1870 (Ernst von Wildenbruch)
1870.
Ich senke mein träumendes Haupt in die Nacht,
In die lautlose Nacht der Vergangenheit –
Die Tiefe regt sich und es erwacht
Die alte Zeit, die gestorbene Zeit.
Ich höre noch einmal den Tigerschrei,
Mit dem sich Frankreich zum Sprung erhebt,
Die Raben krächzen zum Mahle herbei,
Zum Leichenmahle, die Welt erbebt.
Ich höre den Ton, der die Welt durchzückt,
Wie Deutschlands Volk auf die Füße springt,
Wie es dröhnend den Helm in die Locken drückt
Und um die Lenden den Schwertgurt schlingt.
Die Hörner rufen, die Trommeln gehn,
Die Rosse stampfen durch Korn und Sand,
Auf wallenden Fahnen geschrieben stehn
Zwei heilige Worte – „Fürs Vaterland“.
Fürs Vaterland, dem der Zwietrachtswurm
Die lähmende Tatze aufs Herz gelegt –
Meine Seele geht auf, vom Frühlingssturm
Durchrauscht, der die Zwietracht hinweggefegt.
Mein Auge wird sehend, mein Auge sieht
Noch einmal das, was da herrlich war,
Vor meinem Auge vorüberzieht,
Wie stürmende Adler, Schar auf Schar.
An den Rhein, an den Rhein und hinüber den Rhein
Mit schweigendem Groll in die kreischende Wut –
Kanonen brüllen, es sinken die Reihn –
Rot schäumen die Bäche von rotem Blut.
Auf steigenden Rossen die Führer voran,
Die Schwerter gezogen, voran ins Feld,
Ganz Deutschland dahinter, ein einziger Mann,
Ein einziger Mann und ein einziger Held.
So zogst du hinaus für Heimat und Recht
In den heiligen Streit, in den heiligen Tod,
Mit den Jünglingsherzen, du Männergeschlecht,
Du Deutschlands siegendes Morgenrot!
So hast du geschlagen den schmetternden Schlag,
Der den Feind zerbrach und uns baute das Reich,
O, du Deutschland, wie sahst du am herrlichen Tag
Dem Drachentöter, dem Siegfried gleich!
Die Jahre wandeln, die Stunde fliegt,
Geschlechter der Menschen kommen und gehn –
Wo einer von jenen begraben liegt
Du Deutscher von heute, da bleibe stehn.
Da lüfte den Hut und führ’ an der Hand
Deinen Sohn und heiße ihn beugen sich
Und sprich zu ihm: „Für dein Vaterland
Ließ dieser sein Leben, er starb für dich.“