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ADB:Ancillon, Karl

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Artikel „Ancillon, Karl“ von Jakob Caro in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 1 (1875), S. 424–427, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ancillon,_Karl&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 13:00 Uhr UTC)
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Ancillon: Karl A., geb. in Metz 28. Juli 1659, † in Berlin 5. Juli 1715. Juristisch-politischer und historischer Schriftsteller. Wer die Schriften dieses Autors liest, dem wird die ehrenreiche Laufbahn desselben nicht auf seinen litterarischen Verdiensten gegründet erscheinen. Denn wenn ihm schon gewiß daraus kein Vorwurf gemacht werden soll, daß seine ersten Werke sich einzig um den Gegenstand drehen, der in seinem eigenen Leben den folgereichen Wendepunkt herbeigeführt hat, nämlich die Uebersiedelung französischer Flüchtlinge in Folge der Widerrufung des Edicts von Nantes nach Brandenburg, so muß doch auffallen, daß er bei dem lebhaften persönlichen Interesse an der Streitfrage und ihren Consequenzen den Gegenstand mit so wenig Schärfe zu durchdringen und mit beinahe noch weniger Wärme vorzutragen weiß. An Bildung kann es ihm nicht gefehlt haben, denn bei der hervorragenden Stellung seines Vaters, welcher Prediger der reformirten Gemeinde in Metz war, hatte er schon in seiner Heimath Gelegenheit, sich einen guten classischen Vorunterricht zu verschaffen. Behufs weiterer Ausbildung war er dann nach Hanau geschickt worden, wo die Colonien vlämischer und wallonischer Flüchtlinge theils erst in der Anlage, theils schon im Aufblühen waren, die Schulen derselben aber bereits einen guten Ruf genossen. Karl A. entschloß sich für das Rechtsstudium und besuchte nach einander die Hochschulen von Marburg, Genf und Paris. An letzterem Orte gedachte er sich niederzulassen, und war bereits als Advocat aufgenommen, als der Verfolgungssturm wider die Protestanten in Frankreich hereinbrach und über die reformirten Familien so viel Elend und Unglück brachte. In ihrer Noth beauftragten die Reformirten der Stadt Metz den jungen Advocaten an den Hof zu dringen und wenn möglich der Metzer Gemeinde eine mildere Behandlung, wenigstens aber ihren Predigern die Erlaubniß auszuwirken, den Winter über noch in ihrer Heimath verbleiben zu dürfen. Den König selbst scheint A. nicht gesprochen zu haben, Louvois aber herrschte ihm zu: „Was, mein Herr, diese Prediger haben nur einen Schritt aus dem Königreich und sind noch nicht draußen“? Inzwischen waren übrigens die Prediger in der gerechten Besorgniß, der König könne die Landesverweisung bereuen und sie im Lande behalten und mit Gewalt zur Annahme des Katholizismus zwingen, schon von selbst ausgewandert. Unser Advocat durfte nunmehr um so weniger hoffen, in Frankreich seine Laufbahn ungefährdet verfolgen zu können, als er auch durch eine allerdings anonym veröffentlichte Schrift sich in die unheilvolle Discussion der Zeitfrage [425] gemischt hatte. Zu Cöln erschienen 1685 seine „Réflexions politiques par lesquelles on fait voir, que la persécution des réformés est contre les véritables intérêts de la France“, eine Schrift, die Bayle mit Unrecht dem Sandras de Courtitz beilegen will. Man wird, eingedenk des directen persönlichen Antheils, den der Verfasser an der Sache hat, mehr seine bis an Kälte streifende Mäßigung als die Tiefe und Fülle seiner Argumente anzuerkennen haben, denn was er vorbringt, lag damals in aller Leute Mund: politisch-ökonomische Allgemeinheiten von etwas theologischer Färbung, die zu dem allerwichtigsten Punct, daß es nicht die katholische Kirche als solche, sondern die Idee des Gallicanismus, der französischen Einheit ist, welcher die Protestanten zum Opfer fallen, keineswegs vordringen. Auch als Karl A. die Brücken hinter sich abgebrochen hatte, und seinem Vater in die Verbannung zunächst nach Hanau gefolgt war, tauchte sich seine Feder mehr in wohlanständige Gemessenheit als in Leidenschaft. Seine Schrift: „L’irrévocabilité de l’édit de Nantes prouvée par les principes du droit et de la politique“ (Amsterdam 1688) ist in ihrem juristischen Theil nicht schärfer für die Unwiderruflichkeit des Edicts begründet, als das Gutachten des Generalprocurators des pariser Parlaments für das Recht der Widerrufung. – Indessen war Karl A. mit seinem Vater nach Berlin gekommen, und auf die Empfehlung des Raths der Rechnungskammer v. Mérian fanden Beide bei dem großen Kurfürsten die herzlichste Aufnahme. Gleich in der ersten Audienz ernannte Friedrich Wilhelm den jungen Mann zum „juge et directeur de colonie de Berlin“, während sein etwas später eingewanderter Oheim Joseph Ancillon die Stelle eines „juge de tous les Français réfugiés dans le Brandebourg“ erhielt. Als der letztere im J. 1699 abdankte, wurden die beiden Stellen in der Hand Karl Ancillon’s vereinigt, und er wurde zum Inspector aller Gerichtshöfe, welche die Flüchtlinge in Preußen überhaupt hatten, erhoben. Ein Patent vom 20. Aug. 1687 übertrug ihm ferner die Oberinspection über die sogenannte „Académie des nobles“, die erste Lehranstalt des Staates mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß man sich von seiner Leitung des Instituts versehe, er werde sie zum Muster und Vorbild aller Provinciallehranstalten erheben. Noch im J. 1690 hatte jedoch Karl A. die Hoffnung auf eine Umkehr der französischen Politik gegen die Protestanten nicht aufgegeben, und veröffentlichte eine neue Schrift: „La France intéressée à rétablir l’édit de Nantes“ (Amsterdam 1690) wesentlich mit den alten Gründen, sowie ferner eine „Histoire de l’établissement des Français réfugiés dans les états de Brandebourg“ (Berlin 1690), welche ein treues Bild von der klugen Liberalität des kurbrandenburgischen Hofes gebend doch auch die Nebenabsicht merken läßt, Frankreich einen Spiegel seiner Verluste und der Folgen seines fanatischen Verfahrens vorzuhalten. Die überaus maßvolle Natur des Verfassers hielt ihn trotz dieser Tendenz von allzulebhaften Farben der Darstellung ab, und so gewinnt dieses Buch, als die Erzählung eines betheiligten Augenzeugen von einer der charakteristischsten Episoden der umsichtigen preußischen Politik eine Bedeutung, die alle früheren und und späteren litterarischen Leistungen Karl Ancillon’s überwiegt. Je geringer im Allgemeinen der Werth derselben anzuschlagen ist, desto größer müssen unsere Vorstellungen von der Zuverlässigkeit seines Charakters und der Behaglichkeit seiner Umgangsformen werden, denn nur so erklärt sich die steigende Gunst und das umfängliche Vertrauen, das ihm Kurfürst Friedrich III. zu Theil werden ließ. Er machte ihn zum Gesandtschaftsrath und bediente sich seiner bei den durch die Absicht der Königskrönung hervorgerufenen Negotiationen mit der Schweiz und dem Hofe von Baden-Durlach, und gab ihm 1699 sogar nach Pufendorf’s Tode den Titel eines „Historiographen des Kurfürsten“, obwol er damals noch wenig geleistet hatte, um diesen Titel zu legitimiren. Zwar hatte er nicht lange vorher drei Bände „Mélanges critiques [426] de littérature“ (Bâle 1698, in einer andern Ausgabe Bâle 1796 fälschlich Jean Leclerc zugeschrieben) veröffentlicht, allein das Beste darin gehört seinem würdigen Vater David an, dessen Lebensabriß auch darin mitgetheilt ist, und von den Karl zuzuschreibenden Elementen des Buches läßt sich, abgesehen von der steifen, gepuderten Correctheit des Vortrags als Charakteristisches derselben nur hervorheben, daß die Kritik ausgeblieben ist. – Sicherlich sind es auch seine schriftstellerischen Verdienste nicht gewesen, die Leibnitz veranlaßten, sich mit ihm in Verkehr zu setzen, sondern sein durch die Macht seiner Persönlichkeit gerade in der Richtung der Unterrichtsangelegenheiten gewonnener Einfluß am preußischen Hofe. Diesen benutzte Leibnitz bei der Betreibung seiner Idee zur Bildung einer Gelehrten-Societät und A. entsprach dem Vertrauen des großen Mannes durch die rührigste Thätigkeit für das hohe Unternehmen. Er hält Leibnitz immer in Kenntniß von allen Hindernissen und Schwankungen, die das Institut in den ersten Entwicklungsjahren zu bestehen hat, und als er einmal sogar die brüsque Bemerkung eines Ministers gegen die neuen Akademiker: „Der König hat kein Geld für Büchermacher“ zu übermitteln hat, ist Leibnitz über Personen und Verhältnisse durch A. und Jablonski so gut unterrichtet, daß er erwidern kann: „Das Wort überrascht mich nicht“. Diese Verdienste Ancillon’s um die ins Leben tretende Akademie überragen jedenfalls bei weitem seine Schöpfungen auf dem Gebiete der Litteratur, indem er niemals sich über einer eben nur noch erträglichen Mittelmäßigkeit erhoben hat. Seine hochwohlanständige Diction mit dem Pathos ohne Flugkraft ist etwas mehr an ihrem Platze in den beiden Gelegenheitsschriften, von denen die eine bei der Grundsteinlegung der französischen Kirche in der Friedrichsstadt zu Berlin 1701 „Dissertation sur l’usage de mettre la première pierre au fondement des édifices publics“, die andere bei der Enthüllung des herrlichen Schlüter’schen Denkmals des großen Kurfürsten auf der Langenbrücke ebendaselbst 1703 „Le dernier triomphe de Frédéric Guillaume ou discours sur la statue equestre érigée sur le pont-neuf de Berlin à l’électeur Frédéric Guillaume, fol.“ erschienen war. Erst gegen das Ende seines Lebens ging er mehr auf den Geschmack und die Geistesrichtung der holländisch-französischen Schule ein, und seine „Vie de Solimann II.“ (Rotterdam 1706), sowie der „Traité des Eunuques par C. Ollincan“ (Anagramm seines Namens, 1707) stehen im Mangel an Gründlichkeit und in der seltsam bizarren Coquetterie mit der orientalischen Färbung den Erzeugnissen jener flachen Litteratenschule ebenbürtig zur Seite, während sie freilich was Grazie der Darstellung und Beschwingtheit des Witzes angeht, mit jenen sich nicht messen können. Dennoch scheint A. in jenen Kreisen ein gewisses Ansehen genossen zu haben, denn als Reniers-Leers ein Supplement zum Bayle’schen Lexikon vorbereitete, wurde ihm eine Anzahl Artikel übertragen, die er, als das Unternehmen nicht zu Stande kam, unter dem Titel: „Mémoires concernant les vies des plusieurs modernes célèbres dans la république de lettres“ (Amsterdam 1709) selbständig herausgab. Auch diese Biographien, sowie andere früher schon ans Licht getretene, wie das „Portrait ébauché de M. Dankelmann“ 1695 u. a. m. – denn wir führen hier nicht alle seine Schriften auf – stehen keineswegs auf der Höhe der bessern Artikel des Bayle’schen Dictionnaires So ließ A., als er noch im Mannesalter stehend 1715 starb, doch nur den Ruf eines sehr mittelmäßigen Schriftstellers, wol aber den eines zuverlässigen, achtungswerthen und milden Charakters, sowie eines getreuen und dankbaren Dieners seines Fürsten nach sich. Neben seinem Antheil an der Entstehung der Berliner Akademie, gipfelt sein Ruhm in den Verdiensten um die französischen Flüchtlingsgemeinden, für die er mit ganzem Herzen väterlich sorgte, und über welche sich noch werthvolle statistische Nachweisungen von ihm erhalten haben.

[427] Außer in seinen zahlreichen Schriften und den von der Biogr. univ. sehr flüchtig benutzten Sammelwerken sind Notizen über Karl A. zu finden bei: Erman et Reclam, Mémoires pour servir à l’histoire des réfugiés français dans les états du roi, Berlin 1782–1799. 9 Bde.; ferner bei Bartholomèss, Hist. phil. de l’académie de Prusse, Paris 1850, bei Knester, Bibl. histor. de Brandebourg.