getragen, sich verkörpert wieder vor seine Augen gestellt hatten. Nur eine rasche, flüchtige Erscheinung war es gewesen. Eine offene Hofequipage hatte seine Wohnung passirt, in welcher er, zum Ausgehen fertig, am Fenster gestanden, und unter den reichen Toiletten, welche das Innere des Wagens füllten, hatte sich plötzlich ihr Gesicht gehoben, so hell beleuchtet und bestimmt abgezeichnet, daß kaum ein Irrthum möglich gewesen wäre, wenn er ihre Züge auch jemals hätte verwechseln können. Ein stiller, fester Ernst hatte auf ihrer Stirn gestanden, und in beachtungsloser Gleichgültigkeit war ihr Auge über die begegnenden Menschen geglitten. Mit einem einzigen, vollen Blicke hatte Hugo das Bild erfaßt, ohne doch unter den sich plötzlich in ihm überstürzenden Gedanken einer Bewegung oder eines Lautes fähig zu sein, und erst als im nächsten Augenblicke der Tischler mit der Bürste an ihn herangetreten war, hatte sich seine Ueberraschung gegen diesen, dem er schon nach seiner Rückkunft eine Andeutung von seinem Abenteuer gegeben, Luft gemacht. Er war, ohne sich einer bestimmten Absicht bewußt zu sein, nach der Straße geeilt; als er aber den rasch dahin rollenden Wagen um die nächste Ecke biegen sah, ward ihm völlig klar, daß sie ohne einen besonders glücklichen Zufall wieder ebenso hoffnungslos für ihn verschwunden sei, als damals, wo er, ihrem Gebote folgend, sie von sich gelassen. Hatte er doch nicht eine Ahnung von ihrem Namen oder der Stellung ihrer Familie, so bedeutend beide ihrer jetzigen Erscheinung nach auch sein mochten. Da kam am nächsten Morgen die Karte für die ministerielle Soirée. Die meisten in der Stadt gegenwärtigen Ausländer von Distinction seien eingeladen, hieß es, auch der Hof werde erscheinen, und in Hugo’s Seele stand es plötzlich wie eine unfehlbare Gewißheit, daß er auch sie dort wiederfinden werde. Was er beabsichtigte, wenn sich seine Erwartungen wirklich erfüllen sollten, er, der bei Fêten in diesen Regionen mit Vielen seines Gleichen doch meist nur verurtheilt war „an der Wand zu stehen“, was er zu gewinnen gedachte, wenn es ihm auch wirklich gelang, sich ihr zu nähern, er, der bürgerliche Referendar einer vielleicht hochadeligen Lady gegenüber, die wohl nicht umsonst gesagt: „Namen bringen uns sofort unter den ganzen Zwang der Gesellschaft zurück!“ – das Alles wußte er nicht, dachte auch gar nicht einmal daran; alle seine Gedanken liefen nur in der Vorstellung des Augenblicks zusammen, wo er ihr wieder Auge in Auge gegenüberstehen werde.

[353] Er hatte unter der Zahl der mit ihm angelangten Gäste den großen Gesellschaftssaal betreten; noch lag über der Menge der bereits Anwesenden die eigenthümliche Ruhe, welche das Fehlen noch erwarteter hauptsächlicher Persönlichkeiten andeutet, und langsam wandelte er zwischen den Gruppen der Herren hin, mit scharfem Auge die glänzenden Reihen der Damen musternd, ohne indessen irgendwo seinen Blick gefesselt zu fühlen, und dann sich nach einem befreundeten Gesichte umsehend, that einen Blick in die anstoßenden, noch leeren Räume, und eben steuerte er durch die immer zahlreicher sich ansammelnde Menge einer Fensternische zu, von wo er den Wink eines näheren Bekannten aufgefangen, als eine allgemeine Bewegung sich in der Gesellschaft geltend machte und zugleich das halblaute Rauschen der Conversation in seiner Nähe verstummte. Er wußte, daß der Hof angelangt war, und unwillkürlich änderte er seine Richtung. Als er indessen, sich langsam durch die gebotenen Zwischenräume windend, sich der Mitte des Saales genähert, sah er, daß die Vordersten der Angekommenen schon nach ihren Sitzen geschritten waren; noch folgte aber ein voller Damenflor, begleitet von Cavalieren in den verschiedensten Hof- und Militair-Uniformen, und plötzlich blieb sein Auge in einer bestimmten Richtung haften, während die Farbe aus seinem Gesichte wich. Dort schritt sie, deren Erscheinen alle seine Gedanken entgegengeharrt, langsam zwischen den Uebrigen hin, so berückend schön in der duftigen Balltoilette, daß er die Hand gegen das Herz drücken mußte, welches für das plötzlich zuströmende Blut kaum Raum genug zu haben schien – so ernst und stolz aufgerichtet, als sei all die Entfaltung vornehmen Glanzes umher nur Gewöhnliches für sie. An ihrer Seite ging ein hoher Mann mit vollem dunklem Bart in ausländischer Uniform, sichtlich bemüht, ein angeknüpftes Gespräch fortzusetzen; kaum schien sie indessen seinen Worten zu horchen, und erst als in diesem Momente das Orchester einen rauschenden Satz begann, ging es wie ein neues Leben in ihren Zügen auf. Sie ließ den Blick aufmerksamer über ihre Umgebung schweifen, Hugo sah ihr Auge dem seinigen begegnen – aber achtlos glitt es weiter. Da, als sei ihr sein Blick erst zum Bewußtsein gekommen, kehrte der ihre plötzlich zurück, blieb in sichtlicher Ueberraschung an seinem Gesichte hängen, und ein flüchtiges Roth schoß in ihren Wangen auf. Mit den ersten Tönen der Musik indessen war eine neue Bewegung unter die Versammelten gekommen, zwischen ihm und den Letztangelangten fluthete die Menge der Gäste zusammen, ihm jede Möglichkeit für einen zweiten Blick raubend; aber in einer Empfindung, als hänge von der nächsten Minute der Verlust oder Gewinn seines ganzen Lebensglückes ab, durchbrach er die trennende Masse, kaum der nöthigsten Form zur Entschuldigung seiner Kometenbahn genügend, und fand sich in der nächsten Minute neben dem Begleiter des Mädchens, der soeben den Kopf tief nach ihr herabgebogen hatte, als benutze er das Geräusch der Musik, um ihr ein bedeutsames Wort zu sagen. Aber Hugo sah auch ihr Gesicht sich wie in verhaltener Ungeduld heben, sah in der nächsten Secunde, wie ihr Auge ihn entdeckt und sie mit auflebenden Zügen eine Bewegung machte, als wolle sie sich ihrem Begleiter entziehen und sich ihm selbst zuwenden, und nur dem innern Drange folgend, war er rasch an sie herangetreten, sie mit einem englischen: „Darf ich Sie begrüßen, Miß?“ anredend.

„Bleiben Sie neben mir, so lange es angeht,“ erwiderte sie, nach einem raschen Aufblick in sein Auge das ihre senkend, „ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, aber ich bin im Augenblicke glücklich darüber; es ist etwas Entsetzliches um diesen Zwang, jeder faden Rede Stand halten zu müssen.“

„Sie wissen, daß es nur Ihres Wortes für mein Handeln bedarf,“ versetzte er, seine Stimme dämpfend, eifrig, während die vertrauliche Art ihrer Begrüßung ihn wie ein Schauer von Glück durchrieselte, „aber,“ fuhr er zögernd fort, „wie nenne ich Sie auf diesem Boden der Förmlichkeit? Es ist ja noch nicht einmal das Erste und Nothwendigste in diesen Kreisen, eine Vorstellung, zwischen uns erfolgt; das einfache „Mylady“ mag über die erste Schwierigkeit helfen –“

Sie hob rasch den Kopf, und ein Zug voller Laune überflog ihr Gesicht. „Mylady?“ wiederholte sie. –

Da öffnete sich plötzlich ein freier Raum vor ihnen, in welchem die Vorangeschrittenen bereits ihre Sitze einnahmen – der Referendar zögerte mechanisch einen Augenblick, in diesen Kreis, den nur die Creme der Anwesenden zu bilden schien, einzutreten; da fühlte er seine Schulter berührt und aufblickend sah er in das zornig funkelnde Auge des frühern Begleiters seiner Wiedergefundenen.

„Wenn Sie ein Mann von Ehre sind, so folgen Sie mir!“ hörte er die gedämpfte französische Anrede, in welcher indessen eine Aufregung klang, die ganz dem begleitenden Blicke entsprach, und Hugo wußte sofort, um was es sich handeln würde. Aber es war eine fast freudige Empfindung, die ihn bei der Aufforderung überkam, eine Art Genugthuung, seine Stellung zu dem Mädchen sogleich vertreten zu können, und nur eine Secunde lang blickte er unsicher nach ihrem Gesichte umher. Schon sah er aber nur fremde Gestalten um sich und mit einem kurzen, bedeutsamen: „Ich bin bereit, Monsieur!“ richtete er sich zu seiner vollen Höhe [354] auf, um dem Andern nach dem Hauptausgange des Saales zu folgen.

Das geräumige Vorzimmer war nur von zwei Lackaien besetzt, und an einen derselben wandte sich der rasch Vorangeschrittene mit kurzer, leiser Ansprache. Der Diener schien indessen ungewiß zu sein, wie das an ihn gestellte Verlangen zu erfüllen, ließ einen unsichern Blick auf den zurückstehenden Referendar fallen, und erst nach einigen erneuten bestimmteren Worten des Sprechers drehte er sich einer Seitenthür zu, diese öffnend und durch ein hier befindliches Garderobezimmer nach einem hintern Raum voranschreitend, der augenblicklich nur dazu bestimmt schien, einzelne ans dem Wege gestellte Möbels und Decorationsgegenstände aufzunehmen. Nur ein einziges Licht brannte hier, einen trüben Schein über die hohen Wände und die umherstehenden Dinge verbreitend; der Mann in Uniform nickte indessen befriedigt und sandte den Lackai mit einer Handbewegung zurück; erst aber als er diesen das vordere Garderobezimmer verlassen sah, drückte er die Thür des betretenen Raumes zu.

Hugo hatte einige Schritte vorwärts gethan und stand mit leise zusammengezogenen Augen, seine stattliche Figur fest und hoch ausgerichtet, eine Anrede erwartend. Der Andere wandte sich jetzt rasch nach ihm um und warf einen kurzen, finstern Blick über seine ganze Erscheinung. „Ich bin der Graf Wasiliwitsch,“ sagte er dann in vornehm abgebrochener Weise, „der Ihre Karte wünscht oder eine genügende Erklärung für ein Benehmen, das kaum anders als absichtliche Beleidigung aufgefaßt werden kann.“

In Hugo’s Arme zuckte es bereits, dem ersteren Verlangen zu genügen; es paßte ganz zu seiner augenblicklichen Stimmung, einen scharfen Gang für das noch immer räthselhafte Wesen, das all sein Denken und Fühlen erobert, zu machen – da trat plötzlich ernüchternd und dämpfend der Gedanke an seinen Vater in seine Seele. Ein Duell um eines Mädchens willen, wie auch der Ausgang hätte sein mögen, wäre bei der streng bürgerlich soliden Denkungsweise des alten Beamten, wie die Verhältnisse bereits lagen, der Anlaß zu einem neuen, vielleicht unheilbaren Bruche geworden, und dagegen sträubte sich sein ganzes Herz. Sein Gegner hatte kaum ausgesprochen, als er auch schon mit seinem Entschlusse fertig war.

„Ich kann Ihnen nur erklären, Herr Graf,“ sagte er, ruhig und ernst den Kopf aufrichtend, „daß ich zu jeder Zeit dem Wunsche einer Dame, mich zu sprechen, genügen werde, daß nur eine gereizte Stimmung daraus eine Beleidigung für einen vielleicht weniger Bevorzugten bilden kann, und daß ich deshalb jetzt keinen Grund sehe, Ihnen in irgend einer Weise Genugthuung zu geben!“

Ein dunkles Roth stieg in das gebräunte Gesicht des Andern, und auf seiner Stirn begann eine geschlängelte Ader hervorzutreten. „Ah, Sie wollen mir keinerlei Art von Genugthuung geben, wirklich!“ sagte er, langsam den Kopf zurückbiegend. „Ich habe Ihnen als Theilnehmer der Gesellschaft die Ehre erzeigt, Sie auf gleichem Fuße zu behandeln – und Sie wollen mir keinerlei Art von Genugthuung geben! Eh bien, Monsieur" so werde ich mir diese Genugthuung selbst verschaffen!“ fuhr er fort, während sich ein böser Ausdruck um seinen Mund legte und er mit einem Zuge den Galanterie-Degen aus der Scheide riß, „ich werde Ihnen so lange die flache Klinge zu kosten geben, bis Sie knieend Abbitte für Ihr beeidigendes Benehmen leisten –“

Nur eine kurze Bewegung in den Schultern machte sich an Hugo’s Gestalt sichtbar; er war bleich geworden, aber sein Auge blickte voll und fest auf den Gegner. „Lassen Sie nur Zweierlei in Ihrem ungereimten Zorne nicht außer Acht,“ erwiderte er, mit Macht seine Erregung unterdrückend, „daß wir nicht auf Ihren russischen Gütern, sondern im Hotel eines preußischen Ministers sind – und daß außerdem Ihre Klinge einen andern Weg finden möchte, als den von Ihnen beabsichtigten –“

„Auf die Kniee!“ rief der Russe mit heiserer, gewaltsam gedämpfter Stimme, und der Degen schwirrte durch die Luft; mit einer schnellen Seitenbewegung aber hatte auch der Bedrohte die Klinge gepackt und suchte mit einer kräftigen Drehung sie der Hand des Angreifers zu entwinden; dieser indessen schien darauf vorbereitet gewesen zu sein und schlug einen so plötzlichen Kreis mit dem Arme, daß der festgehaltene Stahl das Handgelenk des Referendars zu zerbrechen drohte; von Neuem erhob sich die freigewordene Waffe, von Neuem und dichter am Griff als vorher fing sie der Angegriffene auf – da war, wie hingerissen von seiner Wuth, der Russe einen Schritt zur Seite getreten, verfing sich in einem der umherliegenden Gegenstände und stürzte; Hugo hatte instinctmäßig den Degen losgelassen, um nicht mit zu Boden gerissen zu werden, und im nächsten Momente sah er seinen Feind, die eigene Waffe in die Seite gestoßen, am Boden liegen. Einen unarticulirten Laut von sich gebend, hatte der Gestürzte mit beiden Händen nach der Verletzung gegriffen, dann aber schien er plötzlich die Besinnung zu verlieren.

Ein Schrecken so jäh und gewaltig hatte bei der plötzlichen Katastrophe den jungen Mann durchzuckt, daß er zwei Secunden lang wie völlig erstarrt auf den Gefallenen blickte, dann aber trat eben so jäh die Lage, in welche er gerathen, mit einer entsetzlichen Klarheit vor seine Seele. Was der Degenspitze ihre verhängnißvolle Richtung gegeben, ob seine eigene Hand oder die unwillkürliche Bewegung des Verletzten, konnte wohl niemals entschieden werden; Thatsache aber blieb es, daß der vornehme Ausländer in einem zeugenlosen Streit mit ihm gefallen war, gefallen im Hause eines preußischen Ministers, und völlig fest stand es, daß er selbst in seiner niedern Stellung am wenigsten geschont werden würde, um den Vergeltungsforderungen der russischen Gesandtschaft genug zu thun, daß alle Angaben, die er zu machen vermöge, kaum eines Quentchens Schwere zu seinem Vortheil wirken konnten. Alles das aber war in Secundenschnelle in seinem Gehirn aufgeschossen, und schon hatte er sich auch mit bebendem Herzen niedergebogen, um, dem ersten Drange folgend, die Degenspitze aus der Wunde des Daliegenden zu ziehen. Im Nu quoll das Blut durch die reiche Uniform hervor, zugleich aber öffnete auch der Verwundete die Augen. „Schaffen Sie Hülfe, schnell!“ stöhnte er und verlor dann sichtlich von Neuem die Besinnung.

Eine Viertelminute stand Hugo starr aufgerichtet, mit Macht seine Besonnenheit zusammenraffend; ans dem Saale klang die Musik herüber, ihm seine Lage in ihrer vollen Schärfe zum Bewußtsein bringend; dann raffte er hastig den ihm entfallenen Hut auf und schritt, seinem Gesichte die möglichste Fassung gebend, nach dem Vorzimmer.

„Der Graf Wasiliwitsch wünscht Sie rasch zu sprechen! “ wandte er sich an den ersten ihm entgegentretenden Lackai. „Lassen Sie ihn nicht warten!“ setzte er, sich zu voller Ruhe und Bestimmtheit zwingend, hinzu, als der Diener, wie erschreckt von dem Ausdrucke seines Gesichts, aufblickte. Dann nickte er leicht und wandte sich nach dem Ausgange – als er indessen die Thür öffnete, meinte er jeden seiner Nerven unter der Sorge, daß ihm hier noch irgend ein Umstand den freien Weg verlegen möge, beben zu fühlen, und erst als er das Geländer der Haupttreppe in der Hand hielt, als er, sich frei seinem Seelenzustande überlassend, flüchtigen Fußes die leeren geschmückten Räume hinabeilte, begann der fast erstickende Druck der letzten Augenblicke von ihm zu weichen.

Er hatte das Halbdunkel der erleuchteten Straße erreicht und war, noch keines rechten Gedankens mächtig, mechanisch in der Richtung seiner Wohnung vorwärts geeilt, als er, wie plötzlich zu sich selbst kommend, seinen Schritt anhielt. Ohne bestimmten Entschluß, nur halb instinctmäßig, war er der ersten Entdeckung des Unglücks ausgewichen. Viele aber, die ihn kennen mochten, hatten ihn mit dem Grafen den Saal verlassen sehen, und wenn jetzt sein Name als Urheber der That genannt wurde, so war seine Wohnung der sicherste Ort, um dem kaum vermiedenen Schicksale einer Verhaftung zu verfallen. Eine kurze Weile wollte es ihm überhaupt scheinen, als sei eine Flucht der falscheste Weg gewesen, um seine Zukunft zu retten; als ihm aber die Störung, welche der Vorfall auf die Festlichkeit ausüben mußte, der Rang des Russen und das dadurch hervorgerufene Aufsehen vor die Seele trat, fühlte er, wie wenig bei den obwaltenden Umständen seine ganze Unschuld im Stande gewesen wäre, ihn vor dem hereinbrechenden Sturme zu schützen. Es war besser so – nach Hause aber durfte er jetzt nicht! In kurzem Entschlusse bog er um die nächste Ecke und wandte sich der „Königsstadt“ zu, wo in einem der mittleren Hotels Fritz Römer sein kurzes Quartier genommen hatte. In dem allgemeinen Gastzimmer war noch Licht, als er das Haus erreichte, und der erste Blick durch die geöffnete Thür ließ ihn zu seiner Erleichterung den Freund unter den übrigen Gästen entdecken. Ueberrascht erhob sich dieser bei seiner Näherung, that aber dann in sichtlicher Betroffenheit über den Gesichtsausdruck des Eingetretenen die Augen groß und ängstlich auf.

„Komm nach Deinem Zimmer!“ raunte ihm Hugo, jeder Frage zuvorkommend, zu und wandte sich wieder nach der Vorhalle. [355] Nach kaum einer halben Minute war der Freund mit dem voranleuchtenden Kellner bei ihm, ihn wortlos die Treppe nach dem obern Stock hinauf leitend; als sie aber allein in dem Zimmer des Kaufmanns standen, faßte dieser beide Schultern des Angekommenen und fragte hastig: „Was ist es, Hugo? Dir ist ein Unglück passirt!“

„Ein Unglück, ein wirkliches Unglück, so ist es! – aber ich darf mich jetzt nicht mit Erklärungen aufhalten!“ nickte der Referendar finster und machte, die Hand gegen die Stirn gedrückt, einen raschen Gang durch das Zimmer. „Du bist ein treuer Freund, Fritz, ich weiß es,“ fuhr er dann, plötzlich vor dem Andern stehen bleibend, fort, „und so wirst Du rasch und ohne zu fragen thun, was ich Dir sagen werde. Treibe noch eine Droschke auf und fahre nach meiner Wohnung. Sollte sich dort irgend etwas Ungewöhnliches ereignet haben, so – merke wohl auf – so weißt Du nichts von meinem Aufenthalte! Im andern Falle sage Heinrich, daß er von meinen Kleidungsstücken und meiner Wäsche zusammenrafft, was sich auf einmal fortbringen läßt, und dann kommt Beide mit meinen Habseligkeiten hierher. – Jetzt rasch!“ schloß er, als ihn Römer mit starren Augen ansah, als stehe er vor einem schrecklichen, unbegreiflichen Räthsel, „es kann auf einige Minuten viel ankommen, und sobald Du zurück bist, erfährst Du Alles!“

Noch einen Blick senkte der Kaufmann in die erregten Augen des Schulfreundes, als wolle er sich eine letzte Ueberzeugung schaffen, daß Alles auch wirklich so sei, wie er gehört; dann griff er wortlos nach seinem Hute und verließ eilig das Zimmer.

Der Referendar warf sich auf das Sopha und versuchte seine Gedanken zu ordnen, aber ein vor ihm aufsteigendes Bild verdrängte alle übrigen Vorstellungen – das Gesicht seines Vaters, und es ließ ihn nicht in seiner Stellung, er mußte aufspringen und einen ruhelosen Gang durch das Zimmer beginnen. Es war in diesem Augenblicke kein Bangen um seine Zukunft, das ihn bewegte, aber es that ihm weh bis tief in’s Herz hinein, daß die Lage, in die er gerathen war, einen breitern Riß als je in dem Verhältnisse des Vaters zum Sohne schaffen werde. Was er sich auch selbst zu seiner Rechtfertigung anführen mochte, – er wußte, daß es bei der unverrückbaren Anschauungsweise des alten Mannes wirkungslos bleiben würde. War ihm doch schon die Vorliebe für aristokratische Kreise, ihm, dem nichts als die langsame, mühevolle Beamten-Carriere in Aussicht stand, den nur strenger Fleiß und fachliche Tüchtigkeit vorwärts zu bringen vermochten, zum Vorwurf geworden; mußten doch seine Nebenstudien, die er zu seiner allgemeinen Bildung und eigenen Befriedigung trieb, Allotria sein, die ihn von seinem rechten Ziele abwandten. Und was ihm jetzt begegnet, hätte allerdings keinen zufrieden „in seinem Joche ziehenden“ jungen Mann treffen können. Er sah schon den eigenthümlich starren Zug, der immer einen unwiderruflichen Entschluß ankündigte, sich um den Mund seines Vaters legen; als aber die Züge des Letzteren vor ihn traten, so lebendig, daß er sie in Wirklichkeit vor sich zu sehen meinte, da faßte ihn plötzlich die ganze in ihm wohnende Liebe für den alten, strengen Mann, der ihm oft verdientermaßen die rauhe Seite gezeigt, aber auch jedes Opfers für ihn fähig gewesen war, und es wurde ihm, als sei es unmöglich, daß er sich nicht den Weg zu seinem Herzen bahnen und wenigstens bei ihm Gerechtigkeit finden werde. Was im Uebrigen sich aus dem verhängnißvollen Abend für ihn entwickeln werde, daran dachte er jetzt kaum.

Langsam ließ er sich wieder aus das Sopha nieder, und jetzt tauchten die dunkeln, stolzen Augen, um deren willen er hier als Flüchtiger saß, in ihm auf. Er schüttelte leise den Kopf. „Vorbei, vorbei!“ murmelte er, „Ikaros, der aus der Gefangenschaft zur Sonne flog und in den Abgrund stürzte!“ und es war ein langer, schwerer Athemzug, welcher den Worten folgte.

Fast eine Stunde mochte dem Wartenden, bald im unwillkürlichen Verfolgen seiner innern Bilder, bald im ruhelosen Gange durch das Zimmer verstrichen sein, als endlich das Gerassel eines nahenden Wagens zu seinem Ohre drang. Gespannt horchte er; schon meinte er, das Geräusch sich wieder entfernen zu hören, und die verschiedensten Möglichkeiten, die den Freund an der Ausführung seines Auftrags hindern konnten, durchschossen sein Gehirn – da hielt der Wagen, und zugleich klang auch ein lachendes Wort des Tischlers herauf, als habe ihm dieser damit die Pein der Erwartung sparen wollen – noch waren also keine Verfolger auf seiner Fährte! Wenige Minuten waren auch nur vergangen, als sich die Thür öffnete und unter dem Vortritt des Hausknechtes sich ein umfangreicher Koffer hereinschob, dem die Gesichter der beiden Schulfreunde mit dem Ausdrucke eines befriedigend vollbrachten Geschäfts folgten.

„Alles klar und zu Hause keine Spur von etwas Unrechtem!“ meldete Heinrich, sobald der Diener sich entfernt, in steifer Haltung an den Referendar herantretend; „übrigens ist pünktliche Miethezahlung ein wahrer Segen, denn ich hätte mein Lebtag nicht mit einem solchen Koffer bei nächtlicher Weile ausrücken dürfen. – Bin noch nicht zu Ende!“ unterbrach er eine Bewegung des Angeredeten. „Der Soldat soll immer beobachten! war unsers Unterofficiers Wort bei jeder Felddienstübung, und so habe ich den Droschkenkutscher einen Umweg nach den Linden machen lassen, wo heute die Soirée war. Es scheint bereits allgemeiner Aufbruch dort zu sein, und wir hatten die Ehre, mit einer Hofequipage den ganzen Weg nach dem Schlosse zusammen zu machen –!“

„Um Gotteswillen, laß die Späße, es ist jetzt die schlimmste Zeit dafür!“ rief Hugo, sich mit der Hand in die zerstörte Frisur fahrend. „Es ist ein Mensch, ein reicher, hochgestellter Mann bei der Soiree erstochen worden, und ich werde der Thäter sein müssen – da habt Ihr Alles!“ Er ging rasch nach der Thür, öffnete sie und blickte hinaus, ohne weder des eigenthümlichen Gesichtsausdrucks Römer’s, der zwischen plötzlichem Entsetzen und gezwungenem Unglauben zu schwanken schien, noch des rasch gehobenen, aufmerksamen Blickes des Tischlers zu achten. „Die Sache ist, daß ich völlig unschuldig bin und dennoch werde büßen müssen!“ fuhr er fort, einen raschen Gang durch das Zimmer beginnend, und in kurzen abgestoßenen Sätzen theilte er jetzt den Freunden den hauptsächlichsten Hergang des Ereignisses mit. „Ich frage Euch nicht, was ich thun soll,“ setzte er dann stehen bleibend hinzu, „denn Ihr vermögt kaum die zu meinem Unglück einwirkenden Verhältnisse richtig zu beurtheilen, aber Ihr müßt meinen Entschluß wissen, um mich in der Ausführung zu unterstützen. Du, Fritz, verwahrst meine Sachen und nimmst sie bei Deiner Abreise morgen mit Dir. Ich werde mich hier nur umkleiden und dann die Nacht benutzen, um zu Fuß nach einer entfernten Eisenbahnstation zu gelangen, wo ich mit Dir zusammentreffen werde. Dann giebst Du mir in Deinem Hause so lange Quartier, bis ich mit meinem Vater auf irgend eine Weise ein Verständniß angebahnt habe, denn ich kann ohne ihn mich zu keinem entscheidenden Schritte entschließen. Du, Heinrich, bleibst ruhig in meinem Logis, sagst Allen, die nach mir fragen, daß ich verreist sei, und meldest mir jeden Tag unter Römer’s Adresse, was sich ereignet hat.“

„Rechne auf mich, so weit ich nur etwas thun kann!“ erwiderte der Kaufmann, ihm mit einer Miene, welche die ganze Bedeutung der Umstände würdigte, die Hand entgegenstreckend; „und für alle Fälle nimm meine Paßkarte mit Dir, bis wir wieder zusammentreffen.“

Der Tischler aber rieb sich mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen die Nase. „Wenn da nicht geradezu ein Barbiergeselle, der alle Dinge eher weiß, als Andere, dazwischen gewesen ist, so sehe ich noch gar nichts so Gefährliches,“ sagte er. „Das Fräulein wird sich gehütet haben, zu reden; ist der Mann todt, so konnte er nicht mehr sprechen, sonst aber hätte er die richtige Wahrheit bezeugen müssen, und zum Appell werden sie ja wohl die Gäste nicht haben antreten lassen –“

Hugo machte eine ungeduldige Bewegung. „Laß das, Heinrich,“ versetzte er, „entweder muß ich fort oder mich morgen selbst stellen, ein Drittes kann es nicht für mich geben, und ich habe keine Lust, mich selbst einer Verhaftung auszusetzen, deren Ende sich bei den Verhältnissen nicht absehen läßt. Um Deines guten Glaubens willen aber magst Du mich auf dem Büreau krank melden, dann wird sich ja das Uebrige schnell genug zeigen!“

Eine Stunde darauf hatte Hugo den Gasthof verlassen und wanderte in die Nacht hinein, sich seinen Weg auf dem Gleise der heimwärts führenden Eisenbahn suchend.




3. In einer deutschen Familie.

Die Frühsonne hatte einen leichten Nebel, welcher bereits die Annäherung des Herbstes verkündete, überwunden und blickte klar in die mit Weinlaub umrankten Fenster eines kleinen Zimmers, das mit seinen zwei schneeigen Betten und seiner übrigen, für Toilette wie Aufenthalt wohl versehenen Einrichtung Schlafcabinet [356] und Boudoir in Vereinigung darzustellen schien. Die einzelnen umherliegenden weiblichen Arbeiten, Tändeleien und eleganten Bücherbände aber gaben inmitten der herrschenden Ordnung und Sauberkeit dem Raume einen eigenthümlich wohlthuenden Charakter von Behaglichkeit.

Zwei Mädchen saßen unweit des Fensters; das eine, anscheinend ältere, mit dunkeln, scharf sinnenden Augen in’s Freie blickend, während das zweite auf einem Bänkchen zu Füßen der Gefährtin Platz genommen, ihre beiden Arme auf deren Kniee gelegt hatte und mit einem halb ängstlichen Ausdruck in dem milden, lichtbraunen Auge zu dem Gesichte der Ersteren aufsah.

„Ich wage es, Helene,“ sagte diese jetzt, wie in einem raschen, festen Entschlusse zurückblickend; „was kann er Anderes thun, als mich zurückweisen und schlimmsten Falls zur Thür hinausführen? Ich muß reden, denn Du vermagst nichts, als wie die selige Mutter zu dulden und zu schweigen, die Großmutter aber ist noch nicht unterrichtet, und wenn sie auch Alles wüßte, zweifele ich doch noch, daß sie etwas thun würde; sie scheint den eigenen Enkel ans dem Herzen gestoßen und dafür den Schuldirector hinein genommen zu haben, – Hugo hat jetzt kaum einen andern Wortführer als mich! – Es wäre vielleicht Manches anders,“ fuhr sie dann mit einem leichten Zuge des Unmuths fort, „wenn Römer bisher nur die Hälfte des Muthes gehabt, den er jetzt zeigt, und seinen Besuchen einen bestimmten Charakter gegeben hätte; damals hätte er ein stets versöhnendes Element zwischen Hugo und dem Vater werden können – jetzt ist es für Alles, was er auch unternehmen möchte, zu spät!“

„Aber was hätte er denn thun sollen?“ erwiderte Helene, plötzlich den feinen Rücken gerade aufrichtend, während ein dunkler Strahl in ihr Auge schoß – da traf ein eigenthümlich forschender Blick der Schwester den ihren, und ein helles Roth breitete sich über die feinen Züge der Fragenden. „Es ist nichts von dem, was Du meinst,“ sagte sie, mit leisem Kopfschütteln die Augen senkend, „sonst wüßtest Du es. Der Vater hat mich einmal gefragt, ob irgend ein Verständniß zwischen mir und Römer existire; er that es damals so plötzlich, daß ich in dem unwillkürlichen Schrecken blaß geworden sein muß; aber ich konnte ihm nur mit Nein antworten, und das,“ hob sie die Augen, in denen eine unterdrückte Empfindung zu zittern schien, „ist auch noch heute die Wahrheit, Marie! Nachher hat der Vater einmal in Römer’s Gegenwart gesagt, es sei gegen seine Natur, ein Vertrauen zu den Verhältnissen von Spekulanten zu fassen; dazu aber gehöre eigentlich jeder Kaufmann, der auf Chancen hoffe und über das einfach solide Geschäft hinausgehe. Und ich sah es Römer an, daß er die Worte nur seinethalben gesagt glaubte – was hätte er denn thun sollen, um für Hugo zu wirken?“

Ueber der Andern Gesicht glitt rasch ein Ausdruck von Sorge. „Bin ich denn mehr als drei Jahre älter als Du? und doch scheine ich im ganzen Hause die allein Sehende zu sein,“ sagte sie und schob sanft die Hände der Schwester von ihrem Schooße. „Du und Römer spielt noch zusammen die verschämte Schulneigung, die jedem bestimmten Worte ausweicht; aber sage mir doch: willst Du dabei zuletzt den süßen Schuldirector heirathen?“

„Aber Marie, wie bist Du denn?“ fuhr die Jüngere auf, während es wie ein innerer Schrecken in ihren Blick trat.

„Gut, so sieh klar um Dich und wirf die kindliche Harmlosigkeit von Dir; sie thut es nicht in unsern Verhältnissen!“ erwiderte Marie, das dunkle Auge groß und ernst in das Gesicht der Schwester richtend. „Glaubst Du denn, der Mann sitze stundenlang bei der Großmutter, um der alten Frau willen? oder er verkehre meinetwegen im Hause, die er kennt und der er trotz seines süßen Lächelns gern so weit aus dem Wege geht, als er kann? oder er lasse sich zu des Vaters Meinungen bekehren, weil er von diesem lernen wolle? Sieh um Dich, Helene, daß Du mit Dir und Deinem Herzen klar wirst, ehe einmal der Vater seinen bestimmten Willen ausspricht und Du Dich vergebens zur Großmutter flüchtest. Und jetzt will ich gehen,“ setzte sie, sich rasch erhebend, hinzu, „und Gott gebe nur, daß ich komme, ehe sein Entschluß zur vollen Reife gediehen ist!“

„Ich gehe mit Dir!“ rief Helene, sich langsam aufrichtend, und in dem milden Auge glänzte es wie eine plötzlich gewonnene Sicherheit, „er soll uns Beide zur Thür hinausführen, wenn er hart bleiben will; um Hugo’s willen kann ich wohl mehr als dulden und schweigen!“

Marie hatte einen überraschten Blick nach ihr gewandt; dann nickte sie leicht wie in Beantwortung eines eigenen Gedankens, küßte das Mädchen auf die Stirn und sagte: „Komm!“

Sie schritten zur Thür in den breiten Corridor hinaus, welcher den ersten Stock des weitläufigen Gebäudes durchschnitt. Hier war die Privatwohnung des Geheimeraths Zedwitz, – das Parterre und ein Theil des Hintergebäudes nahmen die amtlichen Büreaux der verschiedenen Abtheilungen ein. Nur durch das leichte Rauschen der Gewänder hörbar durchwanderten die Mädchen wortlos den langen Gang; Marie, den Kopf mit dem glänzenden, dunkeln Haare muthig aufgerichtet, während dennoch ein leichter Zug von Trauer um den frischen Mund lag; Helene, fast einen halben Kopf kleiner als ihre Begleiterin, das blondumrahmte Gesicht leicht zur Seite gebogen, fast wie das junge Reh, das seinen ersten kecken Schritt thut – Beide schlank wie junge Tannen, die feinen Taillen knapp von den einfachen, aber tadellos saubern Hauskleidern umschlossen. Am Ende der Zimmerreihe war der Eingang nach dem Arbeitscabinet des Geheimeraths, durch ein Vorzimmer von dem Corridor getrennt, und an diesem öffnete Marie vorsichtig die Thür.

Von einem seitwärts stehenden, mit Papieren bedeckten Tische erhob sich eine lange, derbknochige Gestalt und richtete sich beim Erkennen der Eintretenden respectvoll auf. Der lange graue Schnurrbart, die breite Glatze und die tiefen Falten des Gesichts deuteten auf ein schon vorgerücktes Alter, aber die lebendigen Augen unter den weißen buschigen Brauen verriethen eine noch ungeschwächte innere Frische.

„Haben Sie den Vater schon gesprochen, Mangold?“ fragte Marie, vorsichtig ihren Ton dämpfend.

„Er hat noch nicht geklingelt,“ erwiderte der Angeredete halblaut und zog in vertraulicher Weise den Kopf in die Schultern; „aber es ist schon eine Stunde, daß er drin herumwandert und dazwischen sich zeitweise an das Schreibepult setzt – ich höre dann den Drehstuhl knarren. Sie kommen wegen –?“ setzte er zögernd und mit einem plötzlichen Ausdrucke von Sorge hinzu, während er einen Blick des Verständnisses mit dem Mädchen austauschte; „ich denke, Fräulein, Sie kommen nicht eine Minute zu früh, wie ich die Luft hier kenne – sie ist mir noch nicht wieder so schwül vorgekommen, seit damals, ehe die gnädige Mama starb!“

Ein eigenthümlicher, fast starrer Zug legte sich bei den letzten Worten des Alten zwischen Mariens Augen. „Komm!“ sagte sie, die Hand der Schwester erfassend, und schritt mit dieser der vor ihr liegenden Thür zu.

Der Geheimerath stand, die Hände auf dem Rücken zusammengeschlagen, mitten in dem geräumigen Arbeitscabinet, das wenig mehr als die gewöhnlichsten Bequemlichkeiten zeigte, das Gesicht dem Fenster zugerichtet, und wandte sich beim Geräusch der geöffneten Thür rasch und unwillig um. Der Mann war kaum von Mittelgröße und nur wenig corpulent; aber es lag in diesem graublauen Auge, auf der breiten, nur von dünnem Haar beschatteten Stirn und in den bestimmt ausgeprägten Zügen eine innere Sicherheit, die beim ersten Blicke Respect erzwang. Beim Anblick der Eintretenden bog er leicht den Oberkörper zurück, während es wie eine unangenehme Erwartung über seine Stirn ging. Marie aber begegnete voll dem auf sie gerichteten Auge und trat leichten Schrittes auf ihn zu.

„Wir haben Dir einen guten Morgen sagen und daneben ein herzliches, freundliches Wort mit Dir reden wollen, Vater!“ begann sie mit einem leisen Beben nervöser Erregung in ihrer Stimme.

„Wir wissen, daß Hugo in der Stadt ist und Dich um ein Gespräch gebeten hat; wir wissen aber auch, daß Du vorher schon ungehalten auf ihn warst, und fürchten, daß Du ihn jetzt um so mehr kurz abweisen möchtest. Nun bitten wir Dich von Herzen, Vater – wenn die Mutter noch lebte, würde sie es thun, so aber hat er doch nur uns – sprich mit ihm, Vater, er glaubt sich vor Dir rechtfertigen zu können, und dem ärgsten Verbrecher, was er doch nicht ist, wird ja ein Gehör nicht verweigert!“

[369] Der Geheimerath hatte sie ohne eine Bewegung angehört. „Ich werde das nicht thun, Kind,“ sagte er jetzt – nicht barsch, nicht kalt abstoßend, aber mit der Ruhe eines unbeugsamen Entschlusses; „und damit Du mich nicht für unnöthig hart hältst, werde ich Dir sagen, weshalb. Der junge Mensch hat kein Herz, weder für seinen Vater, noch für die Ehre des Namens, den er mit uns trägt. Daß die künstliche Stellung, welche ihm seine Eitelkeit über seinem wirklichen Boden geschaffen, einmal mit Schrecken zusammenbrechen werde, wie alles Unnatürliche, habe ich längst gewußt; habe auch gewußt, daß seine Neigung, sich allem Neuen und Modernen auf Kosten einer soliden, geprüften Basis zuzuwenden, einmal das Unglück seines Lebens werden müsse. Ich habe es wahrlich nicht daran fehlen lassen, seinen Blick zu klären, und ich hoffte wenigstens eine Zeitlang, daß, wenn nicht seine bessere Erkenntniß, so doch die Rücksicht und Achtung gegen mich ein Zügel für seine Neigungen sein werde. Er hat mir längst diese Hoffnung geraubt, und was jetzt meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt hat, ist nur eine Folge seines Mangels an Pietät und wahrem Herzen. Wo diese aber fehlen, ist jede neue Hoffnung eine Schwäche. Jetzt wird unser Name, auf dem noch nicht ein Flecken haftet, in den Untersuchungen des Criminalgerichts paradiren und in den Zeitungen durch das Land getragen werden; der ehrenhafte Vater wird unter kühlem Mitleid die Begleitung abgeben müssen, und jeder ungerathene Mensch, gegen den ich ein Wort verlieren möchte, hat das Recht, mir den eigenen Sohn vor die Augen zu halten. Ich werde das ertragen, wie ich schon Schlimmeres erduldet, aber er soll mir wenigstens nicht vor die Augen kommen. Und damit genug, Kinder, jedes weitere Wort ist verschwendet!“ Er drehte sich mit einem kurzen Kopfneigen wieder dem Fenster zu.

„Aber Vater –!“ begann Marie von Neuem, und in ihrem Tone bebte das ganze Drängen ihrer Empfindung; der rasch zurückgewandte Blick des Geheimraths indessen schnitt ihre weiteren Worte ab. „Es ist genug, Kinder!“ wiederholte er, jedes Wort betonend, und schritt dann mit starken Tritten nach seinem Schreibepult; die Zurückgewiesene aber senkte mit einer dunklen Wolke auf ihrer Stirn den Kopf, faßte die Hand der Schwester, welche während der ganzen Scene mit großem unverwandtem Auge jede Veränderung in dem Gesichte des Vaters beobachtet zu haben schien, und verließ mit ihr das Zimmer.

Im Vorzimmer stand der alte Mangold, den gespannten Blick auf die Heraustretenden geheftet; Marie schüttelte nur trübe den Kopf und öffnete schweigend die Thür nach dem Corridor; als sich diese aber hinter den Mädchen geschlossen, hielt Helene plötzlich ihren Schritt an. „Sagte er denn das Alles nicht nur wegen sich selbst? War denn da etwas von Liebe für Hugo oder für uns darin?“ fragte sie.

„Sei glücklich, daß Du das jetzt erst fühlst!“ erwiderte die Aeltere mit leisem Nicken und schritt gesenkten Kopfes weiter. –

Unweit des Zimmers der Mädchen und von diesem nur durch das Schlafcabinet der im Hause lebenden Schwiegermutter des Geheimraths getrennt lag ein kleines Empfangzimmer, welches die alte Frau zu ihrem bequemsten und liebsten Aufenthalte gewählt, und dort saß sie auch jetzt in dem weichen Lehnstuhl am Fenster, während ihr gegenüber sich ein noch junger Mann in der leichten Nachlässigkeit eines Hausfreundes niedergelassen hatte.

„Ungezogen mögen Sie mich nennen, gnädige Frau, aber doch wirklich nicht sonderbar!“ sagte er soeben lebhaft, und der breite Mund verzog sich zu einem Lächeln süßer Verbindlichkeit; „ungezogen, daß ich der frühen Stunde nicht achte; aber sonderbar ist es doch in keiner Weise, daß, wenn ich Sie bereits auf Ihrem Plätzchen sehe, es mich drängt, Ihnen einen „guten Morgen“ zu bringen! “

Die feine alte Frau legte den Kopf, dessen dichtes graues Haar sich noch voll unter dem Spitzenhäubchen hervordrängte, gegen die Lehne des Stuhles zurück. „Was haben Sie denn an einer Großmutter, die nicht einmal mehr als einen hausbackenen Verstand besitzt?“ fragte sie, die dunkeln, noch immer schönen Augen lächelnd auf seinem Gesichte ruhen lassend; „Sie sind doch ein sonderbarer junger Mann, daß Sie Frauen eine Aufmerksamkeit widmen, deren sich junge Mädchen kaum beiläufig einmal von Ihnen erfreuen. Jede Viertelstunde, mit einem alten Wesen wie ich verbracht, muß doch ein Opfer für die Jugend sein!“

Er hatte den Blick unverwandt in dem ihren ruhen lassen, während seine Züge einen Ausdruck von freundlichem Ernst annahmen. „Alt? was heißt denn alt?“ fragte er, seinem Tone eine halbe Dämpfung gebend. „Wo das weibliche Herz in seinem Empfinden noch frisch ist, da bedeutet alt nur: geklärt, geläutert, mild; es kann selbst junge Frauen geben, die ich in diesem edlen Sinne alt nennen möchte, während der aus gröberem Stoffe gebildete Mann oft selbst im körperlichen Alter sich noch der trübenden Leidenschaft nicht entledigen kann. Wie ich nun die Frauen in der Eigenthümlichkeit ihres Seelenlebens für das veredelnde Princip im Menschenthum halte, so kann es auch in einem Umgange mit ihnen mir gar nicht auf die Zahl der Jahre, sondern nur auf die Klarheit des Gemüthes ankommen, das mit einem Instinct, welcher uns Männern ganz verloren gegangen ist, immer [370] das Richtige trifft und einen allmächtigen Einfluß auf den ganzen Gang der Menschheit ausüben könnte, wenn nur die wahre Bestimmung des Frauengeschlechts in ihrer ganzen Bedeutung erkannt würde. Das Mittelalter mit seinem Frauen-Cultus, das Amerikanerthum, als es die Stellung seiner Ladies bezeichnete, wußten recht gut, welchen sittlichenden, sänftigenden Factor sie damit in’s Leben riefen, und wenn jetzt in unsern deutschen Verhältnissen der Cultus der Frauen seine volle Berechtigung hätte, würde es nicht nur vielfach in unserem häuslichen Leben anders stehen, sondern auch unser ganzes modernes Streben, das die Gefühlswelt völlig ausschließt, das dem nüchternen Stückchen Verstand nur allein ein Recht geben will und alles Uebersinnliche mit dem Zollstocke des beschränkten menschlichen Gehirns zu messen unternimmt, würde nicht auf die jetzigen Abwege gerathen sein. Ich besitze nicht die siegende Kraft eines allgemeinen Reformators, und so schaffe ich nur mir eine kleine Welt nach meiner Ueberzeugung, habe den Frauen-Cultus in meinem eigenen Leben aufgestellt und weiß, daß ich nichts Besseres zu meiner eigenen Veredelung zu thun vermag. Da haben Sie Alles, gnädige Frau! Junge Mädchen sind noch gährender Most – es giebt allerdings einzelne bevorzugte Naturen darunter,“ setzte er langsam, die Augen senkend hinzu, „denen jede Übergangszeit erspart ist, die wie Lilien sich in keuscher selbstbewußter Ruhe dem Lichte erschließen –“ er hielt, wie seinen Gedanken folgend, inne.

„Sie sind dennoch ein sonderbarer Mann,“ sagte die alte Dame, ihm mit einem Blicke voll stiller Empfindung die kleine, welke Hand hinhaltend, „aber ich denke Sie zu verstehen und – ich muß Ihnen sagen, das; ich Sie recht lieb habe!“

Er umfaßte die magern Finger mit seinen beiden fleischigen Händen und hob die Augen in einem eigenthümlich schwimmenden Ausdruck zu ihr – da öffnete sich die Thür, die beiden Schwestern einlassend, und schon mit dem ersten Geräusche hatte er sich zu seiner früheren Stellung wieder aufgerichtet; der massiv geschnittene Mund sandte den Eintretenden ein begrüßendes Lächeln entgegen, während die Augen in Secundenschnelle jede Einzelnheit in ihrer Erscheinung überliefen und dann ans Helenens frischen, fein entwickelten Formen haften blieben.

„Heute Morgen habe ich hier Andern den Rang abgelaufen!“ sagte er, eine Miene vertraulicher Neckerei annehmend.

„Wir haben auch nicht gelernt, Carrière zu machen!“ gab Marie trocken zurück und griff, ohne einen Zug zu ändern, nach einer seitwärts liegenden Stickerei; Helene aber hatte die Augen groß auf ihn gerichtet, als denke sie zum ersten Male daran, ihn genau zu betrachten, wandte sich dann nach der alten Frau und küßte diese. „Nicht wahr, Großmama,“ sagte sie, „es könnte mir niemals ein Fremder den Rang bei Dir ablaufen?“ und vor dem eigenthümlichen Tone in ihrer Frage hob Jene verwundert den Kopf. „Wer wird denn einen Scherz so ernst nehmen, Du närrisches Kind?“ erwiderte sie, ihr lächelnd das Haar glatt streichend, „bist Du nicht das Nesthäkchen, das ich aufgezogen habe?“

„Ich habe einen bösen Traum gehabt, Großmama!“

„Träume sind Schäume, Mädchen! frage den Herrn Director hier!“

„Der sich aber doch mancherlei träumen läßt, woran er fest glaubt!“ warf Marie, ohne aufzublicken, dazwischen.

Ein einziger finsterer Strahl schoß aus dem Auge des Mannes nach der Redenden, dann wandte er sich mit demselben geschmeidigen Lächeln wie bisher nach der alten Dame. „Ich glaube wirklich an meine guten Träume, denn sie deuten immer innere Ruhe und Ordnung an,“ sagte er; „böse Träume sind schon in sich Lügen, da sie aus einer gestörten, getrübten Seele kommen, und so, Fräulein Helene,“ schloß er, die breite Hand aussteckend, „lassen Sie uns mit einander nur immer das Beste träumen!“ Es lag eine stille Bedeutung in seinen Worten, und die alte Frau hob die lächelnden Augen erwartend nach dem Mädchen; über Helenens Gesicht aber breitete sich eine plötzliche leichte Blässe. „Was ich für mein Bestes halte, ist vielleicht am wenigsten das Ihre!“ sagte sie, den Oberkörper leicht zurückbiegend, und wandte sich dann der Schwester zu; der Schuldirector ließ die gehobene Rechte auf sein Knie sinken und biß sich auf die Lippen; die Großmutter aber hatte auch schon die magern Finger leicht auf seine Hand gelegt.

„Unruhiger Most! Sie haben es ja selbst ausgesprochen,“ klang ihre gedämpfte, besänftigende Stimme; „bei ihr sollen Sie aber kaum lange auf die Klärung zu warten haben!“ – –

Der Geheimrath hatte, als die Schwestern das Arbeitscabinet verlassen, einen bereits geschlossenen Brief von seinem Schreibepulte genommen, hatte nach der zur Hand stehenden Klingel gegriffen, und unmittelbar nach dem kurzen Läuten trat der alte Büreaudiener in’s Zimmer, sich steif neben der Thür aufstellend.

„Sie bringen das Schreiben hier dahin, Mangold, wo Sie gestern Abend den Brief zur Bestellung erhielten,“ sagte der Erstere kurz und kalt; „ich verbiete Ihnen aber hiermit, sich jemals von dieser Seite wieder zum Boten an mich gebrauchen zu lassen!“ Er hatte das Couvert auf den Mitteltisch gelegt und drehte sich dem Fenster zu.

Mangold hob nur den Kopf straffer, während es kurz unter dem grauen Schnurrbarte zuckte, machte aber sonst keine Bewegung, und nach einer kurzen Pause wandte Zedwitz rasch das Gesicht zurück. „Haben Sie mich nicht verstanden?“ fragte er wie in leichter Ungeduld.

„Ich habe verstanden, Herr Geheimrath,“ erwiderte der Alte, „aber ich wollte mit allem Respecte sagen, daß ich den Brief hier nicht forttragen möchte!“

Der Beamte hob mit einem seltsam aufleuchtenden scharfen Blicke den Kopf und machte drei Schritte gegen den Sprechenden; dann aber legte sich plötzlich eine dunkele Wolke auf seine Stirn. „Sie haben Recht, es ist keine Dienstsache und Sie mögen gehen,“ sagte er langsam, „ich werde zukünftig in Bezug auf Ihre Verrichtungen die Grenze genau ziehen!“

„Das ist es nicht, Herr Geheimrath, und Sie wissen es!“ erwiderte Mangold mit zuckenden Augenbrauen; „aber ich möchte um der Tage willen, die da kommen werden, nicht, daß der Brief aus dem Hause ginge. – Sie können mir befehlen zu schweigen, und ich muß gehorchen,“ sagte er rascher, als Zedwitz mit einer kurzen, finster abweisenden Bewegung den Kopf hob, „aber es sind nun bald vierzig Jahre, seitdem der junge Mangold dem Herrn Lieutenant Zedwitz zuerst das Pferd putzte, und nahe dreißig mögen es sein, seit er zum Einzug der gnädigen jungen Frau half und ein altes Stück Möbel im neuen Hause wurde, und Mangold hat sich nie ein Wort unterstanden. Aber es hat einen Abend gegeben, wo der Herr wie verzweifelt zu seinem Diener sagte: Mangold, kann denn ein Mensch zum Sünder werden, nur weil er streng an Recht und Ehre gehalten? Das war den Abend vor dem Begräbniß der gnädigen Frau. Damals halte Mangold nur die verweinten Augen als Antwort; aber mir ist es, als müsse gerade so ein Abend noch einmal kommen, und darum muß ich jetzt reden und sagen: Herr Geheimrath, denken Sie daran, daß es Ihr einziger Sohn ist, den Sie fortstoßen wollen; denken Sie daran, daß Jugend keine Tugend hat und wir auch einmal jung gewesen sind –!“

Eine kurze, gebieterische Handbewegung, mit welcher sich Zedwitz abwandte, ließ den Redenden stocken; Jener machte einen raschen Gang durch das Zimmer, und blieb dann der lang aufgerichteten knochigen Gestalt gegenüber stehen, ein scharfes, helles Auge fest auf deren Gesicht heftend. „Fast dreißig Jahre also ist dieser alte Mensch neben mir hergegangen, aber Alles, was ihm die lange Zeit von dem Wesen eines Mannes hätte zeigen müssen, der nie von dem gewichen, was er einmal als Recht erkannt, ist nicht so viel für ihn, als die einzige Stunde, in der er die in Trübsal versenkte Seele einmal hat schwach werden sehen. Ja wohl, es giebt Zeiten, in denen selbst der Stärkste an sich und der Richtigkeit seines Handelns zweifeln möchte, wo er in seiner Noth nach dem Nächsten als Halt greift – aber merken Sie wohl, alter Mensch, in solchen Stunden arbeitet der rechte Mann sich nur zu größerer Klarheit und Festigkeit in seiner Ueberzeugung durch, und Ihre Erinnerung an eine vergangene Zeit der Trübsal mag mir wohl jetzt das Herz noch mehr verbittern, aber am wenigsten an einem wohlüberlegten Schritte meinerseits etwas ändern. Und nun, Mangold, sind wir über alle dergleichen Punkte ein für allemal fertig! Sie haben mich an unser langjähriges außerdienstliches Verhältniß erinnert – gut! hier liegt der Brief, Sie mögen selbst entscheiden, ob es bleiben soll, wie es bisher gewesen!“

Er wandte sich von Neuem dem Fenster zu; in dem Gesichte des Alten aber begannen Schnurrbart und Augenbrauen ein Spiel des verschiedenartigsten Ausdrucks, bis endlich eine nothgedrungene Resignation in ihm Sieger zu bleiben schien und er langsam zum Tische trat. „Noch etwas, Herr Geheimerath?“ fragte er nach [371] dem Briefe greifend, und seine Stimme schien in einen Fistelton überschnappen zu wollen.

„Augenblicklich nicht!“ war die ruhige Antwort; als aber die Zimmerthür hinter dem Büreaudiener zuklappte, blickte Zedwitz rasch um und als er den Brief verschwunden sah, begann er langsam einen neuen Gang durch das Zimmer. Bilder der verschiedensten Art schienen in ihm wach zu werden; bald legte sich ein starrer, unbeweglicher Zug um seinen Mund, bald milderte sich der strenge Charakter seines Gesichts zu einem Ausdrucke stillen Schmerzes, und dann blieb er wohl stehen, in Selbstvergessenheit vor sich niederblickend, bis eine neue Vorstellung eine herbe Bitterkeit in seine Mienen sandte und ihn weiter trieb. Nach längerer Zeit endlich hielt er seine Schritte an und strich sich das dünne Haar glatt. „Ich muß ihr selbst das Nöthige mittheilen, wenn auch die Mädchen schon gesprochen hätten!“ murmelte er; noch eine Secunde lang blickte er, wie sich bedenkend, vor sich nieder und verließ dann hochaufgerichteten Hauptes das Cabinet, den Weg nach dem Zimmer der Großmutter nehmend.

Er trat dort ein, als eben der Schuldirector eine Bewegung sich zu verabschieden machte, und wie ein Strahl von Erleichterung ging es bei dem Anblicke des Letzteren über sein Gesicht. „Brechen Sie nicht schon auf,“ sagte er, erst der alten Dame und dann dem Gaste die Hand reichend; „es wird mir wohlthun, ein paar Worte mit Ihnen zu plaudern. – Da haben wir denn das lebendige Beispiel, zu welchem Ende die moderne Lebens- und Anschauungsweise unserer jungen Leute führen kann,“ fuhr er mit verfinstertem Gesichte fort; „einen jungen Mann, der die Fachstudien langweilig fand und dafür pikante, sogenannte Naturwissenschaften trieb, die an Stelle jedes geistigen Seins den rohesten Materialismus setzen; – der die eigene natürliche Stellung verachtete und sich dafür eine Schein-Existenz in über ihm stehenden Kreisen schuf; – der über die Ansichten lebenserfahrener Männer, wie seines Vaters, lächelte und sich dafür möglichst vielen Modethorheiten ergab, wie sich das logisch so eins aus dem andern entwickeln mußte. Nun, Herr Director, Sie wird es nicht überraschen, denn Sie haben längst meine eigenen Befürchtungen getheilt – “

„Aber, Vater –!“ wurde in diesem Augenblicke Mariens stehende Stimme laut, und ein schmerzlicher Vorwurf fiel aus den Augen des Mädchens in die seinen; ein kaltes, ablehnendes Kopfschütteln kam jedoch als Antwort.

„Soll ich etwa noch Dinge verschweigen,“ sagte er, „die schnell genug in Aller Mund sein werden, und mir nicht das Herz gegen einen nahen Freund leichter sprechen dürfen?“

„Aber um wen und um was handelt es sich denn?“ fragte die alte Dame, welche schon beim Beginn des Gesprächs in sichtlich steigender Besorgniß den Kopf gehoben hatte.

„Sie wissen noch von gar nichts, Mama? ich hoffte, die Mädchen würden mich der ersten Benachrichtigung überhoben haben!“ erwiderte er mit eigenthümlich gedrücktem Tone, während der Schuldirector seinen Hut wieder bei Seite gestellt hatte und den gespannten Blick an dem Munde des Sprechenden hängen ließ.

„Doch nichts Allzuschlimmes von Hugo?“ frug sie mit leise zitterndem Auge.

„Von Hugo!“ nickte der Geheimrath – da öffnete sich kurz und geräuschvoll die Thür, und bleich, aber mit leuchtenden, erregten Augen erschien der Genannte auf der Schwelle. Einen einzigen hastigen Blick warf er durch das Gemach und schritt dann rasch auf den Geheimrath zu.

„Vater, ich muß mit Dir sprechen, so darfst Du mich nicht hinwegweisen, denn das verdiene ich nicht!“ rief er, und der ganze Drang seiner Empfindung bebte in seiner Stimme; im nächsten Augenblicke aber hatte er auch die Anwesenheit des Fremden bemerkt und hielt seinen Schritt an. „Nur fünf Minuten, Vater, laß uns allein mit einander reden!“ setzte er, sich gewaltsam zu einem ruhigeren Tone zwingend, hinzu.

Der Schuldirector hatte sich bereits zum eiligen Verlassen des Zimmers erhoben, aber der Geheimrath faßte seinen Arm. „Sie bleiben, Freund,“ sagte er, während seine Züge zu Eis zu erstarren schienen, „ich habe hier kein Geheimniß!“ Mit einer entschiedenen Ablehnung indessen wandte sich der Gast dem Ausgange zu, und kaum schloß sich hinter ihm die Thür, als der alte Beamte einen Schritt gegen seinen ihn um halbe Kopfeslänge überragenden Sohn that. „Ich habe noch zu bestimmen, wem sich meine Thür öffnen oder verschließen soll,“ sagte er, und es war ein völlig steinerner Blick, welcher sich in das Auge des jungen Mannes senkte. „Geh!“ setzte er hinzu, die Hand gebietend nach der Thür erhebend.

Die kräftige Gestalt des Referendars schien ein plötzliches Zittern zu überlaufen. „Vater!“ erwiderte er, fast mit dem Tone eines bittenden Kindes die Hände zu ihm erhebend.

„Geh!“ wiederholte Jener, und ein Ton wie drohende Warnung klang in dem Worte.

„Aber, Herr Sohn, man treibt ein Kind nicht in dieser Weise aus dem elterlichen Hause!“ ward plötzlich die Stimme der Großmutter laut, während sich zugleich ein mühsam unterdrücktes Schluchzen von den Plätzen der Mädchen hören ließ; „er sagt selbst, daß er das nicht verdiene. Aber was ihm auch zur Last fallen möge, so ist ein so unerbittliches Verweigern jedes Wortes unrecht – wir sind allzumal Sünder, Herr Sohn!“

Die alte Frau hatte sich neben ihrem Stuhle aufgerichtet, die Hand auf die Armlehne stützend, und in ihren Augen leuchtete eine völlig veränderte Natur gegen ihr bisheriges mildfreundliches Wesen. In des Geheimraths Gesichte bewegte sich keine Miene, nur um seinen Mund machte sich ein leichtes, nervöses Zucken bemerkbar; Hugo aber hatte wie abwehrend die Hand gegen die Sprechende ausgestreckt. „Kein Wort für mich, Großmutter!“ rief er erregt; „wenn nicht der Drang meiner eigenen Liebe und Sorge, der mich hierher getrieben, das Vaterherz für den Sohn öffnen kann, so ist alles Uebrige vergebens. – Vater, noch einmal,“ fuhr er fort, die Hände von Neuem erhebend, „ich verlange ja nichts, als ein kurzes, verständigendes Wort mit Dir, und ich weiß, daß Du dann anders urtheilen wirst, als jetzt!“

Der Geheimrath aber hatte sich mit unverändert eisigem Gesichte der alten Dame zugekehrt und sagte: „Sie wissen nicht, Frau Mutter, daß es meine Pflicht als königlicher Beamter erheischte, den jungen Menschen hier sofort dem Untersuchungsrichter zu übergeben, daß es schon gegen mein Gewissen sein muß, von seiner Anwesenheit überhaupt etwas zu wissen, und so würde es gut sein, die jetzige Scene so rasch als möglich zu enden!“

Die Großmutter blickte halb erschreckt, halb zweifelnd von dem starren Auge des Schwiegersohns nach dem des Enkels und wieder zurück; Hugo aber hatte sich, wie in einem bestimmten Entschlusse, voll ausgerichtet.

„Dein Gewissen soll nicht durch mich beschwert werden, Vater,“ sagte er ruhig, obgleich das Beben seiner Stimme noch das Wogen in seiner Seele verrieth; „ich gehe – und mag Dir die Erinnerung an den heutigen Tag einmal nicht schwerer werden, als mir!“ Dann wandte er sich mit sicherm Schritte nach der alten Frau. „Großmutter, halte mich in Deinem Herzen, ich habe nichts verbrochen, was nicht ein Wenig wirkliche Liebe leicht verzeihen könnte – weißt ja doch, daß ich nie habe lügen können!“ und als sich vor seinem aus tiefer Seele kommenden Blicke ihre Arme hoben, trotz des noch immer unsichern Ausdrucks ihrer Augen, da lagen auch schon die beiden Mädchen an seinem Halse – Marie mit einem bittern, fast krampfhaften Schluchzen, das sie vergebens zu unterdrücken strebte, während Helene unter strömenden Thränen ihm zuflüsterte: „Gräme Dich nicht, Hugo! er liebt nur sich und was er seine Ehre nennt; aber auf uns rechne, wo mir unsere Kraft ausreicht!“ Schon in der nächsten halben Minute indessen hatte er sich in ihrer Umschlingung aufgerafft und schritt, mühsam der ihn überwältigenden Weichheit Herr werdend, rasch aus dem Zimmer. -

Er hatte das Haus verlassen und war die breite, sonnige Straße hinab geschritten, ehe er sich nur seiner Umgebungen wieder ganz bewußt ward. Er durfte kaum fürchten, bekannten Gesichtern zu begegnen, da er seit Beendigung seiner Schulzeit nur immer zu kurzen Besuchen im Hause seiner Eltern gewesen war; dennoch bog er jetzt fast unwillkürlich in die nächste enge Seitengasse ein, um sich möglichst gedeckt zu halten, und suchte sich von hier durch die krummen Straßen der alten Stadt einen Weg nach Römer’s Geschäfte. Zwei Tage waren es bereits, welche er in Heimlichkeit bei dem Freunde verbracht. Er hatte bei der Stimmung seines Vaters den ersten Schritt bei diesem nicht ohne alle Unterstützung thun mögen, sich erst mit seinen Schwestern in Verbindung setzen und den alten Mangold in’s Vertrauen ziehen wollen; nachdem aber endlich der entscheidende Brief, in welchen er das ganze volle Herz eines treuen Sohnes hinein gelegt zu haben [372] meinte, abgesandt gewesen, hatte ihn die Unsicherheit des Erfolgs nirgends mehr rasten lassen, und nur seiner Ungeduld folgend, hatte er sich am Morgen in die Nähe der elterlichen Wohnung gewagt.

Da war er auf den Büreaudiener getroffen, dessen niedergeschlagene Miene ihm noch schneller sein augenblickliches Schicksal verkündet, als der übergebene väterliche Bescheid, welcher ihn dann zu seinem letzten nutzlosen Versuche aufgestachelt.

Ueber alle den Bildern, wie sie jetzt als Wiederholung der eben durchlebten Scene seinen Kopf füllten, stand der einzige klare Gedanke: daß ihm kein anderer Weg bleibe, als nach Berlin zurück zu kehren und sich freiwillig dem Gerichte zu stellen; er vermochte jetzt nicht, ihn näher zu prüfen oder weiter zu verfolgen, aber er fühlte mit einer Art Erleichterung, daß dadurch wenigstens die peinigende Ungewißheit der letzten Tage geendet werde.

Als er sich Römer’s Hause, welches Comptoir, Niederlagen und die getrennten Wohnungen von Vater und Sohn in sich vereinigte, näherte, sah er den Freund, augenscheinlich nach ihm ausblickend, in der Eingangsthür stehen.

„Eine Entscheidung?“ fragte dieser, dem rasch Herangetretenen forschend in die Augen sehend.

„Eine Entscheidung!“ nickie der Referendar, das Haus betretend, finster. „Heute noch wirst Du mich loswerden, Fritz, und morgen denke ich ein wohlverwahrtes Quartier in Berlin einzunehmen. Ich habe ihm zwei Worte abgezwungen – er hält es für seine Pflicht als Beamter, mich dem Untersuchungsrichter zu übergeben; das kann ich aber selbst und auf eine mir angenehmere Weise thun! Ich hätte nichts Anderes erwarten sollen, aber das eigene Herz hat mich blind gemacht!“

Sie hatten schweigend neben einander die Treppe nach dem oberen Stock erstiegen. „Es ist während Deiner Abwesenheit Nachricht aus Berlin von dem jungen Mangold eingelaufen,“ begann endlich Römer, die Thür eines der Zimmer öffnend; „vielleicht findest Du hier etwas Tröstliches!“ Er schritt dem Freunde rasch voran und reichte ihm einen auf dem Tische bereit liegenden Brief; Hugo aber streckte nur langsam die Hand danach aus.

„Tröstliches!“ wiederholte er nach einem Blick auf das Couvert, „ich wüßte wahrlich im Augenblicke kaum, was mir tröstlich sein könnte. Und wenn mir jetzt gesagt würde, daß ich mein ganzes Unglück nur geträumt habe, so war doch die letzte Stunde eine Wirklichkeit, die einen ganz verhängnisvollen Schatten auf meine fernere Zukunft wirft. Ich sehe gar keinen Zweck mehr, mich in einem Berufe abzuquälen, an dem ich eben so viel Freude habe, als etwa das Pferd an seiner Tagesarbeit. Sieh, Fritz, die einzige Genugthuung, welche ich bis jetzt darin gefunden, war das Bewußtsein, meinem Vater gegenüber als wohlgerathener Sohn, der im regelmäßigen Gleise vorwärts geht, sich keine Extravaganzen zu Schulden kommen läßt und das ihm ausgesetzte Quantum in der vorausbestimmten Weise verwendet, dazustehen. Das ist zu Ende; auch würde mich keine Noth dazu bewegen können, nach dem heutigen Auftritte von meinem Vater noch einen Pfennig für meine Subsistenz anzunehmen. Und kann ich von den geringen Zinsen meines mütterlichen Vermögens, die ich bis jetzt für meine sogenannten Allotria verwandt, nicht leben, so muß ich eben mit dem Capital suchen, mir irgend eine andere Stellung, die mich nährt, zu verschaffen – meine bisherige Zukunft aber ist heute unter allen Umständen in Trümmer gegangen. Was da weiter kommt, wird sich zeigen, sobald ich mich dem Gerichte gestellt, und wenn es etwas Tröstliches für mich giebt, so ist es meine Sicherheit über diesen nächsten Schritt, ohne den sich überhaupt an keine Zukunft für mich denken ließe. Für Dich, Fritz,“ fuhr er lebendiger fort, als habe das unverhohlene Aussprechen ihn erleichtert; „für Dich keimt vielleicht eine Myrthe aus meinem augenblicklichen Ruine auf; – ohne alle Sentimentalität!“ unterbrach er sich, als sich das trübe Gesicht des Freundes wie zu einem raschen Widerspruche hob, „ich fühle jetzt, daß es bei der starren und vielleicht noch mißleiteten Denkweise meines Vaters, auch ohne den jetzigen Anlaß, über kurz oder lang zu einem Bruche zwischen uns gekommen wäre! Helene scheint sonderbar aufgewacht und zu einer merkwürdig richtigen Anschauungsweise der Verhältnisse gelangt zu sein. Laß sie eine entschlossene Stütze fühlen, Fritz, und ich denke, mein Vater wird zu sich selbst kommen, wenn er vielleicht an das Verstoßen eines zweiten Kindes gehen möchte!“

„Denke jetzt einmal nur an Deine Verhältnisse und lies Mangold’s Brief,“ erwiderte Römer, die Hand auf des Freundes Schulter legend; „ich habe fast gewußt, wie Alles kommen würde, und mag Dir jetzt am wenigsten rathen; aber in allen Lebenslagen magst Du auf mich rechnen, Hugo, wie man nur auf einen Freund und Bruder rechnen darf!“

[385] Der Referendar warf den Hut von der heißen Stirn, öffnete das Couvert und faltete einen vollbeschriebenen Bogen auseinander. Er las, während der junge Kaufmann einen langsamen Gang durch das Zimmer begann:

„Lieber Freund und hochgeehrter Herr Referendar!

Sehr sonderbarliche Geschichten, aber der Soldat muß sich in allen Lagen zu helfen wissen, wie unser Unterofficier beim Felddienste sagte. Also die Sache mit dem russischen Grafen ist überall bekannt, auch die Zeitungen haben davon erzählt, aber so verblümt, daß ich ordentlich sah, wie die Polizei Ruhe gewinkt hat, damit der Uebelthäter nicht aus dem Garne gescheucht werde. Es war mir gleich am ersten Tage auf meinem Posten in unserem Logis nicht recht wohl zu Muthe, denn kaum daß ich aus den Federn war, stellten sich schon verschiedene Besuche von ganz verdächtigem Aussehen ein. Zuerst war’s ein Lohndiener mit einer richtigen Polizei-Visage; er wollte nur wissen, ob der Herr Referendar hier wohne und wann er zu sprechen sei. So schlau fängt man aber nicht einmal einen Grobschmieds-Gesellen! Ich konnte keine Sprechstunde angeben, empfahl mich aber zu jeder Besorgung, und damit verlor er sich. Noch vor Mittag kam ein Bote vom Kammergericht, der sehr pressirt that, einen Auftrag vom Abtheilungs-Director oder dergleichen haben wollte und geradedurch in’s Schlafcabinet ging. Sein absonderlicher Auftrag aber sah ihm aus allen Knopflöchern heraus, und ich wußte schon beim ersten Blicke genug. Als er das leere Bett sah, hätte er mich gern examiniren mögen, aber ich ließ ihn mit dem guten Rathe, selber weiter zu suchen und sich nicht zu echauffiren, abziehen.

Zu Mittag schon wurde in unserm Speisehause nur vom russischen Grafen geredet. Es essen zwei Officiers-Bediente dort, welche die Geschichte mitgebracht hatten. Sie wollten auch genau wissen, daß der Thäter bekannt sei, daß aber um ein paar vornehmer Personen willen alle Maßregeln im Geheimen betrieben würden. Es gab Klöse und Meerettig an dem Tage, aber ich hätte es nicht einmal gemerkt, wenn mir vor lauter Aufhorchen der Meerettig nicht in die Nase gekommen wäre.

Nun war ich noch keine Stunde wieder im Logis, als ein dritter Mensch ankam, sich höflich nach dem Herrn Referendar erkundigte und bei meiner Antwort geradeso nickte, als wisse er schon Alles, was ich ihm sagen und nicht sagen wolle. Nachher musterte er mich aufmerksam, und das Gesicht mochte ihm wohl besser als der Rock vorgekommen sein, denn er nickte wieder und sagte, er denke wohl, daß er mir einen Auftrag für den jungen Herrn anvertrauen dürfe, ich müsse ihn aber wörtlich bestellen. Wenn Herr Hugo Zedwitz, sagte er, jetzt etwa eine andere Reise als nach der Schweiz machen wolle, so sei bei dem Orte, der hier aufgeschrieben stehe, auch eine sehr schöne Gegend. Das lasse ihm eine Freundin sagen. Damit hatte er mir die Karte gegeben, welche ich hier mitschicke, und als ich wegen des unbekannten kauderwälschen Namens fragte, wo denn das zu finden sei, sagte er so ruhig, als handele es sich um eine Kremserfahrt nach Charlottenburg: In Amerika! Dann nickte er noch einmal recht freundlich und ging zur Thür hinaus. Ich hatte bei dem merkwürdigen Einfalle zuerst gerade hinaus lachen wollen, aber es schossen mir mit einem Male ganz absonderliche Gedanken durch den Kopf. Ob das nicht ein guter Rath von Jemand sein konnte, der genau wußte, wie die Sachen mit dem russischen Grafen standen? Und eine Freundin –! Dazu habe ich nun freilich nichts zu sagen; aber Eins möchte ich gleich hierher setzen. Wenn Jemand die Reise gern mitmachte, so wäre ich es. Wo es hier Elend giebt, da steckt gewiß ein Tischlergeselle darunter, und über’m Meere soll der Verdienst so gut sein. Das aber nur nebenbei, wenn auch die Speisemarken fast zu Ende sind und ein Mensch mit Geschick und Kraft, wie ich, sich nicht einmal weiter zu ernähren wüßte, er würde denn als Factotum durchgefüttert. Bist doch wirklich ein Lump, Heinrich!

Also wollte ich noch sagen, daß mir heute, wo ich dies schreibe, Alles danach aussieht, als werde das Garn hier mäuschenstill offengehalten, bis der Vogel hereinkommt. Der russische Graf soll so gut wie todt sein, aber nirgends wird etwas Rechtes darüber laut, wie es sonst bei allen Mordgeschichten der Fall ist – wer indessen ein richtiges Auge für Polizeigesichter hätte, würde wohl Verschiedenes von den Gestalten, die sich Abends an unserm Hause herumtreiben, zu erzählen wissen. Ich will nichts behaupten, aber geheuer ist es mir nirgends. Und so laß mich wissen, lieber Hugo, wie es zu Hause steht und was Du etwa vorhast; für alle Fälle aber vergiß nicht die schönen Gegenden in Amerika.

Dein getreues Factotum
Heinrich Mangold.“

Der Referendar hatte, noch ehe er den Brief zu Ende gebracht, hastig nach der zu Boden gefallenen Karte gegriffen und las in fein gestochenen Lettern: John Winter, Oakhill, und darunter in einer Abkürzung, die ihm selbst noch unverständlich war, die Bezeichnung der Lage des Orts. Dann beendete er die Zeilen, faltete den Brief wie in tiefen Gedanken wieder zusammen und blieb so stehen, bis Römer vor ihn trat und mit einem: „Wie ist es, Hugo?“ die Hand auf seine Schulter legte.

„Eine klare Frage und eine bestimmte Antwort, Fritz!“ hob [386] jetzt der Angeredete den Kopf, und in seinen Augen blitzte ein frisches Feuer auf, „kann ich von Dir sofort einige Hundert Thaler haben, wenn ich Dir Vollmacht zum Flüssigmachen meines mütterlichen Vermögens gebe?“

„Ohne Anstand! aber was ist es denn, wenn ich es wissen darf?“ erwiderte der junge Kaufmann in sichtlicher Spannung.

„Eine todte Vergangenheit und eine neugeborene Zukunft, Fritz – ich gehe nach Amerika!“ rief der Referendar, als werfe er einen ganzen Berg von seiner Brust. „Du sollst Alles erfahren, mehr als Du vermuthest, aber laß mich erst Klarheit in mir selbst schaffen. Geh’ jetzt und in einer halben Stunde komm’ wieder!“ Er schob den Freund nach der Thür und warf sich, den Brief von Neuem entfaltend, auf das Sopha.




4. In einer amerikanischen Familie.

Oben auf dem Hügel lag das Landhaus, das in dem halbitalienischen Geschmacke seiner Bauart, mit seinen ringsum laufenden Parkanlagen zu dem Namen einer „Villa“ völlig berechtigt gewesen wäre, hier aber nur unter der bescheidenen Bezeichnung „Cottage“ passirte.

Vom Fuße des Hügels herauf stieg ein dichter Kranz von breitästigen Eichen bis zur Hälfte der Höhe und schien die Besitzung von der weiten Ebene angebauten Landes völlig abzuschließen. Ein sorgfältig chauffirter Fahrweg wand sich durch die Anlagen bis zur Spitze der Anhöhe seitwärts des Hauses hin, und der Aufsteigende, welcher den Weg zum ersten Male verfolgt hätte, mußte hier in stiller Ueberraschung seinen Schritt anhalten. In scharfer Abdachung fiel am Ende des abgeplatteten Gipfels der Boden hinab, und unten strömte die breite, silberne Fluth des Flusses, der eine Zeit lang die Sclavenstaaten von der freien amerikanischen Erde trennt, von raschen Booten und rauchenden Dampfern durchschnitten. Am jenseitigen Ufer aber zeigte sich, soweit das Auge reichte, ein wunderbar erquickendes Panorama von zahllosen Villen und Städtchen, weiß und schmuck zwischen grünen Weingeländen und herbstlich buntgefärbten Obstgärten hervorlugend. Die hier hinüber blickende Seite des Landhauses war auch als eigentliche Frontseite behandelt; in einem kurzen Bogen schlang sich der Weg um das Gebäude und endete auf einem breiten Plateau, von welchem eine Freitreppe nach dem Portico des Hauses aufstieg. Das terrassenförmig ausgegrabene, mit Zierbüschen besetzte Ufer hinab leiteten bequeme Stufen nach dem Flusse, und unten in einer schmalen, künstlich geschaffenen Bucht schaukelte ein bequemes Boot.

In einem der hohen Parterre-Zimmer, das in seinen dicken Teppichen und reichen Damastvorhängen, seinen weichen Fauteuils und Causeusen, in dem reichgeschnitzten Piano und dem marmornen Kamin die ganze Fülle amerikanischen Comforts zeigte, wiegte sich eine junge Dame nachlässig im Schaukelstuhl und schien kaum auf den ältlichen, sorgfältig gekleideten Mann zu achten, welcher vor ihr den Boden mit ungeduldigen Schritten maß. „Es muß zu einem Ende kommen, Jessy,“ begann dieser jetzt, vor dem Mädchen stehen bleibend, „und ich bitte Dich recht dringend, Deinen seltsamen Launen einmal zu entsagen. Mr. Graham drängt auf eine bestimmte Antwort, zu der er jetzt ein volles Recht hat, und ich darf wohl von meiner Tochter die nöthige Rücksicht gegen mich, der ich die Angelegenheit unterstützt, verlangen, wie noch mehr die Erhaltung ihres eigenen guten Rufs. Man spielt als achtbare junge Lady nicht fast ein Jahr lang mit der Neigung eines ernsten Mannes, ohne ihr endlich voll gerecht zu werden!“

Das Mädchen richtete rasch den schönen Kopf auf. „Spielen? mit einer Neigung spielen, Sir?“ fragte sie, während sich ihr dunkles Auge ernst und fest auf den vor ihr Stehenden heftete. „Habe ich schon jemals in meinem Leben irgend einem Manne Anlaß zu Hoffnungen in Bezug auf mich gegeben? Ich habe den Gentleman, von dem die Rede ist, in meiner Gesellschaft gelitten, da Du es selbst warst, Vater, der ihn als fast täglichen Gast in unser Haus brachte; aus Achtung gegen Dich bin ich vielleicht weniger schroff gegen ihn als manchen Andern gewesen, der mich zum Gegenstände seiner Speculation machte; aber trotzdem hätte ihm sein eigenes Gefühl sagen müssen, daß von einer weitern Annäherung nie eine Rede sein könne –“

„Und deshalb ertrugst Du auch recht gern eine Reise nach Europa in seiner Gesellschaft, eine Reise, die hier in den Augen aller vernünftigen Menschen für den Beweis euerer näheren Beziehung gilt!“ entgegnete der Alte mit einem leichten Achselzucken seinen Gang wieder aufnehmend.

Sie saß blitzschnell gerade auf, und eine leichte Blässe trat in ihr Gesicht. „Der Vorwurf kam nicht aus Ihrer Ueberzeugung, Sir!“ sagte sie, während ein eigenthümliches Licht in der schwarzen Tiefe ihres Auges blitzte, „oder Sie zwingen sich zu einer Annahme, die sich leicht zu einer Kette für mich machen ließe. Ich mag Ihnen nicht in’s Gedächtniß zurückrufen, wie ich Ihre Begleiterin ward, Ihre und keines andern Menschen, Sir! aber ich versichere Ihnen einfach, daß ein solches Spiel die schlechteste Waffe gegen meine Entschlüsse ist!“

„Und darf man diese Entschlüsse wissen, Miß?“ fragte er stehen bleibend. „Ich erwarte den Mann, der bisher durch Ihre eigene Haltung als mein künftiger Schwiegersohn angesehen ward, in der nächsten Stunde. Sie werden hoffentlich nicht sagen wollen, daß Ihnen der Zweck von Graham’s Besuchen und die Hoffnungen, welche er auf unsere gemeinschaftliche Reise setzte, unbekannt waren, wenn sie auch unausgesprochen blieben; – Sie werden mich wahrscheinlich nicht als Betrüger hinstellen wollen, Miß Tochter, wenn ich, der diese Verbindung in vielfacher Beziehung nur wünschen konnte, mir aus Ihrer Duldung von Graham’s Werbung selbst die schönsten Hoffnungen schöpfte! Und so werden Sie vielleicht auch einsehen, auf wessen Seite der Vorwurf des falschen Spiels in dieser nur schon zu öffentlich gewordenen Angelegenheit liegen bleiben könnte!“

„Habe ich,“ erwiderte sie, sich groß und langsam erhebend, „allen diesen unausgesprochenen Dingen, die mir zur Last fallen sollen, gegenüber, Ihnen nicht zu verschiedenen Zeiten die wiederholte Erklärung gegeben, daß ich zu keinem von diesen Männern, wie sie in unserm Gesellschaftskreise leben, jemals in eine nähere Beziehung treten würde? Ist Ihnen das noch nicht klar und bestimmt genug gewesen, um mich jetzt vor Mißdeutung zu schützen?“

„Pshaw! Schulmädchen-Ideen!“ rief er, in einen leichteren Ton überspringend. „Du aber bist zwanzig Jahr geworden, Jessy, die Phantasie-Liebhaber, aus einem besondern Teig für jeden Geschmack gebacken, fallen nicht vom Himmel, und so durfte wohl jeder vernünftige Mensch rechnen, daß diese Schrullen zu Ende seien! Darf man wenigstens wissen, was die Ursache dieser ausgedehnten Ungnade ist?“

„Ich mag keinen Mann haben, Sir,“ erwiderte sie ruhig, aber in eigenthümlich tiefem Tone ihrer klangvollen Stimme, „dessen Denk- und Begriffsweise sich nur um den Dollar dreht, der eine Frau aus Speculation in sein Haus nimmt und sein Interesse für sie nur durch die Summe bezeichnet, welche er jährlich für ihren äußeren Schmuck bezahlt. Ich mag keinen Mann, Sir, der von innerm Zusammenleben mit der, die seine Gefährtin sein soll, nicht mehr kennt, als ihm hier und da ein zufälliges Bedürfniß gebietet, dessen ganzer Lebenszweck in dem, was er sein Geschäft nennt, aufgeht, zu welchen, seine Frau erst in zweiter oder dritter Linie steht, und der Alles, was die Menschheit bewegt, nur nach dem Maßstabe dieses Geschäfts mißt. Ich mag keinen Mann, Sir, bei dem eine Frau von weicher Seele verkümmern, den eine Frau von starkem Herzen bemitleiden und eine Frau von ausgebildetem Verstande verachten müßte.“

Sie ließ sich ruhig wieder in den Schaukelstuhl nieder, während sich ein Zug aus Bitterkeit und halbem Hohn gemischt in dem glatten, sorgfältig rasirten Gesichte des Vaters zeigte. „Und diese Wucht der Verachtung,“ sagte er, „fällt jedenfalls auch auf den alten John Winter, der nur durch die ausschließlichste Aufmerksamkeit in seinem Geschäfte, durch eine volle Würdigung des Dollars sich sein Vermögen erworben.“

„Sie sind mein Vater, Sir, dem ich Achtung und Ehrerbietung schulde,“ erwiderte sie, leicht den Kopf senkend, „und nicht der Mann, dem ich meine ganze Zukunft hingeben soll.“

Ein Ausdruck von Sorge stand zwischen seinen Brauen, als er jetzt einen neuen Gang durch das Zimmer machte und dann vor der Dasitzenden stehen blieb. „Und doch, Kind,“ sagte er, fast mit einem Anklange von Weichheit, „ist es dieser Dollar allein, welcher die Stellung eines Menschen in unserem Lande bestimmt. Wie, wenn ich heute mein Vermögen verlöre, vielleicht das Deinige, das in meinem Geschäfte mit arbeitet, dazu?“

„Ich würde Kraft haben, mir eine Existenz zu schaffen, Vater, und dann vielleicht Menschen finden, die mir nicht aus Speculation nahe träten.“

[387] „Und ich, Jessy? und Deine beiden Geschwister?“ Es war ein eigenthümlich forschender, sorgenvoller Blick, welcher sich in das Auge des Mädchens senkte; sie sah dem Manne vor sich starr in’s Gesicht, und eine plötzliche Ahnung schien in ihr wach zu werden.

„Sprich ohne Vorbereitung zu mir, Vater, wenn Du mir etwas mitzutheilen hast!“ sagte sie aufmerksam, und der fremde Ton, welcher bisher ihre Rede bezeichnet, schien einem Ausdrucke erwachender Theilnahme Raum geben zu wollen.

Winter nahm einen Stuhl und ließ sich neben der Tochter nieder. „Ich möchte Dir nur beweisen, Jessy,“ begann er gedrückt, seine Stimme dämpfend, „daß Graham es am wenigsten ist, der aus Speculation um Dich wirbt. Wir stehen seit längerer Zeit in freundlicher Geschäftsbeziehung; aber während er mit vielem Glück gearbeitet hat, bin ich in den letzten Jahren zurückgekommen, ohne doch eine Ahnung davon laut werden lassen zu dürfen – ich gestehe Dir sogar, daß es oft nur Graham’s Beistand war, durch den ich mich aus bittern Verlegenheiten befreite. Unsere Geschäftsinteressen nun gehen naturgemäß so Hand in Hand, daß sich der Vortheil einer engern Geschäfts-Vereinigung längst herausgestellt hat; ich war indessen nicht im Stande, ihm so viel baare Mittel, wie sie nur einigermaßen seiner Geldkraft entsprechend gewesen wären, zu bieten. Nimm das einfache Geständniß, daß das Vermögen Deiner Tante, welches an Dich übergegangen ist, schon fast seit Jahresfrist meine einzige Stütze bildet, daß aber selbst dies der ersten neuen Verwickelung, die mich aus Mangel an disponiblen Fonds treffen könnte, nicht gewachsen ist. Trotz dieser Lage, in die mich nur eine Verkettung einzelner Unglücksfälle gebracht, erklärte mir Bennet bei einer offenen gegenseitigen Aussprache, daß ich und meine Erfahrungen ihm genügen würden, wenn nur Dein Vermögen dem gemeinschaftlichen Geschäfte erhalten bliebe, daß, wenn er Dich als Frau gewinnen könne, er mir den vollen Theil eines gleichberechtigten Partners einräumen wolle. Das hieß also: ein neuer sicherer Boden gegen einen Ruin, der über kurz oder lang, aber sicher auf mich einbrechen mußte. Ich hätte Dir diese Dinge schon längst mittheilen können, Jessy,“ fuhr er zu Boden blickend fort, „hätte Dir sagen können, daß es mir in den beabsichtigten Verhältnissen eine Kleinigkeit werden müßte, Verlorenes wieder zu erwerben und vor Allem die Zukunft Deiner andern Geschwister, die jetzt meine schwerste Sorge ist, sicher zu stellen – wenn ich überhaupt eine Einwirkung auf Dich hätte ausüben wollen, wenn ich nicht gehofft hätte, daß Alles auf natürlichem Wege sich zum Guten gestalten würde. Jetzt, wo von der nächsten Viertelstunde die ganze Zukunft unserer Familie abhängt, habe ich freilich sprechen müssen; dennoch wäre es wohl nicht einmal geschehen, wenn ich nicht gegen Graham bestimmte Hoffnungen geäußert, die ich geglaubt hatte aus Deiner Haltung gegen ihn schöpfen zu dürfen.“

Das Mädchen hatte den ruhigen, festen Blick in seinen Zügen ruhen lassen, und nur die zeitweilige Aenderung ihrer Farbe deutete den Wechsel ihrer Empfindungen an. „Das ist der Dollar!“ sagte sie jetzt halblaut, wie mehr zu sich selbst redend, und erhob sich rasch, nach dem Fenster tretend und den Blick in die abendlich beleuchtete Landschaft des jenseitigen Ufers senkend. Winter sah ihr mit ängstlich gespanntem Blicke nach.

Als sie nach längerer Zeit sich wieder zurückwandte, war ihr Gesicht auffallend bleich, und der Glanz der tiefblauen Augen schien völlig erstorben. „Und Du schwörst mir beim allmächtigen Gott, Vater,“ sagte sie, langsam auf den Wartenden zutretend, der sich bei ihrem Nahen erhob, „daß an meinem jetzigen Entschlusse die Zukunft meiner Geschwister wie Deine eigene hängt? daß Du nicht die Verhältnisse zu einem bestimmten Zwecke anders gefärbt hast, als sie der strengen Wahrheit nach bestehen?“

„Ich habe Dir die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt, meine Tochter,“ erwiderte er, ihr die Hand entgegenstreckend.

Sie faßte eine Secunde lang seine Finger und sah ihm starr in die Augen, dann senkte sie den Kopf. „Ich kann Dir meine ganze Zukunft opfern, Vater,“ sagte sie, als liege ein innerer Druck auf ihrer Summe, „aber nicht mich selbst – es wäre Hochverrath gegen das heiligste innere Gesetz des Weibes, wäre Selbstentwürdigung, und ich könnte dann nur auch sofort mit meinem Leben abschließen. Aber es wird auch dessen nicht bedürfen, es handelt sich hier nur um den Dollar und das Geschäft. Wenn Mr. Graham kommt, so sende ihn mir – bis dahin aber laß mich allein!“

„Ich weiß nicht, ob ich Dich recht verstehe, Kind,“ versetzte er zögernd, „es handelt sich nicht um das Opfer Deines Vermögens, das ich unter keinen Umständen und nicht in der dringendsten Gefahr annehmen würde; es handelt sich um ein Band, das naturgemäß die Verhältnisse ordnen würde, und wohl auch zugleich um eine Genugthuung Graham’s der Welt gegenüber!“

„Er soll seine Genugthuung der Welt gegenüber haben!“ nickte sie, „laß mich aber jetzt allein mit mir selbst, Vater!“

Er schüttelte leise den Kopf und wandte sich nach dem Ausgange; als sich aber die Thür hinter ihm schloß, sank das Mädchen auf den nächsten Sitz und drückte das Gesicht in die Polster der Lehne.

Auf dem Vorplätze ward im gleichen Augenblick das Geräusch eines herangaloppirenden Pferdes laut, und Winter’s Stimme trieb einen der zum Dienste im Hause bestimmten Schwarzen herbei.

Zehn Minuten darauf meldete ein hellfarbiges Mulattenmädchen „Mr. Graham!“

Jessy richtete sich langsam auf, warf einen Blick in den Spiegel und strich ihr Haar glatt; ein Hauch von Röthe kam wieder auf ihre Wangen, und ein heller Strahl, wie die Sicherheit eines klaren Entschlusses, belebte ihr Auge. Sich leicht auf die Lehne eines Stuhles stützend, blieb sie stehen, bis der Angemeldete in der Thür erschien, einen Blick voll halben Forschens in ihre ruhigen Züge warf und dann rasch auf sie zutrat. Sein Aeußeres ließ deutlich die besondere Absicht seines Besuchs erkennen; das duftende Haar zeigte das Werk des Friseurs; der dünne Backenbart war sorgfältig gekräuselt, der steif emporstehende Halskragen wie das feingefältelte Hemd von untadelhafter Weiße und der übrige Anzug sichtlich erst kurze Zeit aus der Hand des Schneiders.

„Ihr Vater sagt mir, Miß Jessy,“ begann er, den Kopf neigend, während die steifen Züge den Versuch zum Ausdrucke eines weichen Gefühls zu machen schienen, „daß ich endlich eine klare Frage an Sie richten und auf eine bestimmte Antwort rechnen dürfe – ist das so, Jessy?“

Ihr Auge begegnete voll seinem Blicke, aber sie bog leicht den Oberkörper zurück, als wolle sie einen Zoll mehr Raum zwischen sich und ihren Freier setzen, und deutete aus den nächsten Sessel. „Es bedarf wohl Ihrer Frage nicht mehr, Sie, mein Vater hat mir bereits das Nöthige mitgetheilt,“ sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit, den Armstuhl neben sich einnehmend. „Soweit ich blicken kann, handelt es sich um ein geschäftliches Interesse, um eine Vereinigung zwischen Ihnen und meinem Vater, zu welcher ich, mit dem was ich besitze, ein natürlich verbindendes Glied bilden soll –“

„Aber, Miß Jessy, wer wird denn in diesem Augenblicke vom geschäftlichen Interesse reden?“ unterbrach er sie eifrig, „Sie haben mir zum ersten Male vergönnt, mich gegen Sie auszusprechen, und so lassen Sie mich doch auch dieser Stunde ihr Recht geben!“

Ein Ausdruck von eisiger Kalte legte sich plötzlich über ihr Gesicht. „Ich wünschte, Mr. Graham, Sie ließen mich ruhig ausreden,“ erwiderte sie; „wie wir außergeschäftlich zu einander stehen, wird Ihnen wohl Ihr eigenes Gefühl längst gesagt haben, und ich habe auch jetzt keine Veranlassung, ein anderes inneres Verhältniß zwischen uns anzubahnen!“

Er hob den Kopf und blickte sie wie in einer plötzlichen Verwirrung aller seiner Vorstellungen an, sie aber fuhr ruhig fort: „Ich habe meinem Vater gesagt, daß er über meine Zukunft verfügen kann, soweit dies nur mit der Würde einer Frau vereinbar ist, und so bin ich auch bereit, Ihnen vor dem Richter meine Hand, die Sie gewünscht, und damit die freie Verwaltung meines Vermögens zu geben, betrachte dies aber als einen reinen Geschäftsact, Sir, der Ihnen nur die Rechte über meine Person verleiht, welche der Hausherr der Öffentlichkeit gegenüber auf sein Weib zu beanspruchen hat.“ Ein höheres Roth war bei den letzten Worten in ihre Wangen gestiegen, aber sie schien kräftig jede hemmende Regung ihrer Seele zu unterdrücken. „Wenn es Ihnen um eine derartige Genugthuung in den Augen unseres Gesellschaftskreises zu thun ist, so sollen Sie diese vollständig haben,“ fuhr sie fort, „unser inneres häusliches Leben aber bleibt so völlig getrennt, wie unsere bisherigen Beziehungen zu einander es nur je gewesen sind – ich werde die Vorsteherin Ihres Hauswesens sein, Sie der Verwalter und Nutznießer meines Vermögens; darin liegen die gesammten Interessen, welche uns aneinander binden werden, ausgedrückt. – Und um jeder falschen Erwartung für die Zukunft vorzubeugen,“ setzte sie, wie ihre ganze Kraft aufraffend, hinzu, „sage [388] ich Ihnen für den Fall einer Annahme dieses Geschäfts sogleich, daß niemals von einer Aenderung des angedeuteten Verhältnisses die Rede sein kann, daß ich zwar bereit bin, mich Ihrer Ehre und Ihrem Worte anzuvertrauen, daß aber, wenn diese nicht genug Schutz für mich bieten sollten, ich mich selbst zu schützen wissen würde!“ Sie erhob sich rasch wie in einer sie plötzlich überkommenden Erregung und trat, ihm den Rücken kehrend, zum Fenster.

Er war mit starren, weitgeöffneten Augen ihren Worten wie den Veränderungen in ihren Zügen gefolgt, und erst ihr plötzliches Erheben schien ihn aus einer völligen Consternation zu wecken. Er blickte ihr nach und sah dann mit einem halben Kopfschütteln zu Boden. Nach Kurzem aber stahl sich ein finsteres Lächeln über sein Gesicht, das sich wie in der Verfolgung eines aufgetauchten Gedankens mehr und mehr zu einem eigenthümlich spöttischen Ausdrucke aufklärte. Langsam, wie in einem gewonnenen Entschlusse, richtete er endlich den Kopf auf, ließ den Blick über die schlanke, biegsame Gestalt laufen und erhob sich. „Darf ich reden, Miß Jessy?“ fragte er.

Sie wandte sich rasch um und ließ das ernste Auge groß und erwartend auf ihm ruhen.

„Ich hätte nach der Eigenthümlichkeit Ihres Wesens und nach den bereits gemachten Erfahrungen kaum auf eine unbedingte Gewährung meines Lieblingswunsches rechnen sollen,“ sagte er, und nur ein unbestimmter Ausdruck in seinem matten Auge strafte die Ruhe und Ergebenheit in seinem Tone Lügen; „ich bin nach einigem Nachdenken nicht einmal mehr überrascht von der Sonderbarkeit Ihres Vorschlags und nehme ihn als ruhiger Geschäftsmann, der in manchen Dingen anders fühlen mag, als die gewöhnliche Jugend, mit Dank an. Nur zwei Bedingungen habe ich meinerseits zu stellen, die übrigens schon die einfache Rücksicht auf unsere Stellung zur Welt lehren muß. Sie halten die Bedingungen unseres Vertrags vor jedem Menschen, wäre es auch die vertrauteste Busenfreundin, geheim, und Sie gewähren mir sodann wenigstens das Verhältniß eines Freundes zu einer vertrauenden Freundin. Trotz alles geschäftlichen Charakters unserer Verbindung möchte ich eine Häuslichkeit haben, die ich nicht zu fliehen brauche!“

Er war langsam auf sie zugetreten und streckte ihr jetzt die lange magere Hand entgegen. Ein leichter Schauer schien sie zu durchrieseln, als sie, noch wie unwillkürlich zögernd, ihm ihre Finger reichte. „Ihr erster Punkt hätte nicht der Erwähnung bedurft,“ sagte sie, als werde ihr das Reden schwer, „und ich verspreche Ihnen, daß meine Haltung, Ihnen gegenüber, nur von Ihrer eigenen Verfahrungsweise abhängen soll!“

„So mag es vorläufig sein, Miß Jessy, und ich bin zufrieden,“ erwiderte er, kurz ihre Hand drückend, „was einmal noch die Zukunft bringen kann, wissen wir Beide nicht, jedenfalls wird aber Alles von Ihren eigenen Empfindungen abhängen. Und somit lassen Sie uns in präciser Geschäftsweise an dem Tage, der zur Abfassung meines Contracts mit Ihrem Vater anberaumt ist, auch den unserigen abschließen; bis dahin aber will ich Sie mit meiner Gegenwart nicht mehr plagen, als durchaus erforderlich ist!“

Er verbeugte sich ruhig und wandte sich nach dem Ausgange; als er aber nach dem Thürschlosse griff, lag ein bitterer, höhnischer Zug fest in seinen Mundwinkeln.

Das Mädchen war in ihrer Stellung verharrt, bis er verschwunden war, dann begann sie, wie in peinlicher Unruhe, einen raschen Gang durch das Zimmer, „So nicht!“ sagte sie endlich stehen bleibend; „entweder kein Opfer oder es mit freiem Muthe gebracht! Und es ist kaum ein Opfer! Ein lebenslängliches Engagement, wie ich es als Glück betrachtet haben würde, hätte ich mir selbst eine Existenz schaffen müssen!“ Sie bewegte die Schultern, als wolle sie eine letzte peinliche Empfindung von sich schütteln, und trat langsam nach dem Tische in der Mitte des Zimmers, wo in einem flachen silbernen Körbchen eine Anzahl Visitenkarten lagen. Sie begann, wie einem neuen Gedanken sich hingebend, eine nach der andern aufzunehmen – sie trugen sämmtlich europäische Adressen, und zwischen den Firmen bekannter Geldgrößen blickten ruhig die Wappen hochadliger Familien hervor – bis ein sichtlich oft berührtes Blatt mit einem einfachen Namen, der sogar der Standesbezeichnung bedurft hatte, ihren sinnenden Blick zu fesseln schien. „Träume!“ sagte sie endlich, die Karten rasch zurücklegend und die letzte Adresse tief unter den übrigen bergend, „Träume, mit denen ich eine glückliche Zukunft für Carry und John bezahle, und darum fort damit!“

Sie war, als wolle sie ihren Gedanken entgehen, hastig zum Fenster getreten, als die Thür geräuschvoll aufsprang und ein junges Mädchen wie ein wilder Vogel hereinflatterte. „Jessy, sag, daß es nicht wahr ist, ich glaube nicht daran,“ rief sie, auf die Dastehende zueilend; „Vater sagt, daß Du heirathest – den langbeinigen Graham heirathest, der heute wie eine ganze Barbierstube duftete!“ Sie schlug ein klingendes Lachen auf und warf ihre beiden Arme um den Hals der Anderen. „Nicht wahr, das ist ein schlechter Spaß?“

Ein flüchtiges Roth kam und ging in den reinen Zügen der Angeredeten, aber sie hielt den Blick ruhig auf das rosige lachende Gesicht vor sich geheftet und strich dem Mädchen das leicht aufgebundene, reich herabfallende Haar aus der Stirn. Es war das Bild sprudelnder, noch ahnungsloser Jugend, das vor ihr stand, wenn auch die knospende Fülle der feinen Formen den bereits vollendeten Uebergang zur Jungfrau bezeichnete.

„Und warum soll es ein schlechter Spaß sein, Carry?“ fragte die Aeltere, „ist Mr. Graham nicht ein voller Gentleman und gehört zu den ersten Geschäftsleuten der Stadt?“

Carry wurde plötzlich ernst und blickte forschend in das Auge der Sprechenden. „Und das sagst Du, Jessy?“ fragte sie langsam, als könne sie das Unbegreifliche nicht fassen. „Was ist denn hier vorgegangen? Ist er denn nicht einer von den ersten Dollarmenschen, der einen Krampf in die Kinnbacken bekommt, wenn er die steife Geschäftsmiene lassen soll?“ Sie lachte wie unwillkürlich auf; als sie aber ein leichtes Zucken zwischen den Brauen der Schwester bemerkte, umschlang sie diese und küßte sie heftig. „Ich sage nichts, gar nichts, Jessy,“ rief sie, „ich will auch nichts wissen – aber, gieb Acht, ich peinige ihn, wenn er Dir Kummer macht, daß er keinen Fuß wieder nach Oakhill setzen soll. Und was sagt Mutter dazu?“ unterbrach sie sich, ihre ernste Miene wieder annehmend.

„Mutter!“ wiederholte die Aeltere mit einer eigenthümlichen Betonung, „wenn wir eine wirkliche Mutter hätten, Carry, so wäre Manches anders. Ich wäre nicht der fashionablen Ausbildung halber bei der Tante erzogen worden, hätte nicht ihr Vermögen geerbt – doch nichts weiter davon! Mutter wird wohl jetzt Nachricht erhalten und wie immer zufrieden mit dem sein, was Vater für gut befindet! – Und nun laß uns über die ganze Angelegenheit schweigen,“ fuhr sie, sich zu ihrer frühern Haltung aufraffend, fort; „was ich gethan habe, ist freiwillig und wohlbedacht geschehen, und später einmal wirst Du vielleicht meine Gründe würdigen lernen!“

Sie faßte, wie in einer plötzlichen Gefühlsregung, den Kopf der Jüngern in ihre beiden Hände und neigte sich, um sie zu küssen; diese indessen wand sich mit einem trotzigen Ausdruck des kleinen Mundes los. „Ich bin doch nicht zufrieden, Jessy,“ rief sie, „warum bist Du mit einem Male so bedacht geworden? mir soll einmal Niemand einen Mann aufdrängen, den ich nicht mag, und duftete er noch einmal so süß als der künftige Herr Schwager. Schwager!“ wiederholte sie auflachend, „o so lache doch selbst einmal, Jessy, damit ich wenigstens sehe, daß Du nicht unglücklich bist!“

[401] Die Thür hatte sich während der letzten Worte geöffnet und den Hausherrn eingelassen, der jetzt mit einem unmuthigen Blick nach der Sprecherin herantrat. „Laß uns allein, Carry,“ sagte er, „ich habe mit Deiner Schwester zu reden.“

„Ich weiß schon, Vater, aber ich wollte, ich hätte Dir meine Meinung zu sagen!“ erwiderte die Angeredete und eilte, mit einer kräftigen Kopfbewegung das Haar von der Stirn werfend, aus dem Zimmer.

„Ich danke Dir, meine Tochter, für die kurze Erledigung dieses nothwendig gewordenen Schrittes,“ sagte jetzt Winter, dem Mädchen die Hand entgegenstreckend, „ich wußte, daß ich mich in Deinem gesunden Sinne nicht verrechnen konnte, und die Zukunft wird Dir die vollste Genugthuung geben!“

Jessy sah ihm mit einem völlig theilnahmlosen Blicke in die Augen, und eine steife, eiskalte Hand legte sich auf die seinige; er schien indessen keins dieser Zeichen zu bemerken und fuhr angelegentlich fort: „Wir haben jetzt über das nächst Vorliegende zu reden. Mr. Graham als stricter Geschäftsmann will natürlich nicht eher zu dem beabsichtigten Arrangement mit mir die Hand bieten, ehe nicht durch Eueren Heiraths-Contract auch die nöthigen Bestimmungen über Dein Vermögen getroffen worden sind. Indessen liegen einige so bedeutende Geschäfte in meinen Händen, in welche ich ihn vor unserer Vereinigung nicht einweihen mag, daß meine Mittel nicht dafür ausreichen und der Vortheil mir so aus den Fingern schlüpfen müßte, wenn ich nicht in der kürzesten Zeit die nöthigen Baarfonds dafür anschaffen kann. Und doch wäre der Gewinn ein so bedeutender Anfang zu meiner Aufhülfe, Jessy! Ich sehe nun keinen vernünftigen Grund, Kind, warum der einmal beschlossene Schritt nicht auch in der kürzesten Zeit ausgeführt und Eure Hochzeit in den nächsten Tagen gefeiert werden soll – unsere Freunde erwarten seit Langem nichts Anderes. Es würde Dir völlig überlassen bleiben, ob eine geräuschvolle Fête oder eine stille Feier in der Familie den Tag bezeichnen soll; da aber Graham für die Einrichtung Eures künftigen Hauses längere Zeit gebrauchen dürfte, so ist er völlig damit einverstanden, daß Ihr die ersten Wochen hier in unserem Hause lebt. Das obere große Zimmer würde mit Leichtigkeit zu Eurem Schlafzimmer und das anstoßende als Sitting-Room eingerichtet werden; vielleicht dürfte Dir das sogar ein willkommener Uebergang in die neuen Verhältnisse sein –“

Ein energisches Kopfschütteln des Mädchens unterbrach seine Rede. Sie stand bleich, aber hochaufgerichtet vor ihm, und ihr Auge hatte sein volles Feuer wieder gewonnen. „Hat Mr. Graham seine ausdrückliche Zustimmung zu diesem Arrangement gegeben?“ fragte sie mit einer Bestimmtheit, welche den Alten die Augen weit öffnen machte.

„Ausdrücklich – weshalb gerade ausdrücklich?“ erwiderte er; „wie jeder Bräutigam hat er bereitwillig erklärt, daß er Allem zustimme, was seiner Lady recht sei!“

„So muß ich Ihnen Eins sagen, Sir!“ versetze sie, und ihre Stimme nahm einen harten Klang an, während es leise um ihren Mund fast wie Verachtung zuckte. „Ich bringe das Opfer meines ganzen Lebens und bringe es der Zukunft derer, die mir am nächsten stehen – aber nicht eines augenblicklichen Vortheils Ihres Geschäfts willen, Sir. Sie scheinen das, was ich zu thun bereit bin, völlig zu verkennen, sonst würde Ihnen das einfache Gefühl den nöthigen Zartsinn gegen mich gelehrt haben; Sie scheinen meine Opferfähigkeit als gute Chance zu betrachten, aus welcher möglichst schnell der größtmöglichste Gewinn gezogen werden muß, und Sie scheinen mich noch zuletzt recht gründlich lehren zu wollen, daß mein früheres Urtheil – selbst in dem Verhältniß des Vaters zur Tochter– keine Ausnahme erleidet!“ Ihre Augen verdunkelten sich, und eine plötzliche Aufregung schien sie übermannen zu wollen. Aber sie kämpfte kräftig die augenblickliche Schwäche nieder. „Was ich zu thun versprochen habe, werde ich in meiner Weise thun, Sir!“ fuhr sie fort, „und sollte Ihnen oder Mr. Graham eine meiner Anordnungen nicht conveniren, so bedarf es eben nur eines Wortes, um die heutigen Verhandlungen als ungeschehen zu betrachten. Ich werde für unsere künftige Wohnung selbst ein Haus in der Stadt auswählen, wie es meinen Anforderungen entspricht, ich werde mir zwei Zimmer darin nach eigenem Gutdünken einrichten lassen, wogegen Mr. Graham in allem Uebrigen seinem eigenen Geschmacke folgen mag. Dann werde ich den Tag bestimmen, der, ohne die geringste festliche Bezeichnung, mich in meine neue Heimath bringen soll, und liegt Ihnen daran, Sir, diesen Zeitpunkt möglichst nahe zu rücken, so senden Sie mir zu meiner Unterstützung den alten Henderson aus Ihrem Geschäft, von dem ich wenigstens hoffen darf, daß er mir ohne Selbstinteresse oder Nebenzwecke dienen wird!“ Sie neigte sich mit leichter Kürze und verließ, als wolle sie jeder Antwort ausweichen, raschen Schrittes das Zimmer.

Winter sah ihr einen Augenblick mit demselben unbeweglichen Gesichte nach, welches er während der ganzen Rede beibehalten hatte, und strich dann mit der Hand über die Stirn. „Ich bin zu hastig gewesen,“ murmelte er; „indessen ist die Hauptsache in Ordnung, denn sie hält ein gegebenes Wort für heilig, und nach abgeschlossenem Contract mag er suchen, mit ihr fertig zu werden!“ Er schritt langsam hinaus nach der Vorhalle und nach einer Viertelstunde [402] trat er in Graham’s Gesellschaft vor die Hausthür, wo soeben des Letzteren Pferd vorgeführt ward. Beide Männer drückten sich wie in abgemachter Sache die Hände, der Jüngere schwang sich in den Sattel und sprengte, respektvoll nach den obern Fenstern hinaufgrüßend, davon.

Wenige (engl.) Meilen den Fluß hinauf bildete eine breite Dampffähre die Verbindung zwischen beiden Ufern, und drüben breitete sich die volkreiche Handelsstadt aus, in welcher sich das Commissions- und Speditions-Geschäft von John Winter, sowie das Bank- und Wechselgeschäft von Charles B. Graham befand. Winter hatte sein Besitzthum auf dem diesseitigen Ufer als wenig bedeutende Farm bei seiner Verheirathung überkommen, hatte es erst bei zunehmendem Wohlstande mit dem jetzigen Hause und den verschiedenen Anlagen versehen, die Betreibung der geringen Landwirthschaft aber seinen wenigen Schwarzen unter Obhut seiner Frau überlassen, welche, in einfach ländlichen Verhältnissen erzogen, auch nur hierin ihre Befriedigung fand, und führte so, nach Art eines großen Theils der amerikanischen Geschäftsleute, ein völlig getheiltes Privat- und Geschäftsleben. Mit zunehmender Bedeutung war er bestrebt gewesen, seinen Kindern eine seiner Stellung gemäße Erziehung geben zu lassen; so war Jessy zu einer in fashionabeln Verhältnissen lebenden, verwittweten und kinderlosen Schwester seiner Frau gethan, Carry aber später in einer nahegelegenen sogenannten Akademie erzogen worden, und erst nach Jessy’s Rückkehr, die nach dem Tode der Tante erfolgte, war auch die jüngere Tochter wieder in’s elterliche Haus heimgekehrt. Ein noch jüngerer Sohn litt an fortdauernder Kränklichkeit, die ihn zum steten Gesellschafter der Mutter machte und nur mit großen Unterbrechungen ihn eine der städtischen Schulen besuchen ließ.

Das war es, was die Öffentlichkeit von Winter’s häuslichen Verhältnissen wußte; weniger aber war sie über das eigentliche Wesen seines Geschäftes klar, das ihm in verhältnißmäßig kurzer Zeit ohne sichtbare Glücksumstände zu einem nirgends bezweifelten Reichthume verholfen hatte. Man wußte, daß er viel mit Europa arbeitete; bei alledem waren seine Verschiffungen von kaum nennbarer Bedeutung, und sein gesammtes Comptoir-Personal bestand außer ihm nur in einem fast tauben Buchhalter und dem überall gekannten „alten Henderson“, einer Art Schreiber, der indessen ebenso Collector und Ausläufer für das Geschäft, als Factotum für Winter’s Privat-Angelegenheiten vorzustellen schien. Mit dem Buchhalter unter der Hand zu verkehren, war seines Gehörfehlers wegen kaum thunlich; Henderson aber zog bei jeder forschenden Frage eine fast kindliche Miene und sagte: „Da müssen Sie sich an Mr. Winter selbst wenden, ich weiß von nichts und thue nur, was mir aufgetragen wird!“ und so hatte die ältere Geschäftswelt sich an die darbietenden Unklarheiten gewöhnen müssen; war es doch genug, daß Winter selbst in kritischen Zeiten immer „gut wie Gold“ war; die jüngere Welt indessen zerbrach sich mit derlei Scrupeln noch weniger den Kopf, feierte die beiden Mädchen als Schönheiten und gute Partien, erklärte Jessy’s bekannte Sprödigkeit und eigenthümlichen Stolz mit dem doppelten Reichthume, welchen sie durch das Vermögen der Tante besaß, und drängte sich zu den einzelnen „Parties“, welche Winter im Laufe jeden Jahres in Oakhill gab.

Es war acht Tage nach der letztbeschriebenen Scene. In einer der Straßen, welche nur zu Privatwohnungen der kaufmännischen Aristokratie dienen und mit ihren grünumbuschten, von leichten Veranda’s gezierten Häusern eine Doppelreihe geschmackvoller Villen darstellen, standen in einem offenen, mit Orangerien und frischen Blumen geschmückten Eingänge ein alter, noch ungebeugter Mann und eine hellgebräunte Mulattin, Beide sichtlich in Erwartung von etwas Kommendem. „Und ich sage Ihnen, Mister, daß noch Niemand so etwas gesehen hat,“ sprach die Letztere wie in Fortsetzung einer begonnenen Rede, „und wenn Sie in der Logis-Einrichtung nicht eine verkehrte Wirthschaft angestellt haben, Sir, so will ich zeitlebens Baumwolle lesen!“

„Glaub’s, daß Ihnen als junge Frau die Einrichtung nicht behagen würde,“ nickte der Alte mit einem Seitenblick voll stillen Humors, „es wird aber doch so bleiben, sie hat einmal ihre Launen, wie Mr. Winter sagt.“

„Sie hat nicht ihre Launen, Mr. Henderson, und Sie sollten das am wenigsten nachsprechen!“ erwiderte die Farbige eifrig, „ich weiß noch ganz gut die Zeit, wo sie Ihnen oft ihren einzigen Vierteldollar zugesteckt hat, wenn Ihnen das Geld für Kautabak ausgegangen war –“

„Und Sie ihn mir wieder abjagen wollten!“ unterbrach sie der Andere mit ungetrübter Laune.

„Nun ja, Miß Jessy und ich waren eben noch Kinder!“ lachte das Mädchen, während ein reines Roth in ihre bräunlichen Wangen stieg; „ich möchte aber nur wissen, wer von üblen Launen bei ihr sprechen kann, wenn er es nicht eben nur darauf angelegt hat. Ich bin hier im freien Staate und könnte gehen, wohin ich wollte, aber ich möchte lieber drüben über dem Flusse mit auf dem Felde arbeiten, wenn’s sein müßte, als von ihr gehen!“

„Well, Flora,“ sagte Henderson mit plötzlich ernst werdendem Gesichte und gedämpfter Stimme, „wenn Sie sie denn lieb haben, so werden Sie gut thun, die Augen zuzumachen für Alles, was Sie hier sehen sollten, und so stumm zu werden, wie unser Buchhalter taub ist!“ Er nickte ihr mit einem bedeutungsvollen Blicke zu, und das Gesicht der Mulattin hob sich mit dem aufsteigenden Ausdrucke gespannter Neugierde.

„Sie meinen doch nicht, daß das auf die jetzige Art wirklicher Ernst werden soll?“ fragte sie halblaut und mit weit geöffneten Augen.

„Ich meine nichts und sage nichts!“ erwiderte er; „was hier oben Besonderes eingerichtet worden, ist auf ihre bestimmte Anordnung geschehen, und das ist Alles! Ich weiß aber, daß eine einzige unrechte Bemerkung schon mehr Unheil angerichtet hat, als sich jemals hat wieder gut machen lassen, und daß ein schweigsamer Mund noch niemals gefehlt hat!“

„Aber die doppelten Schlösser an ihren Zimmern, Henderson! er wird ja doch ihr Mann!“ flüsterte die Farbige.

„Sie sind’s nicht, die sich verheirathet!“ nickte der Alte entschieden, während er dennoch einen Seitenblick voll leichten Spottes nicht zurückhalten konnte; Flora indessen sah mit erregten Augen in’s Freie hinaus, und eine ganze Welt voll neuer Gedanken schien in ihr zu entstehen.

Da rasselte eine Equipage die Straße herab und hielt vor dem Hause; rasch herzueilend öffnete der Alte den Schlag, und Graham in sorgfältiger, steifer Toilette sprang heraus; ehe er sich aber noch umdrehen konnte, um die ihm folgende Dame zu unterstützen, hatte diese bereits den Boden erreicht und wandte den Kopf wieder nach dem Innern des Wagens. Es war Jessy in einfachster Straßentoilette. „Ich danke Dir herzlich für Deine Begleitung, Vater, aber damit sei es für alles Weitere genug!“ sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit. „Ich bedarf der Ruhe und möchte vor allen Dingen allein sein. Adieu, Carry!“ setzte sie in weicherem Tone hinzu, und in ausbreitendem Schluchzen lag die jüngere Schwester an ihrem Halse. „Besuche mich recht bald und recht oft!“ flüsterte sie dieser zu, als scheue sie sich, die Bewegung in ihrer Stimme laut werden zu lassen; dann aber riß sie sich kurz aus der Umarmung und bot mit einem kalten, ernsten Ausblick dem wortlos harrenden Graham ihren Arm.

Die Equipage rollte davon, und das Paar schritt dem Hause zu.

„Haben Sie die Decoration hier besorgt?“ wandte sie sich beim Erblicken des geschmückten Eingangs nach dem seitwärts folgenden Henderson, und ein halbes Unbehagen ging über ihr Gesicht.

„Es ist eine Aufmerksamkeit meiner Freunde, Jessy,“ versetzte Graham, und es war, als unterdrücke er ein Beben seines Tons; „es konnte Niemand glauben, daß nicht heute ein Tag des Glücks für mich sei!“

Sie antwortete nicht und reichte der ihr entgegenkommenden Mulattin die Hand, auf welche diese ihre Lippen drückte. „Laß das, Flora, und denke, ich sei heute nichts Anderes, als ich jemals war!“ wehrte sie leicht, „gehe voran nach meinen Zimmern, ich werde gleich selbst dort sein!“

Sie hatten die elegante „Halle“ betreten, und Jessy wandte sich mit einer bestimmten Bewegung der ersten Thüre zu, einen der beiden reich ausgestatteten Parlors öffnend, welche das Erdgeschoß des Hauses einnahmen. Sie machte sich nach ihrem Eintritte leicht von dem Arme ihres Begleiters los und hob mit ernster Ruhe den Kopf. „Haben Sie noch irgend einen Wunsch gegen mich auszusprechen, Sir?“ fragte sie. „Wo nicht, so wird das Abendessen zu rechter Zeit bereit sein, und ich werde Sie dabei erwarten!“

„Ich habe allerdings den Wunsch, einige Worte mit Ihnen zu reden!“ erwiderte er, sich nach der offengebliebenen Thür wendend und diese schließend. Dann zog er einen Stuhl herbei und deutete nach dem nächsten Fauteuil. „Setzen Sie sich einige Minuten, Jessy!“

[403] Sie nahm den angewiesenen Sitz ein, während Graham sich ihr gegenüber niederließ, aber der ausschauende Blick des Letzteren traf in ein völlig unerregtes, gleichgültiges Auge.

„Sie sind heute Mistreß Graham, das will heißen: meine Frau geworden, Jessy,“ begann er nach einer kurzen Pause, „wir haben einen Contract auf Lebenszeit gemacht, und ich bin ihn trotz der von Ihnen mir gestellten Bedingungen eingegangen. Ich möchte Sie nun aber fragen, ob wir es für die Dauer eines ganzen Daseins wohl ertragen werden, in einem Verhältniß neben einander herzugehen, das den peinlichsten Zwang in unser häusliches Leben führen, jede heimathliche Wärme, jede innere Befriedigung ausschließen, uns selbst aber für einander zu gegenseitigen Steinen des Anstoßes machen muß – und das Alles ohne eine Hoffnung auf jemalige Aenderung, als Abschluß dessen, was wir für immer vom Leben zu erwarten haben? Sie, Jessy, sind noch zu jung und ich noch zu wenig kalt für eine Zukunft, die nie einen Lichtstrahl böte, und darum muß ich trotz Allem sprechen, was Ihr eigenthümlicher Sinn Ihnen auch als künftige Selbstbefriedigung vorgemalt haben mag. Sie lieben mich nicht, Jessy, aber ich hoffe, Sie dürfen mich achten, und eine auf Achtung gegründete Zuneigung ist dauernder und für das praktische Leben mehr werth, als das Meiste von dem, was Liebe genannt wird. Diese Zuneigung mir aber von Ihnen zu erringen, müssen Sie mir erlauben, Jessy; in ihr liegt die einzige Hoffnung für unseren vereinten Weg, in mir allein haben Sie Ihr ganzes Leben zum Abschluß gebracht, und stoßen Sie mich kalt von sich, verweigern Sie jeden aufrichtigen Versuch, mich von meinen bessern Seiten kennen und so endlich in innigerer Vereinigung mit mir das Leben ertragen zu lernen, so haben Sie sich eben so elend gemacht, wie mich selbst! – Seien Sie vernünftig, Jessy, und glauben Sie doch nicht, daß ein Verhältniß überhaupt bestehen kann, wie Sie es sich ausgedacht!“ fuhr er lebendiger fort und suchte ihre Hand zu fassen; sie aber hatte sich bei seinen letzten Worten rasch erhöben.

„Bleiben Sie von mir, Sir!“ erwiderte sie mit aufblitzendem Auge und trat einen Schritt zurück. „Sie wissen das Elend voll zu malen, das uns erwartet, und dennoch haben Sie den Contract für Lebenszeit vollzogen, haben ihn angenommen, trotz der bündigsten Bedingungen meinerseits – warum, Sir, wenn es nicht unter dem einfachen Vorbehalte geschah, ein schwaches Mädchen zu betrügen, sobald es in Ihre Macht gegeben sei – und soll dies vielleicht die Achtung erzeugen, aus welcher sich eine Zuneigung für Sie entwickelt? Ich habe Ihnen die Abneigung, die in mir lebte, offen genug gezeigt – und Sie haben trotzdem meiner begehrt. Sie haben das gezwungene Opfer nicht verschmäht, das ich dem Glücke meiner Familie brachte, Sie haben mit Ihrem Ehrenworte versprochen, die widernatürlichsten Bedingungen zu halten – wenn nun wirklich der Mensch in Ihnen noch so viel Macht über den Geschäftsmann hat, daß die Folgen Sie elend machen können, so nehmen Sie jetzt auch hin, was Sie selbst hervorgerufen. Ich aber, verlassen Sie sich darauf, Sir, werde eher mein Leben verlieren, als zu einer Selbstentwürdigung meine Hand reichen!“

Graham hatte beim Beginne ihrer Rede langsam seinen Stuhl verlassen, und sein Gesicht zeigte jetzt wieder die gewöhnlichen steifen Züge. „Very well, Ma'am!“ erwiderte er, während ein leichter Ausdruck von Hohn um seinen Mund stand, „Sie wollen Ihren Einfall wirklich in Scene setzen; nun, so müssen wir erwarten, was die Zukunft bringt. Jedenfalls werden Sie mir erlauben müssen, meine Partie noch nicht verloren zu geben. Wenn ich Sie, schon der Dienstleute halber, beim Abendessen sehen dürfte, würde es mich freuen!“

Er hatte sich nachlässig dem Fenster zugewandt; Jessy aber schritt mit erhobenem Kopfe und fest auf einander gepreßten Lippen nach der Halle und dort die mit Teppichen belegte Treppe hinauf.

Oben öffnete sie die Thür zu einem als Sitting-Room elegant eingerichteten Zimmer, dessen offene Seitenthür den Blick in ein kleines Schlafgemach gestattete, und bedeutete wortlos die ihr entgegenkommende Mulattin, sie zu verlassen. Dann schloß sie die Thür ab, that Hut und Shawl von sich und wandte sich nach dem Schlafzimmer. Lautlos fiel sie hier an ihrem Bette in die Kniee und drückte das Gesicht in die Kissen; aber ihr ganzer Körper zuckte unter einem gewaltsam hervorbrechenden Schmerze, von dem Niemand erfahren durfte, als Gott und ihr eigenes Herz.




5. In’s neue Leben.

Im vierten Stocke eines großen amerikanischen Hotels befanden sich in einem kleinen Zimmer, das von der breiten Bettstelle darin zum größten Theile eingenommen wurde, zwei junge Männer. Der Eine benutzte den engen Raum, um nachdenklich auf und ab zu wandern; der Andere saß an einem schmalen Tische, starrte in das Licht der Kerze vor sich und pfiff halblaut eine Melodie, die er mit einem Trommeln seiner breiten Finger begleitete.

„So, hier wären wir also!“ unterbrach der Letztere plötzlich seine Unterhaltung, ohne indessen seine Stellung zu ändern, „und hoffentlich wird man einmal wieder eine Art Mensch werden können. Sechs Wochen auf dem Schiffe eingepökelt,“ begann er an den Fingern herzuzählen, „drei New-Yorker Tage und Nächte mit den Wanzen Krieg geführt und endlich in die Flucht geschlagen worden; acht Tage mit Dampf- und anderen Booten auf der Reise und keinen Laut vor den Ohren, als das englische Kauderwälsch, keinen Bissen im Munde, den eine vernünftige Creatur verschlucken würde, wenn sie nicht unter diesen Unmenschen verhungern müßte – gut! bis hierher und nicht weiter, sonst könnte man aus purer Alteration jetzt schon das Heimweh bekommen –“ er zog eine wunderliche Grimasse und preßte die zusammengeballte Hand fest auf den Tisch. Dann aber drehte er mit einem beobachtenden Blicke den Kopf nach dem Gefährten. „Noch immer nicht zu sprechen, Herr Referendar?“ fragte er nach einer kurzen Weile.

Der Angeredete hemmte seinen Schritt, blickte den Dasitzenden eine Secunde lang wie gedankenabwesend an und strich sich dann mit der Hand über das Gesicht. „Hast Recht, Heinrich, es kommt bei dem Grübeln jetzt am wenigsten heraus,“ sagte er, sich langsam auf den Rand des Bettes niederlassend, „aber die Gedanken, die sich jetzt erst mit einem Male einstellen, lassen sich kaum abweisen. Für unsere beiderseitige Existenz wäre es wahrscheinlich besser gewesen, wir wären in New-York geblieben –“

„Wenigstens kürzer und wohlfeiler!“ brummte der Andere.

„Richtig! indessen weißt Du, was mich hieher zog, und die Stadt ist groß genug, um Chancen jeder Art zu bieten – Du sollst auch unter keinen Umständen bereuen, daß Du mir treulich gefolgt bist, denn ich behalte wenigstens noch Geld genug, um Dich nöthigenfalls wieder nach New-York spediren zu können.“

„Heiliges –! das fehlt mir gerade noch, um desperat zu werden!“ unterbrach ihn Jener aufspringend. „Die Reise über das Wasser herüber hat er für mich bezahlt, gefüttert hat er mich bis hierher, und nun – aber warte einmal!“ Er trat dicht vor den Dasitzenden und legte beide Hände auf seine Schultern. „Ein Tischler, der sich zu helfen weiß, Hugo, findet in diesem Amerika seinen Verdienst überall, und im Lande drin oft noch besser, als in New-York, wo alles Fremde sitzen bleibt. Darum konnte mir’s nur recht sein, daß ich mit Dir hierher ging, und Gott gebe mir nur einen deutschen Meister und ein ordentliches Glas Bier. Ueber Deine Sachen hatte ich nichts zu sagen und nichts zu denken, aber ich wußte doch eins, von dem ich in New-York ganz absonderliche Beispiele gesehen. Wo der Handwerker hier fortkommt, hat der feine Mann mit aller Gelehrtheit oft Noth, und ich habe mein Gewissen, das schwer von alle dem Gelde ist, das ich Dir entzogen, damit getröstet, daß, wenn einmal eine Zeit eintreten sollte, wo – na und so weiter!“ unterbrach er sich mit einer raschen, halbverlegenen Kopfbewegung, „daß dann der Mangold auch da wäre, um jedenfalls als seine verfluchte Schuldigkeit Alles zu theilen, was er hat und verdient. – Das aber habe ich sagen müssen,“ fuhr er rascher fort, als fürchte er eine Unterbrechung, „damit ich Dir wenigstens wieder gerade in’s Gesicht sehen kann, und willst Du mich einen Esel nennen, so habe ich in Gottes Namen auch nichts dawider! So! und nun rede von Deinen Sachen!“

Er nahm seinen Sitz wieder ein; Hugo aber sah mit leicht zusammengezogenen Brauen vor sich nieder und blickte erst nach einer kurzen Weile, dem Tischler die Hand entgegenstreckend, auf. „Es ist gut, Heinrich, und Du hast jedenfalls praktischer geurtheilt, als ich,“ sagte er, den kräftigen Druck des Andern erwidernd; „ich weiß jetzt selbst kaum, was ich hier will. Da ist die Karte,“ fuhr er, langsam sein Portefeuille ziehend, fort, „die ich wie einen Schicksalswink betrachtete, als ich sie in Deinem Briefe fand, die mir auf der ganzen Reise ein Ziel gab, da ich nirgends ein anderes hatte, und der ich ohne einen andern Gedanken gefolgt bin, als daß es Wohl gleich sei, wo ich mein neues Leben beginne. Ueber dem Flusse, ein Stück drüben in’s Land hinein, soll jetzt die [404] Besitzung liegen; und nun – was will ich dort, oder in welcher Eigenschaft könnte ich mich einführen, selbst wenn sich meine Vermuthung über den Absender bestätigte?“

„Weiß doch nicht, ob es nichts helfen könnte, sich einmal die schöne Gegend zu besehen,“ erwiderte der Andere, sich nachdenklich die Nase reibend; „umsonst werden solche Einladungen nicht gemacht, und ich wenigstens ließe sie nicht aus, da wir doch einmal hier sind!“

„Und was weiter, Heinrich? Soll ich den Leuten sagen, daß ich im Augenblicke ohne Mittel für eine anständige Existenz bin und die erste beste Stellung, welche sich mir bietet, annehmen muß? oder den unabhängigen Mann spielen, damit ich mich später um so mehr bloß gebe?“

Der Tischler hob mit einem launigen Aufblicke den Kopf. „Du magst Deinen besondern Grund haben, nicht geringer als früher aufzutreten,“ sagte er, und in des Referendars Gesicht trat ein leichtes Roth, „ich denke aber doch anders! Wenn es die richtige Person war, von der die Karte kam, so war es auch damals ein Freundschaftswink, Dich aus dem Staube zu machen; und kommst Du jetzt nach der Ordre, um die schöne Gegend zu bewundern, so wird Niemand erwarten, daß Du erst Deine Capitalien flüssig gemacht hast!“

Der Andere schüttelte den Kopf und erhob sich rasch. „Du sollst Recht haben, Heinrich,“ rief er, „ich mag auch meinetwegen ein Narr sein, wie ich es in künftigen Verhältnissen nie sein würde; als Hülfsbedürftiger aber trete ich dort nicht auf!“ Er machte einen raschen Gang durch das Zimmer. „Es giebt hier Schulen, Gymnasien und Erziehungsanstalten, so viel ich gehört,“ fuhr er dann fort, „ich habe noch etwas mehr gelernt, als Jurisprudenz, und hoffe mir irgendwo als Lehrer eine äußerlich anständige Stellung zu schaffen; andernfalls finden sich vielleicht Chancen in den fremden Verhältnissen, von denen man jetzt noch nichts weiß – erst aber jedenfalls irgendwie festen Fuß fassen, ehe ich mich Leuten zeigen mag, die – –“ er fuhr sich mit der Hand in das dichte Haar und wandte dem Gefährten wieder den Rücken.

Da klangen von der dunkeln stillen Straße halbgedämpfte Orgeltöne herauf, der Tischler hob überrascht den Kopf und fuhr dann mit einem plötzlichen „’s ist ein Leierkasten, ein richtiger Berliner Leierkasten!“ in die Höhe. Einige Secunden lauschte er völlig starr, dann brach er wie verzückt los: „Hörst Du’s, Hugo? Hörst Du das Lied? ob denn da nicht ein Thüringer Kind in dem verkehrten Lande gleich losheulen möchte?“

Hugo hatte seinen Schritt angehalten und horchte mit gesenktem Kopfe den rein harmonirenden, sanften Klängen, die ihn mit einem Schlage wieder in die abendlichen Straßen von Berlin und sein früheres sorgenloses Leben versetzten; als aber die Wiederholung der Melodie begann, schloß sich ihr plötzlich eine helle Mädchenstimme in dem Corridore vor dem Zimmer an:

„Ach, wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann?“

und Heinrich zuckte wie unter einem elektrischen Funken auf. „Das ist eine Thüringerin, o du gesegnetes Haus!“ rief er exaltirt und stand in der nächsten Secunde auch schon an der Thür. Der Referendar war neugierig herangetreten, als sich diese öffnete, und sah ein knappes frisches Dienstmädchen mit dem Reinigen der Treppe beschäftigt, aber halb erschrocken zurückfahren, als der Tischler mit der Bewegung zu einer raschen Umarmung auf sie zueilte.

Unwillkürlich lächelnd schloß der Lauschende das Zimmer. „Du wirst hier jedenfalls Dein Fahrwasser finden!“ murmelte er und warf sich auf den Rand des Bettes, und als Minute nach Minute verstrich, ohne daß Jener an das Zurückkommen zu denken schien, war er bald wieder seinen eigenen Gedanken verfallen, trat das Bild des hohen Mädchens wieder vor ihn, das während der langen Reise ihm wie ein leuchtender Zielpunkt vorgeschwebt und dem er sich doch jetzt, wie im plötzlichen Erwachen, so ärmlich und niedrig gegenüber gestellt sah, daß die Wirklichkeit seinen unbestimmten Träumen wie lebendiger Hohn in’s Gesicht blickte – begann er das, was er unterwegs über die Verhältnisse der Stadt gehört, auf’s Neue sich vor die Seele zu stellen und einen Plan zur möglichst raschen Ergründung aller für ihn vorhandenen Chancen zu entwerfen. Schon in Hamburg, beim Einwechseln seiner Baarschaft in amerikanisches Geld, hatte er mit Schrecken gesehen, wie diese nach dem Dollarfuße zusammenschmolz, und hatte deshalb bereits der Dampfschiffpassage die längere, aber bedeutend billigere Reise mit einem Auswandererschiffe vorgezogen. Nach dem Landen im New-Yorker Hafen aber erkannte er erst, wie weit alle seine Berechnungen hinter den wirklichen Ausgaben zurückblieben, und als er endlich, ohne nur daran gedacht zu haben, sich nach der Ueberfahrt von dem Tischler zu trennen, mit diesem das vorgesetzte Reiseziel erreicht, hatte er mit wirklicher Sorge die ihm noch übrig gebliebene Baarschaft durchzählt. Vor einem halben Jahre durfte er nicht auf die Uebersendung des Restes seines kleinen Vermögens rechnen, und noch einmal Vorschuß von Römer fordern, erschien ihm als ein Mißbrauch der Freundschaft, zu welchem er sich in der höchsten Noth kaum hätte verstehen können. Einmal indessen hätten auch bedeutendere Mittel ihr Ende erreichen müssen, und vielleicht war es recht gut, daß er gezwungen war, gleich rasch und bestimmt nach seiner künftigen Existenz zu sehen – der frische Jugendmuth hob sich wieder in ihm, konnte ihm doch bei dem fertigen Verständniß der Landessprache und seinem übrigen Wissen kaum ein einigermaßen erträgliches Unterkommen in der großen Stadt fehlen, und als nach fast einer halben Stunde der Tischler wie der Marder, der vom Taubenhaus kommt, in das Zimmer trat, vermochte er diesen mit einem gutgelaunten „Du fängst mit schönen Streichen an, Heinrich!“ zu empfangen.

„Ja,“ erwiderte der Angeredete, mit plötzlich ernstwerdendem Gesichte stehen bleibend, „ob es nicht wunderbar ist, daß der Mensch erst nach Amerika gehen muß, um sich das Rechte aus der Heimath zu holen! ’s ist eine Arnstädterin, und das Mädchen, Hugo – heirathe ich einmal, wenn der Stock nicht mehr beim Hunde liegt!“

„Beschlaf es noch einmal und sieh Dir morgen die Sachen bei Tageslicht an!“ lachte der Daliegende.

„An’s Schlafen soll es sogleich gehen,“ nickte der Andere, sich zugleich seines Rockes entledigend, „aber wegen des Uebrigen –

Ach, wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann?“

sang er plötzlich und war mit einem Satze im Bette.

[429] Hugo’s erster Weg am nächsten Morgen war es, sich nach einem anständigen deutschen Gasthause zu erkundigen. Einestheils vermuthete er dort billigere Zeche und andererseits wollte er sich lieber einem Landsmanne, als einem der kalten Gesichter, wie sie ihm in der „Office“ des amerikanischen Hotels entgegenstarrten, anvertrauen. Schnell genug war er auch nach einem leidlich aussehenden Hause gewiesen, und die behäbige Gestalt des Wirths, welche ihm in der düstern, aber reinlichen Schenkstube entgegenkam, [430] brachte einen nur freundlichen Eindruck auf ihn hervor. Indessen mußte er bei dem Verlangen nach Logis für einige Zeit sich einer Musterung seines Aeußeren, wie einer Examination über sein Gepäck unterwerfen, und erst als Beides befriedigend ausgefallen schien, ward er mit dem Versprechen, daß ein passendes Zimmer bereit gemacht werden solle, zum Sitzen eingeladen und nach Wer und Woher gefragt. Das Zimmer war bei der frühen Morgenstunde noch leer, und der junge Mann beschloß ohne Weiteres die Gelegenheit wahrzunehmen, um ein Urtheil über seine Aussichten zu erlangen. Er bestellte zur Einleitung des weitern Gesprächs Bier, für sich wie für den Wirth, und begann dann dem Letzteren in kurzen Worten seine kaum geschehene Ankunft im Lande, seine Unkenntnis der Verhältnisse, wie seine Gedanken über einen künftigen Broderwerb mitzutheilen, gab eine Andeutung seiner vorhandenen und noch zu erwartenden Geldmittel, deren Verbrauch vor Gründung einer Existenz er indessen nicht abwarten dürfe, und bat dann den „Landsmann“ um Abgabe seiner ungeschminkten Meinung über die sich bietenden Aussichten, wie möglicherweise um einen Rath.

Der Wirth hatte ihn, ohne eine Miene zu bewegen, angehört und schob jetzt den Schirm seiner Mütze, welche den Tag über nicht von seinem Kopfe zu kommen schien, aus der Stirn. „Sind Sie denn katholisch?“ fragte er. Hugo schüttelte befremdet den Kopf und erkundigte sich nach dem Grunde der Frage.

„Ja, dann wäre vielleicht eher etwas zu machen gewesen,“ erwiderte der Erstere und begann mit dem Finger nachdenklich Figuren auf den Tisch zu zeichnen; „die Katholiken allein haben unter den Deutschen eine besondere Schule, und der Pfarrer könnte wohl etwas für Sie thun; damit ist es nun aber nichts. Die übrigen Deutschen schicken ihre Kinder in die amerikanischen Freischulen und geben auch auf anderweites Lernen nicht viel. Unter den Amerikanern könnte sich wohl, wenn Sie die Kenntnisse dazu besitzen, manche Gelegenheit zu einer Anstellung für Sie finden, aber Sie müßten eben Bekanntschaften und Empfehlungen haben, ohne die es nicht geht. Es ist eine traurige Geschickte in Amerika, wenn Einer nicht sein richtiges Geschäft hat, zu dem er hier wieder greifen kann, und ich habe schon manchen tüchtigen Menschen, der nichts weiter konnte, als was man drüben auf Schulen und Universitäten lernt, verlumpen sehen – ich sag’ es Ihnen frei, und gleich jetzt, damit Sie sich keine großen Hoffnungen machen, an denen Sie nur Zeit und Geld verlieren können! Versuchen Sie Ihr Heil,“ fuhr er aufsehend fort, „besuchen Sie die Präsidenten in den verschiedenen Schulanstalten, vielleicht haben Sie irgendwo ein ganz besonderes Glück, denn ohne das soll sich ein völlig Fremder und noch dazu ein Deutscher auf nichts Rechnung machen!“

Hugo sah in das Gesicht des Mannes, in dem zwar wenig Theilnahme, aber die volle Aufrichtigkeit der Ueberzeugung geschrieben stand, und wie ein Gespenst trat es zum ersten Male vor ihn, daß er doch kaum leichtsinniger hätte handeln können, als sich auf Gerathewohl den Verhältnissen eines unbekannten Landes anzuvertrauen – nur im Hintergrunde seiner Seele noch standen einzelne unbestimmte Geschichten von jungen Leuten, ähnlich ihm, die hier in andere Broderwerbe übergegangen und ihr Glück darin gemacht hatten; aber er klammerte sich unwillkürlich, wie an den einzigen sichtbaren Halt, daran. „Und giebt es denn nicht irgend einen andern Weg, auf dem ein junger Mann mit gutem Willen sich zu einer neuen Existenz verhelfen könnte?“ fragte er, nur mühsam seine innere Stimmung verdeckend, „ich wäre doch gewiß nicht der Erste, der, ohne gerade ein Handwerk gelernt zu haben, sich hier forthelfen würde!“

„Der Erste allerdings nicht und gewiß auch nicht der Letzte – Sie haben sogar noch vor Vielen voraus, daß Sie, wie Sie sagen, fertig im Englischen sind,“ erwiderte der Wirth, langsam seine Mütze rückend, „von denen aber hat noch Keiner sich in ein fertig gemachtes Nest hineinsetzen können, wie Sie es wollen. Es kostet für Leute Ihrer Art zweierlei, um sich hier einen Weg zu schaffen: zuerst Alles ausstreichen und vergessen, was drüben einmal gewesen, und sodann sich hier geduldig jeder Lehrzeit unterziehen, wenn sie vorläufig nur das nackte Leben bringt, denn hier giebt es keine Arbeit, die einen Menschen schändet. Manche freilich kommen niemals aus der Lehrzeit heraus, eben weil sie sich nicht dem neuen Lande mit Allem, was sie sind und haben, ergeben können und immer noch mit zehnerlei Gefühlen und dergleichen an ihrer Vergangenheit hängen; das sind die Menschen, die sich endlich hier das Leben nehmen oder, wenn sie es fertig bringen, wieder nach Deutschland zu kommen, drüben Amerika schlecht machen; der ordentliche Mensch mit richtigem Verstande und kräftigem Willen aber merkt ganz geschwind selber, wenn er über die Lehrzeit hinaus und für das Land reif geworden ist, und was ihn erst am meisten gedrückt hat, das wird ihm nachher zum Mittel, um sich überall seinen Weg zu schaffen. Wie Sie mich hier sehen, war ich der Nächste zum Ober-Zollinspector, als ich Anfang der dreißiger Jahre froh sein mußte, mit heiler Haut aus Amt und Heimath zu entkommen; ich wurde zuerst in New-York eine Art Küfergehülfe, wenn ich auch nur in meiner Wein- und Spirituosen-Kenntniß das Zeug dazu hatte, und dankte noch Gott für das neue Brod – jetzt hat mein Sohn mein hier später errichtetes Weingeschäft sammt den Weinbergen bei der Stadt übernommen, und ich habe das Gasthaus wie eine Art Ruheposten behalten.“ Er rückte wieder nachdenklich an seiner Mütze, während der junge Mann vor einem Wirrsal von Gedanken, welches die derbe Rede in ihm hervorgerufen hatte, zu keinem eigenen Worte zu gelangen vermochte.

„Ich habe Ihnen da mehr gesagt,“ begann der Sprecher nach einer kurzen Pause, „als ich sonst überhaupt sage, da bei grünen Eingewanderten selten ein Rath viel nützt; Sie haben aber offenherzig zu mir gesprochen, obgleich Sie noch Geld im Sacke haben, und so habe ich Ihnen geantwortet. – Ich will Ihnen sogar noch etwas mehr sagen,“ fuhr er fort, einen langsamen Blick über das ganze Aeußere des Gastes laufen lassend; „Sie könnten hier möglicherweise als Sprachlehrer auftreten und ein paar Schüler gewinnen, dabei aber in ewiger Zeit nicht aus dem Elende herauskommen, wie überhaupt das ganze Gelehrtenwesen hier keinen Boden hat, wenn es nicht als Geschäft mit einer eigenen Schule oder dergleichen betrieben wird, und dazu fehlt Ihnen die Kenntniß der richtigen Manier, was wir hier den „Humbug“ nennen, und mangeln Ihnen wohl auch die Mittel. Wollen Sie hinter sich werfen, was hinter Ihnen liegt, und Ihre Lehrzeit frischweg anfangen, so habe ich bei mir selbst eine Stelle als Barkeeper für Sie, das heißt als ein Mann, der hier die Gäste bedient, aber mich auch sonst in jeder Weise im Hause vertritt. Sie haben etwas an sich, das mir gefällt und mir Vertrauen macht, und stellen zugleich eine rechte Person vor. Sie aber werden dabei geschwinder das ganze amerikanische Leben kennen lernen und sich für jede Art von Geschäft fixer machen, als in irgend einer andern Stellung – geben Sie mir einmal jetzt keine Antwort!“ unterbrach er sich, als plötzlich ein tiefes Roth in Hugo’s Gesicht trat, und ein eigenthümliches Lächeln glitt über das wohlgenährte, faltenreiche Gesicht des Sprechenden, „ich kann mir vorstellen, daß Ihnen der Vorschlag kommt, wie ein Donnerwetter um Weihnachten. Es wird jedenfalls gut sein, wenn Sie sich erst ruhig im Hause einrichten und sich das Leben hier ansehen, auch in Gottes Namen ein paar Versuche zu einem andern Unterkommen machen. Ich bin die letzten Tage allein fertig geworden, da ich nicht jedem beliebigen Menschen meine Sachen anvertrauen mag, und werde es auch noch zwei oder drei Tage länger können. Also,“ setzte er mit dem früheren Lächeln, sich langsam erhebend, hinzu, „nehmen Sie einmal den Porter mit sich, der Ihr Gepäck hierher schaffen wird, und trösten Sie sich vorläufig damit, daß, wenn Alles fehlschlägt, Sie wenigstens eine Stellung haben können, die Ihnen das tägliche Brod giebt!“ – Hugo befand sich, um seine Uebersiedelung bewerkstelligen zu können, auf dem Wege nach seinem bisherigen Hotel, hätte aber vor dem Drange der in ihm kämpfenden Empfindungen und Vorstellungen kaum die Richtung eingehalten, wenn er nicht mechanisch dem ihm beigegebenen Begleiter gefolgt wäre. Es hatte ein solches Gepräge der Wahrheit auf jedem Worte gelegen, welches der Wirth gesprochen, daß er sich der Wirkung derselben, trotzdem sich sein ganzes Gefühl gegen eine praktische Anwendung erhob, nicht entziehen konnte; es war sichtlich reines Wohlwollen gewesen, was dem Manne seinen letzten Vorschlag dictirt, und doch empfand diesen Hugo wie eine Beleidigung, wie eine Verletzung seiner innern Würde. Ungerufen trat die stolze, glänzende Erscheinung des Mädchens, deren Familienadresse er hierher gefolgt war, vor ihn, und nun dachte er sich selbst daneben als – ersten Aufwärter eines kleinen Gasthauses! Und dennoch stand wieder etwas in seiner Erinnerung von den trüben ersten Jahren eines Jeden, der ohne bestimmten Plan in das sonderbare Land kommt, etwas, das mit der „Lehrzeit“ seines Rathgebers völlig übereinstimmte, und zugleich klang ihm das: „hier schändet keine Arbeit!“ von Neuem in die Ohren [431] – und was sollte er auch beginnen, wenn sich die Vorhersagungen seines neuen Freundes in Bezug auf die Erlangung einer Lehrerstellung bethätigten? In einem Zwiespalt seines Innern, wie er ihn noch nie so peinigend empfunden, erreichte er sein letztes Nachtquartier und ordnete das Wegschaffen des Gepäcks an. Für den Tischler, welcher das Hotel mit ihm zugleich verlassen gehabt, hinterließ er die Angabe seines jetzigen Aufenthaltes und trat sodann den Rückweg an.

Mit einem stillen Nicken empfing ihn der Wirth und ließ ihn nach einem kleinen, aber freundlichen Zimmer im zweiten Stock geleiten; Hugo achtete indessen kaum auf seine neuen Umgebungen; er fühlte sich in seinen Entschlüssen und seinem Urtheile so unsicher, daß vor der Unruhe in ihm die äußeren Eindrücke nur halb zu seinem Bewußtsein gelangten, und kaum schloß sich hinter dem heraufgeschafften Gepäck die Thür, als er sich auf den Stuhl am Fenster warf und sich frei seinen innern Regungen überließ. Er wollte erst Mangold’s Rückkehr erwarten, dessen gesunder Verstand oft Alles ersetzte, was dem Handwerker an feinerem Gefühle abgehen mochte, ehe er irgend einen weitern Schritt that; aber es währte wohl noch eine Stunde, welche der Wartende, bald in Träumereien versinkend, bald ungeduldig das Zimmer durchmessend, verbrachte, ehe das aufgeweckte Gesicht des Gefährten in der geöffneten Thür erschien.

„Richtig schon Standquartier genommen – nun, ich bin auch nicht faul gewesen!“ rief dieser eintretend. „Zweierlei Neues, Hugo! Zuerst also habe ich Arbeit und darf mich ohne Schande wieder im Spiegel besehen – es ist zwar in der Tischlerei eine sonderbare Manier hier zu Lande, vor der ein Meister in Deutschland die Krämpfe bekommen würde, aber ein richtiger Soldat muß sich in Alles finden, wie unser Unterofficier sagte, und ich wünsche nur, daß Du einen so schnellen Treffer hast, als ich!“

„Hab’ ihn gehabt, Heinrich,“ erwiderte der Andere mit einem leichten Zucken um den Mund, „hatte schon vor länger als einer Stunde eine Stellung.“

„Du?! wo denn um Gotteswillen in der Geschwindigkeit?“

„Unten im Gastzimmer hinter dem Schenktische!“

Heinrich sah den Freund einen Augenblick mit großen Augen an. „Barkeeper?“ fragte er dann, und eine Mischung des verschiedensten Ausdrucks klang in dem Worte.

„Barkeeper, Heinrich, und wenn Du zum Biere kommst, darfst Du mich herunterputzen, wenn ich Dir nicht schnell genug aufwarte!“

Der Tischler begann seine Nase zu streichen. „Wenn das Spaß war, Hugo, so war es unrecht,“ sagte er langsam, „als Ernst aber noch viel mehr. Ich weiß, daß der Barkeeper die Hauptperson in einem Hause ist, wenn er nur den Mann dazu vorstellt, und habe in New-York einen preußischen Officier hinter der Bar gesehen, vor dem ich mehr Respect bekam, als wenn er in der Uniform gesteckt hätte. Dir hätte ich freilich den Anfang nicht vorschlagen mögen, und nun sage mir nur, was davon wahr ist!“

„So viel, daß es wahrscheinlich meine erste und letzte Ressource ist, wenn der Wirth die hiesigen Verhältnisse kennt!“ rief Hugo unruhig aufspringend und von Neuem das Zimmer durchmessend.

„Und warum kann es nicht irgendwo mit einer Lehrerstelle etwas sein?“ fragte der Tischler, mit den Augen den Bewegungen des Gefährten folgend.

„Weil ich unter den Amerikanern nirgends ohne Empfehlung ankomme – einfach, und gerade wie anderswo auch!“

„Und warum läßt Du Dich denn nicht empfehlen?“ erwiderte der Andere trocken. Hugo blieb stehen und sah den Frager mit ernstem Blicke an. „Nun ja,“ fuhr dieser gleichmüthig fort, „so ist es, wenn man die Leute nicht ausreden läßt. Zum Zweiten also hatte ich Dir zu berichten, daß selbiger John Winter, welcher auf der bewußten Karte steht, ein Kaufmannsgeschäft hier in der Stadt hat, daß ich das Schild selbst gelesen habe, und ich meine nun, daß eine Empfehlung wohl das Wenigste ist, was der Mann zu thun verbunden wäre. Du hast seine Tochter halb vom Tode gerettet, hast mit einem Grafen um sie schlimmen Spectakel gehabt und bist auf eine bestimmte Einladung hierher gekommen –“

Der Referendar wandte den Blick nach dem Fenster, und ein leichtes Roth der Erregung trat langsam in sein Gesicht. Eine kurze Weile schien er mit sich selbst zu kämpfen. „In der Stadt – im Geschäfte, das läßt sich eher thun,“ sagte er endlich zögernd, „Gott mag nur wissen, ob der Mann überhaupt etwas von der Karte weiß oder jemals von mir gehört hat. Indessen sei bedankt, Heinrich,“ wandte er sich, wie in gewonnenem Entschlusse, nach dem Freunde zurück, „und da es wahrscheinlich der einzige Schritt ist, den mir das Schicksal als Wahl läßt, so sei er auch sogleich gethan! Sage mir, wo ich Dich später treffen soll!“

„Alle Wetter, ich warte hier auf die Entscheidung!“ erwiderte der Tischler; „werde aber dabei meinen Sehnsuchtsschmerz nach dem ersten Glase Bier seit acht Tagen stillen! “

Zehn Minuten später bog der Referendar in die ihm bezeichnete Straße ein und fand schon von Weitem unter der Zahl der übrigen Handlungsfirmen, welche die Häuser bedeckten, den gesuchten Namen. Es war eins der gewöhnlichen rohen Backsteingebäude, bereits von Alter schmutzig braun geworden, dem er sich zuwandte, und mit einem leisen Kopfschütteln stellte er damit den Rang, welchen die Familie in Berlin beansprucht, zusammen. Unwillkürlich hatte er indessen seine europäische Gesellschafts-Haltung angenommen und von Allem, was in diesem Augenblicke seine Seele bewegte, fühlte er am klarsten, daß ihn selbst die drängendste Lage nicht vermögen werde, sich hier einer Selbstdemüthigung zu unterziehen.

Der untere Raum des Hauses, welcher sich durch drei breite Thüren nach der Straße öffnete und nur durch diese sein Licht empfing, war zum Theil durch Ballen und Fässer eingenommen; im Hintergrunde desselben aber zeigte sich durch eine Glasthüre eine geräumige „Office“, welche durch die Rückseite des Gebäudes ihr Licht empfing, und der junge Mann zauderte nach einem kurzen Rundblick nicht, dorthin seinen Weg zu nehmen.

Von den drei Personen, welche an einzelnen Schreibepulten beschäftigt waren, hob sich bei dem ruhigen Oeffnen der Thür nur das Gesicht eines alten Graukopfs, der, sobald Hugo nach dem Geschäftsherrn fragte, lautlos nach einem sorgfältig gekleideten Manne wies, welcher neben einem großen eisernen Geldschranke mit der Durchsicht von Papieren beschäftigt zu sein schien, jetzt aber bei der Nennung seines Namens langsam den Kopf drehte.

Der Eingetretene erkannte sofort die schon einmal gesehenen Züge und trat mit einer leichten Verbeugung heran. „Ich hatte das Vergnügen, Mr. Winter, Ihnen auf einer Alpentour bei Ersteigung des Mont en Vert im Chamouny-Thale zu begegnen,“ sagte er; „keinenfalls werden Sie sich wohl meiner entsinnen; indessen führte mich das Schicksal an demselben Tage mit Miß Winter zusammen; ich hatte auch die Ehre, diese Bekanntschaft bei einer ministeriellen Soirée in Berlin zu erneuern, sowie später Ihre Karte zu erhalten, und so wollte ich nicht verfehlen, da mich eine eigenthümliche Verkettung der Umstände hierher führt, Ihnen wenigstens meine Aufwartung zu machen!“

Winter hatte einen kurzen forschenden Blick über das Aeußere seines Besuchs geworfen, griff sodann nach der Karte, welcher Hugo seine eigene beigefügt, und zog einen Stuhl im Bereiche seiner Hand heran. „Setzen Sie sich, Sir,“ sagte er, das kalte Auge nicht von dem Gesichte des jungen Mannes lassend; „sind Sie nur zufällig hier, oder gedenken Sie länger in der Stadt zu verweilen?“

„Ich mochte sagen Beides!“ lachte Jener, ohne sich einer leichten Befangenheit erwehren zu können, „ich habe den Plan, wie so viele Andere, mir in Ihrem Lande eine neue Existenz zu gründen; ich glaube auch die nöthige Befähigung dafür zu haben, und will nun sehen, wie sich die Verhältnisse für mich anlassen.“

Der Kaufmann verneigte sich leicht; sein Gesicht war um einige Schatten kälter und zurückhaltender geworden.

„Sie können mir vielleicht sagen, Mr. Winter,“ begann Hugo nach einer Pause, die wie Blei auf ihm gelastet, von Neuem, „ob eine Möglichkeit vorhanden ist, bei einer der hiesigen Lehranstalten anzukommen? Ich glaube den Anforderungen für verschiedene Fächer entsprechen zu können und würde darin einen ganz annehmbaren Anfang für mich sehen!“

„Ich bin leider außer Stande, Ihnen mit einer Auskunft zu dienen,“ war die Erwiderung, „ich habe nicht die geringste Verbindung mit diesen Instituten; indessen dürften wir hier kaum Mangel an Lehrern haben.“

[447] Ein flüchtiges Roth war bei den Worten Winter’s in das Gesicht des Deutschen getreten, und mit einer leichten Bewegung verließ er den eingenommenen Sitz. Es war wie eine Art Scham über ihn gekommen; das ganze Wesen des Mannes schien nur darauf berechnet zu sein, irgend einer möglichen Forderung seinerseits vorzubeugen. „Sie sind beschäftigt, Sir, und so will ich nicht weiter stören!“ sagte er gemessen und machte eine Bewegung, um sich zu entfernen.

„Sie haben in Folge eines unangenehmen Vorfalls Berlin verlassen – wenn ich recht bin?“ fragte Winter jetzt, indem zum ersten Male eine Regung in sein Gesicht kam.

„Ich glaube nicht, daß Sie sich in der Person irren!“ erwiderte der junge Mann, einen Augenblick seinen Schritt hemmend, „indessen will ich, wie gesagt, nicht weiter stören!“

„Und Sie wollen hier Lehrer werden – ist das Ihre letzte Chance, Sir?“ fuhr Jener fort, ohne die Abschiedsbewegung seines Gastes zu beachten.

Hugo sah groß auf und wandte sich langsam zurück. „Ich weiß nicht, weshalb Sie in dieser Weise fragen, Mr. Winter,“ sagte er, „indessen möchte ich Ihnen zur Beruhigung sagen, daß ich nicht hierher kam, um Sie um irgend etwas zu bitten, das Ihnen Geld kosten könnte!“

Ein Lächeln wie leiser Spott glitt über des Kaufmanns Gesicht. „Ich habe die Versicherung nicht verlangt, Sir, nehme sie aber an,“ erwiderte er, „und nun beantworten Sie mir meine Frage, vielleicht kann ich Ihnen dann in etwas dienen!“

Der Deutsche stand einen Augenblick sichtlich schwankend. „Ich habe mir allerdings irgend eine Stellung zu verschaffen, wenn ich existiren will,“ erwiderte er endlich, „und es wäre eben nur ein freundlicher Rath oder eine Empfehlung gewesen, welche ich mir dafür von Ihnen erbeten haben würde.“

„Very well, Sir! so sind wir mit einander klar,“ erwiderte Winter mit einem neuen Lächeln, das den jungen Mann verletzte, er wußte selbst nicht weshalb; „gegen oberflächliche feine Bekanntschaften aus Europa sieht sich der Geschäftsmann gern vor, wenn sie hier zufällig wieder auftauchen; sie kosten in der Regel mehr, als man vermuthet!“ Er hielt einen nachdenklichen Blick auf den Referendar geheftet und strich sich dann mit der Hand über das Gesicht. „Ich könnte Ihnen möglicherweise selbst genügende Beschäftigung geben, wenn Ihnen das für den Anfang convenirte,“ fuhr er dann fort; „ich habe schon daran gedacht, mich nach einem deutschen Correspondenten umzusehen, da ich mancherlei neue Verbindungen während meiner letzten Reise angeknüpft habe. Ferner aber hätte ich gern einige Nachhülfe für meinen jungen Sohn, den Kränklichkeit zu oft aus der Schule hält; und verstehen Sie etwas von Piano und Französisch, so würde sich meine Tochter ebenfalls noch gern unter Ihre Leitung stellen.“

Hugo mußte alle Selbstcontrole anwenden, um die während des letzten Theiles der Rede in ihm aufsteigenden Empfindungen nicht auffällig werden zu lassen. Er war mit einem Male seiner drückenden Sorge enthoben, er sollte in Winter’s Familie treten, in ihre unmittelbare Nähe, die plötzlich in dem ganzen Zauber, der ihn früher gefangen genommen hatte, vor ihm stand – aber er sollte das in einer Stellung, die jede warme Regung in ihm verbot, wenn er nicht von Anfang an das in ihn gesetzte Vertrauen betrügen sollte – während er in ihren Augen zugleich als ein Mensch, der eine Nothhülfe in Anspruch genommen, gelten mußte.

„Ich möchte Ihnen dabei gleich sagen,“ unterbrach Winter seine Gedanken, als gäbe er der Zögerung seiner Antwort eine bestimmte Deutung, „daß Sie unter gewissen Umständen sich zugleich für das Ganze des amerikanischen Geschäfts hier würden herausbilden können, denn ich setze voraus, daß Ihnen nur an einem Engagement, welches Ihnen zugleich eine Zukunft bietet, etwas liegen kann.“

„Sie beschämen mich völlig, Sir!“ beeilte sich jetzt Hugo zu erwidern; „sagen Sie mir aber nur Eins: Würde die Hülfe, welche Sie mir jetzt gewähren wollen, wirklich mit Ihrem eigenen Interesse übereinstimmen, so daß ich die mir gebotene Beschäftigung nicht nur als eine Art – Almosen in meiner augenblicklichen Lage zu betrachten hätte –?“

„Ich gebe nie Almosen, Sir!“ versetzte Jener trocken; „wenn Sie aber das, was Sie eine Hülfe meinerseits nennen, völlig mit meinem Interesse vereinen wollen, so dürfen Sie sich diesem eben nur ganz anschließen. Ich bedarf einer neuen Arbeitskraft im Geschäfte, der ich in Bezug auf strenge Discretion und aufrichtige Hingabe für meine Ideen unbedingt vertrauen kann, und was Ihnen jetzt an Geschäftskenntniß und Routine naturgemäß abgeht, das würde mir für den Augenblick der Umstand ersetzen, daß Sie frei von jeder frühern Geschäftsverbindung sind, von der man bei jungen Leuten nie weiß, mit welchen Fäden sie noch mit ihnen zusammenhängen. Sie sehen, daß ich vollkommen offen spreche. Den Unterricht in meiner Familie aber habe ich Ihnen vorgeschlagen, da die geschäftlichen Arbeiten erst, wenn Sie genügende Umsicht gewonnen haben, Ihre Zeit voll in Anspruch nehmen werden, anderntheils ich auch wünschte, auf die kürzeste Weise mit Ihren Eigenthümlichkeiten mich vertraut zu machen. Ist Ihnen nun sonst noch etwas unklar, so sprechen Sie sich offen aus!“

„Ich bin mit vollem Herzen und ganzen Kräften zu Ihrer Disposition, Sir!“ erwiderte Hugo, in dessen Innern plötzlich das ganze Glück der ihm gebotenen Stellung wach geworden war, und streckte mit dem unverhüllten Ausdruck seiner Empfindung dem Kaufmann die Hand entgegen, „und wenn ich Ihnen nicht genügen sollte, so mögen Sie wenigstens versichert sein, daß weder mein Eifer noch mein guter Wille die Schuld daran tragen.“

„Very well, Sir! ich denke es einmal damit versuchen zu können,“ erwiderte Winter, mit zufriedenem Nicken die dargebotene Hand drückend, „und so machen Sie sich fertig, mit mir Nachmittags drei Uhr nach meiner Farm zu fahren, wo ich Sie meiner Familie vorstellen und Weiteres mit Ihnen reden werde. Unterwegs mögen Sie mir dann etwas Näheres über die Ereignisse, die Sie mit meiner Tochter zusammengebracht, erzählen; ich weiß nur Oberflächliches davon und hätte wohl auch das kaum erfahren, wenn nicht Ihre letzte Angelegenheit in Berlin uns direct berührt hätte.“

„Direct berührt, Sie, Mr. Winter?“ rief Hugo, überrascht aufsehend.

„Natürlich, Sir!“ lachte der Kaufmann. „Niemand wußte den Namen des Mannes, der nächst dem Gestochenen an dem Vorfalle betheiligt war, und so sollte bei meiner Tochter, die im Gespräche mit Ihnen gesehen worden, deshalb angefragt werden. Sie hatte indessen mit der Tochter des amerikanischen Gesandten, die eine Schulfreundin von ihr ist, gerade zur rechten Zeit einen Ausflug gemacht und entging der Examination – zwei Tage darauf reisten wir dann ab.“

„Und in dieser Zeit ist Ihnen nichts über die Angelegenheit weiter zu Ohren gekommen?“ fragte Hugo mit halbem Athem.

„Möglich, Sir, aber ich habe es in meinen Geschäften jedenfalls überhört!“

„Dann können Sie mich aber jetzt noch für einen Mörder halten, Mr. Winter!“

„Mörder – pshaw! Sie werden sich Ihrer Haut gewehrt haben; so, glaube ich, wurde auch damals allgemein die Sache aufgefaßt.“

„Aber ich gebe Ihnen mein heiliges Ehrenwort, daß der Mensch selbst in seinen Degen gefallen ist!“

„Desto schlimmer für Sie, Sir, so haben Sie sich ohne Ursache aus Ihrer Carriere gerissen!“ lachte der Kaufmann, „um die Angelegenheit machen wir uns keine Kopfschmerzen mehr, Sie werden hier zu Lande derartige Affairen überhaupt leichter ansehen lernen – und so lassen Sie uns jetzt Weiteres versparen bis zum Nachmittag.“

Mit vollem, glücklichem Herzen hatte der Neuangestellte den Weg nach dem deutschen Gasthause zurückgelegt und traf den Tischler in lebhaftem Gespräche mit dem alten Wirth. „Treffer, Heinrich!“ rief er und schlug im Ueberfluthen seiner frohen Stimmung den Gefährten auf die Schulter, daß dieser mit einem halbunterdrückten Schmerzensrufe in die Höhe fuhr; dann aber reichte er dem Hausbesitzer die Hand. „Werden sich doch wohl nach einem dankbareren Menschen zum Barkeeper umsehen müssen,“ sagte er, „ich habe auf einen Bekannten, dem ich früher in Berlin begegnet, getroffen – John Winter, dessen Geschäft Sie jedenfalls kennen werden – und bin als Correspondent von ihm engagirt worden!“

[448] „Halloh! jetzt wird noch einmal gefrühstückt!“ schrie der Tischler auf, „ob wohl der Mangold schon einmal einen verkehrten Einfall gehabt hat!“

Der Wirth indessen blickte in sichtlicher Befremdung auf, ergriff nur leicht die dargebotene Hand und rückte dann zu verschiedenen Malen an seiner Mütze. „John Winter!“ sagte er endlich langsam; „muß eine sonderbare Laune haben, daß er noch einen Andern in seine Geschäfte sehen lassen will! Haben Sie schon in genauerer Verbindung mit ihm gestanden?“

„Nur wie man sich auf der Reise kennen lernt!“ erwiderte Hugo aufmerksam werdend, „ist etwas Besonderes mit dem Manne?“

Der Alte schob die Mütze zurück und kratzte sich hinter den Ohren. „Nichts, was sich so ohne Weiteres sagen ließe,“ versetzte er, „es thut mir aber beinahe leid, daß Sie gerade dort Ihren Anfang machen sollen!“

Der junge Mann war in diesem Augenblicke am wenigsten in der Stimmung, sich sein neues Glück trüben zu lassen; unwillkürlich trat ein Vergleich zwischen dem Besitzer des kleinen Gasthauses und dem Kaufmanne, der in der ersten Gesellschaft lebte, vor seine Seele, und fast mit einem Anklänge von Ironie fragte er: „Glauben Sie, daß ich Gefahr bei dem Manne laufen könnte?“

„Wenn Sie das damit meinen, was er Ihnen versprochen haben mag, gewiß nicht!“ war die ruhige Antwort, „sein Geld ist so sicher untergebracht, daß es ihm nicht wieder genommen werden kann; aber – nun ja!“ unterbrach sich der Sprechende, „ich könnte Ihnen sehr viel erzählen, und Sie würden mich doch nicht verstehen; es gehört eben schon eine Zeit in Amerika dazu, um sich aus Manchem selber einen Vers zu machen. Eins aber will ich Ihnen sagen: Ich bin der Alderman Marquart, was man in Deutschland Stadtrath nennt, und meine es mit Ihnen von Herzen gut, denn Ihr Landsmann hier hat mir genug von Ihnen erzählt. Wenn Sie einmal über Eins oder das Andere, das Ihnen bei Ihrer Arbeit aufstößt, Zweifel im Gemüthe fühlen sollten, so kommen Sie nur zu mir, und ich werde als rechter Freund zu Ihnen reden, und vielleicht ist dann auch der Stadtrath gerade die rechte Person, die Sie sich wünschen!“ Er erhob sich langsam und ging nach dem Hintergrunde des Zimmers, wo der Schenktisch stand.

Hugo wandte einen fragenden Blick nach dem Tischler, und dieser zog eine wunderliche Grimasse. „Ein Barkeeper wie Du hätte ihm freilich schmecken sollen!“ sagte er halblaut und erhob sich dann mit einem Winke, das Zimmer zu verlassen.




6. Die Täuschung.

Am Nachmittag saß Hugo zur Seite seines neuen Principals in einem leichten eleganten „Buggy“, den ein großer, prachtvoll gebauter „Traber“ windschnell auf der Straße jenseits des Flusses davon führte, und das Gefühl, wieder in Kreise einzutreten, die seinen bisherigen Neigungen und Gewohnheiten entsprachen, schuf eine Leichtigkeit und Sicherheit in ihm, welcher selbst der Gedanke an das erste Begegnen mit ihr, die er in der nächsten halben Stunde zu sehen erwartete, nichts anzuhaben vermochte – war doch ihr Bild so lange schon mit allen Träumen und Vorstellungen von seinem hiesigen Leben verwebt gewesen. Was aber von den sonderbaren Aeußerungen seines Wirths etwa in ihm haften geblieben, war vorläufig ad acta in den Hintergrund seiner Seele gelegt worden. „Ich habe Augen und ein Urtheil,“ hatte er zu dem Tischler gesagt, „und werde bald selbst erkennen, auf welchem Grunde die ganze Rederei ruht; bis dahin indessen will ich mir nicht selbst das Leben verbittern!“ Demohngeachtet hatte er, von einem unbestimmten Gefühle geleitet, seinen Aufenthalt in dem deutschen Gasthause gegen Winter verschwiegen und bei einer Frage desselben nach seiner bisherigen Unterkunft nur sein Nachtquartier in dem amerikanischen Hotel angegeben.

Die rasche Fahrt war wenig zu einem weitern Wortaustausch zwischen den beiden Männern geeignet; nur beim langsameren Passiren einer Anhöhe hatte Winter, wie die Gelegenheit ergreifend, gesagt: „Das Beste wird sein, ein Pferd für Sie in die Stadt zu stellen, das ohnedem nicht aus dem Stalle kommt, seit meine Tochter es nicht mehr benutzt. Sie können dann ganz unabhängig Ihre Zeit meinen Kindern widmen, wie es Ihre Office-Arbeiten erlauben. Wollen Sie ferner sich nicht für ein besonderes Logis Kosten machen, so kann Ihnen ein Zimmer über dem Geschäftslocal eingeräumt werden, das ich selbst früher längere Zeit benutzt habe. Es würde mir ohnedies lieb sein, Sie Nachts dort zu wissen, da mein alter Henderson schon ziemlich wacklig wird; natürlich soll dies aber in keiner Art Ihrer Freiheit Abbruch thun!“ Hugo, der sich im Augenblicke nur dem wohlthuenden Gefühle hingab, welches Winter’s Freundlichkeit ihm erzeugte, ohne nach einer besondern Erklärung für diese zu suchen, hatte sich im Voraus mit jeder Anordnung in Bezug auf seine Verwendung einverstanden erklärt, und damit hatte das schärfer anziehende Pferd das Gespräch wieder unterbrochen. Nach einer Fahrt, die vom Flusse aus kaum eine halbe Stunde gewährt haben konnte, stieg das weiße geschmackvolle Landhaus über dem Eichenkranze von Oakhill auf, bald bog der Wagen von der Straße ab, in den aufwärts führenden Weg, und jetzt erst, als in unmittelbarer Nähe die Besitzung vor seinen Augen lag, begann der junge Mann eine Art Beklemmung zu empfinden, der er sich umsonst zu entreißen strebte. Das Gefährt hatte die Höhe erreicht und bog um das Haus; Winter deutete mit der Hand nach der sich aufthuenden überraschenden Aussicht; Hugo aber ließ nur mechanisch ein zustimmendes: „Brillant, Sir!“ hören; seine ganze innere Aufmerksamkeit war dem Portico des Hauses zugewandt, von woher sein Ohr ein plötzliches Rauschen von Frauenkleidern aufgefangen hatte. Er wandte den Kopf, sobald ein Schwarzer herbeisprang, um das Pferd in Empfang zu nehmen, und sah eine zierliche Mädchengestalt wie einen wilden Vogel die Freitreppe herabflattern, bei dem Anblicke der fremden Erscheinung aber plötzlich ihren Schritt anhalten und mit einem prächtigen Erröthen halb neugierig, halb befangen zu ihm aufblicken.

„Halloh, Carry, da bring’ ich einen Partner für Deine Musik, der Dir noch die richtigen Künste zeigen wird!“ rief Winter aus dem Wagen springend; „Mr. Zedwitz aus Berlin, der heute in mein Geschäft eingetreten ist,“ fuhr er vorstellend fort, als Hugo ihm rasch gefolgt war; „meine Tochter Carry, Sir! – Und nun führe unsern Gast nach dem Parlor, Kind, ich werde die Mutter mit John herunterbitten lassen, damit wir uns gleich Alle zusammen kennen lernen!“ Er grüßte den jungen Mann leicht und schritt nach dem Innern des Hauses voran. Carry aber blickte zu dem Zurückgebliebenen mit großen, lächelnden Augen auf. „Sie sind aus Berlin, Sir, und jetzt in Pa’s Geschäft? o, dann werden Sie uns viel erzählen müssen, es soll so schön in Europa sein!“ sagte sie, wie einen besonderen Gedanken verfolgend, „aber, bitte, treten Sie herein!“

Sie eilte in leichten Schritten die Treppe hinauf, um ihm den Weg zu zeigen, und er folgte ihr in einer plötzlichen Verwirrung aller seiner Vorstellungen. Das war Winter’s Tochter? und wer war sie dann, die er hier zu finden gemeint? Winter hatte seine Frau und seinen Sohn als die allein Fehlenden der gesammten Familie bezeichnet, und so schien sie, deren Namen er nicht einmal wußte, kaum in nächster Beziehung zu ihm zu stehen; aber dennoch – Hugo entsann sich genau – hatte er ihrer bei Berührung der Berliner Affaire als Tochter erwähnt!

Allen diesen sich durchkreuzenden Gedanken aber mußte sich der junge Mann zu entreißen suchen, wenn er seine Stimmung nicht auffällig machen wollte; Carry hatte das Zimmer, in welchem das Piano stand, vor ihm geöffnet und lud ihn mit einem so hellen Blicke, mit so unverhohlenem Vergnügen in den lebendigen Zügen zum Eintritt ein, daß er selbst unter dem Drucke seiner Täuschung die wohlthuende Wirkung dieser unverhüllten Natur auf sich fühlte.

„Sie spielen Piano, Sir?“ fragte sie, nachdem sie den Gast zum Sitzen aufgefordert und sich selbst in einem Fauteuil niedergelassen, „so habe ich doch Hoffnung, auch wieder zum Ueben zu kommen; es ist so langweilig, sich nur immer selbst vorzuspielen, wenn man wirklich auch einmal ein Stück gelernt hat; seit Jessy nicht mehr im Hause ist, hatte ich fast alle Lust dazu verloren!“

Hugo blickte rasch auf. „Sie erwähnen da einer jungen Lady, die in Ihrem Hause gelebt, Miß,“ sagte er, mit aller Anstrengung seinem Tone den Charakter leichter Conversation gebend, „und mir fällt da eben ein, daß ich in der Schweiz und in Berlin einer jungen Lady in Mr. Winter’s Gesellschaft begegnete –“

„O, das waren Sie also,“ unterbrach ihn das Mädchen lebhaft, „ich hatte fast eine Ahnung davon! Jessy ist verheirathet, Sir, und wird sich gewiß sehr freuen, Sie in ihrem Hause zu sehen – es werden morgen acht Tage, daß sie unser Oakhill verlassen hat!“

[449] Eine Secunde lang blickte der Deutsche die Sprecherin starr an, er meinte zuerst falsch gehört zu haben; dann aber war es ihm, als presse eine steinerne Hand sein Herz zusammen; er fühlte, daß er todtenbleich geworden war; gleichzeitig indessen erkannte er auch die Nothwendigkeit, eine eiserne Herrschaft über seine Empfindungen zu bewahren, und ein plötzlicher Gedanke voller Selbsthohn über seine Einbildungen, über seine Ideen von dem besondern Wesen des Mädchens, dem er willenlos seine Zukunft in Deutschland geopfert, gab ihm wunderbar schnell seine äußere Fassung zurück. „Verheirathet!“ sagte er, leicht den Kopf beugend, „ist es vielleicht ihr damaliger Begleiter, Mr. Graham, dem Miß Winter gefolgt ist?“ Er hatte einen halben Anklang von Ironie in seinem Tone nicht zu unterdrücken vermocht, und als er aufsah, begegnete er einem eigenthümlichen, halb sinnenden Blicke Carry’s, der an seinem Gesichte hing.

„Es ist wirklich Mr. Graham, der Jessy’s Mann geworden,“ erwiderte sie, ohne den Ausdruck ihres Auges zu ändern, „hatten Sie den Gentleman kennen gelernt, Sir?“

„O, weniger als oberflächlich!“ versetzte er, sich rasch erhebend; „Sie sprachen von Ihrem Piano, Miß, es sollte mich freuen, Ihre Uebungen Ihnen möglichst angenehm machen zu können; jedenfalls sind wir jetzt Zwei und werden so gegenseitig ein Publicum für unsere Leistungen vorstellen – Sie sind wahrscheinlich eine kleine Virtuosin, vor der ich mich werde zusammen nehmen müssen?“

„O, Sie machen mir mit Ihren Erwartungen Angst, nur eine Taste anzurühren!“ lachte sie auf und schien vor der plötzlichen Lebendigkeit seines Tones kaum die auffällige Aenderung des Gesprächs-Gegenstandes zu beachten; „hier sehen Sie, was ich zuletzt gespielt habe,“ fuhr sie fort, einige Musikalien vom Piano nehmend, daraus mögen Sie sich selbst das rechte Urtheil bilden!“

Hugo begann zu blättern, er schien sich oft in einzelne Stellen völlig zu vertiefen; aber er sah kaum mehr als die Reihen der Noten. Vor seiner Seele stand nur das dunkele, verwirrende Räthsel: sie, der stolze, unabhängige Charakter, als Frau eines Mannes, dessen Verachtung sie ihm gegenüber deutlich gezeigt hatte, und er empfand eine Erleichterung, als sich jetzt die Thür öffnete, und Winter seine Frau und seinen Sohn hereinführte. Trotz der Selbstbeherrschung indessen, die er mit seiner ganzen Kraft aufrecht zu erhalten suchte, fühlte er sich doch in der nächsten Viertelstunde nur wie halb im Traume handeln, stellte er, während er sprach, die ganz abgesonderte Betrachtung an, daß die erhaltene Nachricht fast wie ein physischer Schlag gegen seinen Kopf gewirkt habe. Er sah eine ältliche, einfache Frau, welche ihm die Hand reichte, sah einen bleichen, hageren Knaben von vielleicht zehn Jahren, der ihn mit halber Scheu anblickte, aber unter seinen Worten bald Vertrauen zu erlangen schien; er sah, wie die Mutter zu seinen Bemerkungen gegen sie lächelte und Winter zufriedengestellt nickte, und doch wollte es ihm fast vorkommen, als arbeite sein Gehirn und sein Mund nur halb mechanisch, als sei Carry’s Blick, auf welchen er zu Zeiten traf, es allein, der zu seinem innern Bewußtsein dringe. Er sollte zum Abendessen dableiben, aber er fühlte die Unmöglichkeit dazu und erbat es sich, heute noch seine Privatangelegenheiten zum Uebertritt in die neue Stellung ordnen zu dürfen, und auf eine leichte Andeutung Winter’s, welchem der Wunsch des jungen Mannes nur recht zu sein schien, verstummte das gutgemeinte Nöthigen der Frau. Er nahm Abschied, empfing von Carry, die ihm bis mitten in die Seele blicken zu wollen schien, einen leichten Händedruck und sah sich bald daraus, wie von einem Zauber erlöst, allein mit Winter im Freien.

„Ich halte unser Uebereinkommen vorläufig für abgeschlossen, Sir,“ sagte dieser, „ich sehe, daß Sie sich nicht unwohl unter uns fühlen werden, und so hoffe ich auch morgen, sobald ich im Geschäfte bin, mit Ihnen über die finanziellen Punkte überein zu kommen. Das Weitere wird sich dann finden. Der Schwarze sattelt soeben Ihr Pferd, Henderson wird Ihnen sagen, wo Sie es einstellen, und dann besorgen Sie nur ohne Weiteres Ihren Umzug. Das Zimmer ist für Nothfälle stets im Stande gehalten worden, und sollte Ihnen noch etwas darin fehlen, so werden wir morgen nachhelfen.“

Jeder Grund, welchen sich Hugo im Heimlichsten seiner Seele für Winter’s Freundlichkeit gegen sich angegeben hatte, erschien ihm, seit er Jessy’s Verheirathung erfahren, als nirgends mehr stichhaltig, und unwillkürlich überkam ihn jetzt eine Art Befremdung über ein Wohlwollen seines künftigen Principals, das er sich, selbst in Amerika, bei dem einfachen Verhältnisse eines Geschäftsherrn zu seinem Angestellten, nicht zu erklären vermochte. Sollte auch seine frühere gesellschaftliche Stellung zu einer Rücksicht für ihn beitragen, so hatte er doch auf der andern Seite noch nicht einmal eine Probe von seiner geschäftlichen Brauchbarkeit abgelegt, und in der stillen, innern Erregung, welche allen seinen Empfindungen eine eigenthümliche Schärfe gab, sagte er: „Ich werde durch Ihre Güte fast ängstlich, Mr. Winter; noch weiß ich nicht, ob meine Fähigkeiten Ihren Ansprüchen so genügen werden, als Sie es vorauszusetzen scheinen, und noch liegt nirgends ein [450] Grund vor, mir ein so specielles Wohlwollen zuzuwenden, als ich es Ihnen schon jetzt zu danken habe –“

Winter’s Hand, die sich auf seine Schulter legte, unterbrach seine Worte. „Gut, Sir!“ erwiderte dieser, „es freut mich, daß Sie meinen Wunsch, Ihnen den Anfang in unserem Lande zu erleichtern, anerkennen. Sie haben Recht, ich hätte zwanzig andere, mehr als Sie routinirte junge Leute haben können; aber ich arbeite grundsätzlich mit Niemand, der vielleicht morgen mit derselben Gleichgültigkeit mein Geschäft verläßt, als er es heute betreten. Ich kenne Sie nur oberflächlich aus Ihren Berührungen mit meiner Tochter und unserer ersten Begegnung; trotzdem ist mir das Wenige genug zur Beurtheilung Ihres Charakters gewesen. Sie werden, wo Sie sich anschließen, dies mit ganzer Seele thun, werden das Interesse eines Geschäfts, dem Sie sich widmen, zu dem Ihren machen, und so handele ich nur in meinem eigenen Vortheile, wenn ich gleich völlig Besitz von Ihnen nehme und Ihnen möglichst schnell eine Heimath zu schaffen versuche. Die Anforderungen zur Gegenleistung werden sich Ihnen bald genug zeigen, und darum nehmen Sie nur jetzt die Dinge, gerade wie sie sich bieten! Da ist das Pferd,“ fuhr er fort, als an der Hand eines Negers ein schlankes, feuriges Thier herantanzte; „es hat eine Zeit lang gestanden, und Sie werden es gut im Zügel halten müssen; Jessy hat ihm ohnedies wenig Sanftmuth beigebracht!“

Der Deutsche hätte auf die ihm gebotene Erklärung kaum etwas Anderes thun können, als seinem Schicksale zu danken, und so wandte er seine Aufmerksamkeit dem Thiere zu, das früher ihr Eigenthum gewesen; fast überkam ihn ein Gefühl, als sei es ein hinterlassenes Erinnerungszeichen an ein verlorenes Glück. Er nahm die Zügel und klopfte schmeichelnd den feinen Hals des Pferdes, blickte ihm dann in die lebendigen Augen und sprach beruhigende Worte zu ihm, untersuchte unter steten Liebkosungen die Festigkeit des Sattelgurtes, und als es unter seiner Behandlung sichtlich Ruhe gewann, nahm er die Zügel kurz zusammen und schwang sich leicht auf. Kaum fühlte es indessen die Last, als es sich auch hob und ein paar kräftige Versuche machte, die Zügel zu durchbrechen; zweimal drehte es sich unter der fesselnden Macht des Reiters im Kreise, dann aber schien es seinen Meister zu erkennen und dem beruhigenden Zusprechen desselben Gehör zu geben; mit schäumendem Gebisse stand es, und nun reichte er dem künftigen Principale die Hand, der ihm ein lachendes: „Sie sind der Mann, Sir! ohne viel Lärm seinen Willen durchgesetzt!“ zurief, grüßte Carry, die vom Portico aus mit leuchtenden Augen sein Aufsitzen beobachtet, und sprengte davon.

Erst als er sich auf der großen Straße fand und das Pferd in regelmäßigem leichtem Trabe vorwärts ging, versuchte er die erhaltenen Eindrücke zu ordnen, aber er kam nicht über den Versuch hinaus. Es war ihm, als habe er soeben jedes bestimmte Ziel für sein Leben verloren, und dennoch fand er sich in eine Lage versetzt, die ihm nach allen Seiten hin so wohl that, daß er kaum recht zu dem Gefühle seines Unglücks zu kommen vermochte. Die Bewegung des Thieres unter ihm, der Gedanke, es zu seiner ausschließlichen Disposition zu besitzen, regten sein Blut wohlthuend auf, Carry’s helle, lebendige Augen traten vor ihn, und erst als er unwillkürlich einen Vergleich zwischen den beiden Schwestern ziehen wollte, als Jessy’s hohe Gestalt, ihr tiefblaues, wunderbares Auge und der eigenthümliche Reiz, der ihre ganze Erscheinung auszeichnete, vor seinem innern Ange standen, erfaßte ihn der volle Schmerz einer getödteten Hoffnung, von der er noch kaum gewußt, wie tief sie sein ganzes Denken und Empfinden durchdrungen, begann er über den Widerspruch, der in dieser Heirath und dem stolzen Wesen des Mädchens lag, zu grübeln – es war ihm, als habe sie sein ganzes Innere kennen, als habe sie wissen müssen, daß er kommen werde, und er mochte eher an ein Räthsel, das er jetzt nicht zu lösen vermöge, glauben, als an eine freie Zustimmung ihrerseits zu dieser sonderbaren, raschen Verbindung.

Die Dämmerung fing an bereits einzubrechen, als Hugo in die Stadt einritt; nach Kurzem indessen erreichte er Winter’s Geschäftslocal, wo soeben der Graukopf, welchen er am Morgen in der Office gesehen, die Thüren zu schließen begann. Der Ankommende benachrichtigte den Alten von seinem beabsichtigten Einzuge und reichte ihm „zu guter Cameradschaft“ die Hand; Henderson faßte sie und ließ einen eigenthümlich musternden Blick über die ganze Erscheinung des jungen Mannes laufen. „Weiß schon das Nöthige, Sir,“ nickte er dann, „und ich denke, wir werden uns vertragen; wenn Sie zurückkommen, sollen Sie Alles bereit finden!“ Er deutete ihm den Weg durch eine Seitenthür nach dem obern Stock an, bezeichnete ihm darauf einen nahegelegenen Leihstall zum Einstellen des Pferdes, und nach zehn Minuten stand Hugo wieder vor dem deutschen Gasthause, um sich hier zu verabschieden. Die bereits erleuchtete Schenkstube war zum großen Theil mit Gästen gefüllt, jungen Leuten im Arbeitsanzuge und älteren Männern im Bierrocke mit der langen deutschen Pfeife; dazwischen aber bewegte sich eine Figur in halbaufgestreiften Hemdärmeln, und der Eingetretene erkannte schnell den für ihn als Barkeeper bereits eingetroffenen Ersatz. Hinter dem Schenktisch war der Wirth mit Füllen und Spülen der Gläser beschäftigt und schien die Bewegungen des Neulings zu überwachen und zu leiten – das war also das Bild, in welchem Hugo zum Beginn seiner amerikanischen Thätigkeit die Hauptrolle hatte spielen sollen, und mit einem unwillkürlichen Athemzuge, als habe ihn jetzt noch der Gedanke bedrückt, ließ er sich an einem Seitentische nieder, um sich vor seinem Auszuge mit einem Imbisse zu stärken.

Das laut geführte Gespräch der Gäste an dem langen Haupttische schien sich um einen Gegenstand von allseitigem Interesse zu drehen; so viel der junge Mann in seiner Unkenntnis; aller amerikanischen Verhältnisse verstehen konnte, berührte es die Verwaltung der städtischen Finanzen, und nicht ohne Verwunderung hörte er die Handlungsweise der obersten Beamten einer Kritik unterziehen, wie er einer solchen im offenen Wirthshause noch nicht begegnet war. Es wurde der Verdacht aufgestellt, daß die contrahirten Schulden der Stadt weit über das bewilligte Maß hinausgingen, ohne daß sich doch eine Verwendung des Geldes nachweisen lasse; daß alle öffentlichen Arbeiten der Stadt um das Doppelte zu hoch angerechnet und nur an Leute vergeben würden, welche mit der Hälfte des von ihnen quittirten Betrages zufrieden seien; daß die kleinen Bonds der Stadt im allgemeinen Verkehr künstlich entwerthet würden, um sie dann billig aufkaufen und der Stadt wieder für voll anrechnen zu können – es wurde ein ganzes Betrugssystem angedeutet, durch welches die Häupter der Stadt sich bereicherten, ohne daß es den Steuerzahlern möglich werde, sich einen Einblick in das Unwesen zu verschaffen. Hugo horchte lebendig interessirt auf diese Enthüllung amerikanischer Zustände, war überrascht von dem klaren Verständniß junger Leute, die ihrem ganzen Aeußern nach nur zum Arbeiterstande gehörten, und vergaß eine kurze Zeit lang seine eigenen Angelegenheiten.

Da trat der Wirth langsam hinter dem Schenktische hervor. „Ja, das Reden ist recht gut,“ sagte er, seine Mütze scharf rückend, „ändern wird es aber doch nichts, wenn nicht eine ordentliche That folgt, wie sie sich auf ruhigem und gesetzmäßigem Wege ausführen läßt!“

„Ruhig und gesetzmäßig!“ lachte ein junger Mann, welcher den Hauptsprecher zu machen schien, „haben Sie nicht selber im Stadtrathe auf eine Untersuchung angetragen, Vater Marquart, und sind überstimmt worden?“

„Habe auch gar nichts Anderes erwartet!“ nickte Jener, „und nun haben wir eben das Recht, uns auf andere ruhige Weise zu helfen. Ich denke, schon nächste Woche werden wir eine allgemeine Bürgerversammlung haben, die aus eigener Machtvollkommenheit ein Untersuchungs-Committee einsetzen wird. Wer nun bis jetzt hat reden können, der sorge dann dafür, daß in seiner Nähe kein Deutscher zu Hause bleibt. Wir werden nicht allein sprechen, sondern die Beamtenpartei auch; das Geld wird nicht geschont werden, damit Alles wieder im Sande verläuft, und der Aengstlichen giebt es auch genug, die sich vorreden lassen, der Credit der Stadt müsse unter dem lautwerdenden Verdachte zu Grunde gehen. Dann heißt es, eine sichere und respectable Majorität für uns haben! Könnt’s ruhig weiter erzählen, damit sich Jeder bereit halte; die Sache ist schon ziemlich fertig!“

Er wandte sich von seinen Zuhörern, unter welchen die Mittheilung plötzlich ein eifriges allgemeines Gespräch hervorrief, und traf mit seinem Blicke auf den Referendar. „Nun?“ fragte er, diesem zunickend, „die Stelle wirklich angenommen?“

„Ich wollte soeben mein Gepäck holen und mich noch einmal für Ihre Freundlichkeit bedanken!“

„Dachte ’s wohl! aber da es einmal so ist, bleibt der alte Marquart doch Ihr Freund, und wenn Sie einmal in irgend einer Lage einen Mann, der’s ehrlich meint, brauchen, so wissen [451] Sie, wo ich wohne!“ Er drückte seinem Gaste die Hand und rief nach dem Porter zur Fortschaffung des Gepäcks. –

Es lag ein stiller Druck auf dem jungen Manne, als er durch die dunkelnden Straßen nach seiner künftigen Wohnung schritt; und er wußte, daß es nicht allein die Vernichtung aller seiner stillen Träume war, was auf seiner Seele lastete; es waren auch die soeben gehörten Gespräche, welche durch Marquart’s Hinzutritt eine ganz eigene Verbindung mit dem erhielten, was der Wirth am Morgen über Winter’s Geschäft gegen ihn geäußert. Und je weniger er die Möglichkeit sah, sich durch sich selbst Klarheit zu schaffen, je mehr fühlte er eine unbestimmte Unruhe in sich wachsen. Erst als er sich das Familienbild, das sich ihm heute geboten, wieder vor die Augen rief, als ihm Winter’s ruhiges Wohlwollen gegen ihn selbst in die Erinnerung kam, als er darauf, die erhellte Treppe in dem Geschäftshause hinaufgestiegen, in das offenstehende erleuchtete Zimmer trat, das ihm so behaglich und heimlich wie ein von guten Geistern bereitetes Asyl entgegenblickte, vermochte er es wieder, mit einem kräftigen Entschlusse alle beunruhigenden Gedanken von sich zu werfen und seinem eigenen spätern Blicke das Urtheil anheim zu geben.

Er hatte kaum den Packträger entlassen und einen Blick über die Einzelnheiten der Zimmer-Einrichtung geworfen, als der Alte mit einem „Gutes Glück zum Eintritt, Sir!“ in der Thür erschien. „Mein Zimmer ist nach hinten, gerade hier gegenüber,“ fuhr er fort, „falls Sie noch irgend etwas zu fragen hätten!“

Hugo meinte in seiner augenblicklichen Stimmung kaum einen willkommeneren Gesellschafter finden zu können. „Ich denke, ich besehe mir Ihr Zimmer ein anderes Mal, Mr. Henderson, und wir rauchen hier eine Cigarre zusammen,“ erwiderte er; „zu fragen hat ein Mensch, der wie ich in ganz unbekannte Verhältnisse tritt, nur zu viel, und Sie erzeigen mir eine wahre Liebe, wenn Sie sich ein Weilchen zu mir setzen.“ Er deutete nach dem bequemen Divan und öffnete dann sein Cigarren-Etui.

Der Alte strich sich mit einem Lächeln voll stiller Laune das glattrasirte Kinn. „Ich rauche zwar höchst selten,“ sagte er, „aber ich werde mich heute, da Sie noch keine bessere Gesellschaft haben, Ihnen doch zur Disposition stellen!“ Er trat heran, zündete langsam die gebotene Cigarre an der Gasflamme an und zog dann einen Stuhl herbei, sich ziemlich steif dein Divan gegenüber niederlassend.

„Sie werden es nicht lächerlich finden, Sir,“ begann Hugo, sich bequem in die weichen Polster versenkend, „daß ich noch nicht eine Idee von dem Geschäfte habe, dem ich angehören soll, und doch möchte ich in dieser vollen Unwissenheit nicht gern meinen Anfang machen. Wollen Sie mir nicht eine Art Bild von dem Wesen, der Betriebsweise und was sonst dazu gehören mag, geben? ich würde Ihnen von Herzen dankbar dafür sein.“

Der Alte hob nachdenklich die Augenbrauen, während ein launiger Zug nicht von seinem Munde wich. „Ich muß Ihnen sagen, Sir,“ begann er nach einer kurzen Pause zu Boden blickend, „daß ich zwar schon im Geschäfte bin, so lange es besteht, daß ich mir aber die Regel gemacht habe, mich nur um das zu kümmern, was mir eben übertragen wird. – Und ich habe mich dabei sehr wohl gestanden, Sir,“ fuhr er langsam aufsehend fort, „habe meine Arbeit gewissenhaft gethan, ohne mir einen Gedanken oder eine Sorge über Dinge zu machen, die ich doch niemals völlig hätte übersehen können, und das Uebrige dem Principale überlassen. Und ich denke, wenn Sie ruhig mit demselben Grundsätze anfangen, werden Sie selbst kaum viel von Ihrer Unkenntniß wahrnehmen. Unser Geschäft ist, wie es auf dem Schilde steht, ein Commissions- und Speditions-Geschäft, das in die allerverschiedensten Handelszweige einschlägt, und so warten Sie nur, wohin Sie Mr. Winter stellt, dann wird Ihnen die Kenntniß schon von selbst kommen!“

Hugo blickte den, alten Manne in’s Gesicht und wußte nicht, war dieser wirklich so harmlos, als er sich stellte, oder wollte er ihm eine Lehre für sein künftiges Verhalten geben; indessen lag für seine augenblickliche Lage eine Art Trost in den Worten, und er beantwortete den unschuldigen Gesichtsausdruck des Alten mit einem Zuge offenen Humors. „Auf diese Weise werde ich allerdings nicht viel zu fragen haben!“ sagte er.

„Warum nicht, Sir?“ war die ruhige Erwiderung, „außergeschäftlich weiß ich vielleicht etwas mehr.“

Der junge Mann drückte einen Augenblick die Hand gegen die Augen. „Nun, ich hörte heute den Namen eines Mr. Graham nennen, der vor Kurzem Miß Winter geheirathet hat,“ begann er dann von Neuem und erhob sich rasch, um seine Cigarre an die Gasflamme zu halten.

Henderson nickte unmerklich, und ein leiser Zug von Spannung ging über sein Gesicht, der aber schon wieder verschwunden war, als der Andere seinen Platz von Neuem einnahm.

„Kennen Sie den Gentleman, Mr. Henderson, oder wissen Sie vielleicht, wie die Sache sich so geschwind gemacht hat? Ich lernte Miß Winter vor kaum zwei Monaten in Deutschland kennen und erhielt dort keine Ahnung, daß sie Braut sei!“

„Muß doch wohl so gewesen sein, denn es ging hier mit der Heirath so geschwind, daß kaum Jemand außer dem Hause etwas davon erfuhr,“ erwiderte der Alte, den jungen Mann mit einem eigenthümlich aufmerksamen Blicke betrachtend; „bin indessen selbst nicht recht darin klug geworden, Sir, so viel Vertrauen mir auch sonst Miß Jessy schon seit ihren Kinderjahren geschenkt hat. Mr. Graham kommt jeden Tag in unsere Office, und dort können Sie ihn auch morgen sehen. Jedenfalls werden Sie aber doch der jetzigen Mrs. Graham Ihren Besuch machen, da Sie mit ihr bekannt sind?“

Hugo betrachtete aufmerksam die Asche seiner Cigarre. „Ich bin ihr dazu wohl kaum nahe genug befreundet gewesen, Sir; weiß auch nicht einmal, ob ich in meiner jetzigen Stellung ein Recht dazu hätte!“ sagte er, ohne aufzublicken, und Henderson’s Blick schien sich einen Moment nur um so schärfer auf sein Gesicht zu heften.

„Ich meinte aber doch, daß Mr. Winter von Verpflichtungen gegen Sie gesprochen hätte, durch welche Sie sich auch seine eigene Familie geöffnet!“ versetzte der Letztere. „Ich sollte denken, Mrs. Graham, die ohnedies recht einsam lebt, da ihr Mann den ganzen Tag im Geschäft ist, würde sich freuen, einen europäischen Bekannten wieder zu sehen, mit dem sie plaudern könnte!“

Es lag etwas Sonderbares in dem Tone des Sprechenden, das den Deutschen rasch aufsehen machte, aber er begegnete nur einem gutmüthigen, völlig unschuldigen Gesichte. „Ich bin nur als Lehrer in Mr. Winter’s Familie eingeführt,“ erwiderte er, „und es ist für Jeden gut, nicht über den Kreis, der ihm angewiesen ist, hinauszugehen. Mrs. Graham wird mich am wenigsten vermissen!“ Aber die letzten Worte schienen ihm, kaum daß er sie gesprochen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt; wider seinen Willen hatte darin ein Ton aus seinem verletzten Herzen geklungen, und er erhob sich rasch, sich nach seinem Gepäck wendend, als wolle er sich dort nach irgend einem Gegenstände umsehen.

Henderson blickte scharf vor sich nieder, nickte dann wie einen eigenen Gedanken bestätigend und verließ gleichfalls seinen Platz.

„Sie werden wohl noch auspacken und einrichten wollen, ich lasse Sie also lieber allein, Sir,“ sagte er; „wenn Sie mich in irgend einer Weise nöthig haben, so wissen Sie, wo ich bin!“

Hugo fühlte sich nicht mehr in der Stimmung, ihn aufzuhalten, und der Mann hatte überdies Recht, der Ankömmling hatte seine Habseligkeiten einzuräumen und sich heimisch zu machen, wenn er beim morgenden Beginn der Arbeit in Ordnung sein wollte. Er drückte dem Alten die Hand, und als die Thür hinter diesem zugefallen war, fing er an seinen Koffer zu öffnen und sich mit Eifer seiner neuen Einrichtung zu widmen. Lange aber währte es nicht, so begannen einzelne Stücke des stattgehabten Gespräches in seinem Ohre wieder zu klingen – „Mrs. Graham, die ohnedies recht einsam lebt“ – und er strebte vergebens, sich ein Bild von der Zurückgezogenheit eines so lebensprühenden Charakters zu machen, wie ihm der ihre entgegengetreten war. Und warum lebte sie einsam, sie, welche die Krone der gesellschaftlichen Cirkel hätte sein können? Dann folgte die Idee eines Besuchs bei ihr, die Henderson geäußert, und er preßte die Hand gegen die Stirn. Seine ganze Sehnsucht, sich noch einmal in dieses wunderbare Auge versenken, in ihrem klaren Lächeln berauschen zu können, erwachte plötzlich in ihm; hatte er doch noch niemals weiter hinaus gedacht, als ihr hier wieder zu begegnen; und doch, wenn er sich jetzt eine Wiederbegegnung dachte, empfand er, daß seine Gefühle in stillen Hoffnungen gewurzelt hatten, die nun wie Nebel zerronnen waren. Sie war verheirathet; was hatte er Anderes zu erwarten, als daß sie ihm mit der freundlichen Würde einer jungen Frau entgegentrat und wohl nicht einmal durch einen leichten Farbenwechsel die Erinnerung an einen Augenblick andeutete, der in ihm unauslöschlich stand? was konnte ihm ihr Auge, ihr Lächeln noch sagen, als [452] daß er ein Thor gewesen war? Er mußte ausstreichen, was in ihm gelebt, und vermochte er das nicht, so galt es wenigstens seine äußere Haltung zu retten, falls er ihr jemals vor Augen treten würde – mit seinem Willen aber sollte das Letztere niemals geschehen.

Er war fast unbewußt dem Fenster zugeschritten, ließ sich dort auf einen Sessel nieder und starrte, den Kopf in die Hand gestutzt, in die dunkele Nacht hinaus. Von der Straße herauf aber klangen jetzt mezza voce die Töne eines Leierkastens:

Ach wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann?

und es wurde ihm, als solle er das Gesicht in die Hände drücken und sich ausweinen über ein ganzes verlorenes Lebensglück.




7. Die erste Wiederbegegnung.

Als Hugo am nächsten Morgen von seinem Frühstücke im nächstgelegenen Gasthause, wohin ihn Henderson gewiesen, zurückkehrte, fand er bereits Winter’s Wagen vor der Thür des Geschäftslocals, und besorgt, den Beginn der Geschäftsstunden versäumt zu haben, beeilte er sich die Office zu erreichen. Dort war aber auch des Buchhalters Platz noch leer, und Winter, am offenen Geldschrank stehend, drehte ihm lächelnd das Gesicht zu. „Ich freue mich, Sir, daß Sie schon hier sind,“ sagte er, „unsere Arbeiten beginnen in der Regel erst nach acht Uhr, indessen möchte ich mit dem nächsten Dampfer eine Sendung nach Europa fortschaffen, für die, wie ich erst bemerkt habe, keine Viertelstunde mehr zu verlieren ist. Sie sollen damit gleich Ihr Amt als deutscher Correspondent antreten. Nehmen Sie vorläufig von meinem Pulte Besitz, morgen soll für andere Bequemlichkeiten gesorgt sein. Hier sind die nöthigen Notizen, welche ich für Sie aufgesetzt habe, Sie werden mir sagen, was Ihnen darin unverständlich ist; hier sind eine Partie Werthpapiere, die ich Ihnen übergebe, damit Sie danach die nöthigen Angaben in Ihre Briefe einschalten; hier ist das Copirbuch, nur für derartige Geschäfte bestimmt, und Sie werden die Weise der Eintragung aus den vorhergehenden Fällen erkennen. Jetzt übersehen Sie sich ruhig die Angelegenheit – ich darf Ihnen dabei nicht erst sagen, daß es in der Office eines Kaufmanns nichts so Unbedeutendes giebt, das nicht strengstes Geschäftsgeheimniß bleiben müßte – und dann sagen Sie mir, was Sie noch zu weiterer Erläuterung bedürfen.“

Der junge Mann hatte nicht ohne ein leichtes Bangen nach den ihm vorgelegten Papieren, die eine Leistung in einer ihm völlig fremden Sphäre verlangten, gegriffen und die Durchsicht der leitenden Notizen begonnen, während Winter sich eine Cigarre anzündete und langsam den Raum durchschritt; bald aber sah Jener, daß er kaum in seiner Arbeit fehl gehen könne. Es handelte sich um den Verkauf einer Anzahl Stadt-Obligationen durch verschiedene Bankhäuser in Deutschland und um die Darstellung der Sicherheit, welche die Papiere böten, sowie der besonderen Vortheile des Geschäfts für die Unterhändler. Die Angaben waren so exact, daß er, sobald er nur den Sachverhalt gefaßt, nirgends mehr einen Zweifel fand; zu größerer Sicherheit indessen wandte er sich nach dem Geschäftsherrn und gab diesem eine ausführliche Uebersicht dessen, was er zu schreiben gedenke.

„Vortrefflich!“ nickte Winter, und um seinen Mund spielte es wie eine unterdrückte Befriedigung, „man hört, daß Sie den Advocaten in sich haben und Ihren Fall zu vertreten wissen. Wenn Sie sich die Anfangsschwierigkeiten Ihres neuen Standes nicht verdrießen lassen und fest an der Stange halten, die Sie jetzt ergriffen haben, so will ich Ihnen eine Zukunft verbürgen, Sir! Bis Mittag haben wir Zeit die Sendungen zum Abgang fertig zu machen, und bis dahin werde ich zur Unterschrift wieder zurück sein!“ Er griff nach seinem Hute, ging nach seinem Wagen, und Hugo begann sich auf dem angewiesenen Platze, der alle Erfordernisse für seine Arbeit bot, heimisch zu machen. Einige Minuten musterte er die vor ihm liegenden Werthpapiere, die in ihrer Art ihm völlig neu waren, bald aber ward sein Auge durch eine der Unterschriften angezogen: Charles B. Graham, Comptroller. War das Winter’s Schwiegersohn, welcher dieses hauptsächliche Amt in der städtischen Finanz-Verwaltung einnahm? Mit dieser unwillkürlichen Frage aber traten auch alle die Beschuldigungen, welche gestern im deutschen Gasthause auf die Finanz-Beamten der Stadt gehäuft worden waren, in seine Erinnerung, mußte er an die halbdunkeln Aeußerungen des Wirths über Winter’s Geschäft denken, und einen Augenblick lang wollte ihn eine Art Unruhe über seine eigene Stellung überkommen; ein aufmerksamer Blick auf die Obligationen indessen benahm ihm seine unbestimmten Befürchtungen. Die Papiere waren, wie es deutlich darin ausgedrückt, auf Grund eines bestimmten Gesetzes ausgestellt worden, allen Formen war augenscheinlich genügt, und Winter hatte ihre Verwerthung sichtlich nur als einfaches Geschäft übernommen. Hugo begann ruhig seine Arbeit; noch einmal indessen hielt er kurz nach dem Beginn seines ersten Briefs an. Winter verkaufte die Stadtschuldscheine mit 25 Procent Verlust, trotzdem die Sicherheit dafür eine überflüssig genügende und der Zinsfuß der doppelte des in Deutschland gebräuchlichen war, und erst jetzt fiel es dem Schreibenden auf, daß man bei einem solchen Preise sich nach Europa wenden mußte, um gute Papiere los zu werden. Indessen gab Winter in seinen Notizen an, daß die Stadtbehörde ihn zu dem Nachlasse autorisirt habe, um jeder ferneren Zögerung in dem Abschlusse des Geschäfts vorzubeugen, und mit einem halben Kopfschütteln schrieb Hugo weiter – er hatte allerdings zu wenig Erfahrungen im Geldgeschäfte, um auf sein eigenes Urtheil etwas geben zu können.

Nach einer Viertelstunde trat der Buchhalter ein, warf indessen nur einen flüchtigen Blick auf die neue Erscheinung und nahm von seinem Platze Besitz, bald sich völlig in seine Arbeit versenkend. Henderson war in dem äußern Raume zwischen den Ballen und Fässern beschäftigt, betrat nur ab und zu einmal die Office und schien sich eben so wenig um den neuen Mitarbeiter zu bekümmern, der ohne aufzublicken sein Werk förderte, um nicht hinter Winter’s Erwartungen zurück zu bleiben. Schon eine halbe Stunde vor Mittag griff er nach dem Copirbuche, um darin seine Aufgabe zu enden, und der erste Blick auf die geöffneten Blätter belehrte ihn, daß das Buch bisher von dem Principale allein geführt worden war. Es zeigte sich in tabellarischer Form, und Hugo’s Auge lief über Geschäfte in den mannigfachsten Werthpapieren, die, je weiter er zurückblätterte, sich zu vielen Millionen aufsummirten; nach den verschiedensten Theilen von Europa waren die verkauften Fonds gegangen; mit Deutschland schien aber jetzt erst die Verbindung eröffnet worden zu sein. Unwillkürlich warf der junge Mann einen Blick über die einfache Geschäftsstube mit ihrem verkrümmten Buchhalter, in welcher solche Summen umgesetzt wurden, und hinaus auf die Speditionsgüter, deren Gewinn neben jenen Geschäften doch kaum der Mühe lohnen konnte. Dann aber stieg eine halbe Verwunderung in ihm auf, daß Winter schon am ersten Tage seines Eintritts ihm einen so unbedingten Einblick in seine Angelegenheiten gestatte. Hatte der Mann ihn durch ein sofortiges Vertrauen gewinnen und sich dadurch am erfolgreichsten seiner Discretion versichern wollen, so hatte er bei ihm allerdings den rechten Weg eingeschlagen; demohngeachtet fühlte sich Hugo fast mehr drückend als freudig davon berührt; immer stand im Hintergründe seiner Seele ein Gefühl, als dürfe er sich nicht ohne Vorbehalt einer Stellung hingeben, die noch nicht völlig klar vor seinen Augen lag, so sehr er auch Ursache hatte, sie als ein völliges Glück für sich zu betrachten.

Genau zu Mittag trat Winter wieder in die Office. Er übersah nur mit einem flüchtigen Blicke die sauber geschriebenen deutschen Briefe und sagte launig: „Davon verstehe ich nichts und muß mich völlig in Ihre Hand geben!“ Sorgfältiger aber ging er Hugo’s Notizen im Copirbuche durch und nickte endlich zufrieden, das Buch wieder in einem verschlossenen Fache des eisernen Schrankes verwahrend. „Und nun gehen Sie zu Tische, Sir,“ fuhr er fort, „das Weitere werde ich selbst besorgen. Für den Nachmittag aber,“ setzte er lächelnd hinzu, „wird Sie wohl Carry erwarten; ich habe ihr versprechen müssen, Sie nicht hier zu halten!“

Hugo konnte sich nur schweigend verbeugen. Das ganze Benehmen des Mannes that ihm so wohl, und doch war es ihm, als hätte er sich lieber in dem einfachen Verhältnisse eines Geschäftsgehülfen zu ihm gesehen, das eine geringere Pflicht der Dankbarkeit ihm aufgelegt hätte. [465] Als Hugo nach der Treppe zu seinem Zimmer schritt, kam ihm Henderson mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern von der Vorderthür entgegen. „Wenn Sie Mr. Graham kennen lernen wollen – er kommt soeben,“ sagte er halblaut. „Ja doch!“ setzte er, wie den Ausdruck von Hugo’s Gesicht beantwortend, hinzu, „Sie verrenken sich den Hals auch nicht, um ihn zu sehen; es geht Ihnen darin wie mir – das sind Privatsachen, und ich darf’s Ihnen sagen!“ Er warf dem jungen Manne einen launigen Blick voll Einverständniß zu und wandte sich dann nach den seitwärts liegenden Kaufmannsgütern; der Deutsche aber stieg die Treppe hinauf und suchte vergebens nach dem Sinne der Aeußerung, und erst als er, in sein Zimmer gelangt, sich seines Gesprächs mit dem Alten vom Abend zuvor erinnerte, als einzelne Blicke und die Betonung mancher Worte desselben vor sein Gedächtniß traten, fragte er sich, ob es möglich sei, daß der Mann mehr von seinen Empfindungen für die nunmehrige Mrs. Graham errathen, als jemals unter den jetzigen Verhältnissen gut sein konnte.

Er hatte die Thür verschlössen, um sich für den Besuch in Winter’s Familie umzukleiden, und nach wenigen Minuten unterbrachen doppelte Tritte auf der Treppe seine Gedanken. Die Heraufkommenden passirten sein Zimmer; bald vernahm er aber durch die Seitenwand ein Geräusch wie herbeigerückte Stühle, und das erste dort laut werdende Wort überzeugte ihn, daß irgendwo unter der Tapete eine dünne Stelle, eine frühere Thüre oder dergleichen vorhanden sein müsse, und unwillkürlich unterbrach er seine Bewegungen.

„Sie wühlen wie die Prairiehunde, Winter,“ wurde eine erregte Stimme laut, „sie wollen eine Bürgerversammlung abhalten und ein Untersuchungscommittee ernennen, ich habe heute schon die Namen Derer, die sie auf uns hetzen wollen, erhalten. Gott mag wissen, wo der Verräther steckt, aber ich weiß, daß sie Kenntniß von Details haben, die mich zwingen werden, die Bücher vorzulegen, wenn wir nicht Alles aufbieten, um die ganze Bewegung niederzustimmen. Und nun nehmen Sie unter Ihren Freunden die Sache in die Hand, Freund, es ist die höchste Zeit dafür; wenn die große Geschäftswelt sich gegen diese Untersuchung als eine Untergrabung des städtischen Credits erhebt, so ist unser Spiel schon ein gewonnenes!“

„Well –!“ klang Winter’s ruhige Stimme, „ich glaube kaum, liebster Graham, daß ich auch nur einen Finger in der ganzen Angelegenheit rühren werde; ich weiß längst, was sich vorbereitet, aber ich, als völlig parteiloser Geschäftsmann, würde einen keineswegs nützlichen Verdacht auf mich laden, wenn ich ausfallend thätig die Partei der Stadtverwaltung nähme –“

„Aber glauben Sie denn, daß Sie außer Verdacht sind, Sir?“ rief Graham mit einem ärgerlichen Lachen.

„Um so weniger werde ich diesen noch mehr bestärken, Sir. Sie sind allerdings mein Schwiegersohn, was mich in der öffentlichen Meinung von selbst mit Ihnen in Verbindung bringt, aber was habe ich außerdem mit der Finanz-Verwaltung der Stadt zu thun?“

„Natürlich nichts, als daß Sie Ihren Gewinnantheil in die Tasche stecken. Wissen Sie wohl, Sir, daß ich im Augenblicke nicht weiß, was ich mehr bereuen soll, den ersten Schritt, den ich zu einer Geschäftsverbindung mit Ihnen that, oder den letzten, der mich zu Ihrem Schwiegersohne machte?“

Winter ließ ein völlig natürliches Lachen hören. „Gut, wirklich gut!“ rief er, „habe ich denn in Beidem nicht nur Ihren drängenden Bitten nachgegeben? Sie sind aufgeregter, als Ihnen gut ist, Graham. Was zwischen Ihnen und Jessy liegt, weiß ich nicht, ist auch nicht meine Sache, im Uebrigen aber sagen Sie mir doch, um was Sie besorgt sind. Haben Sie denn etwas in Ihren Büchern, das Sie bei einer Untersuchung zu fürchten hätten? So weit meine Geschäftsverbindung mit der Stadt geht, sind doch alle Ihre Posten darin die Unschuld selbst – was kümmert Sie denn diese ganze Untersuchungs-Komödie? “

„Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß die Hauptwühler Kenntniß von einzelnen Details haben, die, eben weil meine Bücher nichts davon wissen, uns einen völligen Sturm bereiten müssen, sobald wir nicht Herr der jetzigen Bewegung werden? Ich sage Ihnen noch einmal, Sir, vereinen Sie Ihre Kräfte mit den unsern, wenn Sie nicht selbst mit in den Strudel hineingezogen sein wollen!“

„Und ich sage Ihnen, Mr. Graham,“ klang Winter’s Stimme in voller Bedeutsamkeit, „daß ich Sie nicht verstehe, daß ich nicht den entferntesten Grund sehe, weshalb ich mich in Dinge mischen soll, die mir absolut fremd sind. Ich bin der Agent der Stadt gewesen, das ist Alles, was geht mich als solcher die innere Verwaltung an?“

„Aha!“ ließ sich der Andere mit einem kurzen, gezwungenen Lachen hören, „Sie ziehen den Kopf aus der Schlinge und nehmen die Beeren mit sich. Very, well, so mag Jeder, ohne eine Verpflichtung gegen den Andern, seinen eigenen Weg gehen. Von heute ab, Mr. Winter, sind wir geschiedene Leute.“

„Ich sehe auch dazu keinen Grund, Sir,“ war die ruhige [466] Erwiderung; „es wird vielleicht sehr nöthig werden, dieser Untersuchungs-Partei zu zeigen, daß man sich gar nicht um sie kümmert. Arrangiren Sie einen Ball, wenn die Bewegung in ihrer vollen Höhe ist, und ich werde mit Vergnügen dafür sorgen, daß meine Freunde sich in voller Zahl einfinden – so etwas wirkt mehr in der öffentlichen Meinung, als jede Rechtfertigung, die sich auf gleichen Fuß mit den Widersachern stellt. Sie haben ohnedies in Ihrem Hause noch keine Gesellschaft seit Ihrer Verheirathung gesehen.“

„Ich werde selbst beurtheilen, was jetzt nothwendig wird,“ klang Graham’s Antwort. „Die letztausgegebenen Stadt-Schuldscheine sind noch in Ihrer Hand, Sir, ich werde mir diese unter den jetzigen Umständen von Ihnen zurückerbitten.“

„Ich bin völlig unglücklich, Sir, Ihnen nicht willfahren zu können; die Papiere sind bereits abgegangen, und es würde mich und die Stadt lächerlich machen, sie jetzt zurückzufordern.“

Eine kurze Pause entstand, dann hörte Hugo die Stühle rücken, und Winter sagte: „Ich gehe ein Stück Wegs mit Ihnen, Sir; hoffentlich sehe ich Sie morgen weniger aufgeregt und den Dingen ihren rechten Werth gebend.“

Eine Thür klappte, und die früheren Tritte näherten sich wieder der Treppe. Als sie das Zimmer des Deutschen passirten, ward ein Versuch zum Oeffnen der Thür gemacht, und Hugo vermuthete, daß Winter zu spät sich der Möglichkeit seiner Anwesenheit entsonnen. Der verschlossene Eingang schien ihn indessen beruhigt zu haben; der junge Mann hörte Beide die Straße betreten, und jetzt warf er sich auf den Divan, in völliger Unsicherheit über seine nächste Handlungsweise. Daß die Anreger einer Untersuchung gegen die Stadtverwaltung volle Ursache für ihr Verfahren hatten, daß Winter in die stattgefundenen Unredlichkeiten wenigstens theilweise eingeweiht war und sie zu seinem eigenen Nutzen ausgebeutet hatte, stand völlig fest in ihm; sollte er aber wegen etwas Vergangenen aus seiner kaum gewonnenen Stellung treten, jetzt, wo derartige Geschäfte von selbst ihr Ende gefunden zu haben schienen? Und vermochte er denn überhaupt zu beurtheilen, wie viel Schuld auf Winter’s Kopf fiel, der anscheinend sich in völliger Sicherheit fühlte? Er versuchte sich wieder in das Gedächtniß zu rufen, was Marquart, der Wirth und Stadtrath, über Winter geäußert – aber es waren nur dunkele Andeutungen; er hätte gern noch einmal mit dem Manne, der im Besitze von bestimmten Thatsachen zu sein schien, gesprochen, wenn er nur nicht gefürchtet hätte, dadurch eine Art Untreue gegen das Geschäftshaus, von dem er jetzt noch einen Theil bildete, zu begehen. Ueber alledem aber, welche Aussichten hatte er denn für seinen künftigen Unterhalt, wenn er aus vielleicht übertriebenen Gewissensscrupeln seine jetzige Stellung verließ? Er richtete sich auf und begann in leisen Tritten das Zimmer zu durchschreiten, bis der Gedanke, daß Winter zurückkehren und seine Anwesenheit wahrnehmen könne, ihn zum Verlassen des Hauses drängte. Einen vorläufigen Entschluß hatte er wenigstens gefaßt. Er sah jetzt klarer als vorher und er wollte abwarten, bis er durch eine bestimmte Thatsache ein Verlassen seiner Stellung ebensowohl gegen sich, als gegen den Geschäftsherrn rechtfertigen konnte.

Als er aus dem Zimmer trat, sah er Henderson neben der Treppe stehen und ihn mit groß aufgerissenen Augen anstarren. „Sie haben Alles gehört,“ sagte dieser mit gedämpfter Stimme, langsam auf ihn zutretend, „aber ich denke, es schadet nichts. Das sind die Geschäfte, die dieser Mr. Graham macht, mit denen er den Principal trotz dessen Vorsicht und Klugheit bethört hat, und die obendrein noch Miß Jessy in sein Netz gebracht haben. Ich habe doch gewußt, was zuletzt kommen würde, wenn ich auch nicht habe reden dürfen, und ich sehe den Herrn Comptroller noch im Staatsgefängniß. Nur Geduld, Sir, es wird noch Alles gut, Mr. Winter läßt sich nicht fangen, und Miß Jessy wird auch noch ihr Recht bekommen; schweigen Sie und warten Sie ab!“

Hugo fühlte das Blut in sein Gesicht steigen, ohne doch den Sinn der Rede völlig enträthseln zu können. „Ich weiß nicht recht, was Sie meinen, Sir,“ sagte er zögernd, „in die Geschäftsangelegenheiten habe ich noch zu wenig Einblick, und was außerdem Mr. Graham betrifft –“

„All right, Sir,“ unterbrach ihn der Alte, während in seinem Gesichte plötzlich ein voller Humor aufzuckte, „so weiß ich wenigstens, was ich meine. Sie heißen doch Hugo Zedwitz?“ Er blickte den Deutschen an, als wolle er sich an dem ungewissen Ausdruck von dessen Gesicht weiden, nickte dann und wandte sich nach seinem Zimmer.

Hugo meinte kaum mehr zweifeln zu dürfen, daß irgend ein Umstand den Alten eine frühere Beziehung zwischen ihm und Jessy vermuthen lasse, und je mehr er nach einer Aufklärung deshalb suchte, je bestimmter kam er auf die einzige Möglichkeit zurück, daß die junge Frau selbst zu einer derartigen Vermuthung Anlaß gegeben haben müsse; hatte sich doch der Alte gestern sogar ihres Vertrauens gerühmt. Sie konnte nach den eben gehörten Aeußerungen Graham’s in keiner glücklichen Verbindung leben, und ein eigenthümliches Gefühl durchschauerte ihn, wenn er sich die Möglichkeit einer nähern Berührung mit ihr in den jetzigen Verhältnissen dachte.

Er hatte sein Mittagsbrod eingenommen und ritt, nur mit Mühe sich der Gedanken erwehrend, welche die verschiedenen Ereignisse des Morgens immer auf’s Neue in ihm hervorriefen, nach Winter’s Farm; und kaum mochten die ersten Hufschläge seines Pferdes in dem Hause zu hören gewesen sein, als auch Carry schon in der Thür erschien und ihn mit einem leuchtenden Blicke begrüßte. Es war eine Veränderung in ihrem Aeußeren vorgegangen; ihr Haar saß fest und glatt, ihr Kleid zeichnete knapp die feinen Umrisse ihres Oberkörpers ab, und Hugo meinte erst heute rechte Augen für diese Erscheinung in frischester, jungfräulicher Blüthe zu erhalten. Sie bot ihm, als der herbeieilende Schwarze das Pferd in Empfang genommen, mit unverhüllter Freude die Hand, während dennoch, als er ihr mit unwillkürlichem Gefallen in die Augen blickte, ein helles Roth in ihre Wangen stieg, ohne indessen das Lächeln aus ihrem Gesichte zu entfernen. „Sie werden sich vorläufig wohl mit mir allein begnügen müssen,“ sagte sie, ihm leicht nach dem Zimmer vorangehend, „John ist wieder unwohl und will die Mutter nicht von sich lassen; ich habe mir indessen recht fleißig ein Stück durchgesehen, das ich Ihnen vorspielen werde, dann haben Sie mich tüchtig schlecht zu machen, wie ich’s verdiene, und ich werde für die Zukunft doch wieder wissen, wovor ich mich zu fürchten habe!“ Sie hatte mit einem neckischen Aufblicke selbst einen Stuhl für ihn herbeigerückt, ehe er es verhindern konnte, und öffnete das Piano.

„So haben Sie also Ihre frühern Lehrer gefürchtet, Miß?“ fragte er, angeregt von dieser ungefälschten Natürlichkeit, welche dem ganzen Wesen des Mädchens einen ungewöhnlichen Reiz verlieh.

„O, meine frühern Lehrer, das war etwas Anderes!“ lachte sie, „ich glaube eher, daß sie mich gefürchtet haben! – Aber warten Sie,“ unterbrach sie sich, plötzlich aufhorchend, „ich hatte außer meinem Stück noch etwas Anderes für Sie, und ich glaube, da ist es schon. Sitzen Sie ganz still, wir haben gar nichts gehört!“

Sie hielt den Kopf mit der gespannten Miene eines Kindes hoch, das die Entwickelung einer bereiteten Ueberraschung abwartet, und Hugo sah lächelnd in dieses klare, rosige Gesicht, das noch von keinem Gedanken, der eine Hülle nöthig gehabt, berührt worden zu sein schien, mehr mit der Betrachtung desselben als der Erwartung des Kommenden beschäftigt.

Ein Wagen hielt vor dem Hause, und in der nächsten Minute öffnete sich die Thür des Zimmers. Hugo hatte sich umgeblickt und schnellte von seinem Sitze empor – alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen. Carry indessen sprang auf die schlanke Mädchengestalt, welche soeben in’s Zimmer getreten war, aber wie erschreckt ihren Schritt angehalten hatte, zu, faßte ihre Hand und rief, mit komischer Gravität ihre beiden Gäste einander vorstellend: „Mr. Zedwitz aus Berlin, jetzt im Geschäfte von Mr. Winter – meine Schwester Jessy, jetzt Mrs. Graham!“ Sie lachte fröhlich auf. „Hatte ich Dir nicht eine Ueberraschung zugesagt, Jessy?“

Das bleiche Gesicht der jungen Frau hatte einen Moment einen Ausdruck von Starrheit angenommen; Carry war aber kaum mit ihrer Rede zu Ende, als sich über die Züge der Ersteren ein kaltes, ruhiges Lächeln breitete und sie, die Hand leicht vorstreckend, auf den Deutschen zutrat. „Es ist wirklich eine Ueberraschung, die mir durch Ihre Anwesenheit bereitet wird, Sir,“ sagte sie langsam; „ich war ohne eine Ahnung von Ihrem Hiersein, hätte aber noch viel weniger eine so nahe Beziehung zwischen Ihnen und Mr. Winter vermuthet!“

Hugo’s Blick hatte, noch ehe sie sprach, ihre ganze Erscheinung erfaßt; das war noch immer dieselbe stolze Haltung des Nackens, dasselbe wunderbare Auge, das fast noch an Tiefe gewonnen zu [467] haben schien; aber in ihren Zügen war das rosige Colorit und der rasche Wechsel des Ausdrucks geschwunden; ihre Bewegungen hatten die frische Keckheit verloren; ihre feine Hand lag während des kurzen Moments, in welchem sie sich ihm geboten, bewegungslos in der seinen, und der junge Mann fühlte ein eigenthümliches Weh durch sein Inneres zucken – kaum wußte er, ob über seine eigene unglückliche Liebe, die mit dem Anblicke der Eingetretenen in ihrer ganzen Stärke und Hoffnungslosigkeit in ihm erwacht, oder über Jessy’s veränderte Erscheinung, die ihn an die schutzlose Blume, welche ein frühzeitiger Frost getroffen, mahnen wollte.

„Aber behalten Sie Platz, Sir!“ fuhr sie fort, sich langsam auf den Divan an ihrer Seite niederlassend, und Hugo, seinen frühern Sitz einnehmend, suchte vergebens in ihrem Auge nach einem Ausdrucke, der eine Andeutung ihrer frühern Begegnungen gegeben hätte. „Sie gedenken jetzt hier und in Mr. Winter’s Geschäft zu bleiben?“ setzte sie im ruhigen Conversationstone hinzu.

„Wie der Mensch eben gedenken kann, Ma’am!“ erwiderte er, den Blick nicht von ihrem Gesichte lassend; „ich gedachte preußischer Beamter zu bleiben, und mußte nach Amerika gehen; ich gedachte hier verschiedene Dinge zu thun, die dann jeden Boden verloren, und bin jetzt in Mr. Winter’s Geschäft, woran ich niemals gedacht. Sollten Sie nicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben, Ma’am?“

Es klang fast wie eine herbe Beziehung in seinen letzten Worten, und sie senkte den Blick, um ihn indessen gleich darauf ruhig wieder nach ihrer Schwester zu heben. „Schaffst Du mir wohl ein Glas frisches Wasser, Carry?“ fragte sie, und als die Angeredete bereitwillig das Zimmer verlassen, hob sie rasch den Kopf. Ihr Gesicht war noch bleicher und ihr Auge noch dunkler und größer geworden. „Sie sind jedenfalls von der Veränderung meiner Lage unterrichtet, und diese hat Sie überrascht,“ sagte sie, während es in den tiefen halblauten Tönen ihrer Stimme wie eine leise Erregung zitterte; „Sie scheinen nicht vergessen zu haben, wie ich mich auf unserer europäischen Reise über meinen zweiten damaligen Begleiter einst gegen Sie geäußert. Indessen wandeln Zeit und Umstände wohl oft mehr als eine Ansicht, und so ist auch meine Stellung völlig natürlich, wenn auch unerwartet, eine andere geworden, ohne daß ich dabei selbst etwas zu bereuen hätte.“

„Aber warum sagen Sie mir das?“ unterbrach er sie, vergebens bemüht, eine plötzliche innere Aufwallung von Schmerz ganz zu unterdrücken, „welches Recht habe ich denn auf das kleinste erklärende Wort?“

„Ein Recht sicherlich nicht, Sir,“ erwiderte sie, den Kopf hebend, während ein leises Roth in ihre Wangen stieg, „aber einesteils meine ich Ihnen einen Freundesdank schuldig zu sein, und anderntheils werden uns die Verhältnisse hier und da zusammenführen, so daß ich ein Wort über das, was Sie verwundert haben mag, für nöthig hielt. – Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen nun auch gestehen,“ fuhr sie mit plötzlich verändertem Tone fort, „daß ich einigermaßen überrascht bin, Sie auf dem Wege zum amerikanischen Geldmanne zu sehen, ich hätte nach meiner kurzen Beobachtung kaum dafür ein Talent in Ihnen vermuthet!“

„Warum nicht, Ma’am?“ erwiderte er, von einer halben Bitterkeit überkommen; „es kann Manches aus dem Menschen werden, wenn er seinen Boden verloren und nach dem nächsten fremden Halte greifen muß. Sie sehen ja, daß sich für einen Geldmann selbst bei Ihnen das Unerwartete natürlich geordnet hat, ohne daß Sie etwas zu bereuen hätten!“

Ein hohes Roth war in das bleiche Gesicht der jungen Frau geschossen, aber er sah es nicht. Er hatte sich, als könne er seinen Empfindungen nicht mehr gebieten, mit seinen letzten Worte rasch erhoben und war nach dem Fenster getreten; kaum drei Secunden indessen hatte er dort verweilt, als er sich langsam, sichtlich seine Erregung niederkämpfend, wieder zurückwandte.

„Verzeihung, Mrs. Graham!“ sagte er gedrückt, „aber Sie hätten die Todten nicht wecken sollen, die ich kaum erst begraben. Selbst diese Worte mögen ungehörig sein, ich verspreche Ihnen aber, daß keine meiner Mienen wieder von einer Thorheit reden soll, die im Augenblick stärker war, als ich selbst. Sie haben übrigens Recht, ich fühle bereits, daß ich kein Talent zum amerikanischen Geldmanne habe; und wenn ich jetzt noch einige Tage in meiner gegenwärtigen Stellung verweile, so geschieht es nur, weil Menschen, die auf den Strand geworfen worden sind, wie ich, nicht jeden Augenblick die Wahl einer andern Lage haben.“ In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, um Carry, welche selbst das geforderte Wasser herbeigeholt zu haben schien, einzulassen, und Hugo trat ihr wie in einem kurzgefaßten Entschlusse entgegen. „Ich habe soeben zu Mrs. Graham von einer Versäumniß gesprochen, die mich ganz unglücklich macht, da sie mich wieder in die Stadt zurückruft –“

„Sie wollen wieder fort?“ unterbrach ihn das Mädchen in sichtlich unangenehmer Ueberraschung und richtete den Blick wie um Erklärung nach der älteren Schwester. Diese aber hatte sich soeben erhoben und ein Notenbuch auf dem Piano geöffnet. „Vater versprach doch, daß Sie heute geschäftsfrei sein sollten!“

„Es ist auch nur eine Privatsache, Miß, aber von so viel Wichtigkeit und nicht allein für mich, daß Sie mich sicher entschuldigen werden,“ erwiderte er und wandte sich dann, als wolle er jeder weitern Zögerung vorbeugen, nach der jungen Frau. „Mrs. Graham, ich bitte nochmals um Verzeihung!“

Sie hob den Kopf und streckte ihm leicht die Hand entgegen; aber diese Hand bebte, als er sie berührte, und mitten aus dem Ernst ihres Auges blickte ihm ein so weicher Ausdruck entgegen, daß er wohl kaum seine mühsam errungene Selbstcontrole voll bewahrt haben würde, wenn nicht Carry, welche sich ihres Wasserglases auf dem Tische entledigt, mit einem schmollenden: „Aber das ist garstig, Mr. Zedwitz, uns den ganzen Nachmittag, den ich mir so lustig gedacht, zu verderben!“ herzugetreten wäre.

Er hatte das Zimmer verlassen, sein Pferd losgebunden und war bereits eine Weile davon gesprengt, als habe er wirklich eine gefährliche Versäumniß wieder gut zu machen, ehe er zu einem klaren Gedanken über die eben stattgefundene Begegnung gelangte. Jessy’s Abschiedsblick war es, der zuerst vor ihn trat und ihn mit einer Empfindung erfüllte, von der er kaum hätte sagen können, ob darin das Glück oder der Schmerz überwiege, und langsam rief er sich dann jeden Theil ihres vorangegangenen Gesprächs zurück. Sie hatte sich ihm gegenüber in völlige Gleichgültigkeit hüllen, den Ton einer leichten Bekanntschaft einführen wollen, sie hatte sich so gar zu dem Standpunkte des gewöhnlichsten Charakters erniedrigt, um die Inconsequenz in ihrer Heirath zu erklären und ihn selbst wohl dadurch zu erkälten. Aber die Lüge hatte ja vor seinem durchbrechenden Gefühle nicht bestehen können; es war nur ein einziger Blick voll Wahrheit, nur ein einziger zitternder Händedruck gewesen, den er von ihr erhalten, aber darin hatte Alles gelegen, ein volles Verstehen und Bekennen – wie sollte sich nun neue Wiederbegegnung, die sich bei dem stattfindenden Familienverhältniß nicht vermeiden ließ, gestalten? Auf welche Art ihre Heirath, die selbst dem alten Henderson nicht klar war, zu Stande gekommen, konnte ihm jetzt gleichgültig sein - sie bestand, und wollte er sich nicht einer stets fortlaufenden nutzlosen Marter preisgeben, so konnte er nur seine jetzige Stellung verlassen, die ohnedies ihm so viel Zweifel bot, daß er in jeder andern, die ihm eine anständige Existenz gewährte, sich glücklicher gefühlt haben würde. Wo sich ihm eine solche bieten sollte, wußte er jetzt freilich nicht, noch hatte er ja aber nicht einmal einen Versuch gemacht, sein Glück auf andern Wegen zu erproben.

Er hatte den Punkt erreicht, wo ihn die Dampffähre nach der Stadt zu bringen hatte, aber er konnte dort Winter begegnen und eine neue Erfindung über seine frühzeitige Rückkehr zu erzählen haben, und so ritt er langsam und planlos, nur um die Zeit zu tödten, die sich ihm zunächst bietende Straße in das Land hinein, und erst als er wohl eine Stunde lang bald sich mit seinen eigenen Gedanken und Empfindungen herumgeschlagen, bald die Bilder aus seiner letzten Vergangenheit an sich hatte vorüberziehen lassen, kam ihm mit der Sehnsucht, sich gegen irgend eine befreundete Seele aussprechen zu können, der Gedanke an den Tischler, von dessen Unterkommen er noch nicht einmal genauere Kenntniß hatte. Er wandte sein Pferd und ritt im Trabe zurück; jetzt hatte er bei seiner Ankunft keine Begegnung mehr zu fürchten, und noch vor Einbruch der Dämmerung stand er vor dem deutschen „Hotel“, um des Tischlers Aufenthalt zu erfragen.

„Werden ihn schwerlich heute treffen können,“ beschied ihn der Wirth in der sonderbar leeren Gaststube; „er wohnt hier, aber Alles, was von den Deutschen zur Untersuchungspartei gehört, hat heute früher Feierabend gemacht und ist hinauf auf den Berg zu einer Massenversammlung.“

„Und Mangold gehört auch bereits dazu?“ fragte der Eingetretene nach einer kurzen Pause der Verwunderung, ohne sich eines leichten Spottes enthalten zu können.

[468] „Warum nicht?“ war die ernste Antwort, „es kann in Amerika Niemand zu geschwind auf den rechten Weg kommen, und was er noch nicht weiß, das hat er jetzt die beste Gelegenheit zu lernen. – Wenn Sie aber in Ihrer jetzigen Lage einen guten Rath annehmen wollen, so kommen Sie in der nächsten Zeit nicht zu oft hierher, so gern ich Sie sonst auch bei mir sehen möchte.“

„Und weshalb nicht, Herr Marquart, wenn mir die Frage erlaubt ist?“ erwiderte Hugo, befremdet aufsehend.

„Dürfen kein schiefes Gesicht dazu machen, ich sag’ es nur Ihretwegen,“ erwiderte Marquart, ihm mit derber Gutmüthigkeit die Hand reichend. „Erstens weil es Ihr jetziger Principal sehr unliebsam bemerken würde, Sie in einer Gesellschaft, wie die unserige, zu sehen – er drückt mir beim Begegnen jedesmal so freundlich die Hand, als wolle er ein störrisches Maulthier mit Streicheln kirre machen; er kennt mich, der Mr. Winter! Zweitens aber, weil Sie hier leicht als Aufpasser oder dergleichen gelten könnten; seit gestern Abend, wo Sie den Verhandlungen zuhörten, kennen Sie unsere Leute und wissen, wo Sie im Geschäft sind!“

Hugo fuhr sich mit der Hand. über die Stirn. Er war also bereits um seiner Stellung willen eine Art gezeichnete Person unter den Deutschen geworden. „Jetzt giebt es, ja wohl hier nichts aufzupassen,“ sagte er nach einer kurzen Pause mit hörbarer Bitterkeit; „meines Principals wegen aber werde ich meiner Freiheit in keiner Weise Zwang anlegen, und so haben Sie wohl nichts dawider, ein Glas Bier mit mir zu trinken – ich möchte Wohl ein paar Fragen von Ihnen beantwortet haben!“

„Sie nehmen ein gut gemeintes Wort übel, aber – nur zu! vielleicht bitten Sie es mir noch einmal ab!“ erwiderte der Wirth, kräftig seine Mütze rückend und dann nach dem Bierfasse eilend.

„Sagen Sie mir, Herr Marquart, offen und verständlich,“ begann der junge Mann, als der Alte die Bleigläser herbeigebracht und sich dem Sprecher gegenüber bequem auf einem Stuhle niedergelassen hatte, „was hat Winter’s Geschäft mit allen den Dingen zu thun, welche ich gestern Abend hier gehört? oder was ist es wenigstens, das dem Manne Schuld gegeben wird?“

Der Alte fuhr sich mit einem wunderlichen Gesichtsausdrucke unter das Schild seiner Mütze, „Offen und klar? ja wenn wir so weit wären, lieber Herr, so brauchten wir nicht erst ein Untersuchungscommittee,“ sagte er, „ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß eine Zeitlang Aufenthalt in Amerika dazu gehört, um sich aus einzelnen Dingen den rechten Vers zu machen.“

„Das heißt also, es existirt ein Verdacht,“ fuhr der frühere Referendar ruhig fort, als sitze er als Inquirent hinter dem Gerichtstische. „Sie werden mir nun wenigstens sagen können, welcher Art die Beschuldigungen gegen die Stadtverwaltung sind, mit denen Winter auch nur in Verbindung stehen könnte, denn er selbst hat doch kein städtisches Amt.“

Marquart sah, mit einem halb mißtrauischen Blicke in das Gesicht seines Gastes. „Könnte? Warum nicht? es kann Alles in Amerika,“ erwiderte er langsam, „was kann Ihnen aber am bloßen Können liegen?“

„Daß ich mir zuerst den richtigen Vers aus den Dingen machen kann, Herr Marquart,“ erwiderte Hugo ernst, „und daß ich zweitens nicht denken muß, die Deutschen hier gingen in irgend einem Fanatismus oder unbegründetem Vorurtheile so weit, daß sie selbst einen Landsmann zum Spion stempeln, weil er sich bei Mr. Winter seinen ehrlichen Lebensunterhalt verdienen will!“

Der Wirth saß rasch auf seinem Stuhle gerade auf, schob die Mütze auf den Hinterkopf und sah den jungen Mann mit blitzenden Augen an. „By God, Sir! das sollen Sie wenigstens nicht mir gesagt haben!“ rief er, „Sie sind erst seit gestern hier, und ich habe alle Ursache, Sie für ehrlich zu halten, aber ein Nigger muß es verstehen, daß ich Niemanden glattweg einen Spitzbuben nennen mag, ehe ich die Beweise nicht in den Händen habe. Ich werde Ihnen trotzdem klaren Wein einschenken, und wenn Sie es mich selbst bereuen lassen sollten!“

„Sie werden nichts zu bereuen haben!“ erwiderte der Andere ruhig, aber mit gespanntem Blicke.

„Well, Sir,“ fuhr Marquart fort, „wir haben die klaren Beweise in der Hand, daß mehr Stadtschuldscheine ausgegeben worden sind, als die Stadt bewilligt hat; demohngeachtet weist das Buch des Comptrollers nur die bewilligte Anzahl aus, und dies erklärt sich dadurch, daß doppelte Schuldscheine von ein und derselben Nummer an verschiedene Inhaber verkauft worden sind. Das Geld für das zweite Schwindelpapier muß also in die Taschen des Mayors und Comptrollers gewandert sein, und wenn unsere Berechnung der jährlich gezahlten Zinsen, die erst jetzt durch den entstandenen Verdacht auffällig geworden, richtig war, so sind es mehr als eine halbe Million Dollars, um welche die Stadt nur auf diese Weise betrogen worden ist. Well, Sir! jetzt werden Sie fragen, was geht das Winter an? Nun. Mr. Graham als Comptroller hat sich gehütet, durch sein eigenes Geschäft die Obligationen der Stadt in den Geldmarkt zu bringen, ebenso wie er bei andern Manipulationen, die jetzt auch bald heiß auf ihn brennen werden, sich stets eines Dritten als Helfer bedient hat. Dieser Dritte aber ist, soweit sich hat nachkommen lassen, immer Winter gewesen, und wenn er in diesen Fällen auch nichts weiter gethan, als was ein schmutziger Geldmensch, ohne gerade straffällig zu werden, thun darf, so läßt sich doch ganz sicher vermuthen, daß er sich auch als Mittelsmann zum Verkaufe der doppelt ausgestellten Stadtschuldscheine hergegeben hat. Ich bin so lange hier, als der gute Mann selbst, habe seinen ersten Anfang gesehen und weiß, was es für Geschäfte waren, die ihm auf die Beine geholfen; nachher hat es wohl keinen heimlichen Handel zwischen Speculanten und Regierung, keinen stillen Schwindel im Eisenbahn- und Landgeschäfte gegeben, in denen er nicht seine Finger gehabt – ich habe ihm einmal gründlich in die Karten gesehen als ich Mitglied der Legislatur war, wo für einen Staatsbau, der schon übervoll bezahlt war, die kleine Mehrbewilligung von einer Million herausgepreßt werden sollte; seitdem bin ich nichts als sein „old dear friend“, dem er die Hände entzwei drücken möchte – wir kennen uns, und eben deshalb weiß ich auch, wer wieder die Finger in unsern Stadtfinanzen hat.“

[481] Hugo stützte die Stirn in die Hand. Die Versendung der Stadtobligationen am Morgen war ihm während der Rede durch den Kopf gegangen, und doch hätte er Winter’s Sorglosigkeit, mit welcher dieser ihm sein Buch anvertraut, nicht begreifen können, wenn der Mann etwas Straffälliges zu verbergen gehabt. Dann war das belauschte Gespräch wieder vor ihn getreten, das wohl vermocht hätte, zu der Darstellung des Wirths eine Bestätigung zu liefern, wenn nur Winter’s Sicherheit dem Comptroller gegenüber nicht gezeigt hätte, daß er wegen seiner Handlungen nichts zu fürchten habe. Dann aber kamen die Aeußerungen des alten Henderson, welche eine ganz bestimmte Kenntnis; und Theilnahme Winter’s an den „Geschäften“, die Graham unternommen, verriethen und sogar einen Einfluß derselben auf die Verheirathung Jessy’s mit dem Comptroller andeuteten, und eine völlige Wirre von Gedanken drohte sich Hugo’s zu bemächtigen.

„Sie nehmen also den besprochenen Mann als den Hehler für das Gestohlene an,“ begann er nach kurzer Pause, sich mit Macht zu einer klaren Anschauung durcharbeitend; „hier ist aber ein so bestimmtes Factum: die Ausstellung zweier Obligationen unter ein und derselben Nummer, daß eine Einsicht in Winter’s Bücher sofort das Wirkliche in Ihrer Annahme zu Tage bringen müßte.“

„Halloh!“ lachte Marquart auf, „Sie sind wirklich noch so grün in unsern Verhältnissen, daß man Ihnen mit dem kleinsten Mißtrauen Unrecht thäte. Halten Sie den Mann wirklich für dumm genug, irgend einen unrechten Posten in seinem Buche zu dulden? Ich glaube sogar, daß er nicht einen einigen Federstrich, der wider ihn zeugen könnte, bei dem Handel gethan hat. Sie haben ihn zum Exempel in Deutschland getroffen – meinen Sie, der Mann reist dorthin, um seine Tochter und seinen Schwiegersohn spazieren zu führen und ohne Noth sein hiesiges Geschäft in der Hand des alten Henderson zu lassen? Er und der Comptroller werden gerade hinreichend gewesen sein, um ohne einen Buchstaben ihre Obligationen an den Mann zu bringen. Ich glaube auch gar nicht, daß gegen Winter eine bestimmte Anklage wird erhoben werden können, wenn ihn nicht seine eigenen Spießgesellen verrathen, und was ich soeben ausgesprochen, darf eben nur als eine Vermuthung gelten, die freilich alle Gründe für sich hat, mit deren Aeußerung man aber dennoch vorsichtig sein muß. Sie werden aber nun wenigstens begreifen, wie ein Deutscher angesehen wird, welcher in der jetzigen Zeit bei John Winter arbeitet, der seit Langem nur Vertrauensleute in seinem Geschäfte duldet!“ Er erhob sich, scharf seine Mütze rückend, als denke er genug gesagt zu haben, und Hugo, seine drängenden Gedanken und halb geborenen Entschlüsse zurückweisend, bis er mit sich allein sein würde, machte sich fertig, das Haus zu verlassen.

Es begann dunkel zu werden, als er den Weg nach seiner Wohnung einschlug; halb mechanisch nur bog er in der Nähe derselben in das ihm zugewiesene Speisehaus ein, um ein kurzes Abendbrod zu nehmen, und eilte dann, sein Zimmer zu erreichen.

An der offenen Seitenthür des Geschäftslocals, welche bei geschlossenem Vordereingang nach dem obern Stock führte, stand ein Mulattenmädchen, in lebendigem Gespräche mit dem alten Henderson neben ihr begriffen. Beide schwiegen aber bei Hugo’s Annäherung, und die Farbige schien mit reger Neugierde das ganze Aeußere des jungen Mannes einer Musterung zu unterwerfen. Kaum achtete dieser indessen darauf. Er schritt mit einem kurzen Gruße nach der Treppe und öffnete oben sein Zimmer, froh, seine Lage jetzt ungestört in’s Auge fassen und nach einem bestimmten Entschlusse suchen zu können. Er hatte indessen kaum seinen Hut bei Seite geworfen und einen unruhigen Gang durch den Raum begonnen, als Henderson ihm nach in das bereits dunkele Zimmer trat. „Es ist hier ein Brief an Sie,“ sagte der Alte, „jedenfalls werden Sie aber Licht brauchen, wenn Sie ihn lesen wollen!“ und ohne Hugo’s Erlaubniß abzuwarten, ließ er ein Streichholz aufleuchten, damit die Gasflamme entzündend.

Der Deutsche war stehen geblieben und nahm verwundert ein geschlossenes Couvert, dessen zierliche Aufschrift seinen Namen völlig correct zeigte, aus der Hand des Andern. „Von wem, Mr. Henderson?“ fragte er.

„Kann’s nicht sagen, Sir,“ war die Antwort, während ein leichter Ausdruck von Laune sich um den Mund des Sprechenden legte, „aber das Kammermädchen der Mrs. Graham hat ihn gebracht!“

Ein schnelles Roth schoß in das Gesicht des jungen Mannes, Henderson schien aber kaum darauf zu achten, nickte leicht und sagte: „Wenn Sie heute Abend wieder eine Viertelstunde zu plaudern wünschten – ich bin zu Hause, Sir!“ und verließ damit das Zimmer. Im nächsten Augenblicke aber hatte auch Hugo das Couvert geöffnet, sein Auge flog zuerst nach der Unterschrift – „Jessy Winter“ hieß sie, und eine Secunde lang durchschossen sein Gehirn zehn abenteuerliche Vorstellungen auf einmal. Mit zitterndem Auge begann er zu lesen:


„Theuerer Freund!

Nicht wahr, Sie erlauben mir, daß ich diese Anrede gebrauche, wenn Sie sich auch im Augenblick kaum mit günstigen Ideen von mir herumtragen mögen? Es ist mir, als dürfe ich Ihnen nur [482] das einfache Wort sagen: Es giebt nirgends eine Ursache, die mir selbst den kleinsten Theil Ihrer Achtung rauben könnte! und Sie würden mir trotz der Widersprüche, welche der Augenschein Ihnen entgegenstellen mag, unbedingt Glauben schenken. Und wie sehr es mich gedrängt hat, dieses Wort zu Ihnen zu sprechen, mag Ihnen der gegenwärtige Schritt beweisen, den ich zugleich, ohne Rücksicht auf gesellschaftliches Herkommen, thue, um mich gegen den Freund, den ich jetzt nicht verlieren mag, so rückhaltlos auszusprechen, wie es die bestehenden Verhältnisse erheischen.

Ich darf vermuthen, daß die Karte, welche ich Ihnen in Berlin sandte, um Ihnen für alle Fälle ein Asyl anzudeuten, Sie hierher gebracht hat, und dennoch mußte ich die Letzte sein, welcher Sie begegneten – nur durch einen Einfall Carry’s und wider Ihren Willen begegneten, und der Sie dann um so eiliger auswichen! Nicht wahr, das geschah nur, weil Sie mich verheirathet fanden, ganz abgesehen von der Person meines Mannes? und wenn ich jetzt in Ihr Inneres blicken könnte, würde ich nur auf den Vorsatz treffen, möglichst bald durch eine genügende Entfernung jeder neuen Berührung mit mir vorzubeugen? Sie haben mich fast ohne Hülle ahnen lassen, was in Ihnen vorgeht, und so spreche ich auch muthig aus, was ich von Ihren Empfindungen erkannt zu haben meine, da sich nur hierdurch ein ruhiges, klares Verhältnis; zwischen uns bilden kann.

Wir sind zweimal unter Umständen miteinander in Berührung gekommen, die uns Beide wohl die alltägliche Welt vergessen lassen konnten, und ich darf es Ihnen unter allen Verhältnissen gestehen, daß ich nie ohne eine warme Anerkennung Ihres Charakters, sowie eine herzliche, freundschaftliche Neigung für Ihre übrige Persönlichkeit an Sie zu denken vermochte. Jetzt, lieber Freund, sind wir aus Ihrem romantischen Deutschland in unser nüchternes Amerika gelangt und haben die Wirklichkeit zu nehmen, wie sie sich bietet. Ich bin einer unabweislichen Nothwendigkeit gefolgt, welche mich in meine jetzige Stellung geführt, und habe, wie ich Ihnen schon sagte, nichts darin zu bereuen; wollen Sie denn nun aber die Wirklichkeit dafür verantwortlich machen, daß sie Ihnen nicht bieten kann, was Ihnen vielleicht irgend ein Traum gezeigt? Und ist es denn so wenig, was wir haben können, wenn wir nur wollen: ein helles, lebendiges Verständniß unserer Seelen und ein freundliches Nebeneinanderleben, das gerade durch seine Leidenschaftslosigkeit kaum getrübt werden kann?

Indessen will ich Ihrer Stimmung, die sich mir ja nur in einem kurzen Moment geboten, jetzt in keiner Weise vorgreifen. Sie dürfen ruhig Ihren bisherigen Geschäften nachgehen, ohne besorgen zu müssen, mir von Neuem zu begegnen; nur Carry’s mysteriöse Einladung brachte mich heute in das elterliche Haus,das ich sonst kaum betrete – bietet sich aber in späterer Zeit einmal ein neues Zusammentreffen, so reichen Sie mir vielleicht selbst ruhig die Hand und betrachten unsere europäischen Abenteuer als das, was sie einzig bleiben werden: Erinnerungen ans einer poesievollen Zeit.

Und nun erlauben Sie mir noch eine Bemerkung, die ich aus vollem Herzen an den Freund richte. Sie sagten mir, Sie haben kein Talent zum Geldmanne, und Sie ließen mich die Gründe ahnen, welche Sie im Augenblicke in Ihrer jetzigen Lage festhalten. Lassen Sie mich Ihre Wünsche oder Pläne sammt deren möglichen Hindernissen mit derselben Offenheit wissen, wie ich selbst jetzt Ihnen gegenüber alle Bedenklichkeiten habe fallen lassen; vielleicht dürfte es mir möglich werden, Ihnen auf eine oder die andere Weise freien Weg für eine neue Zukunft zu schaffen, und können Sie zu der Mrs. Graham kein Herz fassen, so lassen Sie mich immer für Sie sein: Ihre aufrichtige Freundin

Jessy Winter.“


Hugo hatte längst den Brief geendet, aber noch immer blicke er bleich und starr in die Schriftzüge. „Lüge, Lüge!“ murmelte er endlich, „sie möchte, da sie mir das Paradies verschlossen, mir einreden, daß sie nie mehr als ein sonniges Plätzchen auf dürrer Haide für mich gehabt – aber um das zu schreiben, wenn es Wahrheit wäre, hätte es nicht dieser Eile bedurft!“ Er rief das ganze Bild seiner heutigen Begegnung mit ihr wieder vor sich, er prüfte es, als habe er über einen fremden Fall zu richten, von ihrem Erschrecken, als sie ihn erkannt, bis zu dem zitternden letzten Händedrucke und ihrem Abschiedsblicke. „Sie fürchtet!“ fuhr er langsam fort, „fürchtet ebenso die stumme Anklage als das eigene Gefühl und möchte den Glauben an ihr kaltes Herz als eine Schranke zwischen uns ziehen; sie bricht dem Schlimmsten, was ihr begegnen könnte, dem Geständnis; meiner Leidenschaft und meines Elends, die Spitze ab und sagt mit klaren, ruhigen Worten, daß ich ihr nichts mehr zu bekennen habe; sie weicht nicht aus, wo ihr die Vergangenheit entgegen treten könnte, aber läßt sie nur als poetische Erinnerung gelten; sie befestigt ihre Stellung nach allen Seiten – aber möchte mir doch gern eine goldene Brücke bauen, wenn ich nur ginge und ihr den Kampf ersparte. – O, ich gehe ja schon,“ fuhr er fort, sich in den nächsten Stuhl fallen lassend, „du sollst nicht beunruhigt werden, aber ich mag auch nicht deine Freundschaft und nicht deine Hülfe, Jessy – ich habe nicht dein starkes Herz, das sich selbst zu bezwingen und der Wirklichkeit volle Rechnung zu tragen vermag, aber ich habe meinen Stolz, der mich lieber darben, als ein Almosen annehmen läßt!“

Er legte den Kopf, das Gesicht in den untergelegten Arm gedrückt, auf den Tisch. Er war vollkommen klar mit sich, daß er morgen Winter’s Geschäft und die Stadt zu verlassen habe. Auch abgesehen von seiner Herzensangelegenheit, die ihn hier zu einer fortlaufenden Pein verurtheilt hätte, erforderte seine Ehre die Trennung von Winter; dann aber, wenn er wirklich seine amerikanische Carriere als Barkeeper oder dergleichen beginnen sollte, wollte er dies wenigstens an einem Orte thun, wo er kein Auge zu scheuen hatte. Er versuchte, sich den Abschied von seinem bisherigen Principale, dem er offen die Gründe seines Austritts mitzutheilen gedachte, vor die Augen zu stellen; aber durch seine Seele klangen fort und fort Bruchstücke aus Jessy’s Zeilen, seine Gedanken ableitend, und bald grübelte er fast unbewußt nur noch über einzelne ihrer Sätze, suchte er sich eine Erklärung für die „unabweisbare Nothwendigkeit“, welche sie in ihre Ehe geführt, zu schaffen, rief er sich ihre bleiche, veränderte Erscheinung, die in vollem Widerspruche mit der ruhigen, überlegten Ausdrucksweise ihres Briefes zu stehen schien, zurück, und erst die herbe Bitterkeit über diesen zur Schau getragenen Gleichmuth, welche ihn beschlich, führte ihn wieder mit größerer Bestimmtheit zu seinem Entschlusse, am nächsten Tage das Haus zu verlassen, zurück.

Da legte sich eine Hand auf seine Schulter; fast zusammenschreckend fuhr der Sinnende auf und sah in das Gesicht des alten Henderson, das ihn mit einer eigenthümlichen Theilnahme anblickte. „Sie hat bitter geweint, Sir, als sie das geschrieben hat,“ sagte er, auf den offen daliegenden Brief deutend, „aber nur Muth, Sir, was sie auch geschrieben haben mag! Sie weiß selbst nicht, wie es steht, und daß Henderson, der sie auf seinen Armen getragen, und ihr in manchem kleinen Unfälle geholfen hat, schon dabei ist, um sie auch von ihrem großen Unglücke zu erlösen. Nur nicht verzagt, Sir, es wird Alles werden, wie es soll, und wenn es einmal so weit ist, dann sollen Sie auch erfahren, wie tapfer das Kind gestritten!“ Es ging ein wunderlicher Ausdruck, aus Humor und Rührung gemischt, durch seine Züge, für welchen Hugo ebensowenig eine Erklärung hatte, als für seine Worte.

„Ich verstehe Sie nicht, Sir,“ sagte er befremdet; „Sie wissen etwas in Bezug auf diesen Brief?“

„Nur was mir soeben Flora, das ist ihr Kammermädchen, gesagt, durch die ich aber überhaupt Vieles erst habe verstehen lernen!“ erwiderte Jener ruhig und zog sich einen Stuhl im Bereiche seiner Hand herbei. „Ist es nicht richtig, das; Sie mit Miß Jessy in Deutschland bekannt geworden und auf die Karte hin, die sie Ihnen geschickt hat, hierher gekommen sind? Heißen Sie nicht Hugo Zedwitz?“

„Und wenn das auch Alles so ist, was erklärt sich daraus?“ fragte Hugo, welchem dieselbe schon einmal gehörte Frage wieder in’s Gedächtnis; trat, jetzt mit einiger Spannung.

Der Alte nickte mit einem eigenthümlichen Lächeln. „Ich habe gar nichts dawider, daß Sie mich nicht verstehen, ich gehe damit auch immer am sichersten!“ erwiderte er. „Sie werden aber doch einsehen, daß ich einen Grund haben mußte, daß ich Sie, der heute erst in’s Geschäft getreten, ruhig gehen ließ, als Sie die ganze Unterredung zwischen Mr. Winter und dem Stadt-Comptroller angehört, daß ich Ihnen sogar noch meine eigene Herzensergießung dazu gab? Nun, Sie sollen wissen, wie das so gekommen!“ Er strich mit der Hand über sein Gesicht und fuhr dann mit ruhigem Ernste fort: „Es ist wohl über ein Jahr her, daß Miß Jessy von der Tante, wo sie gelebt und der sie die Augen zugedrückt, wieder nach Oakhill kam und daß mit hundert andern jungen Leuten Mr. Graham seine Augen auf sie warf. Sie war aber noch immer das sonderbare Ding, das sie als Kind gewesen, wo sie sich oft allein [483] zu einem arm gekleideten Mädchen hatte setzen und ihr Zuckerzeug mit ihm theilen können, nur weil die geputzten Kinder nicht mit ihm hatten spielen wollen – sie kümmerte sich um die feinen Herren nichts und um Mr. Graham am wenigsten. Aber der Comptroller machte sich bei Zeiten an den Vater, nicht mit seinen Werbungen, sondern mit verschiedenen profitablen Geschäften – und Mr. Winter hat eine Leidenschaft für Geschäfte, die nicht offen für Jeden liegen. Ich sah schon damals, wo es hinausgehen sollte, sah, wie Graham jeden Tag mit nach Oakhill fuhr, aber der Mann gefiel mir nicht mit seinem Schleichwege nach dem Mädchen, und seine Geschäfte, in die er die Office verwickelte, noch viel weniger. Da kam zuletzt eine Speculation mit Stadt-Obligationen – es war ein Geschäft, um einen Engel zu verführen, wenn er für den Gewinn nur eine halbe schwache Seite hatte! Hier auf dem Platze, wo wir sitzen, wurde der Handel.abgeschlossen; es brauchte für Beide nur halbe Worte zum Verstehen, aber auch für den alten Henderson nicht mehr. Es galt für uns nur ein einziges Auge zuzudrücken, und übernahmen wir die Sache nicht, so gab es sicherlich zehn andere Hände dafür. Aber, Sir, es war die erste offene Unredlichkeit, die mir, so viel geheime und sonderbare Geschäfte auch durch unsere Office gegangen sein mögen, hier vor das Gesicht trat; ich wußte zudem auch, welchen Preis sich Graham für den Gewinn, der daraus entsprang, ausbedungen, und Mr. Winter fiel so leicht in die goldenen Schlingen, die ihm der Comptroller gestellt, daß, wenn ich nicht an dem eigenen Principale zweifeln sollte, ich den Andern wie den höllischen Versucher, der uns noch Alle in’s Verderben bringen würde, hassen mußte. -– Well, Sir, nachher folgte die europäische Reise, und die Leute hier meinten, Miß Jessy und der Comptroller würden als ein Ehepaar zurückkommen. Darin hatten sie sich freilich betrogen, eine Veränderung indessen war doch mit dem Mädchen vorgegangen, und wenn nicht ihr liebes glattes Gesicht dasselbe gewesen wäre, hätte ich gemeint, sie müsse um zehn Jahr älter geworden sein – Mr. Graham aber schien nach ihrem Wesen gegen ihn mit seiner Werbung unrettbar auf den Sand gerathen. Und im Monate darauf hieß es doch plötzlich, es solle Hochzeit gemacht werden; aber Miß Jessy ging herum, bleich wie eine verwelkte Lilie, und als der alte Henderson zu ihr kam, den sie zur Unterstützung bei ihrer neuen Einrichtung hatte rufen lassen, und sie kopfschüttelnd ansah, da fiel sie mit dem Gesichte auf seine Schulter, wie sie es oft als Kind gethan, wenn ihr das Herz schwer war, und weinte sich aus, als wolle ihr der innerliche Jammer die Brust zersprengen, und Henderson wußte, daß irgend ein teuflischer Streich gespielt worden war, der das Mädchen gefangen. Und in der Stunde schwor ich mir zu, daß das Unglück des armen Kindes auf den zurückfallen solle, der es verschuldet. Ich hätte sie noch damals gern rebellisch gemacht, denn sie kann ein Herz haben wie ein Mann und durchsetzen, was sie sich vornimmt; aber als der erste Ausbruch bei ihr vorüber war, stand sie wieder als ganze Lady vor mir, sagte mir, was sie thue, geschehe freiwillig, und ich solle nur ohne Fragen ihren Anordnungen nachkommen. Aus diesen Anordnungen aber, die Sie auch noch einmal erfahren werden, wenn es die rechte Zeit dafür ist, konnte ich schon abnehmen, wie es mit ihrem freien Willen beschaffen war, und ich hätte gerade so wenig davon verstanden, wie von den Umständen, die sie zu der Heirath vermochten, wenn Flora, die mit ihr aufgewachsen und ein ganz gescheidtes Mädchen ist, mir nicht bald ein Licht aufgesteckt hätte. – Well, Sir, ich kannte den Namen, der für die junge Mistreß der rechte gewesen wäre, noch ehe Sie hierher kamen; ich wußte, daß sie hätte glücklich werden können, wenn Mr. Winter nicht dem Versucher erlegen wäre, und wußte auch, was ich zu thun hatte, um die Office, in der ich bis jetzt ehrlich mein Leben verbracht, wieder rein zu machen, um das arme Kind von ihren Ketten zu erlösen und den Mann, der sich ihr aufgezwungen, sich in seiner eigenen Schlinge fangen zu lassen. Sie haben ja selbst gehört, wie er schon den Strick um seinen Hals fühlt und nicht weiß, wer ihm dazu verholfen hat; Sie konnten aber freilich den alten Henderson nicht verstehen, der mit dem ersten Schritte, den Sie in die Office thaten, wußte, wie jetzt für Miß Jessy die Sachen standen, der Ihr Freund wurde, Sir, eben so treu, als er an dem geopferten Kinde seinen Schwur gegen den Comptroller erfüllt. – Und nun sage ich also noch einmal: Muth, Sir! es wird Alles kommen, wie es soll, was sie auch jetzt in ihrem Unglücke geschrieben haben mag. Nur abwarten und dem alten Henderson vertrauen!“

Hugo hatte mit immer weiter geöffneten Augen der abgerissenen Rede gehorcht, deren Bedeutung er in manchen Theilen kaum ganz hätte fassen können, wenn die Mittheilungen des deutschen Wirths ihm nicht im Voraus ein volles Verständniß eröffnet gehabt. In einzelnen Augenblicken war es ihm gewesen, als ob es in ihm wie eine neue Hoffnung aufjauchzen sollte, und in andern war ihm wieder der Alte wie von einer fixen Idee eingenommen erschienen, bis zuletzt der Gedanke, daß Henderson es gewesen sein könne, der in seinem Hasse gegen Graham dem Untersuchungscommittee die Beweise der Betrügerei geliefert, in ihm durchbrach. Aber wurde Jessy dadurch frei, oder wurde seine Stellung in Winter’s Geschäft dadurch ehrenhafter? Er streckte langsam dem Alten die Hand entgegen, welche dieser derb und fest ergriff. „Sie meinen es gut, Mr. Henderson,“ sagte er, „aber Sie werden weder Jessy noch mir dadurch etwas helfen können. Sie hat mir hier zum zweiten Male gesagt, daß sie nichts in ihrer eingegangenen Verbindung zu bereuen habe, daß es eine unabweisbare Nothwendigkeit gewesen sei, der sie gefolgt, und sie will nicht einmal mehr von mir, als daß ich ihr Freund bleibe. Was wollen Sie nun daran ändern, da Ihnen selbst die Ursachen für ihre Einwilligung unbekannt sind? Ich aber habe keinen Anspruch, als den sie mir selbst einräumt, und wenn ich meine, unter so kalten Verhältnissen nicht neben ihr leben zu können, so bleibt mir eben die Freiheit, zu gehen. Und das werde ich auch außerdem aus denselben Gründen müssen, die Sie, Mr. Henderson, zuerst zu Graham’s Feinde gemacht haben. Vertrauen gegen Vertrauen, Sir! die Stadt ahnt mehr von den Geschäften, die hier gemacht worden sind, als Mr. Winter wissen mag, und wenn ich auch heute Morgen wohl selbst unbewußt eine Hand dazu geliehen habe, so werde ich mich doch sicher nicht wieder einer gleichen Gefahr bloßstellen. Ich denke morgen früh offen und ehrlich von Mr. Winter Abschied zu nehmen – und damit auch meine stillen Hoffnungen zu begraben, ohne die ich wohl nicht hierher gekommen wäre. – Es muß sein, Mr. Henderson,“ setzte er auf eine Bewegung des Alten hinzu, „ich selbst ginge hier auf doppelte Weise zu Grunde, und Mrs. Graham’s äußere Freiheit und Ruhe hat ebenso meine Entfernung zu fordern, denn ich bin nicht stark genug für eine Selbstbeherrschung, welche die Verhältnisse und ihre eigene Gefühlsweise verlangen.“

„Aber ich sage Ihnen, die Office wird rein werden, Sir, und was auch sonst an Geschäften gethan worden ist, für die nicht Jeder die Hand und die Schlauheit von Mr. Winter hat, so sind sie ehrlich gewesen, Henderson muß das wissen!“ rief der Alte eifrig. „Im Uebrigen aber weiß ich, was ich weiß, und Miß Jessy wird ihr Recht bekommen, mag auch der Teufel selber ihre Heirath zuwege gebracht haben. Muth, Sir, und Abwarten! Henderson sagt Ihnen, es wird Alles kommen, wie es soll, und das muß für einen Mann, den sie sich ausgewählt hat, genug sein!“

Hugo drückte mit einem matten Lächeln des Sprechers Hand. „Es gehört in manchem Falle mehr Muth dazu, zu gehen, Sir, als sich den kommenden Dingen zu überlassen!“ erwiderte er. „Ich werde mit mir selbst klar werden und sehe Sie morgen früh noch einmal, ehe ich einen meiner Entschlüsse ausführe!“

Henderson sah ihm mit einem langen besorgten Blicke in’s Auge und schüttelte dann den Kopf. „Sie hat bitter geweint, Sir, als sie den Brief da geschrieben,“ sagte er, sich langsam erhebend, „thun Sie, was Sie verantworten können!“ Er ging ohne weiteres Wort nach der Thür, und als diese sich hinter ihm schloß, ließ Hugo das Gesicht auf’s Neue in seinen Arm fallen. Was konnten alle wunderlichen Hoffnungen und aller guter Wille des Alten gegen unumstößliche Thatsachen helfen? War Jessy nicht verheirathet, war nicht jeder seiner Tage in Winter’s fernerem Dienste eine neue Gefährdung seiner Ehre? Fort, so lange er noch selbst die Kraft dazu fühlte und seine wenigen Mittel ihm einen Anfang in völlig fremden Umgebungen ermöglichten!




8. In Deutschland.

Der Geheimerath Zedwitz ging nachdenklich, die Hände auf den Rücken gelegt, in dem kleinen Empfangzimmer seiner Schwiegermutter auf und ab, während die alte Dame den Strickstrumpf in den Schooß hatte sinken lassen und durch das Fenster in den beginnenden Abend hinausblickte. Draußen fielen langsam die ersten diesjährigen Schneeflocken von dem grauen Novemberhimmel.

[484] „Mangold hat aus New-York einen Brief von seinem Sohne erhalten!“ begann die Letztere, wie einen neuen Gesprächsgegenstand eröffnend, und Jener hielt plötzlich seinen Schritt an.

„Er hat mir nichts davon gesagt!“ erwiderte er kurz.

„Glaub’ es wohl, Sie haben ihn scheu gemacht, Herr Sohn!“

„Ich wüßte kaum, daß sein Heinrich je zwischen uns erwähnt worden wäre,“ versetzte Zedwitz, den Kopf hebend, als wolle er dadurch die Erwähnung jeder Nebenbeziehung abschneiden. „Ich dachte soeben an ein Arrangement, das ich zu machen gedenke, wofür mir ein Vertrauensmann in New-York sehr angenehm wäre, und so würde mir die Adresse des jungen Mangold ganz gelegen kommen!“ Er nahm, als wolle er dem eindringlichen Blicke der alten Dame, welchen diese jetzt gegen sein Gesicht erhob, ausweichen, seinen Gang wieder auf und fuhr dann fort: „In den nächsten Wochen wird unser Meßner das Prädicat als Regierungs- und Schulrath erhalten, und ich habe mir vorgenommen, bis zu diesem Tage seine Angelegenheit mit Helene in Ordnung zu bringen – ich weiß, daß in seiner Hand die Zukunft des Mädchens gesichert ist und daß er für uns ein ausgezeichneter Sohn sein wird. Damit wird nun aber in meinem Etat der Nießbrauch von Helenens mütterlichem Vermögen wegbleiben, und ich werde suchen müssen, diesen Ausfall in anderer Weise zu decken. Ich habe der Kinder halber Schulden machen müssen, und diese sollen wenigstens bezahlt werden, ehe ich einmal in den Ruhestand übertrete. Da hat mich Meßner selbst auf einzelne amerikanische Papiere, die jetzt allgemein gesucht werden und, statt unserer gebräuchlichen vier Procent, zehn Procent Interessen bringen, aufmerksam gemacht er gedenkt sein eigenes kleines Vermögen darin anzulegen, und da die Sicherheit dafür einer Staatsgarantie gleichkommt, so glaube ich es verantworten zu können, den Rest, der noch von dem Vermögen der Kinder in meinen Händen bleibt, in dieser Weise profitabeler unterzubringen. Trotz aller Sicherheit ist man indessen mit den amerikanischen Verhältnissen und den nöthigenfalls zu ergreifenden Rechtsmitteln doch nicht vertraut genug, um sich einer völligen Ruhe hinzugeben, und so würde der junge Mangold mir von dort aus die nöthigen sichern Erklärungen leicht verschaffen können.“

„Sie sprechen von einer Verbindung zwischen Helene und unserem Meßner als so nahe,“ erwiderte die Großmutter nach einer Pause, „sind Sie auch Ihrer Sache völlig sicher? Ich habe den Schuldirector fast so lieb, wie einen eigenen Sohn, und doch ist mir auch Helene zu sehr an’s Herz gewachsen, als daß ich sie einem Zwange unterworfen sehen möchte.“

Der Geheimrath hielt seinen Schritt an und ließ einen Blick voll ernster Bestimmtheit auf der alten Dame ruhen. „Das Mädchen ist noch ein halbes Kind, das geleitet werden muß, wenn es seine ganze Zukunft nicht auf’s Ungefähr setzen soll, und sie kennt meinen Willen; über diese Angelegenheit glaubte ich mich völlig mit Ihnen im Einverständniß, Frau Mutter!“ erwiderte er. „Ich kenne die halbe Liaison zwischen ihr und dem jungen Römer; sie weiß aber, daß ich Gründe habe, mich dieser Neigung auf das Entschiedenste zu widersetzen, und ich fürchte nicht, daß die Großmutter ihr helfen wird, Opposition gegen den Vater zu machen!“

„Sie dürfen völlig ruhig sein!“ nickte die alte Frau langsam. „Auf der andern Seite aber, Herr Sohn, werde ich auch nie wieder eine ernste Neigung zu bekämpfen suchen, und ginge sie gegen meine liebsten Wünsche; – ich bin einmal im Leben dafür gestraft worden,“ setzte sie in sinkendem Tone hinzu, „und mag diese Verantwortlichkeit nicht noch einmal auf mein Gewissen nehmen. – Aber abgesehen von Allem,“ fuhr sie rasch fort, als befürchte sie, ein unbedachtes Wort gesprochen zu haben, „worin wurzelt denn Ihre Abneigung gegen den jungen Römer, den ich allerdings gern unserm Schuldirector nachgesetzt sähe, gegen den sich aber doch kaum eine begründete Einwendung machen ließe?“

In des Geheimraths Gesicht hatte es während des ersten Theils der gehörten Worte wie ein ferner Blitz aufgezuckt, und selbst als die Sprecherin geendet, lag es noch wie ein drohendes Wetter auf seiner Stirn. „Wo Ehre und Gewissen in einer vernünftig geschlossenen Ehe regieren, Frau Mutter, da mag Jeder ruhig die Verantwortlichkeit dafür übernehmen,“ sagte er mit finsterm Nachdruck, „und wenn Sie meiner Tochter vielleicht eine alte trübe Geschichte erzählt haben, so kann sie ihr nur zum Segen in ihrem künftigen Leben werden! – Ich gebe meine Tochter keinem Speculanten, der oft nicht weiß, ob er morgen reich ist oder den größten Theil seines Vermögens verloren hat,“ fuhr er dann ruhiger, seinen Gang wieder aufnehmend fort, „und Römer’s Geschäft schlägt mehr oder weniger in diese Branche. Ich will auch nicht meine Tochter nach dem, was sie eingebracht hat, betrachtet sehen, und vielleicht habe ich auch noch weitere Gründe, mir diese Bewerbung zu verbitten!“

Das Gesicht der Großmutter klärte sich zu einem launigen Lächeln voll stiller Befriedigung auf. Sie erhob sich unhörbar, als Zedwitz ihr den Rücken kehrte, trat ihm bei seinem Zurückkommen langsam entgegen und legte die Hand auf seine Schulter. „Wir sind allein, Herr Sohn, und so lassen Sie uns doch aufrichtig sein!“ sagte sie mit einem Anklang von Schalkhaftigkeit, welcher diesen alten, feinen Zügen einen ganz eigenthümlichen Reiz verlieh. „Ich will Ihnen einmal sagen, was in Ihrer Seele vorgegangen ist, wenn Sie mir es auch wahrscheinlich nicht gestehen werden. Sie glaubten durch das Ereigniß, welches Hugo aus Berlin hierher trieb, sich und den Namen der Familie bloßgestellt, Sie fanden darin nur eine natürliche Folge der modernen Ansichten, welchen er sich zu Ihrem Mißbehagen hingab, und glaubten durch Ihre Strenge gegen ihn nur einen nothwendigen Act der Gerechtigkeit in Bezug auf die Ehre der Familie, wie auf den Uebellhäter auszuführen – im Allerinnersten des Herzens freilich war dennoch die Liebe für den schuldigen Sohn geblieben, wenn auch die Welt keine Ahnung davon erhalten sollte. Nun stellt sich aber auf geeigneten Orts gethane Anfragen heraus, daß nicht allein keine gerichtlichen Schritte gegen Hugo gethan worden sind, sondern daß der verwundete Russe auch jede Bezeichnung des Thäters verweigert und die ganze Schuld der unglücklichen Angelegenheit auf sich selbst genommen hat – daß Hugo’s Vorgesetzte diesem das beste Zeugniß geben und den unbesonnenen Schritt seiner Flucht aufrichtig beklagen – erlauben Sie mir, lieber Sohn, daß ich mein Recht auszureden auch einmal in Anspruch nehme!“ unterbrach sie eine ungeduldige Bewegung des Geheimraths. „Und so wäre die Sache ohne alle ernsten Folgen vorübergegangen, wenn nicht – der junge Römer dem Flüchtling die Mittel zur Reise nach Amerika gewährt hätte. Eine andere und wohl correctere Lesart aber heißt: wenn nicht der Flüchtling aus dem elterlichen Hause, wohin er sich im kindlichen Vertrauen gewandt, gewaltsam gestoßen worden wäre – diese Lesart ist aber etwas unbequem, also hält man sich an die erstere und überträgt auf den jungen Römer die Vorwürfe, die man im Allergeheimsten sich wohl selbst macht. Ich bin noch nicht ganz fertig!“ beantwortete sie eine neue Bewegung ihres Gesellschafters, ohne Rücksicht auf dessen dicht zusammengezogene Brauen. „So muß also der junge Römer auch ein Speculant sein, obgleich er sich mit denselben amerikanischen Papieren nicht einlassen mag, durch welche der Herr Sohn sich höhere Zinsen verschaffen will. Sie haben schon einmal gegen mich von dieser Idee gesprochen, und ich nahm die Gelegenheit wahr, ein kaufmännisches Urtheil darüber zu hören. Verstehen Sie mich recht – ich nehme in keiner Weise die bestimmte Partie des jungen Mannes; ich möchte aber nur, daß Sie jetzt, wo vielleicht noch Manches für den Frieden der Familie zum Guten gelenkt werden kann, aufrichtig gegen sich selbst und gegen mich sind, die einiges Recht auf die Kinder zu haben und einige Rücksicht zu verdienen glaubt!“

Sie sah ihm groß und freundlich in das finstere Auge und wandte sich dann zurück, indem sie sich wieder in den Lehnstuhl am Fenster niederließ und den Kopf erwartend zurücklegte.

[497] Zedwitz schien einige Secunden seine innern Regungen niederzukämpfen. „Sie betrachten eben nur die Dinge mit dem Gemüthe, Frau Mutter, und ziehen danach Ihre Schlüsse!“ sagte er dann, während sich eine völlig kalte Ruhe über sein Gesicht legte. „Hugo hätte sehr viel wieder ausgleichen können, wenn er ruhig nach Berlin zurückgegangen wäre und sich dem Gerichte gestellt hätte, wie es jeder Mensch von reinem Gewissen gethan haben würde. Statt dessen zog er es, seinem ganzen zerfahrenen Wesen nach, vor, durch eine Flucht nach Amerika jede Ausgleichung unmöglich zu machen und seine ganze Zukunft unrettbar zu ruiniren. – Es ist nicht vor Allem die letzte Angelegenheit, die mich dem jungen Menschen entfremdet, es war seine ganze vorhergehende Vergangenheit,“ setzte er mit starker Betonung hinzu, „wenn auch seine Chefs geglaubt haben, mir durch ein freundliches Urtheil über ihn einen Trost zu geben. Und daß ich nun einem Manne, der ihm geholfen hat seinem ganzen bisherigen Verfahren die Krone aufzusetzen, nicht besonders günstig sein kann, ist allerdings verständlich – obgleich die Schlüsse, die ich daraus über Römer’s eigenen Charakter gezogen, den Hauptantheil daran tragen. Mit dem Sohne, der mir seine ganze Zukunft, die ich mit allen erdenklichen Opfern erst für ihn geschaffen, vor die Füße geworfen, bin ich fertig, das wissen Sie, Frau Mutter, also bitte ich Sie, seinen Namen nicht mehr gegen mich zu erwähnen!“ – Es war ein großer, tief ernster Blick, welcher jetzt den Sprechenden aus den Augen der Dasitzenden traf und ihn fast zu beunruhigen schien; nach einer augenblicklichen Pause aber fuhr er mit einem Zuge von leichtem Spott um den Mund fort: „Im Uebrigen, liebe Mama, nimmt mich die augenscheinliche Aenderung Ihrer Ansichten einigermaßen Wunder. Waren Sie nicht selbst Meßner’s eifrigste Freundin und unterstützten seine Werbung, während ich mich wenigstens nie entsinne, ein so lebhaftes Interesse für den jungen Römer bei Ihnen bemerkt zu haben? Hielten Sie nicht selbst Helene’s Zukunft durch den Charakter und die Aussichten des Erstern für am meisten gesichert?“

In dem feinen Gesichte der alten Frau stieg es auf wie ein leises Abendroth. „Sie zwingen mich durch Ihren Angriff, wieder Dinge zu berühren, die Sie nicht gern zu hören scheinen,“ erwiderte sie, wie in einer leichten Erregung. „Ich sagte Ihnen, daß ich nicht zum zweiten Male einer ernsten Neigung entgegentreten würde, wenn sie auch meine liebsten Wünsche vereitelte, und eine solche hat sich, wahrscheinlich erst durch Ihre starre Abweisung alles kindlichen Vertrauens, zwischen unserer Helene und dem jungen Kaufmanne herausgebildet. Ich habe ziemlich sichere Anzeichen davon, wenn ich mich auch der Angelegenheit völlig fern gehalten habe. Sie werden mir vielleicht vorwerfen, daß ich das Urtheil des Kindes hätte leiten sollen, ehe es so weit kam. Sie selbst aber, Herr Sohn, haben auch mir durch den Fall mit Hugo das rechte unbedingte Vertrauen der Mädchen entzogen. Sie sehen mich befremdet an, aber es giebt nichts Natürlicheres. Ich habe mir selbst erst in den letzten Wochen klar gemacht, was sich indessen die Mädchen längst selbst gesagt: daß Ihre Stimmung gegen den Sohn kaum zu der bewiesenen Schärfe hätte gelangen können, wenn unser guter Director, als Gegner der jetzigen modernen Richtung, Ihrem Mißfallen an Hugo’s Ansichten nicht noch die rechte Unterstützung geliehen hätte; ich selbst bin völlig unter dem Einflüsse von Meßner’s wohlthuenden Ueberzeugungen gewesen, die mich noch heute zu seiner aufrichtigsten Freundin machen; aber als ich die Wirkungen derselben auf Ihr Verfahren gegen Hugo wahrnahm, der sich doch zuletzt nichts als eine jugendliche, vielleicht unbedachte Lebens-Auffassung hat zu Schulden kommen lassen; als ich herausfühlte, wie die Mädchen, in Folge der hier stattgehabten Scene gegen mich, die sie als eine offene Freundin des Schuldirectors kannten, verschlossener wurden: da ging ich mit mir selbst zu Rathe, wie es Jeder thun sollte, Herr Sohn, der das beste Glück, die Harmonie und Befriedigung in seiner Häuslichkeit, von sich weichen sieht. Ich erkannte, daß wir alten Leute selbst, als wir noch jung waren, unsere eigenen Anschauungen gehabt und oft genug in Opposition zu unsern Eltern gelebt hatten, daß gerade die intelligentesten Kinder die rebellischsten sind, und daß das jüngere Geschlecht für neue Anschauungen, sollten sie auch irrthümliche sein, empfänglich sein muß, wenn die Welt nicht stillstehen soll, daß Unduldsamkeit und starres Festhalten am eigenen Willen die unglücklichsten Mittel sind, um ein Kind seinen Irrthümern zu entreißen. Und unsere Kinder, Herr Sohn, sind eine eigenthümliche Mischung von Vater und Mutter; Sie vermögen sie mit offener Liebe zu Allem zu bringen, während eine Strenge, die ihnen ungerechtfertigt erscheint, ihr Herz erstarrt. – Wollen Sie nun,“ fuhr die Sprecherin, den im Eifer der Rede gerade aufgerichteten Oberkörper langsam wieder zurücklegend fort, „einen Zwang gegen Helene durchführen und die Verantwortung dafür auf sich nehmen, so kann ich nichts dagegen thun; ich habe Ihnen nur die Gründe über die Aenderung meiner Ansichten, wie Sie es nennen, mittheilen wollen.“

Auf dem Gesichte des Geheimraths hatten sich abwechselnd stille Ungeduld, halbunterdrückter Unmuth und eine Andeutung von bitterm Spotte während der Rede gezeigt. „Ich weiß nicht, liebe Mama,“ sagte er jetzt mit einem gezwungenen Lächeln, „wer Ihnen die Materialien zu Ihrer jedenfalls beredten Darlegung geliefert [498] hat; ich mochte Ihnen aber sagen, daß man nicht so alt geworden ist, wie ich, ohne gewisse Grundsätze zu festen Haltpunkten für sich gemacht zu haben, welche man nicht so beliebig nach einer ihnen entgegenstehenden Ansicht ändert. Und einer dieser meiner Grundsätze heißt, daß, so lange die Kinder noch in der Obhut und in dem Brode des Vaters leben, sie diesem, der sie genauer kennt und sie besser zu berathen weiß, als sie sich selbst, zu gehorsamen haben. Das Kind aber, welches diese natürliche Gegenpflicht für die Opfer und die Verantwortlichkeit des Vaters von sich weist, scheidet sich von ihm und hat nirgends mehr das Recht eines Kindes zu beanspruchen, denn es ist contractbrüchig an dem heiligsten Uebereinkommen geworden, welches die Natur selbst geschaffen. Sie mögen Helenen, die noch am wenigsten befähigt ist, ihr eigenes Heil zu beurtheilen, diesen von mir festgehaltenen Grundsatz mittheilen; ich bin indessen ohnedies überzeugt, daß sie sich ruhig ihrem Besten fügen wird, sobald nur nicht ungehörige Einwirkungen für das Gegentheil stattfinden. Und hiermit, Frau Mutter, lassen Sie uns diesen Gegenstand als abgethan betrachten; Herr Römer soll von mir selbst das Nöthige erfahren.“

Er neigte sich leicht und verließ das Zimmer. Die Großmutter lehnte den Kopf zurück, faltete die Hände und blickte in den trüben Abend hinaus; kaum aber waren die Tritte des Geheimraths verhallt, als sich die Nebenthür öffnete und Marie fast geräuschlos hereintrat, einen Stuhl an dem kleinen Arbeitstische unweit der alten Dame einnehmend. „Soll ich nach Licht klingeln, Großmutter?“ unterbrach sie nach einer Weile das Schweigen.

Die Angeredete fuhr wie aus einem Traume auf. „Wo ist Helene?“ fragte sie.

„Sie macht noch einen Gang durch den Garten,“ war die ruhige Antwort.

„Jetzt?“ fragte die Andere und sah dem Mädchen aufmerksam in’s Auge. Marie antwortete nur durch einen bittenden Blick. „O, drücke ein Auge zu, Großmutter, sie hat ja so offen zu Dir gesprochen,“ sagte sie dann halblaut, „Römer darf nicht in das Haus, und was soll sie denn thun, wenn sie ihn einmal sehen und nicht zu noch unpassenderen Mitteln greifen will?“

Die alte Frau schüttelte mit einem leisen Seufzer den Kopf. „Ich darf dem in dieser Weise nicht nachsehen und muß mit dem Mädchen reden. Es wird sie Niemand zu einer Heirath zwingen, die ihr zuwider ist, aber sie darf auch dem Willen des Vaters nicht so fast unter seinen Augen Hohn sprechen. Ist ihre Neigung echt, so muß sie stark genug sein, um abwarten zu können, bis eine bessere Sonne darüber aufgeht; auf dem jetzigen Wege aber kann ihr kein Heil erwachsen – sie sollte den Vater kennen!“

Marie horchte plötzlich auf. „Das ist Meßner, der mit dem Vater spricht,“ sagte sie; „schicke jetzt nicht nach Helenen, Großmutter, es wäre sonst, als geschähe es seinethalber, ich werde auch liebenswürdig sein und Deinen Freund unterhalten!“

„Wenigstens werde ich sie nicht vor einem Dienstboten bloßstellen, denke aber dafür zu sorgen, daß ein derartiges Rendez-vous das letzte ist!“ erwiderte Jene und erhob sich wie in einem kurz gefaßten Entschlusse. „Ob aber der Director Deiner Unterhaltung Stand halten wird?“ setzte sie mit einem halben Lächeln hinzu.

„Warum nicht, Großmutter?“ fragte das Mädchen, rasch den Kopf hebend, „ich denke, es wird eben nur auf mich ankommen! Wir haben vor Zeiten schon einmal recht gut mit einander gestanden – das war, ehe er so süß wurde und zum Heile seiner Carriere sich an die alten Damen hielt. Wenn ich mir jetzt freilich zuweilen denke, was doch für ein tüchtiger Fond in dem Manne steckt, den er um etwas rascheren Vorwärtskommens willen verbirgt und für eine Schönrednerei opfert, wie er daneben fremden Ansichten sich unterwirft, als habe er keine eigenen, so kann ich gar nicht anders, als ihn dafür recht gründlich hassen und ihn unverblümt meine Herzensmeinung fühlen lassen. Indessen vermag ich mich wohl auch ein Viertelstündchen zu beherrschen, wenn es nöthig ist, und ihn innerlich nur zu beklagen!“

Die alte Frau sah das Mädchen mit einem großen eigenthümlichen Blicke an, als sei plötzlich ein ganz neuer Gedanke in ihr aufgestiegen; dann aber, als Schritte im Corridor hörbar wurden, nickte sie leicht und sagte: „So unterhalte ihn, bis ich zurückkomme!“ und verschwand dann in der Seitenthür, welche zu ihrem Schlafzimmer führte.

Marie hatte kaum das Ohr wieder horchend dein Corridor zugewandt, als sich dort die Thür rasch öffnete und, von einem der Dienstmädchen mit brennender Gesellschaftslampe gefolgt, der Schuldirector eintrat. Er warf einen raschen Blick durch das Zimmer und schien sichtlich unangenehm berührt, als er nur die sich erhebende Marie erblickte. Diese indessen ging ihm leicht entgegen.

„Wir haben soeben von Ihnen gesprochen, Herr Director,“ sagte sie, „und ich habe behauptet, daß Sie eine kurze Zeit auch einmal mit mir vorlieb nehmen würden. Großmutter wird bald wieder hier sein!“

Er sah auf, als überrasche ihn die Freundlichkeit ihres Tones. „Sie wissen, Fräulein Marie, daß mich Ihre Gesellschaft immer nur glücklich gemacht hat!“ erwiderte er gehalten, mit einem leichten Forschen in ihre Augen blickend, als traue er der Harmlosigkeit ihres Ausdrucks nicht ganz.

„Immer?“ fragte sie lächelnd, und ein Zug von halber Schalkhaftigkeit legte sich um ihren Mund, der ihrem Gesichte einen ganz neuen Reiz verlieh. „Wenn Sie Geduld zu einem kurzen Geplauder mit mir haben, so will ich schon völlig befriedigt sein!“ setzte sie hinzu und zog einen Stuhl nach dem von der Lampe erleuchteten Tische; Meßner folgte mit einer leichten Verbeugung ihrem Beispiele, aber zwischen seinen halb zusammengezogenen Augen stand es wie eine unbestimmte Unruhe. – – –

Eine Viertelstunde vorher war ein junger Mann um das Haus gebogen, da wo sich der Seitenflügel desselben an die hohe Gartenmauer anschließt, welche die eine Seite einer engen, todten Nebengasse bildet, und hatte dort eine kleine unverschlossene Pforte aufgedrückt. Die Schneeflocken fielen leise und dicht in der hereinbrechenden Dämmerung und hatten bereits die entblätterten Bäume, die Beete und Kieswege mit einer weißen, dünnen Schicht überdeckt; der Gang von Weinlaub indessen, welcher sich an der Mauer entlang nach dem Hause zog, zeigte noch den vollen Schmuck seiner Blätter, und hierher wandte sich der Eingetretene mit einigen raschen Schritten, als wolle er sich gegen jeden zufälligen Blick aus der Umgebung decken. Als er, hinter der Laubwand fortschreitend, die Nähe des Hauses erreicht, da wo sich die Weinranken emporwanden, um die beiden nächsten Fenster des obersten Stocks zu umschlingen, hob er zwei kleine Steinchen von dem geschützten Boden auf und ließ sie durch die nächste Lücke des Laubes hinauf nach den Scheiben fliegen. Der dadurch hervorgebrachte Laut war kaum hörbar gewesen, dennoch antwortete nach Kurzem ein leises Klopfen gegen eines der Fenster. Der junge Mann stand lauschend, mit den Augen die übrigen Fenster, die dem Corridor des obern Stocks Licht gaben, überfliegend. Bald ward behutsam die vom Hause nach dem Garten führende Thür geöffnet, und nach einem vorsichtigen Blicke heraus huschte eine feine Mädchengestalt aus dem sich zunächst bietenden Wege nach dem Weinlaubgange hinüber. Im gleichen Augenblicke meinte der Lauschende eine dunkele Gestalt an einem der Corridorfenster zu bemerken; die Dämmerung wie der fallende Schnee ließen ihn aber kaum unterscheiden, ob er recht gesehen, und in der nächsten Secunde streckten sich ihm die beiden Hände des Mädchens entgegen. „Sieh, Fritz, ob ich nicht fest an Dir halte, trotz aller Hindernisse und Gefahr!“ sagte sie halblaut und mit fliegendem Athem.

Der junge Römer hatte in voller Inbrunst Helene’s Hände gefaßt. „Ach, ich weiß es, Du bist mein starkes Mädchen geworden,“ versetzte er mit einer Stimme, die wie unter Bewunderung und Rührung zitterte, „und ich -– ich kann so wenig thun! Ist es denn wahr, was ich schon in der Stadt gehört,“ fuhr er erregt fort, „daß Deine Verlobung mit Meßner erfolgen soll, sobald seine Ernennung zum Regierungsrath da ist? Sieh, Helene, jetzt vermöchte ich es doch nicht mehr zu ertragen!“

„Ich weiß nichts davon, und die Stadt ist immer besser unterrichtet als wir selbst,“ erwiderte sie, ihre Finger fest um die seinen schließend; „vielleicht glaubt der Vater mich zwingen zu können, wenn Alles seinen Willen nachspricht; aber,“ fuhr sie, den Kopf hebend, fort, während in dem milden Rehauge ein leuchtender Strahl voll Energie aufblitzte, „ich habe Dir gesagt, Fritz, daß ich mich nicht zwingen lasse. Ich hätte vielleicht nicht die Kraft zum Widerstande gefunden, wenn nicht die Sache mit Hugo gekommen wäre, wo ich erkannte, daß der Vater kein anderes Gefühl kennt, als für sich selbst, wenn Du nicht offen an mich herangetreten wärest, daß ich völlig klar über mich selbst wurde – jetzt aber sei ruhig, Fritz, er zwingt mich nicht, und das habe ich auch schon der Großmutter klar und bestimmt gesagt. Was nachher kommen wird, überlassen wir dem lieben Gott; ich weiß, daß Du [499] nicht mehr thun kannst, als fest an dein Worte halten, das wir uns gegeben!“

Sie standen Beide Aug’ in Auge, die Hände eng in einander verschlungen, ohne Worte und doch in dem schweigenden in einander Versunkensein beredter, als es Worte hätten ausdrücken können – da tönte ein harter Tritt neben ihnen, und erschrocken fuhr Römer empor. Er blickte in das feste, zornig leuchtende Auge des Geheimraths.

„Ich glaube nicht, Herr Römer, daß Ihr Weg hierher durch mein Haus geführt hat,“ begann dieser kalt und scharf, „indessen ersparen Sie mir durch Ihre Gegenwart die Mühe einer Zuschrift. Geh’ in Dein Zimmer, Helene!“ wandte er sich in dem Tone eines bestimmten Befehls nach dem Mädchen.

Helene’s Ueberraschung hatte sich nur durch ein kurzes Aufzucken verrathen, dann aber war ihr Auge groß und unverwandt auf dem Sprechenden haften geblieben. Die verschlungenen Hände des Paars hatten sich unwillkürlich gelöst, aber um so fester umschloß jetzt ihre Rechte, die an ihrer Seite hinabgesunkene Linke des jungen Mannes, als wolle sie es sein, die ihn halten und schützen werde. „Vater, ich habe Herrn Römer eingeladen, mich hier zu sprechen,“ sagte sie mit völlig gemäßigter Stimme, wenn sie auch ein leises Beben der Erregung darin nicht unterdrücken zu können schien, „und Du wirst mich nicht bloßstellen und wegschicken wollen, wie ein kleines Kind – ich glaube vertreten zu können, was ich gethan!“

Zedwitz warf einen schnellen Blick, wie überrascht von ihrer Redeweise, auf das Mädchen und sagte dann finster: „Gut, so magst Du selbst hören, was ich diesem Herrn hier zu sagen habe.“ Und sich mit steifer, eisiger Miene gegen den jungen Kaufmann wendend, fuhr er fort: „Ich glaube, Herr Römer, Ihnen bereits so deutlich ausgedrückt zu haben, wie es unter gebildeten Menschen Sitte ist, daß ich Ihre Besuche in meinem Hause nicht wünsche, und meine, ich hätte Ihnen auch die darauf bezüglichen Gründe deutlich genug angedeutet. Für einen Mann vom einfachsten Ehrgefühl wäre dies hinreichend gewesen, um ihn wenigstens den Bereich meiner Wohnung meiden zu lassen. Sie aber scheinen darin anderer Ansicht zu sein, und so zwingen Sie mich, Ihnen zu sagen, daß ich jedem ähnlichen Versuche zur Bethörung eines jungen Mädchens, das noch kein eigenes Urtheil über das, was seiner Zukunft frommt, haben kann, so begegnen werde, wie ich es jedem gewaltsamen Eindringling in mein Haus gegenüber thun würde!“

Römer war geisterhaft bleich geworden, auf seinen Lippen zuckte eine Entgegnung, die nur des Endes der Rede zu warten schien; Helene aber drückte wie besänftigend seine Hand und trat einen Fuß breit vor, als wolle sie ihn gegen jedes harte Wort decken.

„Und was denn dann, Vater, wenn Du nun so weit gehst?“ sagte sie ruhig, kaum daß Zedwitz geendet. „Du selbst hast mich gezwungen, ihn außer dem Hause zu sehen; nun wirst Du mich je härter Du bist, immer weiter treiben, denn wir haben uns das Wort gegeben, nicht von einander zu lassen. Du hast die Mutter von Dir gestoßen, bis Gott sie erlöst, Du hast Hugo verstoßen, der nichts verbrochen, bald wirst Du wohl auch mich verstoßen – warum hast Du denn nur Deinen harten Willen, Vater,“ fuhr sie fort, und es klang, als dränge sie die plötzlich aufsteigenden Thränen zurück, „und nicht auch ein Theilchen Liebe für uns, die Dich so lieb haben möchten, wenn sie nur dürften –?“

Es war ein seltsamer, unheimlicher Ausdruck, der während der letzten Worte in das Gesicht des Geheimraths getreten war. Er legte die linke Hand um den Arm der Tochter, daß diese unter seinem Griffe zuckte, und wies mit der rechten gebieterisch nach der Gartenpforte. „Gehen Sie, Herr!“ rief er, „damit ich mich nicht vergesse; mit dieser hier will ich dann fertig werden!“ Römer aber, wie in einer plötzlichen Angst sich selbst vergessend, wandte sich ihm nur näher.

„So kann ich nicht gehen, Herr Geheimrath,“ erwiderte er, „thun Sie mir mir nach Ihrem Belieben, aber geben Sie Helenen frei, die ich nicht so zurücklassen kann!“

Die nächste Bewegung des alten Beamten wurde durch eine Hand unterbrochen, die sich plötzlich auf seinen Arm legte. Die Großmutter stand neben der Gruppe. „Lassen Sie mich dies ordnen, Herr Sohn, wenn Sie nicht noch ein Stadtgespräch haben wollen,“ sagte sie bestimmt und legte zugleich ihren Arm um das Mädchen, das sich bei ihrem ersten Laute in krampfhaft ausbrechendem Weinen an ihre Brust geworfen hatte. „Sie, Herr Römer, versprechen mit Ihrem Worte als Ehrenmann, daß Sie nie und unter keinen Umständen mit unserer Helene wieder heimlich zusammentreffen wollen; dagegen verspreche ich Ihnen, daß sie zu keiner Verbindung gezwungen werden soll, gegen welche sie sich sträubt!“

Sie hielt dem jungen Manne gerade ausgestreckt die kleine magere Hand entgegen, und dieser erfaßte sie, wie in plötzlicher innerer Bewegung seine Lippe darauf drückend. „Ich verspreche es!“ sagte er mit halber Stimme.

„So verlassen Sie uns also, Herr Römer – und Du, Kind, gehst nach Deinem Zimmer.“

Das Mädchen schnellte von der Brust der Sprecherin auf, nach der Hand des jungen Mannes fassend. „Leb wohl, Fritz!“ rief sie, „und was auch kommen mag – unser Wort gilt!“ Dann drehte sie sich entschlossen weg und schritt rasch, ohne zurück zu blicken, dem Hause zu. Römer verneigte sich in trübem Schweigen gegen die Zurückgebliebenen und wandte sich nach der Pforte, die ihn eingelassen und sich jetzt bald hinter ihm schloß.

Zedwitz hatte in starrer Unbeweglichkeit die kurze Scene an sich vorübergehen lassen und rührte sich auch nicht, als die alte Dame sich jetzt nach ihm wandte. „Ich habe versprochen, daß das Kind zu keiner Heirath gezwungen wird,“ sagte sie in mildem Tone. „Sie werden mein Wort nicht zu Schanden werden lassen, Herr Sohn!“

„Ich glaube meine Handlungen selbst bestimmen zu dürfen,“ erwiderte er, und seine Stimme klang heiser, wie unter einer zurückgehaltenen Erregung; „die augenblickliche Rücksicht aber, die ich auf Ihr Erscheinen genommen, legt hoffentlich mir selbst keine Verpflichtung auf!“

„So sage ich Ihnen,“ versetzte sie den Kopf hebend, während ein leises Roth innerer Bewegung in die feinen welken Züge trat, „daß Sie mit eigener Hand Ast um Ast mit all dem blühenden Leben daran, das Gott zu Ihrem Segen geschaffen, von Ihrem Lebensbaume brechen, daß Sie dastehen werden in Ihrer Einsamkeit ein kahler, schutzloser Stamm, der nicht einmal das Mitgefühl wird ansprechen dürfen. Denn Gott in seiner Weisheit hat die elterliche Liebe zur Controle der elterlichen Macht geschaffen, damit diese nicht zur Tyrannei werde, und wer kein Herz für das eigene Kind hat, von dem wendet sich wieder jedes Herz als einem ungerechten Gewalthaber –“

Ein rascher Schritt des Geheimraths, der diesen ihr dicht gegenüber brachte, unterbrach ihre Worte. „Und wer sagt Ihnen, alte Frau,“ begann er langsam, als überwinde er mühsam einen innern Druck, „daß nicht in mir die Liebe zu meinen Kindern stärker und mächtiger lebt, als in alle den weichen, schwachen Weiberherzen, die dem Kinde ein spitzes Messer in die Hand geben, nur weil es danach verlangt?“

Sie standen Beide zwei Secunden schweigend Auge in Auge. „So möge Gott diese Liebe aus ihrem ummauerten Grabe auferstehen und an’s Licht treten lassen, ehe es zu spät ist!“ erwiderte sie dann fast feierlich und wandte sich mit geneigtem Kopfe langsam dem Hause zu.

Zedwitz sah ihr einen Moment mit zuckenden Augenbrauen nach, dann ging er in seinem gewöhnlichen festen Schritte nach der Pforte in der Mauer und schob dort die Riegel vor. –

Während dieser ganzen Scene hatte in dem Empfangzimmer der Großmutter ein wunderliches Gespräch stattgefunden.

Meßner hatte sich auf Marie’s Einladung dieser gegenüber niedergelassen, aber seine Augen konnten es nicht verbergen, daß seine Seele völlig auf der Wache war, als sei er des Friedens, der sich in dem ruhigen Lächeln des Märchens spiegelte, nicht sicher.

„Könnten Sie mir wohl eine Gewissensfrage mit Vertrauen beantworten, Herr Director?“ fragte Marie jetzt, nach einer seitwärts liegenden Arbeit greifend, während um ihren Mund wieder der frühere Zug leichter Schalkhaftigkeit spielte.

„Eine Gewissensfrage – und mit Vertrauen?“ erwiderte Meßner, seine Mienen zu einer Art komischer Bedenklichkeit verziehend, „das sind zwei inhaltsschwere Worte auf einmal. Wollen Sie mir nicht erst sagen, Fräulein, wo ich dieses gewünschte Vertrauen hätte erlangen können?“

„Ei, wäre denn dieses Wort zum ersten Male zwischen uns gefallen?“ erwiderte sie, leicht von ihrer Arbeit aufsehend, und vor ihrem klaren Auge, das seinen Blick voll in sich aufnahm, trat ein schwaches Roth in sein Gesicht.

[500] „Und wenn es früher auch gefallen wäre,“ erwiderte er, augenscheinlich unsicher, wie ihr Verhalten gegen ihn zu deuten, „sind denn während dem nicht alle Bedingungen dafür zerstört worden?“

Sie blickte ihn einen Moment in ruhigem Ernste an. „Sie haben Recht, und ich habe es oft aufrichtig bedauert,“ versetzte sie, „dennoch möchte ich Ihnen meine Frage gern vorlegen.“

„Sagen Sie nur offen, Fräulein Marie, und ich werde Ihnen glauben,“ entgegnete er nach einer kurzen Pause, in welcher er einen forschenden Blick in das Gesicht des Mädchens geworfen, „gedenken Sie ernst mit mir zu reden, oder mich in gewöhnlicher Weise als bequemen Gegenstand für Ihre Satire zu betrachten?“

Sie schüttelte mit einem unwillkürlichen Lächeln den Kopf. „Sie sind nie ein Gegenstand meiner Satire gewesen,“ versetzte sie, „nur vielleicht Ihre gelegentlichen Worte und Handlungen, von denen ich doch einigermaßen beurtheilen konnte, wie wenig sie in Ihrem eigentlichen Wesen wurzelten – oder soll ich annehmen, Herr Meßner,“ fuhr sie plötzlich ernst werdend fort, „Ihre frühere Weise, sich zu geben, sei die unwahre gewesen?“

Er rückte unter ihrem Blicke unbehaglich auf seinem Stuhle. „Sie beginnen Ihre eigenthümlichen Räthsel wieder, Fräulein,“ sagte er, „und so dürften wir wohl kaum zu Ihrer Frage gelangen.“

„Gut, Herr Director, hier ist sie,“ erwiderte sie rasch, „und nun zeigen Sie mir, wo ich die Wahrheit bei Ihnen suchen soll! – Lieben Sie denn meine Schwester wirklich,“ fuhr sie halblaut, aber mit voller Betonung der einzelnen Worte fort, „daß Sie trotz aller Umstände, die Sie kennen müssen, auf einer Verbindung mit ihr bestehen? Helene ist in vieler Beziehung noch ein halbes Kind, das Ihnen doch geistig kaum genügen kann; dazu werden Sie wissen, daß sie durch eine andere Neigung gefesselt wird und daß, wenn der Vater durch einen Zwang Ihren Wünschen nachkäme, sie Ihnen nichts als eine zerbrochene Jugend und ein feindseliges Herz zubringen könnte!“

Meßner hatte bei den ersten Worten der Frage wie in einer plötzlichen peinlichen Empfindung den Kopf gehoben, auf seinen Lippen zuckte die Absicht zu einem raschen Unterbrechen der Sprecherin, aber der große, offene Blick des Mädchens schien ihn in der Ausführung zu lahmen.

„Lassen Sie mich Ihnen noch zwei Worte sagen und dann reden Sie so ohne Rückhalt, wie ich,“ fuhr sie fort, seine Antwort mit einer ernsten Neigung ihres Kopfes zurückbannend. „Sie suchen eine Frau, durch deren Familien Verbindungen Sie die nöthige Unterstützung zu einer raschen Carriere erhalten; Sie haben gesehen, daß der Einfluß unseres Vaters bereits seine Wirkung für Sie erprobt hat, und so wollen Sie Ihre Beziehung zu ihm festknüpfen. Warum denn nun aber deshalb den Frieden eines jungen Mädchens zerstören und damit vielleicht eine Vergeltung in Ihrem häuslichen Leben heraufbeschwören, die jeden erreichten äußerlichen Vortheil überwiegt? Giebt es denn nicht andere Persönlichkeiten, die Ihnen schon jetzt aufrichtig ergeben sind und Ihren Zwecken, welche Sie jetzt durch eine Heirath fördern wollen, völlig genügen würden?“

Es war ein wunderbar eindringlicher Blick, der jetzt auf dem Schulmanne ruhte. Dieser hatte mit leicht zusammengepreßten Lippen, als ergebe er sich in das Unvermeidliche, die Worte hingenommen. Bei der letzten Frage aber hob er in sichtlicher Verwunderung langsam den Kopf, und als er Marie’s hellem Auge begegnete, ging es wie eine plötzlich aufsteigende Vermuthung durch seine Züge, die auf’s Neue ein leichtes Roth in seine Wangen trieb. „Und wollten Sie mir eine solche Persönlichkeit nennen, die mir so aufrichtig ergeben ist, daß sie an Helene’s Stelle treten würde?“ fragte er langsam, während sein Blick sich in eigenthümlicher Spannung aus ihr Gesicht heftete; fast schien aber der Ausdruck seines Auges, sowie die hörbare Bedeutung, welche der Sprechende in seine Frage legte, das Mädchen zu befremden.

„Ich meine die Großmutter,“ sagte sie, „die sicher in irgend einer Weise für Ihr Interesse wirken würde –“

„Die Großmutter –!“ wiederholte er, wie einen Augenblick völlig verblüfft; dann aber blitzte sein Auge in tiefem Unmuth auf, und er erhob sich rasch. „Ich wußte es ja, daß Alles nur auf eine neue Verhöhnung ausgehen würde!“

Marie schien einen Augenblick über die Wirkung ihrer Worte betroffen, dann aber brach sie plötzlich, wie zu einem Verständniß kommend, in ein klingendes Lachen aus. „Halt, Herr Director!“ rief sie, gleichfalls ihren Sitz verlassend, „das ist ein Mißverständniß; zur Frau habe ich Ihnen wahrlich die Großmutter nicht empfehlen wollen – und,“ fuhr sie fort, während sie unwillkürlich, wie um sein Gehen zu hindern, die Hand auf seinen Arm legte, „ich bitte Sie, mein aufrichtiges Wort zu nehmen, daß ich nicht daran gedacht, Sie in irgend einer Weise zu beleidigen.“

Er kehrte sich nur halb nach ihr. „Sie haben mich nicht beleidigen wollen,“ sagte er finster; „wer war es denn aber, die mir systematisch das Haus Ihres Herrn Vaters zu verleiden suchte, die für jedes meiner Worte einen Stachel und für jede meiner Handlungen eine höhnische Auslegung hatte? – Ja wohl,“ fuhr er erregter fort, sich voll nach ihr wendend, „es gab eine kurze Zeit, Fräulein, wo das Wort Vertrauen zwischen uns fiel, wo ich in Ihrer Seele zu lesen glaubte, wo sich Gedanken in mir bildeten, die sich in Ihnen selbst wiederzuspiegeln schienen – was hat Ihnen denn jetzt das Recht gegeben, einen Mann, der einem Weibe gegenüber keine Waffe hat, zum Spielzeug Ihrer Laune, zum Opfer Ihrer Zunge zu machen, sich als eine Feindin mir gegenüber zu stellen, der ich niemals etwas zu Leid gethan?“

[513] Marie’s Hand war längst von Meßner’s Arme geglitten; ihr Gesicht war bleich geworden, aber in der Haltung des langsam aufgerichteten Kopfes wie in den großen dunkeln Augen stand ein lebendiger Entschluß. „Es gab eine Zeit, wo das Wort Vertrauen zwischen uns fiel!“ wiederholte sie langsam, den festen, leuchtenden Blick in seinem finstern Auge haltend. „Damals sah ich einen Mann an meiner Seite, der als Lehrer und Führer mit mir den Hain der deutschen Literatur durchwanderte, mich in die Tempel seiner Ideale leitete und mir den Blick für Dunkeles und Verborgenes öffnete, in dessen Seele ich nichts las, als die Begeisterung für Hohes und Großes, der mich in seinen Anschauungen mit sich fortriß, daß ich mich klein neben ihm fühlte, daß ich es als ein Glück betrachtete, ihn als vertrauenden Freund, der seine äußeren Kümmernisse in meine Seele niederlegte, zu besitzen. – Dann aber sah ich denselben Mann sich plötzlich verwandeln, seine eigenen Ideale verleugnen, sein eigenes Licht verbergen und mit falscher Demuth den Fußstapfen Anderer folgen, auf Kosten seiner besseren Gefühle sich den Schwächen Derer anschließen, die einen Einfluß auf sein äußeres Geschick ausüben konnten, sah den Mann der kräftigen Ueberzeugung sich zum süßen Schönredner erniedrigen, sah meine ihm offen gezeigte Freundschaft und Hochachtung zum vollen Selbsthohn für mich werden, daß ich endlich gezwungen war zu hassen, – um des Betrugs an meinen besten Empfindungen willen zu hassen- wo ich früher oft geglaubt hatte, bewundern zu müssen. Da haben Sie das Leid, das Sie mir angethan, die Thatsache, welche mir ein Recht zu meinem Verfahren gegeben, Und nun darf ich wohl auch nicht erst aussprechen, wessen Schuld alle Bedingungen für das frühere Vertrauen zerstört. Sie haben mich gefragt, und so habe ich geantwortet; nun thun Sie, was Sie glauben ferner verantworten zu können!“

Sie wollte sich abwenden, aber er faßte todtenbleich und mit zitterndem Auge ihr Handgelenk. „Halt, Marie,“ sagte er, „so dürfen wir nicht enden, denn wie weit Sie auch glauben mögen, Recht zu haben, so haben Sie mir doch schwereres Unrecht gethan, als Sie in Ihrem Gesichtskreise im Stande sind zu erkennen. Vermögen Sie den Seelenzustand eines Menschen zu würdigen, der alle Bedingungen in sich fühlt, unter den Ersten seinen Platz einzunehmen, der aber mit seinen Kenntnissen und Anlagen, mit allen Hoffnungen, welche ihm der Fleiß und die Erfolge seiner Jugend gegeben, in eine niedere Stellung, die ihm nirgends Raum für seine geistige Kraft gewährt, gebannt ist, nur weil ihm Eins, die nöthige Fürsprache zum Vorwärtskommen, fehlt? der sich von Menschen überholt sieht, die er um ihrer Ignoranz willen verachten muß und in schlaflosen Nächten vergebens nach einem Wege, sich selbst geltend zu machen, den Kopf zermartert? Und nun denken Sie sich diesen Mann durch ein einziges glückliches Ungefähr in einen gesellschaftlichen Kreis gebracht, der ihm die Aussicht in die Regionen seiner Träume eröffnet, der ihn aber zu gleicher Zeit aufklärt, daß hier, wo die allmächtigen Hebel für sein Glück ruhen, Kenntnisse und innerer Werth das Wenigste, Beliebtheit und äußeres Gefallen aber Alles sind; denken Sie sich, daß ein liebenswürdiges Mädchen an seine Seite tritt, deren Lehrer und Freund er wird, in der er seine eigene Ergänzung findet und die er wohl erringen könnte, wenn ihn nicht sein Schicksal so tief unter ihr festhielte. Und dann denken Sie sich, wenn Nachts die versuchenden Gedanken an ihn herantreten: Du kannst erreichen, was du willst, du hast die Gaben, um jetzt, wo dir die erste Pforte offen steht, dir deinen weitern Weg zu bahnen, du darfst nur sein, wie die Menschen es verlangen! Und ist es Sünde, sein eigenes Wesen dem Anderer unterzuordnen, seine eigene Ueberlegenheit zu verbergen, wenn dies das einzige Mittel ist, um freien Raum für die Verwerthung seiner geistigen Kraft zu erlangen, wenn jede andere Straße zur Erkämpfung seines innern wie äußern Glücks verlegt ist? Es mag Mancher in der Verfolgung seiner Carriere, wie nun einmal unser Staatswesen beschaffen ist, zum Heuchler geworden sein – aber wo bin ich das je gewesen? - Ich habe mich im Gesellschaftskreise in die Launen der Menschen gefügt, ich habe ihnen Artigkeiten gesagt, ich habe geschwiegen, wo mein Urtheil hätte verletzen und doch nichts nützen können, ich habe mich oft selbst verleugnet, aber wo bin ich jemals meiner Ueberzeugung tatsächlich untreu geworden? Ich habe mich an die alten Damen, die treuesten Beschützerinnen, gehalten, da es doch in der ganzen Mädchenwelt nur einen Lichtpunkt für mich gab und auch dieser sich bald zu einem Stachel und Peiniger für mich umwandelte, der alle die Empfindungen, die mich früher beglückt, in Bitterkeit untergehen ließ, der mich auch gleichgültig gegen das Mißverständniß machte, daß meine Besuche in Ihrem Hause Ihrer Schwester Helene gälten. Wenn ich einmal ohne besondere Neigung eine Verbindung eingehen sollte, so mußte mir die mit einem Mitgliede Ihrer Familie, zu welcher mich meine ganze Dankbarkeit hinzog, noch die liebste sein. Und nun darf ich Ihnen noch sagen, daß ich der Zukunft, welche ich mir mit Selbstverleugnung errungen, nicht unwürdig bin, daß ich bald frei werde den Kopf heben können und daß Sie mich dann achten sollen. Ihrer Schwester aber mögen Sie die Beruhigung geben, daß ich nicht die Ursache ihres Unglückes sein werde!“

[514] In dem Gesichte des Mädchens war während seiner Rede die Farbe gekommen und gegangen, auf ihrer Stirne und zwischen den stolzen, dunkeln Brauen hatte der Ausdruck der verschiedensten Empfindungen gewechselt; zuletzt aber trat es wie ein aufdämmerndes stilles Glück in ihre Züge.

„Und Hugo?“ fragte sie, während es noch einmal wie ein dunkler Zweifel in ihren Augen aufstieg, „sind Sie auch nicht sein Feind aus irgend einer mir unklaren Berechnung geworden? haben Sie nicht des Vaters Unwillen gegen ihn durch ein eifriges Zustimmen seiner Ansichten erst zu seiner jetzigen Schärfe gebracht?“

Er blickte rasch auf, als fehle ihm das Verständniß ihrer Worte; dann aber ging ein tiefer Schatten über sein Gesicht. „Bis zu dieser Beurtheilung also ist es gekommen!“ sagte er gedrückt. „Ihr Herr Vater, Fräulein Marie, ist wohl nicht der Mann, erst durch die Ansichten eines Schützlings, wie ich es war, die seinen bestimmen zu lassen; Ihren Bruder habe ich vor seinem letzten Erscheinen hier nicht einmal gekannt; wenn ich mir aber ein nachteiliges Bild von ihm geschaffen hatte, so ist dies erst durch die Klagen Ihres Vaters geschehen, denen ich allerdings mein Beileid nicht versagen konnte. Ich verachte selbst nichts mehr, als die Moderichtung unserer jungen Welt, die an die Stelle alles Erhabenen die rohe Materie setzen und den Genuß zum Zwecke ihres Daseins machen möchte, und meiner Ueberzeugung durfte ich wohl Worte leihen!“

In diesem Augenblicke wurden die festen Schritte des Geheimrathes im Corridor hörbar, und Marie streckte dem Schuldirector mit einem aufleuchtenden Blicke rasch die Hand entgegen. „Wir sprechen weiter mit einander!“ sagte sie hastig und wandte sich nach dem Arbeitstische der Großmutter. Meßner hatte einen halbscheuen Druck ihrer Finger gefühlt und stand einen Moment ihr starr, wie von einem plötzlichen Gedanken getroffen, nachblickend, aber das Oeffnen der Thür ließ ihn schnell sich dieser zukehren.

„Ah, vortrefflich, lieber Freund!“ sagte der eintretende Geheimrath, durch den Anblick des Gastes sichtlich angenehm berührt; „ich dachte soeben an Sie!“ Er nahm nach einem raschen Blicke durch das Zimmer auf dem Sopha Platz, während Meßner sich auf seinem früheren Sitze niederließ. „Die Mama ist noch nicht hier, aber sie kann nicht lange ausbleiben; Helene ist etwas unwohl, und nach dieser wird sie sehen!“ fuhr er fort. „Sie haben etwas über unsere gemeinschafltiche Anlage in den amerikanischen Papieren gehört?“

„Ich habe bereits Alles in Ordnung gebracht und kam eigentlich nur, um Ihnen die nöthige Meldung zu machen!“ erwiderte Meßner. „Es ist nur eine kleine Anzahl der Obligationen hier im Markte, und ich war glücklich, Andern voraus abschließen zu können. Sie haben zwei Monate Zeit, um die Baardeckuug zu arrangiren, Ihre Unterschrift genügt bis dahin, und deshalb hielt ich es für das Beste, sofort Alles nach Ihrer Bequemlichkeit vorbereiten zu lassen. Ich habe die Abschlußformulare zur Vollziehung bei mir, und so würden Sie schon morgen früh im Besitze der betreffenden Papiere sein können.“

Zedwitz sah den Sprechenden einige Secunden lang, wie einen Gedanken verfolgend, an. „Sie sind prompt, lieber Freund, und Sie werden mich nicht lässiger finden!“ sagte er dann. „Diese Capital-Anlage hängt, wie Sie wissen, mit Ihrem Eintritt in unsere Familie zusammen; Beides nun hat die Mißbilligung eines und desselben Gegners gefunden, den sogar unsere Mama zu begünstigen scheint. – Ohne Sorge!“ fuhr er auf einen fragenden Blick des Schuldirectors fort, „ich bin noch immer dem gefolgt, was mir mein Verstand als das Richtige bezeichnete, und so mögen Sie auch meine Unterschrift, welche das Geldgeschäft ordnet, als das Document zu unsern anderweitigen nähern Beziehungen ansehen. – Habe ich Sie in irgend einer Verhandlung mit unserer Marie unterbrochen, so lassen Sie sich nicht stören,“ setzte er, sich erhebend, hinzu, „ich erwarte Sie nachher in meinem Cabinet!“ Mit einem Kopfnicken gegen die beiden jungen Leute verließ er das Zimmer.

„Sie hatten mir noch etwas zu sagen?“ wandte sich Meßner wie in halbem Zagen nach dem zurückstehenden Mädchen.

„Gut, Herr Director,“ erwiderte die Angeredete rasch, einen Schritt auf ihn zutretend, „ich möchte wissen, ob Sie den Muth haben, dem Vater jetzt gleich offen zu sagen, daß Sie die Werbung um meine Schwester aufgeben und sie ihrer eigenen Neigung überlassen. Worte habe ich von Ihnen vernommen, ich möchte aber jetzt auch gern eine That sehen!“

„Und dann, Marie?“

„Dann?“ wiederholte sie, mir einen Moment ihren Blick senkend. „Warten wir erst ab, was sich daraus entwickeln wird – möglicherweise kommen Sie nicht einmal zu einem „dann“. Der Vater führt gern durch, was er begonnen, und noch sind Sie nicht Regierungsrath, Herr Meßner!“

„Marie, noch immer dieser Ton?“

„Der Vater wartet auf Sie – gute Nacht, Herr Director!“ sie neigte sich leicht und verschwand in der Nebenthür. Meßner aber drückte einen Augenblick die Hand gegen die Augen und folgte dann langsam dem Geheimrathe.




9. Entscheidungen.

Drei Wochen waren seit dem letzten Gespräche zwischen Hugo und dem alten Henderson verstrichen; nach dem kurzen Herbste hatte der Winter bereits seine Vorboten gesandt – aber noch hatte der junge Mann seine Stellung nicht verlassen. Wenn er genau hätte sagen sollen, was ihn trotz seiner unveränderten Ansicht der ihn umgebenden Dinge bis jetzt gehalten, so wäre es ihm kaum möglich geworden. Kleine Umstände und Einflüsse hatten sich wie zu einer Kette geformt, um ihm fortlaufend den ersten entscheidenden Schritt zu seinem Austritte zu versperren; die Nothwendigkeit desselben war nicht einen Augenblick aus seiner Seele gewichen, war selbst durch spätere Verhältnisse noch bestimmter vor ihn getreten, und dennoch waren die drei Wochen vorübergegangen, er wußte selbst kaum wie, ohne daß er zu einer Ausführung gelangt war.

Als er damals nach einer halbdurchwachten Nacht, in welcher er sich sein ganzes Abschiedsverfahren gegen Winter vorgezeichnet und dann eine Antwort an Jessy, eine Aussprache seines ganzen Fühlens und Denkens entworfen, in der Office auf das Erscheinen des Principals geharrt, war dieser eilig und sichtlich zerstreut eingetreten. „Es ist möglich, Mr. Zedwitz, daß wir uns einige Tage nur flüchtig oder gar nicht zu sehen bekommen,“ hatte er geäußert, „die Vormittage mögen Sie mit Henderson arbeiten, und Sie werden durch ihn bald einen Blick in unsern Speditions- und Commissionshandel erlangen; die Nachmittage aber, falls das Wetter Sie an einem Ausfluge nach der Farm verhindern sollte, machen Sie sich mit dem Buchhalter bekannt, damit Sie sich Kenntniß von den Eigenthümlichkeiten der amerikanischen Buchführung verschaffen. Ich möchte, daß Sie bald so weit kämen, um mich hier vorkommenden Falles repräsentiren zu können – darüber indessen ein anderes Mal, ich bin heute sehr gedrängt!“ Und ehe Hugo nur daran hatte denken können, die nöthigen Einleitungsworte für das, was ihm auf dem Herzen lag, aus seinem Gedächtnisse hervorzusuchen, war Winter bereits mit einem leichten Gruße aus der Office verschwunden gewesen. Mit einer ganz eigenthümlichen Herzlichkeit aber hatte ihn dann Henderson in Beschlag genommen, hatte begonnen, ihm das Wesen des amerikanischen Commissions- und Consignations-Geschäftes zu erklären, die betreffenden Bücher vor ihm aufgeschlagen und, wie eine besondere Absicht verfolgend, einzelne größere Fälle genau mit ihm durchgenommen.

„Ich denke, an den Geschäften wird nichts Unehrliches sein, wenn auch nicht jeder die Schlauheit hat, um sich einen Gewinn herauszuschlagen, wie Mr. Winter,“ hatte er dann mit einem halben Augenaufschlag gesagt, „und bei der Art Geschäft werden wir nach dem Donnerwetter, wie es jetzt bald genug kommen wird, auch stehen bleiben – nur jetzt ruhig abwarten, Sir!“

Und abwarten mußte Hugo allerdings, denn es vergingen acht Tage, in welchen er den Principal kaum hier und da auf einen Blick und stets so mit sich selbst beschäftigt gesehen, daß es des drängendsten Entschlusses bedurft hätte, ihm in den Geschäften, welche ihn zu treiben schienen, entgegenzutreten. Und Hugo hielt eine ruhige Viertelstunde, um seinen Schritt genügend rechtfertigen zu können, für durchaus nothwendig. Henderson schien übrigens so wenig an eine noch mögliche Entfernung des jungen Mannes zu denken, unterzog sich mit so vollem Eifer der praktischen Unterweisung desselben, machte den Mittelsmann zwischen ihm und dem Buchhalter, wenn die Taubheit des Letzteren das Verständniß erschwerte, und hing sich mit einer so launigen, wohlthuenden Vertraulichkeit an seinen Schützling, als welchen er Hugo offenbar betrachtete, daß dieser nicht ohne Unruhe an den Augenblick dachte, [515] in welchem der Alte seinen noch immer feststehenden Entschluß erfahren würde. Was ihn aber neuerdings noch mehr zur Ausführung desselben drängen wollte, war ein eigenthümliches Verhältniß, das sich zwischen ihm und Carry herauszubilden begann. Der tägliche Ritt nach der Farm war eine von ihm übernommene Verpflichtung, und er hatte ihn deshalb nur unterlassen, wenn der Spätherbst zu arg wetterte. Von dem Tage an, der seine Begegnung mit Jessy herbeigeführt, hatte indessen Carry’s Wesen eine eigenthümliche Aenderung erlitten. Ihr Muthwille und ihr sicheres Auftreten waren meist einer Art Zurückhaltung gewichen, bisweilen sogar einer seltsamen Weiche; ihre ganze Art sich zu geben hatte etwas mädchenhaft Schüchternes, durch welches doch zuweilen der alte kecke Geist sich Bahn brach, dann aber stets sein Opfer in einem lebendigen Erröthen bringen mußte, angenommen, so daß Hugo zuerst mit einer leisen Ueberraschung diese Wandelung wahrgenommen, dann aber selbst nicht mehr den bei seinen frühern Besuchen angeschlagenen leichten Ton hatte aufrecht erhalten können. Sein Unterricht mit dem Knaben war völlig ausgefallen, da der Arzt jede geistige Anstrengung desselben untersagt, und so war der Deutsche immer stundenlang mit dem Mädchen allein gewesen, das zwar seine Unterweisung im Pianospiel ruhig hingenommen, diese aber doch sichtlich nur als Nebensache betrachtet und oft mitten in der Ausführung eines Stücks abgebrochen hatte, um ihn mit einer plötzlichen Frage über Einzelnheiten des deutschen Lebens oder einer Gegend, welche Winter mit seiner älteren Tochter bereist, zum Sprechen zu bringen. Dann hatte sie sich zurücklehnen und ihn bewegungslos anblicken können, als beobachte sie mehr die Aenderung im Ausdrucke seines Gesichts, als sie seine Worte vernehme. Und wenn dann Hugo vor dem stillen Anschauen dieses prächtigen Auges, das sich wie unbewußt in das seine versenken zu wollen schien, einer leichten Befangenheit sich nicht hatte entschlagen können und er abbrechend sie gefragt, was ihr an allen solchen Mittheilungen gelegen sein könne, da war sie wohl hocherröthend, wie aus einem halben Traume, aufgefahren und hatte in einer Verlegenheit, die ihr nicht erlaubte, ihre Worte abzuwägen, gesagt: „O, ich höre Ihr Reden doch so viel lieber, als mein dummes Spiel!“ – Schnell genug hatte zwar Hugo bei solchen und ähnlichen Gelegenheiten die rechte gegenseitige Haltung wieder herbeizuführen gewußt; aber auf dem Heimwege hatte er sich mehr als einmal gefragt, ob er sich selbst über den Herzenszustand des liebenswürdigen Mädchens, das nur auf ihn nicht ihre volle Anziehungskraft auszuüben vermöge, täuschen dürfe, und wohin für sie eine Fortdauer dieser Zusammenkünfte führen solle. Stoff zu noch weiterem Denken aber hatte er gefunden, als er, nachdem er zwei Tage seine Besuche ausgesetzt, bei seiner Ankunft auf der Farm den Principal, eben fertig zum Abfahren, getroffen, der ihm mit seinem eigenthümlichen Lächeln gesagt: „Carry ist ganz unglücklich über Ihr Außenbleiben, Sir! Sie arbeiten sich tüchtig im Geschäfte ein, wie ich höre; indessen dürfen Sie sich nicht geniren, sich hier gleichfalls zu Hause zu machen; es ist nicht unmöglich, daß ich Sie einmal werde bitten müssen, mich eine Zeit lang in meiner Häuslichkeit eben so zu vertreten, wie ich dies von Ihnen im Geschäft hoffe!“ Und mit einem launigen Kopfnicken, als glaube er völlig genug gesagt zu haben, war er davongefahren. Hugo hatte sich fast gefürchtet, sich die Worte zu deuten; wenn er sich aber dachte, daß der Mann, dem er durch seine Abenteuer mit Jessy schon vor seiner Ankunft kein Unbekannter gewesen war, den Plan gefaßt haben könne, sich in ihm ein dankbares, verschwiegenes Werkzeug für seine Geschäfte zu erziehen und ihn endlich ganz an sich zu fesseln, wie es bereits so manche seiner bisherigen Aeußerungen hatten ahnen lassen – so erfaßte es ihn bei der Vorstellung des möglichen Sinnes von Winter’s Worten fast wie Angst, und er nahm sich von Neuem vor, diesen Verhältnissen ein rasches Ende zu machen, selbst auf die Gefahr hin, es ohne jede Rechtfertigung thun zu müssen.

In der zweiten Woche aber war die gegen die Finanzbehörden der Stadt in Anregung gebrachte Untersuchung allgemeines Gespräch geworden; in allen Trinklocalen und Privatgesellschaften, in ausgeschriebenen Bürgerversammlungen und wo Drei zusammen, auf der Straße standen, hatte es keinen andern Unterhaltungsstoff als die nirgends mehr geheim gehaltenen Beschuldigungen gegeben; hitzige Debatten für und wider fanden überall statt, die Zeitungen begannen die Angelegenheit je nach ihrer Parteifarbe aufzunehmen, und eine Spannung über den endlichen Ausgang der Bewegung, an der Hugo wider Willen einen regen Antheil zu nehmen begann, bemächtigte sich des Deutschen, daß es kaum Henderson’s heimlich ausgedrückter Genugthuung und seines: „Nur abwarten, es kommt Alles, wie es soll!“ und Winter’s jetzt deutlich hervortretender Unruhe bedurft hätte, um ihn für den Augenblick auf seinem Platze festzuhalten. Bald schien Graham’s Name der Hauptpunkt zu werden, um welchen sich die öffentlichen Verhandlungen drehten; jemehr aber der Comptroller auf der einen Seite verurtheilt wurde, je kräftiger nahm sich eine andere Partei seiner an, und Winter schien ebenfalls sich wieder dicht an die Seite des Schwiegersohns zu stellen – Hugo traf den Letzteren sogar einmal mit Jenem zusammen auf dessen Farm, so daß sich an einem neuen völligen Einverständniß Beider nicht mehr zweifeln ließ. Henderson aber zog bei den Zeichen der erneuten gegenseitigen Vertraulichkeit die Augenbrauen dicht aneinander und brummte: „Das ist die Folge! Er schöbe ihn gern so weit von sich, als er könnte, und wäre ein ehrlicher Mann, aber er fürchtet ihn und muß schlau sein – nun, je härter es jetzt drückt, desto eindringlicher die Lehre; dem Comptroller aber helfen doch alle seine Kumpane nicht mehr!“ Und Hugo hatte mehr als je an Jessy, an die Stimmung, in welcher sie sich während dieser Krisis befinden mußte, sowie an die Lage, in welche sie gerathen werde, wenn Graham wirklich des Betruges überführt würde, denken müssen. Es war ihm, als dürfe er schon ihrethalber vor einer bestimmten Entscheidung nicht gehen.

So waren drei Wochen vergangen. Von dem Tischler hatte Hugo während der ganzen Zeit kein Wort vernommen, und er war böse auf ihn. Früher, wo Mangold seiner bedurft, meinte er, habe dieser nichts ohne seinen Rath thun können; jetzt habe er sich schon am ersten Tage den Feinden des Mannes angeschlossen, bei welchem er den Freund im Geschäft wußte, ohne diesem nur einmal Nachricht von sich zu geben, und so wenig sich auch Hugo dieses Verfahren des Schulcameraden mit dessen früherer Anhänglichkeit zusammenreimen konnte, so hatte er sich doch vorgenommen, den undankbaren Menschen bei einem möglichen Begegnen so kalt zu behandeln, als er es verdiene.

Es war an einem kalten, aber klaren Decembertage, als Hugo nach eingenommenem Mittagsessen wieder nach dem Geschäftslocale zurückschritt. Es war unter den Tischgästen die Sage verbreitet gewesen, daß dem Staatsanwalt von einem Ausschusse der Bürgerschaft eine mit einer Menge von Beweisen versehene Anklage auf Schwindel, Betrug und Unterschlagung öffentlicher Gelder gegen die Häupter der Stadt übergeben worden sei, daß die Sache gar nicht ohne vorläufige Verhaftung der Beschuldigten abgehen könne, daß aber Graham zu dem gethanen Schritte lache, ihn für eine wahnsinnige Maßregel seiner politischen Gegenpartei erkläre, die noch mit ihrem Geschrei den Stadtcredit völlig ruinieren werde, und für den morgenden Abend Einladungen zu einer großen Fete in seinem Hause erlassen habe. Von andern Seiten aber war hinzugesetzt worden, daß jedenfalls die Stadtpapiere eine bedeutende Entwerthung erleiden würden, da die Untersuchungspartei darauf dringe, keinen Cent Zinsen zu zahlen, so lange nicht der Betrag der unrechtmäßig ausgegebenen Obligationen ermittelt worden; daß indessen die große Geschäftswelt noch sehr mit sich im Zweifel sei, ob sie nicht durch ihr gesammtes Gewicht der vorauszusehenden Calamität sich entgegenstellen werde.

Den Kopf noch voll des Gehörten war es dem Deutschen völlig entgangen, daß sich zwei Häuser von dem Geschäftslocale der Tischler aufgestellt halte und sich ihm vergebens bemerkbar zu machen suchte, und erst als Jener mit einem: „Willst Du mich nicht sehen, Hugo?“ seinen Arm faßte, fuhr er aus seinen Gedanken auf.

„Wenn es so wäre, hättest Du wohl kaum etwas Anderes verdient!“ erwiderte der Angeredete langsam, aber Mangold sah ihn plötzlich mit einem so erschrockenem Gesichte an, daß er für den Moment seinen Unwillen schwinden fühlte. „Es sind drei Wochen, Heinrich, seit wir hier ankamen und ich nichts von Dir gesehen habe, trotzdem ich nach Dir gegangen war.“

„Herrgott, was hätt’ ich denn thun sollen?“ fuhr der Tischler auf. „Fünf Mal habe ich mich Abends hier herumgetrieben in der Hoffnung, Dich zu treffen, bis ich endlich daran verzweifelte. Ich hatte Dir so Vielerlei zu erzählen und ich konnte ja doch am Tage nicht von der Arbeit weg – heute aber mußte’s sein und hätt’ ich mich selber in den Fuchsbau, in dem Du steckst, hinein wagen sollen! – ’s ist ein feiner Kerl, der Mr. Winter,“ lachte [516] er plötzlich auf, „und selbst Marquart sagt, sie werden nichts auf ihn bringen können, wenn sich nicht noch ganz besondere Zeugnisse gegen ihn finden; es ist doch am Ende gut, daß Du ruhig in seinem Geschäft geblieben bist, wenn Du auch mit Deinen andern Hoffnungen – na, ich schweige schon, ich wollte aber nur sagen, daß ich ganz genau weiß, wie die Sachen stehen!“

„Und was ist es heute so Besonderes, das Dich am Tage herbringt?“ fragte Hugo, als habe er die letzten Worte überhört.

„Richtig, beinahe die Hauptsache vergessen! Ich habe einen Brief von meinem Alten, Hugo, der mir von New-York nachgeschickt worden ist, Dich aber eigentlich mehr angeht, als mich selber!

Können wir nicht irgendwo eintreten, um die Sache ungestört in Augenschein zu nehmen?“

Hugo hatte rasch den Kopf gehoben. „Der mich angeht?“ fragte er. „Wir gehen nach meinem Zimmer, dort sind wir völlig allein!“ setzte er eifrig hinzu und faßte in sichtlicher Spannung des Andern Arm, ihn in der angedeuteten Richtung fortführend.

Auf der Treppe in dem Geschäftshause kam ihnen Henderson entgegen, blieb indessen beim Erblicken der Aufsteigenden stehen und hob mit einem muthwilligen Blicke gegen Mangold die Faust; dieser aber zog eine wunderliche Grimasse, welche dem Alten als genügende Antwort zu gelten schien, denn mit einem launig drohenden Gesichtsausdrucke schritt er an dem Tischler vorüber.

„Kennst Du den Mann?“ fragte Hugo, von dem unerwarteten Intermezzo überrascht.

„Natürlich! es ist der prächtigste alte Kerl von der Welt,“ lachte der Befragte, „und das einzig Uebele zwischen uns ist, daß er kein Deutsch kennt und ich kein Englisch verstehe; so müssen wir uns also helfen, so gut es gehen will!“

„Aber wo seid ihr zu dieser genauen Bekanntschaft gekommen?“ examinirte der Erstere, sein Zimmer öffnend.

„Wo? nun bei Graham’s; Du weißt ja doch – nein, bei Gott, Du weißt ja noch nichts!“ unterbrach sich der Sprechende, „und das war’s ja zum großen Theil, weshalb ich Dich so gern einmal getroffen hätte. Hast oft Recht gehabt, Hugo, ich bin ein Esel! Indessen ist die Hauptsache jetzt geschwind genug gesagt. Kannst Du Dich noch auf das Thüringer Mädchen besinnen, das wir am ersten Abende in dem amerikanischen Hotel trafen? Gut! acht Tage darauf kam sie als Köchin zu Graham’s, und ich – nun, es mag sich freilich nicht schön ausgenommen haben, daß ein Mitglied der Untersuchungspartei heimlich in das Haus des Comptrollers schleicht; aber was thut die Liebe nicht! Nun, dort war es also, wo ich meist den alten Henderson traf, der mit dem braunen Kammermädchen so vertraut that, daß ich bisweilen dachte, der alte Bursche habe auch noch Heirathsgedanken. Uebrigens waren es sonderbare Dinge, die ich dort erfuhr –“

„Laß uns den Brief nicht vergessen!“ unterbrach ihn Hugo, der seinen Hut abgelegt und nur zerstreut auf die letzten Worte gehört hatte, „nimm Platz und brenne Dir eine Cigarre an!“

„Richtig, den Brief; erinnere mich aber dann noch einmal an das, was ich sagen wollte; es betrifft Deine Prinzessin.“

„Mrs. Graham?“

„Genau so – aber lies zuerst!“

Hugo entfaltete das ihm übergebene Papier, während der Tischler nach den bereit liegenden Cigarren griff und sich mit einem bewundernden Blicke durch das Zimmer in das Polster des Sophas sinken ließ. Das Schreiben lautete:

„Lieber Sohn Heinrich!

Wenn Du gesund bist und es Dir wohl geht in dem neuen Lande, so soll es mir lieb sein; Du hast Deinen freien Willen, also will ich über Dein Fortgehen nur sagen, daß ich mich über Deinen Brief gefreut habe, der mir wenigstens zeigt, daß Du noch an Deinen alten Vater denkst. Ich hätte Dir nun wohl nicht viel mitzutheilen und deshalb auch nicht sogleich geschrieben, wenn der Herr Geheimerath nicht wünschte, daß Du Dich für ihn über eine Sache erkundigen möchtest, an der ihm viel liegt. Es sind nämlich seit einiger Zeit amerikanische Geldpapiere hierher gekommen, die sehr gut sein sollen – ich selber verstehe nichts davon – und der Herr Geheimerath hat für mehrere tausend Thaler davon gekauft. Nun sollst Du zu einem rechtschaffenen Advocaten dort gehen und Dich erkundigen, ob sich bei solchen Papieren auf pünktliche Zinsenzahlung rechnen ließe, oder was man am kürzesten thue, wenn diese einmal ausbleiben sollte. Auf dem beiliegenden Zettel hat der Herr Geheimerath selbst eine genaue Beschreibung der Papiere gemacht.

Nun wirst Du nicht übel nehmen, lieber Heinrich, wenn ich meine, es könnte noch bessere Personen für einen solchen Auftrag geben, als Du bist; ich denke dabei an den Herrn Referendar, von dem aber hier im Hause durchaus nicht gesprochen werden darf; und ich halte es für das Beste, Du übergiebst ihm die ganze Sache. Ich weiß ja doch, daß es die größte Sünde wäre, an seiner Liebe für den alten Herrn zu zweifeln. Was er dann über die Papiere sagt, das schreibst Du mir.“

Hugo las nicht weiter und zog mit einer plötzlichen Ahnung das eingelegte Blatt hervor. Die Schriftzüge seines Vaters blickten ihm entgegen, und die ganze schmerzliche Liebe zu dem starren Manne sammt der Bitterkeit, mit welcher er das Elternhaus verlassen, wurden einen Augenblick wieder in ihm lebendig; in den nächsten Secunden indessen hatte er schon den Inhalt durchflogen und sah mit einer an Schrecken grenzenden Empfindung seine halbe Vermuthung bestätigt – es waren die von Winter in den Handel gebrachten und jedenfalls während seiner europäischen Reise verkauften Stadt-Obligationen, in welchen der Geheimerath sein Geld angelegt. Starren Auges durchblickte der junge Mann das Verzeichnis der Nummern, welches der alte Beamte in seiner gewöhnlichen Genauigkeit hinzugefügt – und die Beweise für die Art, in welcher die Stadt von ihren Finanzbeamten betrogen worden, für dieselbe Art, welche Marquart, der deutsche Wirth, bezeichnet hatte, lagen vor ihm. Er sah einzelne Nummern, von denen er genau wußte, daß er sie selbst erst vor drei Wochen in das Copirbuch eingetragen, während er die damit bezeichneten Obligationen nach Europa expedirt hatte; bei andern war er nicht so völlig sicher; aber schon ein einziger Fall hätte ja zu seiner Ueberzeugung ausgereicht. Sein erster Gedanke war die Gefahr, in welche sein Vater bei der nothwendigen Entwerthung der Papiere durch die jetzige Untersuchung gerathen mußte. Sein zweiter sagte ihm, daß es nach dieser Entdeckung nur der einfachen Feststellung bedürfe, wie weit Winter bei dem Verkauf der früheren Papiere betheiligt gewesen, um diesen mit Graham an ein und denselben Strick zu liefern. Sein dritter rief ihm die Nothwendigkeit in’s Bewußtsein, die Sachlage gegen Winter zu benutzen, um diesen zu zwingen, seinen Vater vor dem drohenden Verluste zu schützen; damit aber mußte auch selbstverständlich sein nächster Schritt in die Office sein letzter auf diesem Boden sein, wenn er sich nicht zu Winter’s wissentlichem Mitschuldigen machen wollte. Er hätte, streng genommen, dem Untersuchungs-Committee seine jetzige Erfahrung mittheilen sollen; aber Angeber mochte er nicht werden und der Angeber von Jessy’s Vater am wenigsten.

Unwillkürlich hatte er, während der Tischler ihn still beobachtete, einen raschen Gang durch die Stube begonnen. Heute Nachmittag wäre es vergebliche Mühe gewesen, Winter aufzusuchen, und so mußte das Nöthige bis morgen früh, bis zu des Principals erstem Besuche in der Office, aufgeschoben bleiben – dann aber konnte es weder ein Hinderniß noch eine fernere Zögerung für Hugo’s Handeln geben, er wußte jetzt ein Wort, das den Mann zum ruhigen Standhalten bringen würde. Den Nachmittag wollte er benutzen, um Carry ein freundliches Abschiedswort zu sagen – erfuhr Winter dadurch vorzeitig seinen Entschluß, so bedurfte es morgen keiner großen Einleitung. Mitten in diese Vorstellungen aber trat der Gedanke an Jessy, und er konnte einem bittern Schmerze, der ihn bei dem Gedanken an sein Scheiden auf Nimmerwiedersehen, an das kalte Ende seiner unglücklichen Leidenschaft überkam, nicht wehren. Fast war es ihm wie ein Trost, daß er, nur auf seine Kraft gestützt und ohne von ihren „Freundschafts“- Anerbietungen Gebrauch zu machen, die Stadt verlassen würde, wenn er auch noch nicht einmal wußte, nach welcher Himmelsgegend er sich wenden sollte.

[529] Da kamen dem jungen Manne plötzlich Mangold’s letzte Worte in’s Gedächtniß; er blieb stehen und wandte sich langsam nach dem Dasitzenden. „Du wolltest noch etwas in Bezug auf Mrs. Graham sagen, Heinrich?“ fragte er.

„Erst werde mit Deinen Betrachtungen über den Brief fertig – es muß Deinem Gesichte nach so viel Besonderes darin stecken, daß mir jetzt alle übrigen Gedanken vergangen sind!“

„So viel Besonderes, Heinrich, daß ich es Dir, als einem so eifrigen Mitgliede der Untersuchungspartei, nicht einmal werde anvertrauen können!“

„Heiliges –! jetzt wirf mich nur im Ernste mit dem unruhigen Volke zusammen!“ rief der Tischler aufspringend; „was verstehe ich denn von dem ganzen Krimskrams? Ich bin mitgelaufen, weil aller Orten der Name Deines Principals genannt wurde und ich es für meine Schuldigkeit hielt zu horchen, um Dich warnen zu können. Wer sich aber niemals treffen ließ, war Herr Hugo Zedwitz, und nachher sagte mir Marquart, daß er Dir die Augen heller gemacht hätte, als nöthig sei, wenn Du nur sehen wolltest! Meinst Du wirklich, ich schliche mich Abends zu meinem Mädchen in des Comptrollers Haus, wenn ich mich viel um den ganzen Spectakel kümmerte?“

Hugo nickte befriedigt. „Du sollst Alles erfahren, denn ich muß selbst mit Dir über meine nächsten nothwendigen Schritte reden,“ erwiderte er, „erst aber laß mich wissen, was Du zu sagen hattest; in Augenblicken, wie den jetzigen, kann Alles von Wichtigkeit sein!“

„Nun ja, Dich wenigstens mag es interessiren!“ versetzte der Tischler, während er mit einem halb muthwilligen Blicke zu dem Freunde aufsah. „Ich wollte nur sagen, daß das eine ganz sonderbare Ehe ist, in welcher Deine Prinzessin mit ihrem Manne lebt. Seit den vier Wochen, die sie jetzt zusammen wohnen, haben sie sich nur bei den Mahlzeiten getroffen und auch da nicht immer. Er schläft auf der einen Seite des großen Hauses, sie aber auf der andern und hat zum Ueberflusse in der offenen Nebenkammer noch die Mulattin bei sich. Er ist den Tag über in der Stadt, kommt aber auch vielfach in der Nacht nicht heim, und der alte Henderson bleibt dann in dem Hause, um die Frauenzimmer nicht allein zu lassen. Die junge Frau lebt ganz zurückgezogen für sich, kaum daß sie einmal einen Gang in die Stadt macht, und die Mulattin hat behauptet, ihre Mistreß sei gerade noch so wenig richtig verheirathet als sie selber!“

Hugo hatte mit immer starrer werdendem Auge dem Erzähler, der mit sichtlichem Behagen die Wirkung seiner Mittheilung bemerkte, in’s Gesicht geblickt; plötzlich aber wandte er sich hinweg, als sei er sich selbst seines gespannten Ausdrucks bewußt geworden. „Dienstboten-Klatsch, Heinrich!“ sagte er, „sie mögen nicht glücklich mit einander leben, das ist aber Alles!“

„Wie der Herr Referendar befehlen, und mich kümmert auch die Sache nicht!“ erwiderte der Tischler mit einem neuen Zug von Muthwillen um den Mund; „im Uebrigen aber hat der alte Henderson bei Leib und Leben Stillschweigen über das Verhältniß geboten, und bei diesem wäre wohl am leichtesten der rechten Wahrheit auf die Spur zu kommen!“

Hugo war, dem Freunde den Rücken zukehrend, an’s Fenster getreten; er hatte nicht die Kraft in sich gefühlt, den Eindruck, welchen das Erzählte auf ihn gemacht, in seinem Gesichte zu verbergen, und noch konnte er sich bei dem Gedanken an die mögliche Wahrheit der Angaben eines seltsamen, alle seine Nerven durchrieselnden Gefühls nicht erwehren. Die Aeußerungen Jessy’s, das sie einer unabweislichen Nothwendigkeit gefolgt sei, aber nichts zu bereuen habe – daß nirgends eine Ursache sei, die ihr den kleinsten Theil seiner Achtung rauben könne! erhielten jetzt für ihn eine eben so bestimmte Bedeutung, wie manche bisher räthselhafte Aeußerung Henderson’s. Dann aber tauchte plötzlich die Behauptung des Alten in ihm auf, daß das Mädchen durch irgend einen teuflischen Streich gefangen und zu der Heirath gezwungen worden sei; er erkannte, daß sie sich vor einer Selbstentwürdigung gegen den ihr aufgedrungenen Mann gerettet hatte, aber doch um ihr ganzes Lebensglück betrogen war, und ein Zorn erhob sich in ihm, daß er unwillkürlich die Hände ballte, zugleich aber, um seiner Ohnmacht zu helfen willen, hätte weinen mögen. Einen Augenblick wohl war es ihm gewesen, als solle ihm, diesem unerwarteten Stande der Dinge gegenüber, eine neue Hoffnung aufgehen, in der nächsten Secunde aber hatte er auch schon seinen eigenen „Wahnsinn“ erkannt, und zuletzt blieb nur noch der eine Gedanke, sich zum bestimmten Entschluß erhebend, in ihm stehen, wenigstens Dem auf den Grund zu kommen, was sie zu ihrem Opfer vermocht, was ihn selbst um sein bestes Glück betrogen hatte; er meinte ohne eine solche Aufklärung kaum jemals wieder ruhig werden zu können.

Und so wollte er sie noch einmal sprechen, ehe er die Stadt verließ, wenn sie sich auch kaum freiwillig zu einer Zusammenkunft herlassen würde und ihm selbst ein persönlicher Abschied doppelt schwer werden mußte.

Noch einige Secunden lang blickte er sinnend durch das Fenster, dann wandte er sich langsam wieder nach dem Gefährten. „Ich werde morgen in Folge dieses Briefs einen harten Zusammenstoß [530] mit meinem Principal haben, Heinrich, werde dann sein Geschäft verlassen und auch jedenfalls die Stadt aufgeben, da mir hier doch kaum eine andere Aussicht, als Barkeeper oder Hausknecht zu werden, bliebe. – Nachher erkläre ich Dir Alles,“ beantwortete er ein erschrockenes Aufsehen des Tischlers, „höre jetzt nur weiter. Vor dieser Katastrophe nun hätte ich gern mit Mrs. Graham ein Gespräch unter vier Augen, mochte aber sicher sein, daß ich ihren Mann nicht im Hause treffe und daß sie sich nicht aus irgend einem Grunde vor mir verleugnen läßt. Kannst Du mir hierzu einen Weg angeben, da Du so bekannt mit den Verhältnissen im Hause bist?“

Aus Heinrich’s Gesicht war nach der letzten Wendung der Rede der Ausdruck von Besorgniß schon wieder geschwunden, und nach einem schlauen Aufblick gegen den Freund begann er nachdenklich seine Nase zu reiben. „Ich denke, die Sache kann gemacht werden,“ erwiderte er nach einer Weile bedächtig. „Du gehst mit mir nach Dunkelwerden durch die Hinterthür, und ich will schon sorgen, daß wir erfahren, ob der Comptroller im Winde ist. Dann wartest Du, bis die Mistreß nach dem Parlor geht, wie sie es stets nach dem Abendessen thut, und ich richte es ein, daß Dich die Mulattin ohne Weiteres hinauf bringt; wo es etwas Heimliches gegen ihren neuen Herrn gilt, ist sie ohnedies stets bei der Hand!“

Hugo blickte eine Secunde lang überlegend vor sich nieder und nickte dann entschlossen. „Also um sechs Uhr treffen wir uns hier am Hause!“ sagte er, dem Freunde die Hand reichend.

„Um sechs Uhr hier am Hause!“ wiederholte dieser; „jetzt aber stecke mir ein Licht auf, damit ich mir in meiner Dunkelheit nicht lauter Gespenster vermale!“ – –

Zwei Stunden später ritt Hugo die Höhe nach Winter’s Farmhause hinauf. Er fühlte, daß er nicht ganz ohne Abschied von Carry gehen durfte, die vom ersten Augenblicke seiner Ankunft an ihn mit der ganzen Freundlichkeit ihres Wesens umsponnen hatte; und wenn er auch wußte, daß er nie eine tiefere Empfindung für sie hätte hegen können, wenn er auch um des Mädchens willen froh war, daß die plötzliche Nothwendigkeit des Scheidens seinem Zögern ein Ende machte, so konnte er sich doch bei dem Gedanken an ihr frisches, lächelndes Gesicht, au ihr großes, lebendiges Auge kaum eines leichten Wehgefühls erwehren.

Als er die Treppe nach der Vorhalle hinaufschritt, trat sie ihm, wie von einem innern Glücke strahlend, aus der Vorhalle entgegen. „O, heute werden wir Sie länger hier haben, Mr. Zedwitz,“ rief sie, ihm die kleine runde Hand reichend und ihn nach dem Parlor geleitend. „Vater wird gegen Abend kommen und er hat mir aufgetragen, Sie bis dahin hier zu halten, er muß wohl Wichtiges mit Ihnen zu reden haben!“

Er sah in ihre lebendigen, glücklichen Züge, und es erschien ihm fast wie eine Barbarei, mit dem kalten Worte ihre Illusionen zu durchreißen. Aber er hatte keine Wahl.

„Und dennoch werde ich bald wieder gehen müssen, Miß,“ erwiderte er langsam, ihre Hand in der seinen festhaltend, „ich komme nur, um Abschied zu nehmen – ich verlasse morgen die Stadt!“

Sie blickte ihn an, als verstehe sie ihn nicht. „Abschied nehmen? Verreisen? Davon hat doch Pa nichts gesprochen!“ sagte sie, während ein leichter Farbenwechsel in ihrem Gesicht spielte.

„Er weiß auch noch nichts davon,“ erwiderte er, die Nothwendigkeit erkennend, schnell zum Ziele zu gelangen; „es sind Verhältnisse eingetreten, die mich zwingen, Mr. Winter um meine Entlassung zu bitten, aber ich konnte doch nicht gehen, ohne Ihnen für alle mir erwiesene Freundlichkeit zu danken, Miß Carry!“

Seine Stimme war bewegter geworden, als er selbst gewünscht hatte, und die Frische in ihrem Gesicht wich plötzlich einer völligen Blässe. „Aber das – das ist ja doch unmöglich,“ stammelte sie, während es um ihren weichen Mund zuckte, als dränge sie gewaltsam den Glauben an seine Worte zurück. „Pa sagte ja erst heute noch, daß er Pläne mit Ihnen habe – es kann ja nur ein Mißverständniß sein –“

„Lassen Sie uns den Abschied nicht schwer machen, Miß Carry,“ bat er, ihre Hand drückend, „es muß sein, und so fragen Sie mich auch nicht weiter –“ der Sprechende fühlte sich, den zitternden Augen des Mädchens gegenüber, weich werden und machte eine Bewegung nach seinem Hute zu greifen; sie aber legte plötzlich beide Hände um seinen Arm.

„Sagen Sie mir doch, warum, Mr. Zedwitz, warum?“ rief sie in hörbar durchbrechender Erregung; im nächsten Augenblicke aber wandte sie sich von ihm, als könne sie der hervordringenden Thränen nicht mehr Herr werden.

In dieser Weise konnte er nicht gehen. „Carry,“ sagte er, ihr einen Schritt nachtretend und in dem Bestreben, sie zu beruhigen, seine Hand leicht um ihre Schulter legend; da fiel sie im ausbrechenden Weinen, wie von aller Kraft verlassen, in seine Arme. „Ist es denn unmöglich, daß Sie bleiben – Sie müssen doch erst den Vater sprechen,“ schluchzte sie, „ist es denn ganz unmöglich? “

Hugo, mit der eigenen Weichheit kämpfend, fühlte sich in Verlegenheit, wie die Scene zu enden. „Unmöglich sollte Niemand von der Aenderung eines Entschlusses sagen,“ erwiderte er, um nur ihre Erregung zu dämpfen. „Ich werde morgen früh erst ein Gespräch mit Mr. Winter haben – darum lassen Sie uns aber auch jetzt ruhig scheiden, Miß Carry!“

Sie hob den Kopf und lächelte ihn unter Thränen an. „O, wenn es nur an uns liegt,“ sagte sie, „dann weiß ich, das Sie bleiben!“ Ihr wiederaufblühendes Gesicht, ihre weichen, frischen Lippen blickten ihm verlockend entgegen; er fühlte in diesem Augenblicke, daß es nur an ihm lag, seinem Schicksale eine Wendung zu geben, die äußerlich ihm jede Befriedigung geschaffen haben würde; aber die Erkenntniß der entscheidenden Minute ließ ihn auch rasch die augenblickliche Lockung überwinden. „Good bye denn, Miß Carry,“ sagte er ihre Hand drückend und dann nach seinem Hute greifend; er sah noch, wie sie, ohne seinen Gruß zu erwidern, wie in plötzlich neu erwachter Besorgniß ihm nachblickte; dann aber schloß sich die Thür zwischen ihnen, und der Deutsche eilte mit einem tiefen Athemzuge nach seinem Pferde. Er ritt im scharfen Trabe davon, bis er die Grenze der Besitzung erreicht; dann aber mäßigte er, als wolle er ruhiger seine Gedanken ordnen, den Lauf des Thieres. Wenn er Jessy nicht gekannt, wenn es sich hätte nachweisen lassen, daß Winter ohne Schuld in Graham’s Betrügereien verwickelt worden wäre – „ja wenn!“ rief er halblaut, ohne den Nachsatz zu bilden, und vor dem Gedanken an die jungfräuliche Frau und die Zusammenkunft, welche er sich heute mit ihr zu verschaffen gedachte, schwand jeder Eindruck, welchen die eben durchlebte Scene in ihm hinterlassen. – –

Die Straßen der Stadt zeigten bereits die schnurgeraden Linien der Gasflammen, ohne daß diese im Stande gewesen wären, die eingebrochene Finsterniß mehr als zu einem Halbdunkel zu erhellen, als Hugo in Mangold’s Begleitung einen Theil des aristokratischen Stadtviertels durchschritt und endlich in eine enge und durch starke Breterwände gebildete Seitengasse einbog.

„Jetzt mir nur langsam nach, ich kenne hier jeden Stein und jede Pfütze wie bei Tageslichte!“ sagte der Tischler halblaut und faßte die Hand des Freundes, ihn an einer der Seitenwände entlang leitend; bald aber öffnete er behutsam eine Thür, welche den Einblick in einen mit Backsteinen gepflasterten Hof bot, der zum Theil durch das aus den Fenstern eines großen Hauses fallende Licht beschienen war, und zog Jenen nach sich. „Hier bleibe stehen, bis ich zurückkomme!“ flüsterte er, den Freund nach einer dunkeln Ecke des umschlossenem Raumes führend, „ich werde recognosciren, und Du sollst schnell genug erfahren, wie es steht!“

Er verschwand in dem dunkeln Theile des Hofes, und Hugo erhielt Muße, sowohl das Haus vor sich zu mustern, als sich noch einmal zu wiederholen, was er ihr, die ihn wohl jetzt am wenigsten erwartete, zu sagen gedachte. Er fühlte trotz seines festen Entschlusses sein Herz klopfen, und erst als er nach verhältnißmäßig kurzer Zeit den Tischler leise und hastig zurückkommen hörte, kehrte mit der nahenden Entscheidung auch seine volle Sicherheit wieder.

„Alles ausgezeichnet, und die vielen Umstände wären wohl nicht einmal nothwendig gewesen!“ rief Mangold mit gedämpfter Stimme, noch ehe er völlig heran war. „Die Mulattin kennt Dich ja und scheint wohl auch noch mehr zu wissen – es fehlte nicht viel, so hätte sie Dich gleich selber geholt. Graham wird vor spät Nachts nicht erwartet, also frisch vorwärts!“

Hugo sah sich einem niedrigen, erleuchteten Erdgeschoß zugeführt – er blickte durch den offenen Eingang in die Küche, und fast wollte ihm jetzt dieser Weg in das Haus kaum passend erscheinen; indessen ließ ihm das braune Kammermädchen, das ihm mit einem seltsam leuchtenden Blicke entgegentrat, keine Zeit, einen andern Entschluß zu fassen. „Mistreß ist allein im Parlor, ich werde [531] Sie führen, Sir!“ sagte sie eilig und schritt ihm damit nach dem anstoßenden offenen Speisezimmer voran, von wo aus eine kurze Treppe nach der erleuchteten Vorhalle des Hauses hinauf führte. „Hierher, Sir!“ flüsterte die Führerin, als Beide die letzte Stufe leise erstiegen, und legte ihre Hand an das Schloß der nächsten Thür; kaum aber war er ihr gefolgt, als sie diese rasch öffnete und ihn mit einem lauten: „Mr. Zedwitz, Ma’am!“ in das Zimmer schob.

Jessy saß an dem von einer bronzenen Gaslampe erleuchteten Mitteltische, im Durchblättern einer Anzahl elegant gebundener Bücher begriffen, und blickte auf, als habe sie die Meldung nicht verstanden; kaum war aber ihr Auge auf den Dastehenden gefallen, als sie sich mit einem tiefen Erröthen erhob, in der nächsten Secunde aber, erschreckend bleich geworden, nach dem Tische griff, als wolle sie sich daran halten. „Mr. Zedwitz!“ sagte sie nach einer kurzen Weile, in welcher sie theilweise Meisterin ihrer Ueberraschung geworden zu sein schien, in welcher ihr aber auch Hugo, unvermögend ein Wort zu sprechen, gegenüber gestanden hatte.

„Ich habe Sie erschreckt, Ma’am,“ sagte der Letztere jetzt langsam herantretend; „ich konnte aber die Stadt nicht verlassen, wie ich es morgen thun werde, ohne Sie noch einmal gesehen zu haben – und vielleicht hätten Sie mir, der auf Ihre Zeilen nicht einmal geantwortet hat, weil er nicht daran glaubt, der nur Auge in Auge zu Ihnen reden wollte, ein letztes Wort nicht bewilligt!“ Den Eingetretenen hatte bei dem Anblick ihrer Züge, bei der Fassungslosigkeit, welche sie bei seinem Erkennen überkommen, eine Erregung ergriffen, die ihn jetzt Worte sprechen ließ, an die er vorher kaum gedacht. „Und nicht wahr, Sie weisen mich nicht weg, da ich Sie nach diesen letzten Worten doch niemals wieder sehen werde? – nicht wie damals, als Sie ein ähnliches Wort zu mir sprachen,“ unterbrach er sich mit einem Lächeln, das wie ein tiefes Weh in sein Gesicht trat; „ich werde selbst dafür sorgen, daß ich Ihren Weg nicht wieder kreuze!“

„Was haben Sie mir noch zu sagen, Mr. Zedwitz?“ fragte sie leise, während ihre bleichen Züge eine eigenthümliche Starrheit annahmen; „ich habe mich in voller Aufrichtigkeit gegen Sie ausgesprochen und hätte jetzt kein Wort hinzuzusetzen noch wegzunehmen.“

Er blickte ihr einige Secunden lang schweigend in die großen Augen, die jetzt in völlig ausdrucksloser Ruhe den seinigen begegneten. „Es mag so sein!“ sagte er dann, sich sammelnd; „und ich kam auch nur hierher, um Abschied zu nehmen und noch einmal Ihre Hand zu drücken. Da es doch aber ein Abschied für’s Leben ist, so möchte ich gern Ihr Bild in voller Klarheit und Sicherheit in meiner Seele mit mir nehmen – und nicht wahr, Sie möchten ebenfalls, daß, wenn ich auch an Sie nur zurück denken darf, wie an eine Todte, ich dies doch ohne trübende Zweifel thun könne?“

„Was ist es, Sir?“ fragte sie mit leise bebender Stimme.

„Sie haben zu mir von einer unabweisbaren Nothwendigkeit gesprochen, die Sie in Ihre jetzigen Verhältnisse geführt,“ fuhr er jetzt in völliger Fassung fort. „Es ist ja völlig richtig, was Sie mir früher angedeutet, daß ich kein Recht zum Fordern einer Erklärung habe; später aber sind Sie mir als Freundin entgegengetreten, welche, um der vollen Achtung des Freundes willen, sich ihm mit ganzer Offenheit gab – darf dieser Freund nun wohl nach dem, was ihm noch dunkel ist, fragen? Sie mögen nichts in Ihrem Handeln zu bereuen haben; dennoch weiß ich ja, daß bei allen Gaben, mit welchen der Himmel Sie überschüttet, Ihr Leben ein unglückliches und verfehltes geworden ist. Und soll ich nun mit diesen Widersprüchen gehen, die mich peinigen, die mir Ihr ganzes Wesen in ungelöste Zweifel hüllen und mir nie eine ungetrübte Rückerinnerung gestatten werden? – Aber ich will Sie nicht quälen,“ setzte er mit leisem, traurigem Kopfschütteln hinzu, als es jetzt wie der Ausdruck eines peinlichen Kampfes in ihre Augen stieg, „sagen Sie mir, daß ich gehen soll, und ich gehe auch ohne Antwort!“

Sie richtete langsam den gesenkten Kopf auf, ihr Blick ward ruhig und sicher, und ein Hauch von Röthe trat wieder in ihre Wangen. „Ich werde Ihnen sagen, was zu Ihrer Zufriedenheit so nothwendig scheint,“ sagte sie langsam, „vielleicht bin ich es Ihnen sogar schuldig, und es ist mit zwei Worten abgethan. Dann aber gehen Sie und – gedenken Sie meiner wie einer Todten!“

Sie schien einen Augenblick ihre Kraft zusammen zu nehmen. „Mein Vater gilt für reich,“ fuhr sie dann leiser fort, „er ist es nicht, und im letzten Jahre verbarg er nur mühsam durch Graham’s Unterstützung seine Verlegenheiten. Ich habe zwei Geschwister, und mit einem Bruche von Mr. Winter’s Geschäfte wäre ihre Zukunft sowie die meiner Eltern ruinirt gewesen. Da bot Graham dem Vater eine gegenseitige Verbindung an, die diesen nicht nur aller augenblicklichen Gefahr entreißen, sondern ihm auch mit der Zeit den frühern Wohlstand zurückgeben und die Zukunft meiner Familie sichern mußte; der Preis dieser Rettung aber war eine Verbindung Graham’s mit mir –“

Hugo schüttelte in einer ihn plötzlich überkommenden Erregung so heftig den Kopf, daß die Sprecherin mit großen, befremdeten Augen innehielt. „Das ist es, das ist der teuflische Streich!“ rief der junge Mann, wie in gänzlicher Selbstvergessenheit die Faust gegen die Stirn pressend. „O, Miß Jessy – Sie haben mir ja erlaubt, Sie so zu nennen,“ fuhr er in einer Art Ekstase fort, „lassen Sie uns einen Augenblick ruhig reden – ich weiß ja wohl, daß Alles zu spät ist, aber Sie müssen klar werden um Ihrer selbst willen!“ Er griff nach einem Stuhle und zog ihn nach dem Tische, während Jessy, ihn wie in einer plötzlichen beängstigenden Ahnung anblickend, mechanisch ihren früheren Sitz wieder einnahm.

„Um Mr. Winter vom finanziellen Ruin zu retten, sagen Sie, haben Sie sich geopfert?“ begann Hugo, sich niederlassend und mit Macht sein Aeußeres zur Ruhe zwingend, „und wer hat Ihnen von einer solchen Lage Ihres Vaters gesagt?“

„Mein Vater selbst, Sir!“ erwiderte sie, ihn groß anstarrend. „O, Henderson hatte Recht!“ rief Hugo kopfschüttelnd und, auf’s Neue von seiner Erregung übermannt, die Hand gegen die Augen drückend. „Ihr Vater, Miß Jessy, hat sich, seit es auf Sie hätte einen Einfluß üben können, noch nie in einer Geldverlegenheit befunden,“ fuhr er dann fort, „hat jedes Jahr mit vergrößertem Vermögen abgeschlossen, und seine bedeutenden festen Geldanlagen sind heute noch so wenig angegriffen, als sie es seit vielen Jahren waren, und wenn Mr. Winter heute für reich gilt, so ist er das auch in dem vollen Maße, als es nur angenommen werden mag!“

Ihr Gesicht nahm eine marmorne Blässe und Unbeweglichkeit an. „Aber was können Sie von Mr. Winter’s Verhältnissen wissen?“ sagte sie mit hörbarer Anstrengung, obgleich die Worte, alles Tones beraubt, kaum vernehmlich waren. „Er hatte mir sein Wort an Eidesstatt gegeben, daß nur in seiner Verbindung mit Graham noch ein Heil für ihn sei –“

„O, weil er völlig in den Schlingen dieses Menschen hing,“ unterbrach sie der Deutsche mit dem vollen Ausdrucke seiner innern Bewegung, „oder wohl auch nur, weil er vom Teufel der Gewinnsucht geblendet war, denn er mag sich nicht so leicht umgarnen lassen. Haben Sie denn gar nichts gehört von den letzten Geschäften der Beiden, die den Comptroller der Gerechtigkeit überliefern und Mr. Winter nur frei ausgehen lassen werden, wenn jener schweigt? – Und woher ich den Stand der Geschäftsverhältnisse kenne?“ fuhr er fort, „hat mich denn nicht Ihr Vater zu seinem Geschäftsrepräsentanten machen wollen, habe ich denn nicht seit drei Wochen die Bücher vor mir gehabt und zu meinem eigenen Studium die Jahresabschlüsse, so weit sie mir nur zugänglich waren, Posten für Posten durchgenommen?“

Sie sah ihn einige Secunden schweigend und starr, mit fast unnatürlich weit geöffneten Augen an, dann erhob sie sich langsam, that zwei Schritte, seitwärts, wankte und brach, ehe noch Hugo aufspringen konnte, neben einem der Divans in die Kniee, mit dem Kopfe in die Polster fallend. Als sich ihr aber der junge Mann in peinlichem Schrecken nähern wollte, streckte sie abwehrend den Arm nach ihm aus, und im nächsten Augenblicke brach ein erstickter Wehruf, wie aus brechendem Herzen, aus ihrem Munde. „Betrogen, betrogen! geopfert um des Dollars willen, geopfert von dem eigenen Vater!“

„Jessy, um Gotteswillen, fassen Sie sich!“ bat Hugo, „es ist ja noch lange nicht Alles für Sie verloren, und wer weiß, ob Sie nicht Ihre ganze Kraft für das, was noch kommen mag, nöthig haben werden!“

Sie schnellte empor und drückte die Hände gegen ihre Schläfe. „O, es kann nichts Gräßlicheres kommen,“ rief sie mit halbgebrochener Stimme und begann einen raschen Gang durch das Zimmer, „und ich hätte auch nimmermehr daran glauben können, wenn sich nicht schon mir selbst eine bestimmte Ahnung aufgedrängt hätte.

Mein Gott, o mein Gott, warum denn mir das?“

[532] Der junge Mann stand rathlos vor diesem Ausbruche eines Schmerzes, der sein Echo, wenn auch in anderer Weise, in seinem eigenen Herzen fand – da klopfte es an die Thür; aber erst als diese sich hastig geöffnet und das Gesicht der Mulattin sich mit einem drängenden: „Mr. Graham kommt, Ma’am, Henderson sagt, er müsse sogleich hier sein – Mr. Graham, Ma’am!“ hereingesteckt hatte, blieb die Angerufene stehen und schien sich der äußern Eindrücke wieder bewußt zu werden.

„Mr. Graham?“ wiederholte sie wie mechanisch; dann aber blitzte es in ihrem Auge plötzlich auf. „Er kommt recht, er kommt recht!“ rief sie wie in neu ausbrechender Erregung. „Treten Sie hier herein, Sir, bis ich Sie als Zeugen rufen werde!“ wandte sie sich an den Deutschen, während sie nach der Thür zu dem hintern Parlor schritt und diese öffnete. Als aber jetzt Hugo in voller Besorgniß um ihren Zustand die Hand gegen sie ausstreckte und, ohne seiner schmerzlichen Bewegung Zwang anzulegen, sagte: „Ich stehe Ihnen mit meinem Leben zu Gebote, Miß Jessy, aber Sie reiben sich in dieser Weise auf – gehen Sie erst mit sich selbst zu Rathe, was Sie thun wollen!“ – da faßte sie seine Hand mit einem fast krampfhaften Drucke, und in ihren bleichen, erregten Mienen zuckte es, als halte sie mit Macht einen hervordringenden Thränenstrom zurück. „Ich weiß, wie Sie es mit mir meinen – die Ihnen nichts mehr danken kann,“ sprach sie, „aber lassen Sie mich jetzt handeln, ich würde irrsinnig werden, wenn ich Alles in mich verschließen müßte.“

Von außen klang das Geräusch eines Schlüssels im Schlosse der Hausthür und schien wie elektrisch auf die junge Frau zu wirken. „Das ist er, gehen Sie – er soll Sie erst sehen, sobald es nöthig ist!“ rief sie halblaut, und Hugo, der Nothwendigkeit folgend, trat in den völlig dunkeln Raum, dessen nur halb verschlossener Eingang ihm jedoch den freien Blick über das vordere Zimmer gestattete.

Nach wenigen Secunden öffnete sich dort geräuschvoll die Thür, und Graham trat ein, blieb aber bei dem Erblicken Jessy’s, die, sich leicht auf den Tisch stützend, ihn erwartete, stehen. Der Deutsche bemerkte auf den ersten Blick, daß der Comptroller aus einer Trinkgesellschaft kommen müsse. Sein Gesicht war stark geröthet, während seine Augen einen eigenthümlich schläfrigen Ausdruck zeigten; der Hut, welchen er erst jetzt abgenommen, hatte zum großen Theile auf dem Hinterkopfe gesessen, und zu alle diesem stimmte völlig das Gelächter, welches der Eingetretene nach dem ersten Blicke auf die ihn Erwartende aufschlug.

„Guten Abend, dear, Jessy! Sind Sie versteinert über mein zeitiges Heimkommen?“ begann er; „aber nur nicht so ängstlich, Kind, es ist nichts Besonderes passirt, ich habe nur ein paar liebevolle Worte mit Ihnen reden wollen.“ Er lachte von Neuem. „Sie wissen doch, daß wir morgen, der ganzen Untersuchungslumperei zum Trotz, hier große Gesellschaft haben werden? Nun, Dear, der möchte ich zum ersten Male meine Frau vorstellen, das heißt meine wirkliche Frau, verstehen Sie mich, Jessy? ich sage: meine wirkliche Frau – verstehen Sie mich?“

„Nein, ich verstehe Sie nicht!“ klang Jessy’s Stimme in voller Sicherheit. Hugo hatte, wenn er den Comptroller im Auge behalten und selbst einigermaßen gedeckt sein wollte, die Aussicht nach ihr aufgeben müssen. „Ich sehe aber, daß Sie in einem Zustande sind, der Sie am wenigsten fähig macht, Damengesellschaft zu suchen!“

„Zustand – pshaw!“ erwiderte er wegwerfend, „Winter war in einem ganz andern Zustande und ist doch zu seiner Frau gegangen. Sie verstehen mich also nicht? nun, so lassen Sie uns wenigstens setzen, um uns zu verständigen!“ fuhr er phlegmatisch fort, den nächsten Stuhl im Bereiche seines Arms herbeiziehend, sich schwerfällig darauf niederlassend und dann die Füße weit von sich streckend. „Sie wollen stehen bleiben? auch gut! Sie haben Ihren freien Willen; aber es wird doch für Sie selbst gut sein, wenn Sie mir jetzt aufmerksam zuhören!“ Er bog den Oberkörper vor, ließ die halbstieren Augen über die ganze Gestalt der vor ihm Stehenden laufen und brach dann in ein neues Lachen aus. „Ich denke eben an den alten Spitzbuben, dem Sie eine so verdammt gute Tochter gewesen sind – entschuldigen Sie, Jessy, ich meinte Ihren Vater; er hat mir heute Abend erst richtig erzählt, wie ich dazu gekommen bin, Sie zur Frau zu erhalten – was Sie eben „Frau sein“ nennen! Das geht aber nun nicht länger so, und da Sie eine gute Tochter sind, so werden Sie sich fügen! Die Sache steht also folgendermaßen: Die Lumpen, die sich das Untersuchungscommittee nennen, sind mir wegen einiger Privatgeschäfte, die ich zusammen mit Ihrem Vater gemacht habe, auf den Fersen und sie möchten mich und ihn am liebsten aufhängen, wenn sie es könnten. Der alte Fuchs, das heißt Ihr Vater, Jessy, hat sich aber vorgesehen, und sie werden ihn aus dem Garne lassen müssen, wenn ich nicht rede. He, Kind, verstehen Sie das? es können immer ein zehn Jahre Staatsgefängniß dabei herauskommen, wenn ich mir nichts daraus mache. Und ich mache mir nichts daraus, wie ich überhaupt auf mein ganzes Leben, das Sie zu Grunde gerichtet haben, nichts mehr gebe. Niemals eine ordentliche Heimath, niemals eine Familie, vom Morgen bis zum Abend unter Fremden, damit man nur sein eigenes Hans nicht zu sehen braucht – was soll ich endlich mit einem solchen Leben? – Er ist in schwerer Sorge, Ihr Pa,“ fuhr er mit einem häßlichen Lächeln fort, „die Sache mag allerdings unangenehm in seiner Lage sein, und so habe ich ihm gesagt, daß, wenn sich nur mein Leben anders gestaltete, ich sowohl ihn frei halten, als für meine eigene Freiheit sorgen würde, müßte ich auch mit meiner Frau ein paar Jahre außer Landes gehen – und er hat mir gesagt, daß sein Haus für eine Tochter, die ihn in’s Unglück bringe, nie einen Schutz bieten werde, ich solle nur meine Rechte geltend machen. – Aber mir kann nichts helfen, was erzwungen ist,“ fuhr er fort, seine aufglühenden Augen auf die Dastehende geheftet, „entweder kann ich mir morgen sagen, daß ich eine wirkliche Frau und eine wirkliche Häuslichkeit habe, oder ich kümmere mich um das ganze Leben nicht mehr, und Sie mögen dann wenigstens als Vergeltung fühlen, was es heißt, wenn der Mann und der Vater im Staatsgefängnisse sitzen!“ Erblickte sie mit dem gleichen Ausdrucke zwei Secunden lang schweigend an, dann erhob er sich plötzlich und schritt mit halb wankendem Schritte ans sie zu. „Jessy, seien Sie vernünftig und machen Sie uns nicht Alle unglücklich – geben Sie mir einen Kuß!“

„Zurück, Sir!“ klang Jessy’s halb entsetzte Stimme, „oder ich rufe um Hülfe!“

Hugo stand, mit nervös bebenden Gliedern, zu irgend einer That fertig.

„Zu Hülfe? gegen einen liebevollen Mann im eigenen Hause?“ höhnte der Trunkene, „jetzt, Täubchen, ziere Dich nicht, die Zeit des Spaßens ist vorüber!“

Hugo sah ihn die Arme erheben, und im nächsten Moment war auch der Hausherr in der ganzen Breite des Zimmers zurückgeschleudert, während die stattliche Figur des Deutschen zwischen ihm und der Bedrohten hoch aufgerichtet stand.

Graham schien von dem plötzlichen Angriffe völlig seiner Gedanken beraubt zu sein; er blickte die unerwartete Erscheinung eine Zeitlang wie geistesabwesend an, bis ihm mit einem Male das Gefühl seines Hausrechts zu kommen schien. „Wer ist das? wer sind Sie? mit welchem Rechte sind Sie hier, Sir?“ fragte er, mit stierem Auge näher kommend, während sich langsam seine rechte Hand in die Brusttasche seines Rockes schob.

„Mit dem Rechte, das jeder Gentleman hat, wenn er eine Lady von Brutalitäten bedroht sieht!“ erwiderte Hugo fest. „Wünschen Sie indessen meine nähere Bekanntschaft, so stehe ich Ihnen jeden Augenblick zu Diensten! – Gehen Sie, Ma’am!“ wandte er sich mit einem kurzen Blicke nach Jessy, die noch immer, Entsetzen in ihren Zügen, an den Tisch gelehnt stand, „mit dem Herrn Comptroller werde ich selbst ein weiteres Wort reden!“

„Nein, gehen Sie!“ schrie Graham, in dessen Gesichte eine plötzliche Wuth aufloderte, und im gleichen Moment starrten dem Deutschen die sechs Mündungen des von Jenem hervorgerissenen Revolvers entgegen; Jessy ließ einen Angstschrei hören und machte eine Bewegung, als wolle sie sich vor ihren Beschützer stürzen; dieser aber hatte, noch ehe Graham sich eines Angriffs hatte versehen können, mit einem windschnellen Griffe das Handgelenk seines Gegners gepackt und hielt es mit eisernem Drucke fest. [545] „Gehen Sie, Ma’am!“ wiederholte Hugo jetzt unter dem vergeblichen Ringen des Comptrollers, seinen Arm zu befreien, „ich werde mit dem Gentleman hier fertig werden!“ die junge Frau indessen schien auf ihre Stelle gebannt zu sein. Vor der Zimmerthür klangen harte Tritte, aber Keines der im Zimmer Anwesenden hörte sie. Das glühende Auge in das seines Gegners gerichtet, der wachsam jeder seiner Bewegungen folgte, stand Graham, während die Armmuskeln Beider sich in immer stärkerer Anspannung zu begegnen schienen. Die Thür öffnete sich, aber Niemand bemerkte es, bis nach einem forschenden Blicke herein eine breitschultrige Gestalt in’s Zimmer trat und, ohne sich um die seltsame schweigende Gruppe zu kümmern, eine schwere Hand auf des Hausherrn Schultern fallen ließ. „Mr. Graham, Sie sind mein Gefangener!“ klang es zugleich, und Hugo fühlte den Widerstand seines Gegners wie in plötzlichem Schrecken schwinden. Mit einem raschen Griffe bemächtigte er sich des Revolvers und blickte dann erst auf, um sich von dem überraschenden Ereignisse zu unterrichten.

„Legen Sie Ihre Waffe beiseite, bis wir unserer Pflicht genügt haben, Sir!“ gebot ihm der Mann, unter dessen Hand der aschenbleich gewordene Comptroller niederzubrechen drohte, und der Angeredete, von der plötzlichen Erkenntniß der Wahrheit durchzuckt, reichte dem Eingetretenen den Kolben. „Sie ist am besten in Ihrer Hand, Sheriff,“ erwiderte er, „sie ist Mr. Graham’s Eigenthum!“

Mit einem leichten Nicken ließ der Beamte den Revolver in seiner Brusttasche verschwinden und wandte sich nach der jungen Frau, die mit halb vorgebogenem Oberkörper, wie zu Marmor geworden, dem neuen Ereignisse folgte. „Ich bin unglücklich genug, Ma’am, die Ruhe Ihrer Familie stören zu müssen, indessen kennt das Gesetz keine Rücksichten,“ sagte er höflich, „ich habe leider Mr. Graham mit mir zu nehmen!“

„Ich werde Bürgschaft leisten, welche Gründe auch diese sonderbare Verhaftung herbeigeführt haben mögen,“ rief jetzt der Gefangene, sichtlich nach Haltung ringend, „ich bitte Sie, mir Gelegenheit zu geben, die Sache schnell zu ordnen!“

„Ich glaube kaum, Sir, daß sich heute Abend etwas wird thun lassen, und es würde Ihnen unter den existirenden Umständen wohl auch schwer werden, die mögliche Höhe der geforderten Bürgschaft aufzubringen!“ erwiderte der Sheriff mit einem verdächtigen Lächeln. „Bitte, folgen Sie mir ruhig; was zu Ihren Bequemlichkeiten gehört, mögen Sie nachholen lassen, und morgen werden wir dann weiter sehen!“

Ein kräftiger Druck von des Beamten Hand, mit welchem er den Comptroller nach der Thür drehte, schien jede Fassung des Letzteren wieder zu vernichten, schweigend schritt er nach dem Ausgange, in welchem sich jetzt zwei andere Beamte, zu seinem Empfange bereit, zeigten; Hugo’s Augen aber wandten sich besorgt nach Jessy’s Gesicht, in welchem sich jetzt eine eigenthümliche, zuckende Bewegung geltend machte, und kaum war er ihr, nachdem sich die Thür hinter den Abgehenden geschlossen, nahe getreten, als sie sich in einem plötzlich ausbrechenden Weinkrampfe an seine Brust warf. Er fühlte, daß die Füße unter ihr brachen, die Gewaltsamkeit des Ausbruches, unter welchem ihr ganzer Körper flog, erschreckte ihn und ließ im Augenblicke nichts als das Gefühl der Angst für ihren Zustand in ihm aufkommen; er trug sie mehr, als er sie führte, nach dem seitwärts stehenden Divan und ließ sie dort nieder, während er ihr zuckendes Haupt an seine Brust bettete; er wußte, daß hier jedes beruhigende Wort ein vergebliches sein würde, und mit einem Gefühle von Erleichterung sah er jetzt die Thür sich öffnen und Henderson’s Gesicht in derselben erscheinen. „Rufen Sie das Kammermädchen!“ deutete er diesem halblaut an, „wir müssen der Leidenden vor allen Dingen Ruhe schaffen!“

„Es mußte ja kommen, wie es sollte,“ brummte der Alle, ehe er verschwand, mit einem hellen Blicke auf die Stellung Beider, „und das Uebrige wird auch nicht außenbleiben!“

Der Deutsche hielt die Schluchzende in seinen Armen wie ein anvertrautes Heiligthum; er wußte, daß nur Aufregung und Schwäche sie ihm überliefert, und er hätte nicht den leisesten Mißbrauch von ihrer augenblicklichen Lage machen mögen. Wohl rieselte es ihm durch alle Nerven, als er sich jetzt in der lautlosen Stille um sie her des Drucks ihrer weichen Formen bewußt ward, er hätte mit Inbrunst seinen Mund in das volle, duftende Haar der halb Bewußtlosen drücken mögen; aber er bezwang sich. Und als er jetzt die Schritte Kommender hörte, sprach er in ihr Ohr: „Richten Sie sich auf, Miß Jessy, und gehen Sie zur Ruhe! was aber auch noch geschehen möge, rechnen Sie auf mich als Ihren treuesten Freund!“ Bei seinem ersten Laute indessen schien sie sich plötzlich ihrer Lage bewußt zu werden; sie schnellte auf, und ihr Schluchzen erstarb unter dem bestürzten Blicke, mit welchem sie ihn anstarrte; wie kaum des Geschehenen sich bewußt, durchlief ihr Auge den Raum, und als in diesem Augenblicke die Mulattin hastig das Zimmer betrat, erhob sie sich wie ein scheues Reh, um der Eingetretenen entgegen zu eilen. Auf halbem Wege indessen blieb sie stehen und drückte eine Weile die flachen Finger gegen die Stirn. Dann wandte sie sich langsam nach dem jungen Manne zurück. „Ich entsinne mich wieder!“ sagte sie, mit einem Auge voll unendlicher Trübsal ihm die Hand entgegenstreckend, „lassen Sie mich [546] morgen früh nicht allein, ich habe Niemand, Niemand weiter!“ Dann schritt sie, ohne Flora’s Unterstützung anzunehmen, aus dem Zimmer. –

Hugo hätte am liebsten schon an diesem Abende nicht mehr in Winter’s Geschäftshause geschlafen und wäre sofort ausquartiert; er fühlte einen unwiderstehlichen Widerwillen, noch den kleinsten Vortheil aus seiner bisherigen Stellung zu benutzen; Henderson wollte indessen für alle Fälle die Nacht in der Nähe der jungen Frau zubringen, und so mußte seine Abneigung seiner noch nicht beendeten Pflicht weichen.

Er ging mit dem Tischler, der sich ihm angeschlossen, aber nicht den Muth zu haben schien, des Freundes gedankenschweres Stillsein zu unterbrechen, nach Hause. Als sie einen der offenen Plätze, auf welchem der dunkle Horizont mit seinen hell flimmernden Sternen sich frei dem Auge bot, überschritten, blieb Hugo Plötzlich stehen und faßte mit einem Drucke des Schulgefährten Hand. „Heinrich,“ sagte er halblaut, in den nächtlichen Himmel hinaufblickend, „es ist etwas wunderbar Großes um die Wissenschaft für den Verstand, aber dem Herzen giebt sie doch nimmermehr Genüge. Heinrich, ich konnte heute Abend beten!“ – –

Es war lange nach Mitternacht, ehe der aufgeregte junge Mann diesmal den Schlaf finden konnte, und am andern Morgen erwachte er nach wirren, schweren Träumen von einem Pochen an seiner Thür, als bereits die Sonne hell in sein Fenster schien. Erschrocken sprang er auf, warf nur die nöthigste Bekleidung über sich und öffnete.

Henderson, mit sonderbar bleichem Gesichte, sah ihm entgegen. „Gott segne Ihren Schlaf,“ sagte dieser mit geheimnißvollem Tone, während er sich durch die Thür schob und diese wieder vorsichtig schloß; „kommen Sie denn wirklich erst jetzt aus den Federn und haben noch nichts von den neuen Vorgängen gehört?“

„Noch etwas?“ fragte der Deutsche, mit einer plötzlichen Spannung den seltsamen Ausdruck in des Alten Zügen studirend; „ich war vor Morgengrauen nicht eingeschlafen –“

Henderson nickte, während sich seine Augen eigenthümlich erweiterten. „Noch etwas!“ erwiderte er langsam, „er hat sich diese Nacht im Gefängnisse erhängt!“

„Graham?“ rief Hugo in einem jähen Schrecken, während es ihn doch dabei plötzlich wie ein Gefühl von Glück durchzuckte, dessen er sich im nächsten Momente vergebens zu schämen versuchte.

„Graham!“ wiederholte der Alte, „und es ist schon überall in der Stadt bekannt. Ich konnte Mr. Winter die Nachricht geben, gerade als er hier ankam!“

„Nun?“ fragte der junge Mann in einer neuen Spannung.

Henderson trat dicht an ihn heran. „Er sah mir wohl eine halbe Minute, wie von. Blitz getroffen, in’s Gesicht, nachher holte er tief Athem und sagte: „Gott sei Dank! Henderson, in die Klemme gerathen wir nicht wieder!“ und ich hätte auch beinahe Gott sei Dank! gesagt, so schlecht es mir auch zu Muthe war. Er fuhr gleich nach Graham’s Hause, und ich ging hinterdrein – aber Miß Jessy hat ihn nicht angenommen; es muß da noch etwas Anderes zwischen Vater und Tochter liegen, was ich nicht weiß und auch nicht wissen mag! Aber Ihnen wollte ich sagen, daß sie bereits nach Ihnen gefragt hat. Sie ist schon von Allem, was geschehen, unterrichtet und wird eine andere Unterstützung nöthig haben, als ihr der alte Henderson gewähren kann!“

Hugo machte in einer ihn überkommenden Erregung, die ihm fast den Athem nahm, einen raschen Gang durch das Zimmer. „Sie sind mir ein wirklicher, wahrhaftiger Freund gewesen,“ sagte er dann, wie von einem besondern Gedanken erfaßt, vor dem Alten stehen bleibend und dessen Hand fassend, „sagen Sie mir jetzt nur Eins, wenn es auch wohl die unpassendste Zeit ist, einen solchen Punkt zu berühren. Sie oder Flora wollen Mancherlei von meinem Namen gewußt haben, noch ehe ich hierher kam – wie ist das?“

„Ich sehe durchaus keinen Grund, warum es jetzt eine unpassende Zeit zu der Frage sein soll,“ erwiderte der Alte, während ein leichter Schatten über sein Gesicht ging; „ich denke, Niemand in unserm Kreise hat den Mann zu betrauern, der sich vor seinen Sünden und seiner Schande davon gemacht hat, anstatt die rechtschaffene Strafe auf sich zu nehmen!“ Er strich langsam mit der Hand über sein Gesicht. „Es gab eine kleine Karte mit dem Namen „Hugo Zedwitz“, Sir,“ fuhr er dann fort, „die oft die einzige Gesellschaft von Miß Jessy war, die sie vor sich hinlegen und darüber brüten konnte, als wandere sie mit ihren Gedanken in einem fremden Lande, wo der Name nicht ein bloßer Klang war. – Das ist Alles, Sir, ich denke aber,“ setzte er hinzu, während es einen kurzen Moment wie ein Schein seines gewöhnlichen Humors über seine Züge glitt, „wir haben den richtigen Sinn darin gefunden! Und jetzt eilen Sie, daß Sie in Ihre Kleider kommen!“ – –

Eine Viertelstunde darauf stand Hugo vor dem Hause des Comptrollers, und auf sein Klingeln blickte nach einer Weile das halbverstörte Gesicht der Mulattin aus der Thür, das sich indessen schnell aufklärte, als sie den Deutschen erkannte. Nur mit einem hastigen Winke ging sie ihm die Treppe hinauf voran und öffnete dort ohne jede Meldung die Thür zu dem Zimmer der jungen Frau, sie hinter ihm wieder schließend. Der erste Blick zeigte dem Eintretenden eine Menge rings umherliegender Garderobestücke und zwei offene Koffer; sein zweiter traf Jessy, die sich marmorbleich, aber mit ungeschwächtem Feuer in dem großen, dunkeln Auge von einem Sessel neben dein Tische erhob.

„Ich muß fort, Sir, fort aus diesem Hause, fort aus der Stadt!“ sagte sie hastig. „Verlassen Sie mich nicht,“ fuhr sie fort, die Hand nach ihm ausstreckend, „Sie haben mich gelehrt, in den schlimmsten Lagen auf Sie zu rechnen, und ich bin allein, ganz allein, wenn Sie von mir gehen. Ich will nach dem Osten, wo ich in einer bekannten Familie zu bleiben gedenke, bis hier alle Verhältnisse geordnet sind, an die ich jetzt nicht einmal zu denken vermag. Helfen Sie mir, ich kann den Mann, der sich meinen Vater nennt, nicht wieder sehen und darf am allerwenigsten diesem todten Körper, den sie vielleicht in’s Haus bringen werden, begegnen–“

Ein plötzlicher Schauer schien ihren Körper zu überlaufen, und Hugo drückte warm und beruhigend ihre Hand. „Ich verstehe völlig Ihre Lage, Miß Jessy, und Sie wissen, daß Sie Ihren treuesten Freund neben sich haben,“ erwiderte er, seine eigene Bewegung möglichst unterdrückend. „Werde ich aber nicht zu viel Recht beanspruchen, wenn ich jetzt völlig in Ihrem Namen handele?“

„Zu viel Recht?“ fragte sie, wie verwundert aufblickend. Plötzlich aber verdunkelten sich ihre Augen, wie unter aufsteigenden Thränen, sie hob die Arme und schlang sie im nächsten Momente um seinen Hals. „Da hast Du mich zum vollen Eigenthum, Mann, und nun thue mit mir und Allem, was mir gehört, nach Deinem Gefallen; ich habe ja keine andere Heimath mehr, als bei Dir!“ rief sie im ausbrechenden Weinen und schmiegte sich in seine Arme, als wolle sie Schutz suchen vor Allem, was bis dahin auf ihre Seele eingestürmt war. Bald aber, wie sich ihrer drängenden Lage bewußt werdend, schnellte sie wieder empor und griff mit einem Gesichte, das wunderbar unter ihren noch immer strömenden Thränen aufleuchtete, nach einem starkgefüllten Portefeuille auf dem eleganten Schreibtische. „Hier ist genügend für Alles, was im Augenblicke nothwendig werden wird,“ rief sie, ihm das Taschenbuch in die Hand pressend, „und nun sorge, daß ich bald an nichts mehr denken darf, als an Dich! – Noch das Eine aber,“ setzte sie unter dem sichtlichen Einflusse eines in ihr auflebenden Glücks hinzu, „Henderson mag aus dem Spiele bleiben, er hängt noch fest an dem Glauben an seinen Brodherrn, und ich will ihm nicht die Zuversicht seiner alten Tage rauben.“ Nur eine Secunde lang war dabei ein neuer Schatten über ihre marmorweißen, durchsichtigen Züge gegangen; dann hatte sie mit einem nervösen: „Und nun geh!“ hastig den Kopf des jungen Mannes zwischen ihre Hände genommen, einen Kuß auf seinen Mund gedrückt, und in der nächsten Minute sah sich Hugo aus dem Zimmer geschoben.

Auf der halben Höhe der Treppe stand die Mulattin wartend, und ihr gespannter Blick zwang Hugo, seine aus all ihren Angeln gerissenen Gedanken zusammen zu raffen. „Vorwärts, Flora, Ihre Mistreß braucht Sie,“ rief er, an ihr vorüber eilend, „in zwei Stunden reisen wir!“

Als er mit noch schwirrendem Kopfe in’s Freie trat, sah er den Tischler von der andern Seite der Straße auf sich zueilen, und erst jetzt meinte, er ganz zu empfinden, wie sein Herz zum Springen voll Jubel war. Mangold hatte bei der ersten Nachricht von Graham’s Tode es nicht mehr bei der Arbeit aushalten können und den Freund im Geschäftshause aufgesucht, wo eben Winter mit der Ordre abgefahren war, Jeden, der nach ihm frage, erst für den nächsten Tag wieder zu bestellen. Hugo aber hörte von den eifrigen Worten nur die Mittheilung über Winter’s Abwesenheit, die [547] ihm seine vorläufige Entfernung ohne jeden Aufenthalt ermöglichte, und faßte mit einem Drucke des Tischlers Arm, daß dieser in die Höhe zuckte. „Heinrich, kannst Du Dir wohl denken, was aus dem Allem entstehen könnte?“ fragte er im Durchbrechen seines innerlichen Glücks. Der Gefährte hielt seinen Schritt an und sah rasch mit einem gespannten, fragenden Blicke auf; Jener nickte ihm nur mit einem strahlenden Auge zu und zog ihn rasch weiter. „Jetzt komm und packe meinen Koffer, während ich mich nach Graham’s Sachwalter erkundige,“ sagte er, „in einer Stunde aber sollst Du hören, was jetzt noch über mir selbst wie ein Traum, wie eine halbe Unmöglichkeit liegt.“




10. Herzens Prüfung – Rückkehr – Schluß.

„Nun, lieber Meßner, um auf ein bestimmtes Thema zu kommen – es ist morgen Weihnachtsabend, von dem ich mir so manche kleine Genugthuung versprochen – wie steht Ihre Angelegenheit? Ich habe mich auf Ihren Wunsch nun seit sechs Wochen jedes Einflusses auf das Frauen-Departement enthalten; haben Sie selbst etwas erreicht, oder sind Sie zu der Ueberzeugung gelangt, daß im Familien-Regimente Duldsamkeit die schlechteste Politik ist?“

Es war in dem wohldurchwärmten Arbeits-Cabinete des Geheimraths Zedwitz, wo dieser im bequemen Sorgenstuhle, von dem gedämpften Lichte der großen Lampe ans dem Mitteltische beschienen, ruhte, während der Schuldirector ihm gegenüber einen Sitz eingenommen hatte und bei der plötzlichen Frage, welche ein allgemeines Gespräch abgeschnitten, mit dem Ausdrucke einer leichten Unruhe aufsah.

„Sie wissen, Herr Geheimrath,“ begann er zögernd, „daß es mein höchster Wunsch ist, Ihnen einmal als Sohn nahe zu stehen, ich darf Ihnen auch sagen, daß ich seit Kurzem die feste Zuversicht habe, dieses Ziel und damit ein volles Glück für mich zu erreichen; ich möchte Sie aber von ganzem Herzen bitten, lassen Sie jedes Gemüth seinen ihm eigenthümlichen Weg gehen. Es mag sich dabei vielleicht Manches anders ordnen, als Sie es in Ihrem Geiste vorgezeichnet haben; aber wenn es sich nur zum Rechten gestaltet, wenn nur Ihrer Kinder Glück, das ja doch nur der letzte Endzweck Ihrer Sorge und selbst Ihrer Strenge ist, dadurch erreicht wird, so darf Ihnen ja auch der verschiedene Weg recht sein, und ich weiß, daß Sie eine zehnfache Liebe sich damit erwerben müssen. – Geben Sie mir einmal das Recht, Herr Geheimrath, mich so freimüthig gegen Sie auszusprechen, wie es meine Verehrung und aufrichtige Ergebenheit für Sie und Ihre Familie fordern!“ fuhr er angeregt fort. „Es sind sechs Wochen verstrichen, seit ich mich zu dem offenen Geständniß ermuthigte, daß ich mein Sohnesrecht in Ihrem Hause nie in Folge eines ausgeübten Zwanges erlangen möchte, daß Sie mich mit dem Versprechen glücklich machten, ein weiteres, sofortiges Vorangehen in meiner Angelegenheit einzustellen. Trotzdem ist keine Freude in den Familiencirkel gekommen, und die eingetretene Ruhe scheint die Gemüther nur noch mißtrauischer und ängstlicher besorgt um das, was sich daraus entwickeln werde, gemacht zu haben. Morgen ist nun Weihnachtsabend, und wenn ich meinem Blicke trauen darf, wird er unter der jetzigen Stimmung kaum ein freudiger werden. Es ist noch dazu, wie ich durch ein Wort errathen habe, der erste, an welchem der Sohn und Bruder im Familienkreise fehlt. Und dennoch, Herr Geheimrath, würde ein einziges freundliches Wort, das einmal das Herz des Vaters ohne Hülle zeigte, das wenigstens von den Gemüthern die Sorge vor einem gefürchteten Machtspruche nähme, die meine Erscheinung immer von Neuem wecken muß, den Abend so hell machen. Sie sehen, Herr Geheimrath, daß ich jetzt schon lieber Ihr Zimmer aufsuche, als den stillen Blicken, die mich im Zimmer der Großmama treffen, begegne, und morgen möchte ich am wenigsten die Schuld auf mich laden, den Damen durch meine Anwesenheit den Abend zu verderben –“

Zedwitz hatte sich langsam gerade aufgesetzt. „Und bei alledem sagen Sie, daß Sie zuversichtlich hoffen, als Sohn in meine Familie einzutreten?“

„Und ohne einem Herzen damit Zwang anzuthun – wenn auch vielleicht in anderer Weise, als der von Ihnen beabsichtigten, Herr Geheimrath,“ erwiderte Meßner, während seine Wangen sich leicht rötheten. „Wenn ich einiges Vertrauen bei Ihnen genieße,“ fuhr er lebendiger fort, „so lassen Sie mir freie Hand, mein Ziel zu erringen, und sagen der Großmama zwei Worte, daß Sie das einfache Naturrecht jeder Frau, sich zu versagen, auch in Ihrer Familie nicht durch die väterliche Autorität antasten wollen. O, glauben Sie mir doch, Herr Geheimrath,“ setzte er erregt hinzu, als sich eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen des alten Beamten bildete, „daß jede strenge Tugend, jede starre Ueberzeugung in der Ausführung ihrer äußersten Consequenzen zum Unrecht werden kann, und glauben Sie doch auch, daß ein Herz, das niemals die Milde kennen will, auf das beste Glück verzichtet, daß es die treuste Liebe von sich stößt und zuletzt immer einsam in sich selbst versteinern muß. Es ist morgen Weihnachtsabend – denken Sie um unser Aller Glück daran, Herr Geheimrath!“

Der Alte sah den vor ihm Sitzenden mit immer starrer werdendem Blicke an, und auf seiner Stirne bewegte es sich, wie das Kommen und Gehen schwerer Gedanken. Langsam erhob er sich und durchschritt zweimal das Zimmer. Dann blieb er in kurzer Entfernung von dem Sitzenden stehen. „Ich habe immer geglaubt, lieber Freund, wir verständen uns, aber es ist nicht so!“ sagte er mit eigenthümlich ruhiger Stimme. „Ihnen habe ich, so viel mir bewußt ist, noch niemals ein so hartes Herz gezeigt –“

„Herr Geheimrath, eben weil ich den ganzen Reichthum von Wohlwollen, der in Ihnen lebt, kenne,“ unterbrach ihn Meßner, von seinem Stuhle aufspringend, mit bittender Stimme; aber Zedwitz wies mit einem Handwinke seine weiteren Worte zurück.

„– und wo man mich hart hätte nennen können,“ fuhr der Letztere ungestört fort, „habe ich nur Grundsätze festgehalten, die ich ein für allemal zu den Leitern meines Handelns gemacht. Wer aber unter dieser Consequenz, die ein Mann seiner Selbstachtung schuldet, oft mehr gelitten hat, ob ich selbst, den sie hart nennen, oder diejenigen, welche leichtsinnig mit meinen Ueberzeugungen glaubten spielen zu können, wäre erst noch zu entscheiden. – Da ist ein Fall, der tief in unser ganzes Familienleben eingeschnitten hat,“ fuhr er mit verfinstertem Gesichte fort, „der Sie vielleicht belehren kann. Er ist in der letzten Zeit aus seinem Grabe geholt und mir vor die Augen gehalten worden; die das aber gethan, wußten nicht, daß sie damit auch den ganzen beendeten Kampf eines Mannes gegen seine eigene Schwäche, die errungene Gewissensruhe und Klarheit mit sich selbst, aufriefen und ihn in seinen Ueberzeugungen nur kräftigten. Sie werden die trübe Geschichte jedenfalls zu hören bekommen, wenn es sich einmal um meine Charakteristik handeln sollte,“ sprach er mit einem Anfluge von Bitterkeit weiter, „und so gebe ich sie Ihnen lieber selbst in correcter Fassung.“

Er nahm langsam wieder in seinem Armstuhle Platz und drückte, während sich Meßner mit dem Ausdrucke vollen Interesses gleichfalls niederließ, eine kurze Weile die Hand vor die Augen.

„Ich hatte die Dreißig schon zur Hälfte überschritten, als ich den ersten bestimmten Schritt zur Gründung einer Familie that,“ begann er dann, vor sich niederblickend, „ich war ernst, hatte mich ebenso an strenge Pflichterfüllung meinerseits gewöhnt, wie ich sie von Andern fordern mußte, und mochte so für Frauen wenig Anziehendes besitzen. Aber ich wußte, daß die Hand, die ich meinem künftigen Weibe bieten würde, eine feste und zuverlässige war. Ich hatte eine junge Dame aus guter Familie kennen gelernt, ich warb um sie, aber gab mich ihr völlig offen mit den Ansprüchen, die ich an meine Lebensgefährtin glaubte machen zu müssen, und trotz verschiedener Mitbewerber erhielt ich den Vorzug ohne großen Kampf. Ich ahnte wohl, daß meine Stellung und Zukunft ihr bedeutendes Gewicht bei der Entscheidung in die Schale geworfen, aber ich war dennoch glücklich; wußte ich doch, daß eine gegenseitige fest begründete Achtung eine sicherere Garantie für ein dauerndes Glück bietet, als jene Liebe in jungen Herzen, die sich ihrer selbst noch nicht einmal klar sind, und glaubte ich doch bei meinem jungen Weibe auf ein unverrückbares Halten an dem, was Ehre und Gewissen geboten, rechnen zu dürfen.“ Der Sprechende machte eine kurze Pause und fuhr dann nach einem raschen Athemzuge fort: „Da fiel mir nach den ersten beiden Jahren unserer Verheirathung zufällig ein kürzlich angekommener Brief an meine Frau in die Hand – er war von einem ihrer früheren Bewerber, welcher ohne meine eigene Werbung wohl ihre Wahl gewesen sein würde. Ich hatte nur die ersten zwei Zeilen gelesen und gab ihr den Fund mit der ruhigen Bitte zurück, derartige Briefe um ihrer und meiner Ehre willen nicht wieder anzunehmen; aber ich fühlte damals zuerst, daß ich mehr an dieser Frau hing, als ich es meiner Weise zu empfinden selbst zugetraut. Jahre vergingen indessen, ehe mich zum zweiten Male dieselben Schriftzüge aus meiner wieder erlangten [548] Ruhe auftrieben. „Willst Du mir denn alle Erinnerungen nehmen?“ fragte sie mich mit einem fast schmerzlichen Tone auf meine Vorhaltungen, und ich wußte jetzt, daß unsere Anschauungen in Punkten, die für mich die empfindlichsten waren, so weit auseinander liefen, daß sich an eine Zusammenstimmung nie denken ließ, daß mir eben nichts übrig blieb, als meinen Willen zum Gesetz zu machen. Es war der erste Riß, der in unser Familienleben kam, denn es währte lange Zeit, ehe der schmerzliche Kampf in mir endete und die siegende Zuneigung für die Mutter meiner Kinder die zu Tage getretene Dissonanz in den Hintergrund meiner Seele zurückdrängte.“ Der Erzähler machte, wie sich in seinen Gedanken verlierend, eine neue Pause und begann dann mit einem leisen, halbunterdrückten Seufzer: „Es war an einem naßkalten Frühjahrstage, und Helene war erst drei Monate vorher geboren, als mir der kleine Hugo in seiner Kinderweise die Nachricht brachte, daß die Mutter in unserem Gesellschaftsgarten mit einem Officier in fremder Uniform zusammen getroffen sei, und ich wußte in diesem Augenblicke, daß das Glück meines Lebens sein Ende erreicht hatte. Zehn Minuten darauf war ich an dem bezeichneten Orte, den bei dieser Witterung Niemand besuchte, und traf das Paar in ruhigem Gespräche auf einer halb im Bosket versteckten Bank. Ich würdigte ihren frühern Bewerber keines Blicks, reichte der zum Tode erblaßten Frau den Arm und führte sie schweigend weg. Ihre Glieder begannen bald an meiner Seite zu fliegen, sie versuchte zu mehreren Malen mich anzureden, aber in mir war Alles starr und todt, ich hätte, um damit das Leben zu gewinnen, kein Wort für sie finden können. Ich verließ sie am Eingang ihres Zimmers und verschloß mich in das meinige. Am andern Tage ließ sie mir sagen, sie sei krank und müsse mich sprechen – in mir selbst aber war Alles zum Tode krank; ich sandte Mangold nach dem Arzte für sie und wies jede Aussprache zurück. Am dritten Tage sandte sie mir trotzdem eine neue, dringendere Bitte um eine Unterredung – ich vermochte ihr nicht zu willfahren. Ich hätte ihr das für immer zerbrochene Vertrauen, unser ganzes vernichtetes Lebensglück vor die Augen halten, hätte sie um des Leichtsinns willen, dem die Ehre ihres Mannes nichts gegolten, von mir stoßen und mich selbst damit zerfleischen müssen. Ich arbeitete fünf Tage und fünf Nächte meinen Gram mit mir selbst durch, während Mangold meine Thür vor jedem neuen Drängen bewachen mußte; dann aber, als sie in der Hand ihrer herbeigerufenen Mutter und unseres alten Hausarztes aufgehoben war, trat ich eine kurze Reise an, die mich wenigstens wieder arbeitsfähig machen sollte. Zwei Tage darauf ruft mich ein Brief des Arztes zurück, ein Nervenfieber hat sich kurz nach meiner Entfernung bei der Kranken eingestellt. Ich eile Tag und Nacht heimwärts, als ich aber anlange – ist sie todt!“

Der Erzähler erhob sich rasch und machte einen Gang durch das Zimmer; dann trat er an das Fenster und sah eine Weile in die dunkele Nacht hinaus. „Sie äußerten,“ unterbrach er endlich das Schweigen, wieder langsam nach seinem Stuhle schreitend, „daß jede strenge Tugend zum Unrecht werden könne; überlassen wir aber doch die Beurtheilung der Scheidelinie in dem einzelnen Falle dem Gewissen eines Jeden selbst, das meist allein das rechte Zeugniß abgeben kann. So stehe ich, durch tiefe Trübsal zur Klarheit gelangt, vor mir gerechtfertigt, während Andere mich verurteilen mögen. – Doch zu Ihren Angelegenheiten!“ unterbrach er sich, mit der Hand über sein Gesicht streichend, als wolle er dort den Abglanz einer weichen Empfindung, der sich während des Schlusses seiner Erzählung gebildet, verwischen. „Wenn Sie wünschen, von Helenen eine Zurückweisung zu erhalten, so kann ich natürlich nichts dawider haben, sowenig ich Sie auch verstehe,“ fuhr er dann fort; „paßt es in Ihren Plan, so mögen Sie der Mama selbst sagen, daß ich mich um diese Angelegenheit nicht mehr kümmern werde, und wenn damit der Grund fällt, der Sie morgen von uns entfernt halten würde, so soll es mich freuen!“

Meßner machte soeben mit aufglänzendem Gesichte eine Bewegung, die Hände des Geheimraths zu fassen, als sich die Thür öffnete und der alte Mangold mit ungewöhnlicher Hast eintrat. „Der junge Herr Römer läßt dringend nur um eine Minute Gehör bitten, er habe dem Herrn Geheimrath eine wichtige Mittheilung zu machen!“ meldete er, sich kaum die Zeit gönnend, seine gewöhnliche dienstliche Haltung anzunehmen; die Züge des Hausherrn aber erhielten plötzlich wieder einen vollen Ausdruck eisiger Kälte.

„Herr Römer? ich habe von dem Herrn weder eine Mittheilung zu erhalten noch ihn selbst zu empfangen – sagen Sie ihm das!“ erwiderte der Letztere und wollte sich steif abwenden; die buschigen Augenbrauen sammt dem Schnurrbarte des Meldenden begannen aber in so eigenthümliche Zuckungen zu gerathen, daß Jener unwillkürlich den Blick wieder zurück wandte.

„Herr Geheimrath – es scheint wegen derselben Sache zu sein, um die ich an meinen Sohn schreiben mußte,“ versetzte der Alte in halber Scheu, während er einen unbehaglichen Blick nach dem Schuldirector sandte. „Vor kaum einer Stunde ist auch ein Brief von dem Heinrich gekommen, den ich, wegen anderer Sachen darin, an die gnädige Frau Mama gegeben habe – wenn der Herr Geheimrath doch vielleicht – “

Zedwitz hatte mit scharfer Aufmerksamkeit die Augen gehoben, während Meßner discret seinen Platz verlassen und mit einem raschen: „Ich stehe später zu Befehl!“ der Thür zugeeilt war, und wohl eine halbe Minute lang ruhte des Ersteren Blick, wie in einem jäh erwachenden Gedanken, in dem besorgten, treuen Auge des Dieners. „Ich wünschte, Sie hätten mir zuerst diesen Brief gebracht!“ sagte er dann mit leicht zusammengezogenen Brauen; aber Mangold richtete jetzt frei den Kopf auf. „Es waren Sachen darin, die der Herr Geheimrath streng verpönt haben vor ihn zu bringen,“ erwiderte er, „und so hoffte ich, daß vielleicht die gnädige Frau Mama – “

Ein plötzliches Sicherheben des alten Chefs, der einen raschen Gang durch das Zimmer machte, schnitt die fernern Worte ab. „So lassen Sie ihn eintreten!“ sagte der Letztere endlich, wie widerwillig zu einem Entschlusse gelangt, und blieb neben dem Mitteltische, die Hände auf dem Rücken zusammenschlagend, stehen. Zwei Minuten darauf öffnete Fritz Römer die Thür und trat mit sicherm Auge und ruhigem Anstande dem Wartenden entgegen.

„Ich weiß, Herr Geheimrath,“ begann er, „daß Ihrerseits eine Summe in den amerikanischen Obligationen, welche zuletzt im Markte waren, angelegt worden ist. Vor einer Viertelstunde nun habe ich eine sichere Privat-Mittheilung erhalten, die in Bezug auf dieselben Papiere den Ausbruch einer Krisis meldet, welche für den Augenblick den Werth derselben völlig illusorisch macht. Was die Zukunft darin bessern mag, läßt sich noch nicht absehen, in wenigen Tagen aber werden diese Schuldscheine in Deutschland gleich Null stehen. Noch ist es vielleicht für die jetzigen Inhaber möglich, den größten Theil ihres Geldes durch raschen Verkauf zu retten, da die deutschen Agenten sicher möglichst lange die Verbreitung ungünstiger Nachrichten hindern werden, und so hielt ich es für meine Pflicht, Ihnen persönlich die sofortige Mittheilung zu machen, sowie auch im Falle eines schleunigen Handelns mich zu Ihren Diensten zu stellen.“

Zedwitz hatte völlig unbeweglich den Worten gehorcht, und nur die Farbe seines Gesichts war um einen Schatten bleicher geworden. „Ich habe keinen Grund, die Richtigkeit Ihrer Mittheilung, für welche ich Ihnen danke, zu bezweifeln,“ erwiderte er nach einer kurzen Pause kalt und langsam, „von einem Handeln in dem angedeuteten Sinne kann aber jetzt, wo ich von dem Stand der Dinge unterrichtet bin, wo ich wissentlich werthlose Papiere für vollgültige verkaufen müßte, gar keine Rede sein. Was für den Kaufmann in einzelnen Fällen als Schlauheit gelten mag,“ setzte er mit einem leichten Zucken seiner Lippen hinzu, „würde hier die offene Unrechtlichkeit sein, und ich bin also außer Stande, einen mir in dieser Beziehung angebotenen Dienst anzunehmen.“

In Römer’s Gesicht war bei den letzten Worten ein hohes Roth geschossen. „Es ließe sich wohl ein Unterschied zwischen einer nur localen Coursentwerthung und einer thatsächlichen, allgemeinen Werthlosigkeit geltend machen,“ erwiderte er; „ich bescheide mich indessen, Herr Geheimrath, ich war auf unfreundliche Worte gefaßt und bitte nur die Regung, welche mich hierher trieb, zu entschuldigen!“ Er verneigte sich ruhig und verließ das Zimmer. [572] Zedwitz blickte eine Weile starr nach der Thür, durch welche Römer verschwunden, dann lösten sich die verschlungenen Arme; wie von einer plötzlichen Mattigkeit überkommen schritt er nach dem nächsten Stuhle am Tische, setzte sich dort schwer nieder und ließ den Kopf in die aufgestützte Hand fallen. „Er wäre nicht gekommen, wenn er nicht sichere Nachricht hätte,“ Murmelte er nach einer Weile, „aber es wäre doch gräßlich, wenn es sich in dieser Nacktheit bestätigte – wie sollte ich jemals den Kindern dieses verspielte [573] Capital ersetzen? – Verspielt!“ fuhr er sich langsam gerade aufsetzend fort, „das ist der rechte Ausdruck für das, wozu sich dieser alte Kopf hat verlocken lassen, für das, was ein ganzes Leben voll Grundsatztreue zu nichte macht, was den strengen Vater seinen Kindern gegenüber auf die Armsünderbank bringt. Wie soll ich jemals diesen Ausfall decken?“

Sein Kopf fiel von Neuem schwer in die Hand zurück; nach einer Weile aber erhob er sich matt und griff nach einem vielgebrauchten Notizbuche auf seinem Pulte, langsam die beschriebenen Seiten durchblätternd. „Den 6. Januar!“ murmelte er innehaltend, „das ist der Tag, an welchem ich mit dem mir anvertrauten Gelde meinen leichtfertig gegebenen Namen einlösen, mit einer Sünde die andere decken muß – und was soll Meßner sagen,“ unterbrach er sich, während eine verdoppelte Sorge sich auf seine Stirn zu lagern schien, „den ich nicht zurückgehalten, den mein Vorgehen erst ermuthigt und dem jetzt sein gesammtes kleines Vermögen verloren ist?“ Er warf, wie von seiner Erregung übermannt, das Buch auf das Pult zurück und griff nach der Klingel.

„Den Brief von Ihrem Sohne!“ rief er dem eintretenden Mangold zu, sich nach seinem frühern Platze wendend; aber erst nach einem langen stillen Blicke auf das veränderte Gesicht des Chefs verließ Jener das Zimmer wieder.

Es währte eine geraume Weile, eine Weile, in welcher nur ein zeitweiliges Zucken in den Zügen des Dasitzenden verrieth, daß Leben in ihm war, ehe sich die Thür von Neuem öffnete; das rasch aufschauende Auge des Geheimraths aber traf auf die Großmutter, welche mit einem eigenthümlich glänzenden Blicke auf ihn zuschritt.

„Ich denke, ich bringe Ihnen Trost, lieber Sohn, wenn Sie ihn in der gegebenen Weise annehmen wollen!“ sagte sie in hörbarer Bewegung. „Unter allen Umständen aber ist Ihnen durch des jungen Mangold Brief jede besondere Mittheilung an uns erspart. Lesen Sie!“ Sie reichte ihm mit leise bebender Hand ein geöffnetes Couvert und nahm dann einen im Schatten zurückstehenden Sitz ein.

Zedwitz ließ den befremdeten Blick zwei Secunden lang auf der Adresse ruhen, als nehme er nach den gehörten Worten Anstand, sich von dem Inhalte zu unterrichten; dann aber ging es auf’s Neue wie ein nervöses Zucken durch seine Mienen, und langsam entfaltete er den von seinem Umschlage befreiten Bogen. Er las in Heinrich‘s kräftigen Schriftzügen:

„Herzlieber Vater!

Ob uns Dein lieber Brief nicht einen teufelmäßigen Schrecken eingejagt hat! dem Hugo natürlich am allermeisten, denn Du weißt ja, wie er trotz aller erlittenen Ungerechtigkeit an seinem Vater hängt. Die Papiere nämlich, welche in Deinem Briefe bezeichnet sind, wären wohl ganz gut, wenn nur nicht hier beim Ausstellen derselben ein ungeheurer Schwindel damit getrieben worden wäre, der ihnen wohl für eine lange Zeit, bis nämlich die deshalb angestellte Untersuchung zu Ende ist, allen Werth nehmen muß. Und wie es nachher werden wird, weiß auch noch Niemand, wenn auch Viele sagen, daß die Stadt doch zuletzt für alle durch ihre rechtmäßigen Beamten ausgestellten Schuldscheine aufkommen müsse. Der eine von diesen Beamten hat sich schon im Gefängnisse erhängt.

Nun glaubt aber Hugo bestimmt, daß er durch die besondere Kenntniß, die er von den ganzen Verhältnissen hat, seinen Vater schadlos halten könne, wenn dieser nur einen solchen Dienst von ihm annehmen wolle – da sitzt aber eben der Haken. Wir meinen hier vielleicht einen ganz gescheidten Streich auszuführen, wenn wir das Geld retten, und verdienen uns zuletzt noch Teufels Dank damit; denn Hugo, obgleich er sich heute noch für seinen Vater in Stücke schneiden ließe, meint dennoch, daß der alte Herr wohl lieber das letzte Hemde opferte, als sich von seinem verstoßenen Sohne einen Gefallen thun lasse. Gott weiß es, Vater, Du bist nur Büreaudiener, aber ich möchte Dich doch nicht tauschen gegen einen noch zehnmal größern Geheimrath mit einem so eiskalten Herzen.

Indessen meinte nun Hugo, daß sein Vater wohl nicht allein unter dem Schlage zu leiden haben würde, daß der Hauptverlust wohl auf seine Schwestern fallen müsse, und so könne es wohl möglich sein, daß er die Erlaubniß erhielte, für diese die nöthigen Schritte zu thun. Zu seiner eigenen Sicherheit aber werde er dennoch eine Vollmacht des alten Herrn haben müssen. Es ist also wohl das Beste, lieber Vater, Du gehst zu der Großmutter, die Gott mit ihrem lieben Herzen segnen möge, und sagst ihr Alles; sie wird am Besten wissen, was zu thun ist. Kann sie die Vollmacht erlangen, so verspricht Hugo, daß nicht ein Pfennig von dem Betrage der Papiere, die in Deinem letzten Briefe verzeichnet waren, verloren gehen soll; diese Vollmacht aber soll nach Frankfurt, an das untenbezeichnete Kaufmannshaus gesandt werden, von wo sie ihm richtig zugehen wird – er ist heute von hier abgereist, und ich selbst muß erst aus Nachricht warten, ehe ich weiß, wo er sich befindet.

Im Uebrigen, lieber Vater, bin ich wohl und habe mein gutes Auskommen, und ich will Dir nur noch sagen, daß, wenn ich Dir einmal unerwartet anzeigen sollte, daß ich mich verheirathet habe, Du nicht zu erschrecken brauchst.

Dein getreuer Sohn     
Heinrich Mangold.“

Lange saß der Geheimrath, den Blick auf das Schreiben gerichtet; seine Augen schienen an einzelne Stellen gebannt zu sein, die er wieder und immer wieder überlas; da legte sich endlich kaum fühlbar eine Hand auf seine Schulter.

„Nicht wahr, lieber Zedwitz,“ klang die milde Stimme der Großmutter, „Sie lassen den Sohn wieder gut machen, was er gegen den Vater durch sein unbesonnenes Davongehen gesündigt haben mag? Sind wir trotz unserer Gerechtigkeit nicht allzumal Sünder und bedürfen der Vergebung?“

Der Geheimrath preßte die Lippen wie im Unterdrücken einer gewaltigen Bewegung auf einander, erhob sich und machte einen raschen Gang durch das Zimmer. Dann blieb er vor der alten Dame stehen und blickte zwei Secunden lang in ihre bewegten Augen. „Ich habe hier nichts mehr zu entscheiden,“ sagte er mit hörbarer Anstrengung, „es handelt sich um die Mädchen und um Meßner; aber,“ setzte er hinzu, die Hand wie besiegt nach ihr ausstreckend, „– ich werde die Vollmacht abschicken!“ – –

Als die Großmutter ihr Zimmer verlassen gehabt, waren dort die beiden Schwestern und der Schuldirector zurückgeblieben; Helene aber hatte sich unmittelbar darauf erhoben, um in dem Nebenzimmer zu verschwinden.

„Sie mögen Ihrer Fräulein Schwester mittheilen, was ich unter dem Eindrucke von Mangold’s Brief nicht zu sagen vermochte,“ begann Meßner, der Entschwundenen einen Blick nachsendend, „daß meine Gegenwart sie nicht mehr beunruhigen darf, daß der Papa ihr die volle Freiheit mich zurückzuweisen giebt, wenn ich ihr jemals dazu Anlaß geben sollte, und daß er sich überhaupt um diese mißverstandene Werbung meinerseits nicht mehr kümmern wird. Er hat mich autorisirt, dies der Großmama mitzutheilen.“

Marie hatte langsam die großen Augen von ihrer Arbeit gehoben, und eine leichte Blässe breitete sich über ihr Gesicht aus. „Indessen,“ fuhr Jener fort, seinen Blick in den ihren senkend, „habe ich diese Zusage nur durch eine Hinterlist erhalten können, ich habe von meiner sichern Hoffnung gesprochen, trotz Helene’s Weigerung ein Sohn des Hauses zu werden – halt, Marie!“ unterbrach er sich und sprang, als das Mädchen, von einem glühenden Roth übergossen, sich von ihrem Sitze erhob, nach ihrer Hand fassend aus, „ich habe Ihre Bedingung erfüllt, jetzt halten Sie ehrliches Spiel!“

Sie stand mit zitterndem Blicke vor ihm, aber ihre Hand machte keinen Versuch sich der seinigen zu entziehen. „Denken Sie denn nicht daran, daß wir arm geworden sind? daß der Vater sich niemals zu Hugo’s Schuldner machen wird?“ fragte sie, während plötzlich die Thränen in ihre Augen schössen. Er aber umschloß ihre Hand nur fester.

„Und bin ich es nicht geworden?“ fragte er drängend. „Jetzt, gerade jetzt spreche ich zu Ihnen, damit nie wieder der Schatten einer Mißdeutung zwischen uns falle. Antworten Sie mir, Marie –“

„Jetzt nicht, jetzt nicht!“ unterbrach sie ihn fast ängstlich, während sich dennoch ihre Hand fest um die seinige schloß, „noch ist das hereingebrochene Unglück nicht einmal abzusehen; aber,“ setzte sie mit leichtem Stocken hinzu, während sich ein verklärendes Lächeln über ihre reinen Züge breitete, „ich denke, die Zeit der Mißdeutungen ist vorüber! Lassen Sie mich Helenen Ihre Nachricht bringen!“ Und wie erst jetzt von einer zurückgedrängten Befangenheit übermannt, befreite sie ihre Hand von der seinigen und eilte aus dem Zimmer. Meßner schaute ihr in stillem, glücklichem Sinnen nach. „Und ist es denn nicht wirklich so, daß das Weib das veredelnde Princip im Menschengeschlechte ist?“ murmelte er endlich; „wohin wäre ich vielleicht gerathen, ohne sie?“


[574] Am nächstfolgenden 5. Januar Abends saßen in dem ersten Hotel der alten Stadt zwei junge Männer in einem Privatzimmer, die soeben geöffnete zweite Flasche Wein vor sich.

Zwei Stunden vorher war der Eine von ihnen erregt hereingestürzt und hatte sich mit einem: „Hugo! ist es denn möglich?“ dem bereits Anwesenden an die Brust geworfen. Nach den ersten stürmischen Begrüßungen aber hatte er lachend vor innerer Freude und mit immer wieder unterbrochenen Fragen, was den Freund nach Deutschland zurückgeführt, diesen bei beiden Schultern gefaßt und ihn betrachtet, als könne er noch kaum an die Wirklichkeit glauben. Und der Andere hatte endlich mit einem Lächeln voll Glück seinen Gast nach dem Sopha zu einem ruhigen Gespräch geführt.

„Was mich hierhergebracht hat, Fritz?“ begann er. „Zuerst einmal meine Frau, welche in dem großen Lande, wo der Dollar König und der Schwindel Minister ist, nicht mehr auszudauern vermochte –“

„Deine Frau? Deine – Hugo Zedwitz’s Frau?“ unterbrach ihn Römer mit weit aufgerissenen Augen; aber Jener winkte ihm hastig Ruhe.

„Um Gotteswillen, schrei’ meinen Namen nicht in die Welt hinaus,“ lachte er, „es darf vor morgen Niemand eine Ahnung davon erhalten. Ich bin hier als Bevollmächtigter eines Frankfurter Hauses, um von meinem Vater das Geld für eine Anzahl amerikanischer Papiere, die er gekauft, in Empfang zu nehmen, und bin auf morgen, den Verfalltag seines Wechsels, bei ihm angekündigt – natürlich ohne Namensnennung. Daß diese Papiere im Augenblicke aber keinen Pfennig werth sind, wirst Du wissen, und ich habe es zugleich ermöglicht, meinen Vater für seinen Verlust schadlos zu halten, was bei derselben Gelegenheit abgemacht werden soll. So werde ich also in geschäftlicher Eigenschaft vor ihn treten können, was mir unter meinem einfachen Namen kaum gelingen würde.“

Römer schüttelte aufgeregt den Kopf, lachte und rieb sich die Hände. „Ich verstehe, was Du sagst, und verstehe doch auch wieder kein Wort davon. Verheirathet – Bevollmächtigter – Schadloshalten, wo es hoch in die Tausende geht – hier in Deutschland, wo Dich jeder Gedanke über dem Meere sucht –“

„Sollst bald genug die Lösung mit Händen greifen können!“ lachte Hugo mit dem vollen Ausdrucke der Genugthuung, welche ihm die Scene bieten mochte. „Jetzt vor allen Dingen aber berichte, was hier vorgegangen ist und wie es in meines Vaters Hause steht!“

Und zwei Stunden waren mit gegenseitigem Erzählen, Fragen und Erklären verstrichen; oft waren die Gläser aneinander geklungen oder die Hände hatten sich in stillem Drucke vereinigt, als Hugo, der mit seinen Mittheilungen bis zu dem entscheidenden Morgen gelangt war, welcher die Geliebte an seine Brust gelegt, den abgerissenen Faden wieder aufnahm: „Ich hatte Jessy nach einem vorläufigen Asyl zu einer Familie ihrer Bekanntschaft in Philadelphia gebracht und war mit einer unbeschränkten Vollmacht von ihr zurückgegangen. Der Advocat, den ich mit Wahrung ihrer Interessen bei unserer Abreise betraut, hatte das ihr eigenthümlich gehörende Vermögen bereits von der ganzen Nachlaßmasse ihres sogenannten Mannes trennen und sicher stellen lassen; auf das Uebrige aber hatte vorläufig das Gericht Beschlag gelegt. Der Selbstmord Graham’s indessen, welcher durchaus nicht seiner Schuld, sondern seiner ruinirten Geschäftsehre zugeschrieben wurde, hatte auf die ganze Geschäftswelt einen gewaltigen Eindruck gemacht; dazu kamen die Nachrichten, daß in Folge des Untersuchungs-Spectakels der städtische wie Privat-Credit unserer Handelswelt in New-York einen gefährlichen Stoß erlitten habe, und in wenigen Tagen hatte sich die gesammte amerikanische besitzende Classe zu einer so mächtigen Reaction vereinigt, daß „aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt“ jede weitere Verfolgung des stattgefundenen Schwindels sistirt werden mußte. Selbst Marquart, den ich einmal traf, kratzte sich in den Haaren und sagte, so eine verfluchte Geschichte sei nur in Amerika möglich, er sehe aber ein, daß es nicht anders gehe. – Vor diesem Rückschlage indessen hatte ich an meinen frühern Prinzipal, mit dem ich eine mündliche Erörterung nur im äußersten Nothfalle hätte herbeiführen mögen, geschrieben, hatte ihm seine wissentliche Theilnahme an Graham’s Betrug durch Mittheilung der Nummern, unter welchen mein Vater seine Obligationen gekauft, Nummern, welche ich selbst als zum zweiten Male verkauft in das Copirbuch eingetragen hatte, nachgewiesen und forderte eine sofortige Schadloshaltung meines Vaters, wenn ich nicht die Angelegenheit dem Untersuchungs-Committee übergeben solle. Umgehend erhielt ich eine Anweisung an seinen Frankfurter Agenten, die Papiere, welche durch ein Versehen unter unrichtigen Nummern ausgegeben worden seien, zurückzunehmen und den Betrag wieder zu erstatten – aber nicht ein einziges Wort von ihm außerdem.

Graham’s Vermögen, welches nach dem Heiraths-Contracte an Jessy fallen sollte, sobald bei seinem Tode keine Kinder vorhanden seien, war nun freigeworden; ehe es aber völlig festgestellt werden konnte, rief mich Jessy zurück. Sie verlangte in ihrem Briefe fort aus Amerika mit mir und wollte von Graham’s ganzer Hinterlassenschaft nichts wissen. Bevor ich indessen wieder bei ihr eintraf, mochten ihre zeitweiligen Schützer, denen sie volles Vertrauen gegeben, sie andern Sinnes gemacht haben. Sie trat das ganze bedeutende Vermögen, „als Anerkennung der vielfachen Dienste, welche ich ihr geleistet“, an mich ab, und wollte ich es nicht aus einem übertriebenen Zartgefühle in fremde Hände gerathen lassen, so mußte ich es schon annehmen. Ich gönnte mir nur die Zeit, um die nöthigsten Dispositionen darüber zu treffen, dann wurde sie vor dem Altare mein Weib – mich, sagte sie, dürfe sie nicht durch einen nüchternen Friedensrichteract zum Gefährten erhalten – und am nächsten Tage traten wir die Reise nach Europa an.“

„Und von dem armen kleinen Mädchen, das Du so kalt von Dir gewiesen – Carry, wie Du sie nanntest – hast Du nichts wieder gehört?“ fragte Römer nach einer Pause sinnend.

Hugo blickte lächelnd in den rubinfarbigen Inhalt des Glases vor sich. „Sie ist nicht unglücklich geworden, wenn ihr auch anfänglich das Schwinden ihrer ersten Illusion einige Thränen gekostet haben mag,“ erwiderte er. „Jessy hatte von Philadelphia aus an sie wie an die Mutter geschrieben und mit Angabe dessen, was ihr für immer ihres Vaters Haus verschließen werde, Abschied von Beiden genommen; zugleich hatte sie ihr künftiges Verhältniß zu mir angedeutet. Nur von Carry war eine Antwort zurückgekommen, ein voller Ausdruck ihres warmen, leidenschaftlichen Herzens. Sie segnete Jessy, daß sie mich glücklich machen werde; sie wollte schon bei dem ersten Zusammentreffen, welches ich mit der damaligen Mrs. Graham auf der Farm gehabt, meine Gefühle für diese errathen haben, und bekannte der glücklichen Schwester, daß gerade diese vorausgesetzte unglückliche Liebe in ihr ein lebendigeres und wärmeres Interesse für mich erweckt habe, als es wohl ohne diesen Anlaß entstanden wäre, daß es ihr bei Winter’s geschäftlichen Plänen mit mir geworden sei, als müsse sie mir Ersatz leisten für das, was ich in Jessy verloren, und daß sie sich jetzt eben nur in dem Gedanken tröste, daß ich mein eigentliches und bestes Glück erlangt. Und getröstet hat sie sich jedenfalls ziemlich schnell, denn kurz vor unserer Abreise von Philadelphia erfuhren wir, daß Winter sein Geschäft geschlossen, mit der ganzen Familie sammt dem alten Henderson nach New-York gegangen sei, um sich dort niederzulassen, und daß Carry ihrem ganzen Auftreten nach verspreche, eine bedeutende Rolle in den Salons der „Upper tens“ zu spielen. – Diese Mittheilung erinnerte mich zugleich an meinen versäumten Abschied von Henderson; aber Jessy hatte Recht, es war besser so, der Friede seiner alten Tage mußte gestört werden, wenn sein mühsam festgehaltener Glaube au den langjährigen Brodherrn durch meine Erklärungen erschüttert worden wäre.“

„Und nun, Du tausendmal glücklicher Mensch, wo ist Deine Frau?“ rief der Freund aufblickend, „warum hast Du sie nicht hier, um sie zur rechten Zeit der Großmutter und Deinen Schwestern zuzuführen?“

Hugo schüttelte den Kopf, und ein Ausdruck von Sorge lagerte sich auf seiner Stirn. „Weiß ich denn schon, wie Alles hier gehen wird?“ erwiderte er. „Ich gestehe Dir, daß ich jetzt erst das gewagte Spiel erkenne, welches ich in Bezug auf meinen Vater unternommen habe. Wenn er das Gefühl, welches die Geldangelegenheit zum Vorwand genommen hat, um mir Zutritt in’s elterliche Haus zu verschaffen, mißversteht, sich wohl gar durch die Komödie, welche mich ihm als Inhaber seines Wechsels vorstellt, beleidigt fühlt und mich nach Beendigung des Geschäfts kalt zur Thür hinaus complimentirt – und er ist dessen fähig! so habe ich mehr verloren als jemals. Dazu kommt aber noch, Fritz, daß ich seine ausgeprägte Abneigung gegen Dich nur in Deiner Freundschaft für mich suchen kann – sie wäre sonst völlig unnatürlich! und daß, [575] wenn mir das Glück meinen frühern Platz in der Familie wieder schenken sollte, ich diesen niemals einnehmen könnte, wenn Dir nicht zugleich volle Gerechtigkeit würde. – Laß die Redensarten!“ unterbrach er sich bei einer lebhaften Bewegung Römer’s, „ich sage nur, was um Deinet- und Helene’s willen unverrückbar fest in mir steht. Du siehst also, daß es noch zu früh für eine Einführung meiner Frau ist. Sie lebt bis zur nächsten Ordnung meiner Angelegenheiten bei ihrer Schulfreundin, der Tochter des amerikanischen Gesandten in Berlin.“

Römer trank rasch sein Glas aus und wühlte dann mit der Hand in seinen Haaren. „Und wenn nun Alles glücklich gehen sollte,“ begann er endlich, wie von einem Gedanken gequält, „willst Du dann nur den reichen Mann spielen und allenfalls Naturwissenschaften oder dergleichen daneben treiben?“

Der Andere schüttelte lächelnd den Kopf. „Wenn Alles glücklich gehen sollte, Fritz,“ erwiderte er, „so soll mein Vater einen Sohn haben, der ihm zur Zufriedenheit lebt. Ich habe drei Wochen lang den Anfang zum Kaufmann gemacht und erst da recht empfunden, wie das Fach, dem sich der Mensch von Jugend auf gewidmet, in Fleisch und Blut übergeht. Nachdem ich mich schon von Hamburg aus durch den amerikanischen Gesandten versichert, daß niemals in Berlin eine Untersuchung gegen mich anhängig gemacht worden sei, war dort mein erster Gang zu meinen früheren Chefs, und ich habe durch sie die Hoffnung erhalten, daß mein Wiedereintrit in meine frühere Stellung sich arrangiren lassen wird. Geschieht dies, Fritz, so werde ich meinen Ehrgeiz in den Erfolgen, welche mein ursprünglicher Beruf zu bieten vermag, suchen, und Jessy wird schon sorgen, daß ich meine Nebenstudien, in denen ich doch nie über den Dilettantismus gelangt wäre, nicht mehr zu meiner Erholung bedarf. Ihr aber habe ich zu gleicher Zeit zu zeigen, daß ich mehr zu sein vermag, als nur „der Mann meiner Frau“. Gott helfe mir, Fritz, daß sich Alles zum guten Ende gestaltet!“

„Gott helfe es!“ wiederholte Römer unter einem liefen Athemzuge und faßte mit kräftigem Drucke beide Hände des Freundes. – –

Am nächsten Morgen um 10 Uhr trat Mangold mit einem wunderlichen Zucken der buschigen Augenbrauen in das Zimmer des Geheimraths; zweimal schien er vergebens zum Sprechen anzusetzen, bis er endlich, jeden Zug seines Gesichts steif anspannend, meldete: „Der Bevollmächtigte aus Frankfurt wünscht sich vorstellen zu dürfen!“

Zedwitz sah ruhig von seinem Arbeitspulte auf und neigte dann langsam den Kopf. „Lassen Sie ihn eintreten!“ sagte er und öffnete zugleich einen kleinen Schrank vor sich, eine Anzahl Packete Cassen-Anweisungen daraus entnehmend. Aber er konnte den halben Seufzer, welcher dabei unwillkürlich seine Brust hob, nicht ganz unterdrücken, und auf seiner Stirn schien sich sein früherer Gedanke: die eine Sünde mit der andern bezahlen! wie eine trübe Wolke zu lagern.

Als sich die Thür von Neuem öffnete, erhob er sich und schritt nach dem Mitteltische; im nächsten Momente aber wich die Farbe aus seinem Gesichte, und seine Züge nahmen einen Ausdruck völliger Starrheit an – er hatte den Sohn erkannt, der wie in Ungewißheit mit sich selbst am Eingänge stehen geblieben war.

„Ich bin hier als Dein eigener Bevollmächtigter, Vater,“ begann dieser nach einer kurzen Pause, und seine Stimme bebte trotz des sichtlichen Bemühens seine Erregung nieder zu halten; „ich bringe Dir Deinen Wechsel und habe dagegen nur die entwertheten Papiere in Empfang zu nehmen. Da es mir schon kurz nach dem Abgange von Heinrich’s Briefe möglich wurde die Angelegenheit zu ordnen, so beschleunigte ich meine Reise nach Europa, um Dich möglichst rasch Deiner Ungewißheit zu entreißen.“ Er faßte nach seinem Portefeuille, zog daraus das verpflichtende Papier des Geheimraths hervor und legte es, einige Schritte vortretend, auf den Mitteltisch.

Zedwitz hatte sich nicht gerührt, und erst Hugo’s Herantreten schien ihm wieder die Fähigkeit zur Bewegung zu geben. Wie mechanisch wandte er sich nach demselben Schränkchen, welches das Geld geborgen, entnahm ihm die gekauften Obligationen und legte sie, wieder in seine starre Haltung zurückfallend, neben seinen eigenen Wechsel. Hugo schob den Letzteren von sich und brach die Geldpapiere, ohne sie nur zu betrachten, mit einer krampfhaften Handbewegung zusammen; dann hob er langsam den zitternden Blick, ihn einige Secunden in dem unbeweglichen Auge des vor ihm Stehenden haltend. „Soll ich wieder gehen, Vater?“ fragte er, und in seinem gedrückten Tone klang die ganze Macht seiner herausdrängenden Bewegung. Zedwitz stand noch immer regungslos, und nur in seinen Mundwinkeln begann sich ein kaum merkbares nervöses Beben geltend zu machen. „Was ich auch gesündigt haben mag, Vater,“ fuhr der Erstere fort, während eine aufsteigende Thräne in seinem Auge zitterte, „es ist gegen das Wissen meines Herzens geschehen, und was meine unüberlegte Flucht äußerlich angerichtet, bin ich im Stande wieder gut zu machen – ich komme von meinen frühern Chefs in Berlin, Vater –“ Seine Stimme schien ihm zu versagen; jetzt aber schien auch in dem Gesichte des Geheimraths ein zurückgehaltenes Etwas zum Durchbruch kommen zu wollen, die bebende Bewegung um seinen Mund ward stärker, in seine Augen begann ein feuchtes Leben zu treten – „Vater!“ rief Hugo, nach der Hand des alten Mannes fassend und den hervorstürzenden Thränen nicht mehr gebietend; Zedwitz aber schien mit einer einzigen Anstrengung seine volle äußerliche Ruhe wieder erlangt zu haben, wenn auch sein Gesicht wie von einem Sonnenstrahle belebt erschien. „Komm!“ sagte er, und faßte den Arm des jungen Mannes, ihn mit sich aus dem Cabinet führend.

Sie schlugen schweigend den Weg nach dem Zimmer der Großmutter ein; der erste Blick durch die geöffnete Thür in die gespannten Gesichter der dort Versammelten aber zeigte, daß Hugo’s Ankunft bereits verrathen worden war.

„Hier ist er!“ sagte der Geheimrath eintretend, „er hat Wort gehalten und ist selbst gekommen, um wieder gut zu machen!“ und wie unter einem erlösenden Worte fuhren die beiden Mädchen in die Höhe. Als aber Hugo in ihren Armen auf die alte Dame, die ihm die Hände entgegenstreckte, zueilte, wandte sich Zedwitz nach dem bei Seite getretenen Meßner. „Holen Sie Ihr Geld von mir, Freund, er hat es mit dem meinigen gerettet!“ sagte er und trat, als wolle er den Ausdruck seines Gesichts nicht zeigen, an’s Fenster, der Stube den Rücken kehrend.

Bald indessen halte sich Hugo den Umschlingungen und Fragen der Frauen entzogen und wandte sich wieder nach dem Geheimrathe.

„Wenn ich volle Absolution erhalten soll, Vater, so drängt mich mein Gewissen erst noch zu einer Beichte!“ sagte er, und langsam drehte sich der Angeredete mit wieder leicht umwölkter Stirn nach ihm. Der glückliche Ausdruck von Hugo’s Gesicht indessen schien ihn von einer aufgestiegenen unbestimmten Sorge sichtlich zu befreien. „Ich muß in dieser ersten Stunde sogleich die Ursache bekennen, welche mich nach Amerika getrieben hat, da sie für mein ganzes Leben verhängnißvoll geworden ist!“ fuhr der junge Mann fort. „Es war nicht die Furcht vor der Untersuchung, Vater, denn ich war zur Rückkehr nach Berlin entschlossen – es war eine tiefe Leidenschaft für eine junge, hochgestellte Dame, die ich bereits in der Schweiz mit ihren Angehörigen getroffen und um deren willen auch allein mein unglückliches Rencontre mit dem Russen sich ereignete. Als ich Berlin verlassen, sandte sie mir durch dritte Hand die Bezeichnung ihrer Heimath als Wink für ein Asyl nach, sie war eine Amerikanerin aus reicher Familie und – alle näheren Erklärungen später, Vater – sie ist jetzt meine Frau!“

Trotzdem das letzte unerwartete Wort fast wie ein elektrischer Schlag auf die Frauen zu wirken schien, so äußerte sich die Ueberraschung doch nur durch ein rasches, fast ängstliches Aufsehen nach dem Gesichte des Hausherrn; dieser aber öffnete nur die Augen etwas größer und schien einen plötzlich entstandenen Gedanken zu verfolgen.

„Und hatte das Vermögen dieser jungen Dame etwas mit der Zurückgabe meines Wechsels zu thun?“ fragte er nach einer kurzen Pause, während seine Stirn sich wieder leicht faltete.

„Nichts, nichts, Vater, nur die Verbindungen, zu denen ich durch sie gelangte!“ rief Hugo eifrig; „der Schuldige hat allein Deine Schadloshaltung bewirkt, und ich werde es Dir beweisen!“

„So!“ ließ der Geheimrath nach einer neuen Pause hören. „Und trotz dieser veränderten Lage, die ich als gesichert für Dich voraussetze, willst Du in Deine frühere Carriere wieder eintreten?“

„Ich habe es gestern meinem Freunde Römer zugeschworen,“ rief Hugo in voller Herzlichkeit, seines Vaters Hand fassend, „daß ich für Alles, was in der Vergangenheit mir auch zur Last fallen mag, Dir volle Genugthuung durch meine Zukunft schaffen [576] werde – Du sollst nicht lange auf mein nächstes Examen zu warten haben!“

Ueber des Geheimraths Züge breitete sich zum ersten Male eine volle, heitere Zufriedenheit aus. „So werde ich allerdings gegen diesen letzten Streich keinen Einspruch erheben dürfen, und Du wirst ihn gegen die Großmutter und Deine Schwestern zu verantworten haben!“ sagte er, und der junge Mann sah sich plötzlich wieder in den Armen der aufathmenden Mädchen, die ihrer Ueberraschung in zehn sich durchkreuzenden Fragen Luft machten.

„Aber, mein Gott, eine Amerikanerin!“ rief die alte Frau in komisch kläglichem Tone dazwischen, „so wird man ja nicht einmal mit ihr reden können!“

„O, sie lernt bereits Deutsch,“ erwiderte Hugo mit dem vollen Ausdrucke seines Glückes, der Sprecherin Hände fassend, „und ich weiß, daß Du sie so lieb haben wirst, Großmütterchen, wie nur Deine eigenen Enkel –“

„Und damit ist die Beichte zu Ende?“ unterbrach ihn Zedwitz fast launig.

Hugo wandte sich wieder dem Fragenden zu, und in sein Gesicht trat eine Art weicher Ernst. „Noch ein einziges Wort, Vater, wenn ich ganz ruhig werden soll!“ sagte er fast bittend. „Ich erwähnte vorhin Römer’s – hast Du ihm einen bestimmten Vorwurf zu machen, der ihm Euer Haus verschließen muß?“

Ueber die klare Stirn des Hausherrn ging plötzlich eine Wolke; er neigte langsam den Kopf und schien einen Gang nach der Thür beginnen zu wollen; im gleichen Augenblick aber hatte sich auch die Großmutter in jugendlicher Lebendigkeit erhoben. „Halt, lieber Zedwitz,“ sagte sie, die Hand auf seinen Arm legend, „dies ist eine von Gott gesandte Stunde des Segens und der Versöhnung, von der wir Niemand mit kaltem Herzen ausschließen sollten. Und zudem steht vielleicht Manches anders, als Sie selbst wissen. – Komm her, Hugo, und laß Dir hier unsern Freund, den Regierungsrath Meßner, vorstellen, was ohnehin bereits hätte geschehen sollen,“ wandte sie sich nach dem Enkel, während der Letztgenannte, welcher, in eine Ecke hinter die Mädchen zurückgezogen, die Familienscene beobachtet, sich überrascht von seinem Sitze erhob; „hier aber ist Deine Schwester Marie, und wenn ich Dir sage, daß Du heute unwissentlich aus Beiden ein glückliches Paar gemacht hast, das jetzt nicht mehr zögern wird, sich dem Vater zu entdecken, so darfst Du der Großmutter glauben, die im Geheimnisse ist!“

Marie hatte aufschreckend und mit Purpur übergossen ihr Gesicht an der Schulter der Sprecherin geborgen, während Meßner in sichtlicher Bewegung dem jungen Manne die Hand mit einem: „Es war mir noch nicht vergönnt, Ihnen zu danken!“ entgegenstreckte; der Geheimrath indessen sah mit gehobenem Kopfe bald auf den Hausfreund, bald nach dem Mädchen in den Armen der Großmutter, und ein plötzliches Verständniß schien in ihm aufzugehen; dann blickte er wie sinnend nach Helenen, die in peinlicher Spannung jede Veränderung in seinen Zügen zu beobachten schien. „Das heißt also nach allen Seiten hin außer Activität gesetzt,“ begann er endlich. „Sie hatten carte blanche von mir,“ wandte er sich an Meßner, „und so ist hier gar nichts mehr zu sagen; im Uebrigen aber soll die Mama Recht haben,“ fuhr er mit einer leichten Bewegung in seiner Stimme fort, „ich will heute nicht undankbar sein, und so bringe Deinen Freund, Hugo, wenn Dir soviel daran gelegen ist –!“

Helene war mit einem unarticulirten Ruf bei seinen letzten Worten aufgefahren und warf sich an seinen Hals, seine weitere Rede abschneidend; zugleich aber hatte ihn auch schon Marie umschlungen, während die Großmutter mit einem aufglänzenden Ausdrucke von Genugthuung, der ihre Züge um zehn Jahre verjüngte, nach seiner Hand faßte; Hugo sah sich plötzlich allein, und von einem raschen Gedanken berührt, wandte er sich nach der Thür, von wo ihm indessen das Gesicht des alten Mangold, dessen Eintritt Niemand wahrgenommen, unter zwei großen, langsam in den grauen Bart rollenden Thränen entgegenblickte. „Und so wird Alles noch gut, Herr Referendar,“ sagte der Alte, „wie geht es aber meinem Heinrich?“

„Er ist auf dem rechten Platze und wird seinen Weg machen, wo wir Menschen von der Feder ganz ruhig zu Grunde gehen können,“ erwiderte der junge Mann, dem alten Diener kräftig die Hand schüttelnd. „Sie sollen noch des Ausführlichen von ihm hören – jetzt aber, Mangold, helfen Sie mir, den Tag vollständig zu machen; gehen Sie zu Römer und sagen Sie ihm, daß er sich Mittags hier zu Tische einfinde – sagen Sie nur, es sei Alles in Ordnung!“


Wenige Jahre sind seit den hier erzählten Ereignissen verstrichen, deren Mittheilung der Verfasser einer der betheiligten Personen verdankt, und es ist ihm nur noch verstattet, denselben einige leichte Ergänzungen hinzuzufügen.

Unter denjenigen Berliner Cirkeln, zu welchen der sich in der Residenz aufhaltende Amerikaner am liebsten Zutritt gewinnt, ist der einer jungen Landsmännin, welche mit eigenthümlichem Takte den deutschen und transatlantischen Ton zu vermitteln, die elegante, unabhängige Amerikanerin mit dem vollen Gemüthe der deutschen Frau zu vereinigen weiß, einer der gesuchtesten. Neben dem Elemente der fremden Gäste aber bildet dort unter den Männern eine gewählte Zahl von Vertretern heimischer Wissenschaft und Literatur einen Haupttheil der Gesellschaft und findet einen zweiten Mittelpunkt in der ebenso liebenswürdigen als geistreichen Schwägerin der Hausherrin.

In dieser letzteren aber haben wir Jessy vor uns, welche Hugo’s Befürchtung, daß ein erwachendes Heimweh ihr gemeinsames Glück trüben werde, völlig vernichtet hat und neben ihrem häuslichen Kreise den ihr beschiedenen Reichthum nur durch eine alljährliche mehrwöcheittliche Reise mit ihrem Manne genießt. Hugo erwartet seine Beförderung zum Gerichtsrath.

In der zweiten jungen Frau aber treffen wir auf Marie, deren Mann in das Cultus-Ministerium versetzt worden, und die in rasch entstandener Zuneigung sich eng an die neue Schwester angeschlossen hat.

Der Geheimrath ist noch in seiner frühern Stellung, aber eine seltsame Aenderung scheint in seinem Charakter vorgegangen zu sein – es wird ihm trotz der vielfachen Besuche seiner Kinder zu einsam, besonders da die Großmutter den größten Theil ihrer Zeit dem „Nesthäkchen“, der glücklichen Frau Römer, und deren beiden kleinen Sprossen widmet; er beabsichtigt stark, sich pensioniren zu lassen und mit dem alten Mangold nach Berlin, dem Schauplatz der jugendlicheren Tage Beider, zu seinen übrigen Kindern und Enkeln zu ziehen.

Heinrich lebt in Cincinnati und ist durch ein kleines Capital seines frühern Gefährten in den Stand gesetzt worden, Miteigentümer eines Möbellagers zu werden. Hugo und Römer haben bereits die Einladung zur Taufe eines dritten „echten Thüringers“ erhalten. Er möchte gern seinen „Alten“ zu sich hinüber holen, wozu dieser aber unter keinen Umständen seine Einwilligung geben zu können meint.

Von Carry war nur eine einzige Nachricht eingetroffen, welche deren Verheirathung mit einem Bostoner Kaufmann meldete. Jessy’s Beglückwünschungsbrief blieb indessen unbeantwortet, und diese hat sich auch längst ohne Reue darein gefunden, daß sie in Hugo ihre „einzige und alleinige Heimath“ erwählt.

Wenn aber bisweilen ein Leierkasten durch die nächtlichen Straßen Berlins zieht, und die Töne hinauf zu dem Arbeitszimmer des jungen Mannes, der noch über einem Actenfascikel brütet, klingen:

„Ach wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann’?“

da beginnen wohl alle die früheren Erlebnisse in ihm aufzutauchen, jeden Gedanken an den vor ihm liegenden „Fall“ verscheuchend, und er murmelt, der Melodie folgend, mit eigenthümlichem Ausdrucke:

„Zwei Welten!“