„Don Juan“ in der Opéra
Zwei Ereignisse sind zu verzeichnen:
Vor wenigen Tagen hat die Berliner Staatsoper eine Neubearbeitung von Rossinis „Tell“ herausgebracht. Unmittelbar darauf folgt die Pariser Opéra mit der Originalfassung von Mozarts „Don Juan“. „Tell“ ist ein Meisterwerk erster Ordnung, zeitgebunden in seiner Kunstform als grosse Oper, aber eben als solche ein Ganzes. Man muss es entweder akzeptieren, oder, so man es nicht mag, ablehnen. Ein Zwischending gibt es nicht. Diese letzte grosse Schöpfung eines genialen Musikers liefert die Berliner Staatsoper einem Flickschuster zwecks „psychologischer Vertiefung“ aus. Julius Kapp, berichtet der „Angriff“ anschaulich, „setzte sich also, wie schon so oft, hin“. Also sitzend, „wie schon so oft“, streicht er, fügt hinzu, kleistert, stellt die ganze Sache auf den Kopf und arbeitet Rossinis „Tell“ auf „Führerprinzip“ um. Nun hat man in Deutschland den Schauspiel-Tell, den Film-Tell und den Opern-Tell. Mehr Tell ist nicht möglich.
Die Pariser Opéra hat Mozarts „Don Juan“ bisher mit allerlei Zutaten und Aenderungen aufgeführt. Sie lässt eine neue Uebersetzung von Alfred Boschot herstellen, eine Partitur, die genau dem Original entspricht, und überträgt Bruno Walter die Einstudierung der authentischen Fassung.
Zeichen der Zeit[:] vor beinahe 100 Jahren weilte der junge Wagner in Paris. Damals machte er sich lustig über den Pariser „Don Juan“ und Rubinis berühmten Triller. Heut wird in Berlin getrillert. Aber nicht einmal von Rubinis. Hakenkreuz-Gespenster spuken einen Kapp-Ulk in der Berliner Oper, der gute alte Rossini wird zum Ruhm des Führerprinzips gleichgeschaltet, während man in Paris den Deutschen Mozart von falschen Zutaten reinigt. Chacun á son goût.
Es war eine schöne Aufführung in der Opéra, ein äusserlich und künstlerisch festlicher Abend. Grundzeichen ist die Prägung der Vorstellung von der Musik aus. Richtig zu verstehen: nicht vom Star-Dirigenten. Manche mögen vielleicht gekommen sein, um Walter zu sehen – nach wenigen Minuten werden sie ihn vergessen haben. „Don Juan“ ist kein Reisser für den Effekt-Dirigenten. Man kann da am Pult garnichts machen, als einfach und bescheiden musizieren und die Leute oben auf der Bühne zum Gleichen anhalten. Das geschieht. Dass es so geschieht, ist das Meisterliche der Leistung. Sie beruht darauf, dass sich der Dirigent unsichtbar, unbemerkbar zu machen weiss. Und das ist zugleich das Schwierigste. Extasen – Zuckungen – grandiose Temperaments-Verrenkungen – nun ja, was gehört schliesslich dazu, wenn der Mensch einigermassen labile Nerven hat? Dagegen hübsch ruhig bleiben, nur Musik machen, aber gute vortreffliche Musik: das ist die Kunst. So nur geht es bei Mozart.
Die Bühne zeigt Oper, wie es sich für eine Oper gehört. Gemalte Prospekte, einige Praktikablen, im Ganzen Dekoration. Es gibt oder gab Leute, die das für rückständig halten, die meinen, eine „Don Juan“-Inszenierung müsse ein System der Philosophie in sich tragen. Mit diesem Irrtum ist bei uns leider viel Zeit und Kraft vergeudet worden, wer anders dachte und tat, galt als Reaktionär. Aber eine „Don Juan“-Inszenierung soll nichts weiter sein, als bildhafter Rahmen, der den Erscheinungen der Bühne optische Illusionskraft gibt. Jedes Mehr ist vom Uebel, es drückt auf die Musik, und aus ihr allein kommt das Leben des Werkes. Die französische Bühne, besonders die der Opéra, hat sich vielleicht allzulange mit reichlich primitiven Mitteln dieser optischen Veranschaulichung begnügt. Heut ist sie um einiges vorgerückt, namentlich die Projektion wird wie ein neues Spielzeug mit auffallender Freude verwendet.
Das sind Einzelheiten, das Nebengeordnete der Bühne bleibt Charakteristikum und ist gerade hier richtig. Nur im ersten Finale wird man gar zu einfach. Der wirklich dreiteilige Festsaal ist als Raumgliederung unerlässlich, er entspricht der musikalischen Architektur. Gut gelungen dagegen ist vieles andere, das zweite Strassenbild, und namentlich der naiv phantastische Kirchhof. Nur müssen die Verwandlungen schneller gehen. Szene muss auf Szene folgen, wie wenn man ein Bilderbuch durchblättert. Hier mögen Mängel der technischen Bühneneinrichtung gestört haben.
Der Deutsche fragt: und wie war die Regie?
Es gibt keinen Regiezauber, und doch fügt sich fast alles sinngemäss. Da und dort könnten Auftritte, Bewegungen und Gruppierungen besser geordnet sein, Leporello und Masetto dürften nicht während des Schlussgesanges von Donna Anna und Oktavio die Speisereste verzehren. Aber selbst diese kleinen komödienhaften Undiszipliniertheiten sind weniger störend als manche unserer Regie-Exerzitien, bei denen irgend ein kleiner Inszenierungsmatador Mozart benutzt, um „Auffassung“ zu demonstrieren.
Bleiben als Hauptsache die Sänger. Sie sind ausnahmslos gut, ein ausgezeichnet für einander passendes Ensemble, jeder an seinem Platze der Typus, der er sein soll. Die Männer überragen, aber sie haben auch die ungleich günstigeren Aufgaben, namentlich Don Juan, Leporello, Masetto. Der prächtig singende Oktavio ist hervorzuheben, denn er ist als Spielfigur am schlechtesten behandelt. Von den Frauen singt sich im allgemeinen nur Zerline in die Gunst des Publikums, Donna Anna und Elvira bleiben fast immer, auch diesmal, Problemgestalten. Im übrigen soll hier keine Personalkritik geübt werden, sie ist das Ueberflüssigste, was es gibt. Wichtig und von Interesse ist nur der Gesamteindruck.
Er muss wohl gerade auf die französischen Hörer sehr gut gewesen sein. Obwohl die Aufführung in dieser Form den hiesigen Gewohnheiten nicht entspricht, herrschte gespannteste Aufmerksamkeit bis zum Schluss. Es gab grosse, herzliche Begeisterung für das Ganze, für alle Mitwirkenden, und schliesslich einen schönen Triumph für Walter. Das ist um so erfreulicher, als er nicht einer persönlichen Verherrlichung galt. Es war der Dank für die sachliche Zusammenarbeit im Dienste des Genius.
Freilich, vergessen wir nicht: der Rassentheorie nach ist Mozart nur ein dinarischer Mischling.
Vielleicht gefällt er uns gerade deswegen so gut.