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ADB:Kratzer, Nicolaus

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Artikel „Kratzer, Nicolaus“ von Max Maas. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 364–368, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kratzer,_Nicolaus&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 01:00 Uhr UTC)
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Kratzer: Nicolaus K. (in englischen Documenten auch Krach, Karche, Cracher, Kratcher, Kratz genannt), Humanist, Astronom und Mathematiker, geboren 1487 in München, wie aus seinem von Holbein 1528 gemalten Porträt hervorgeht, vielleicht der Sohn eines in den Münchener Steuerbüchern mehrmals genannten Sägeschmiedes Namens Hans Kratzer in der Neuhaeusgasse (jetzt Neuhauserstraße). Er studirte in Köln und Wittenberg und wurde daselbst Baccalaureus artium, wie die Historia et Antiquitates Universitatis Oxoniensis und Athenae Oxonienses bezeugen. Dort muß er auch, was aus späteren Beziehungen hervorgeht, mit den Größen des Humanismus, die als Lehrer und Studirende an diesen bedeutenden Universitäten zwischen 1505 und 1515 weilten, im Verkehr gewesen sein. Gemäß einem Eintrage in dem von K. geschriebenen astronomischen Codex 152 im Corpus Christi College zu Oxford, wonach mehrere seiner Schriften „ex veterato libro monasterii ordinis Carthus. in Aurbach duo miliaria a Vienna Austriae“ entnommen seien, könnte man daran denken, daß K. selbst die Karthause Mauerbach (so heißt es: nicht Auerbach) bei Wien besucht hat. Nachforschungen in der einzigen, jetzt noch bestehenden österreichischen Karthause Pleterje (Krain) und in Mauerbach selbst haben aber bis jetzt noch nichts über einen Aufenthalt Kratzer’s bei den Karthausern ergeben, der aus der genauen Ortsbestimmung „zwei Meilen von Wien“ hergeleitet werden könnte. Wo er seine berühmt gewordene Kunst im Verfertigen astronomischer Instrumente gewann, ist noch nicht festgestellt, wie denn überhaupt vieles in dem Leben dieses hervorragenden Gelehrten und dieser zweifellos in die politische und religiöse Bewegung einer großen Zeit verwickelten anziehenden und eindrucksvollen Persönlichkeit nur hypothetisch betrachtet werden kann, da nicht einmal seine im Manuscript erhaltenen Schriften von Fachgenossen untersucht wurden, und die Geschichte des Einflusses des [365] deutschen Humanismus auf die englische Reformation noch keine systematische Darstellung gefunden hat, die ihn berücksichtigt. – Wood’s Geschichte der Universität Oxford und die Athenae Oxonienses nennen an einer Stelle den 4. Juli 1517 als den Tag, an welchem der Münchener Nicolaus K., von dem Gründer des Colleges Richard Foxe berufen, in das Corpus Christi Collegium zu Oxford zugelassen wurde. Da man aber von England aus die Einträge in den Katalog von Corpus Christi College als unzuverlässig bezeichnet, soweit sie die frühesten Perioden des 1515/6 gegründeten Collegiums betreffen, so ist dafür jedenfalls ein späterer Termin anzunehmen. Die Universitätsregister lassen K. erst im Januar oder Februar 1523 nach Oxford kommen; an anderer Stelle von Wood’s Geschichte der Universität Oxford ist das Datum für Kratzer’s Eintritt in Corpus Christi College nur mit „vor dem 3. Juli 1524“ angegeben, während an dritter Stelle bemerkt ist, daß K. am 19. Januar resp. 28. März 1522 Magister artium zu Oxford wurde. Jedenfalls ist also das frühe Datum vom 4. Juli 1517 abzulehnen. Und zu dieser Verschiebung stimmen auch die Daten der Erasmus-Briefe (Datirungen nach Max Reich, Erasmus v. R., Untersuchungen zu seinem Briefwechsel und Leben, 1895), in denen Nicolaus erwähnt ist. Am 18. Januar 1517 schreibt Petrus Aegidius an Erasmus nach Loewen: „Ich muß Dir schreiben, da Nicolaus der Bayer, der ausgezeichnete Mathematiker, nach dort abreist; er hat noch einige Astrolabien und Sphären bei sich, um sie nun dort zu verkaufen; er bringt Dir auch ein griechisches Buch mit u. s. w.“ Am 3. November 1517 schreibt Erasmus an Aegidius: „Ermahne Nicolaus vor Allem, daß er die Sache geheimhält und Niemandem ausschwätzt, zu wem er nach England geht. Auch wenn er nicht geht, schweige er; er soll eine Ausrede finden, die von der Wahrheit so weit als möglich entfernt ist. Die Sache selbst wirst Du aus dem Briefe des Secretaers und aus der mündlichen Erzählung meines Jacobus ersehen.“ Und am Schlusse heißt es: „Ist in Deiner Angelegenheit oder in der des Nicolaus irgend etwas nöthig zu thun, so bin ich bereit, dafür selbst nach Antwerpen zu eilen.“ Ferner schreibt Erasmus Ende November 1517 an Aegidius aus Loewen: „Alles das, worüber Jacobus berichtete, verhält sich so; ich habe volles Vertrauen zu Nicolaus und wundere mich nur, daß Dir das Geld nicht wiedergegeben worden ist.“ – In welchen Angelegenheiten dieser Nicolaus, den wir als Nicolaus K. identificiren, nach England berufen (accersitus) worden ist, wissen wir nicht. Wir glauben, daß politische Verhältnisse und diplomatische Verwendbarkeit sowol wie Kratzer’s astronomische und technische Kenntnisse ihn an den Hof Heinrich’s VIII. von England brachten. Einträge in des Königs Haushaltungsbücher (Henry VIII., Letters and papers, foreign and domestic) beweisen, daß K. bereits Anfangs 1519 als Astronom und Besorger der königlichen Uhren im Dienste Heinrich’s VIII. stand; der letzte derartige Eintrag ist vom April 1531. Doch verblieb K. noch viel länger im Dienste des Königs. – Gleichzeitig war Nicolaus K. auch Lehrer an der Universität Oxford. Ein eigenhändiger Eintrag Kratzer’s in die astronomische Handschrift (Nr. 152 von Corp. Christi College) besagt: Anno MDXX ego Nicolaus Kratzerus Bavarus Monacensis natus, Servus Regis Henrici Octavi jussu illius perlegi Oxoniae astronomiam super Sphaeram rationalem Johannis de Sacro Bosco et Compositionem astrolabii, Geographiam Pthol. Wahrscheinlich hat er auch Vorlesungen über Euklid gehalten, mit dem sich K., wie aus einem Briefe Albrecht Dürer’s an K. hervorgeht (d.d. 5. Dec. 1524), in diesen Jahren eifrig beschäftigte. Während K. zuerst „jussu Henrici Regis“ zu Oxford Vorlesungen hielt, war er nachher als Praelector Mathematices in Wolsey’s Corpus Christi College erwählt. Auch mit Kartenaufnahmen hat er sich in dieser Zeit abgegeben, wie aus einem Briefe Kratzer’s an Dürer zu ersehen ist. In dem gleichen [366] Jahre 1520 errichtete K. in Oxford eine Sonnenuhr, die dadurch noch besonders berühmt geworden ist, daß die Verdammung der Lutherischen Lehre, welche im Palast Wolsey’s in London in feierlicher Versammlung beschlossen worden ist, an ihr angeheftet wurde. Die Fortsetzung des Eintrages in die citirte Handschrift des Corpus Christi College besagt: In illo tempore erexi columnam sive cilindrum ante ecclesiam divae virginis cum lapicida Wilhelmo Aost servo regis. Eo tempore Lutherus fuit ad universitate condemnatus, cujus testimonium ego Nicolaus Kratzerus in columna manu propria scripta posui. Als Frucht der wissenschaftlichen Thätigkeit Kratzer’s in dieser Periode sind auch die folgenden, im Manuscript erhaltenen Werke zu betrachten: 1. Im Besitz der Bodleiana (Nr. 504): „Canones Horopti“ von 1520, dem Könige Heinrich VIII. gewidmet und auf Antrieb des königlichen Kämmerers Tyson geschrieben. 2. Im Besitz von Corpus Christi College in Oxford: „Nicolai Krazeri liber de compositione horologiorum, Astrolabii aliorumque instrumentorum mathematicorum, figuris perquam illustratis“ (s. die genaue Beschreibung bei Coxe, Catalogus Codicum Mss. etc. Vol. II Codices Collegii Corporis Christi p. 60; die zu Beginn erwähnte Notiz wegen des Buches aus Kloster Mauerbach steht in der Inhaltsangabe dieses Codex bei Tanner, Bibliotheca Britannico-Hibernica). Von diesen Manuscripten mögen andere englische Bibliotheken noch Abschriften besitzen. Ihre wissenschaftliche Bedeutung ist noch nicht untersucht. Wie lange Kratzer’s Lehrthätigkeit in Oxford gedauert hat, ist ebenfalls nicht zu bestimmen. Außer der erwähnten Sonnenuhr auf dem Marienkirchhofe über welche der Corpus Christi Codex auch acht lateinische Distichen enthält, hat K. noch eine wundervolle astronomische Uhr für den Garten von Corpus Christi College in Oxford errichtet, die 1674 noch in loco war, und von der eine Abbildung in dem Manuscript von Rob. Hegge’s „Treatise of Dials and Dialling“ existirt. Leland hat ein ganzes encomium in Distichen darauf verfaßt. Außerdem ist 1901 (s. Athenaeum vom 2. März 1901) eine zwischen 1518 und 1529 gefertigte tragbare Sonnenuhr aufgetaucht von vorzüglichem deutschem Kunstcharakter, die Cardinal Wolsey gehört hatte und für diesen höchst wahrscheinlich von K. verfertigt worden war.

Im J. 1520 hatte K. vom Könige Urlaub, um Erasmus, der damals in Antwerpen weilte, zu besuchen, und bei dieser Gelegenheit traf der Münchener Astronom im Dienste Heinrich’s VIII. mit Albrecht Dürer zusammen. Da heißt es in Dürer’s Tagebuch: „Ich hab conterfeit in Antorf (Antwerpen) Herrn Nicolaus, ein Astronomus, wohnet bei dem König von England, der mir zu viel Ding fast förderlich und nützlich ist gewesen; er ist ein Deutscher, von München gebürtig.“ Dürer’s Kratzerbild ist leider verloren. Als damals Dürer den Erasmus in Brüssel zeichnete, war K. bei den Sitzungen mit zugegen; es gibt gleichzeitige Kupferstiche dieser Zeichnung, und ein Exemplar eines solchen im Besitze des Herrn Geh. Rath Wolff in Bonn trägt in lateinischer Sprache die Bemerkung Kratzer’s auf der Rückseite, daß er zugegen gewesen sei, als Dürer Erasmus zeichnete. Es existirt ferner ein Brief des Nicolaus K. an Dürer vom 24. October 1524 (im Besitz des Herrn Lempertz in Köln) und die Antwort Dürer’s an K., Königlicher Majestät in England Diener, vom 5. December 1524 (im Besitz der Guildhall Library in London), die für die Charakteristik und die Thätigkeit Kratzer’s und seine Beziehungen zu den Reformatoren von größter Wichtigkeit sind. Sie bezeugen seine Sympathie für die Lutherische Sache, die er in England, wo die kirchliche Reformation erst später ihr Haupt frei erheben durfte, kluger Weise noch verschwiegen halten mußte. Die erwähnten beiden Briefe wurden zuerst bei Thausing, „Dürer, Geschichte seines Lebens und seiner Zeit“, 1876, veröffentlicht. (Die Hinweise S. 365 unten gehen auf diese beiden Briefe.)

[367] Außer als Gelehrter, als Astrolog und als astronomischer Techniker stand aber der deutsche Humanist auch als diplomatischer Agent in Diensten Heinrich’s VIII. Gerade auf dieser Reise des Jahres 1520 benutzte ihn Tunstal, der Master of the rolls, der im Auftrage Heinrich’s VIII. an den Hof Karl’s V. nach Köln reiste. Tunstal schreibt am 12. October 1520 gleichlautend an Heinrich VIII. und Cardinal Wolsey aus Lüttich: „Ich traf zu Antwerpen Nicolaus Kratzer, einen Deutschen, der des Königs Uhren besorgt; der sagte, daß er für einige Zeit Urlaub habe, aber jetzt zurückkehre. Ich bat ihn, einige Zeit noch zu bleiben, bis er sicher sei, daß der König seinen Urlaub verlängere. Da er in Oberdeutschland geboren ist und viele der Fürsten kennt (in dem Briefe an Wolsey heißt es: ‚Aus den fürstlichen Umgebungen‘), so kann er uns gute Dienste leisten, indem er die Ansichten der Kurfürsten über die Reichsangelegenheiten aushört“. – Im J. 1529 wurde K. im Interesse der Staatsfinanzen von Heinrich VIII. verwendet (Acten Heinrich’s VIII.): „Hugh Boywell, Nic. Crazer, Hans Bour laut Akt vom 12. August des 21. Jahres der Regierung ausgesandt um die Wälder und Minen im Cornwall, Devonshire und sonst wo zu untersuchen und Schmelzversuche mit dem Gold zu machen.“ Aus „Thomas Cromwell’s Remembrances“ von 1533 läßt sich schließen, daß K. damals die Correspondenz mit dem von Thomas Cromwell nach Deutschland gesandten Christopher Mount vermittelte, der auf den Continent gereist war, um Heinrich VIII. politische Berichte zu geben und zugleich die deutschen Fürsten über des englischen Königs Ehescheidung aufzuklären. Christopher Mount war ein streitbarer Vorkämpfer Luther’s; und wir dürfen annehmen, daß damals auch K. den neuen Glauben frei bekannte, dem er im Stillen schon vorher anhing und zu dem in dem Studenten in Wittenberg durch Luther’s Predigten der Keim gelegt worden sein mag. Noch existirt endlich ein Brief Kratzer’s an Thomas Cromwell vom 24. August 1538, worin jener aus Deutschland geholte Informationen über die Türken gibt. Jedenfalls stand der Münchener Astronom auch noch in der Mitte der 40er Jahre des 15. Jahrhunderts in Gnaden bei seinem Herrn, dem englischen Könige. Denn eine von van Maander in „het Schilder Book“ wiedergegebene Anekdote lautet: „Eines Tages frug der König Kratzern zum Spaß oder aus sonst einem Grunde, wieso er denn nicht besser englisch sprechen könne, worauf Meister Nicolaus antwortete: ‚Verzeiht, Majestät, aber wieviel englisch glaubt Ihr denn, daß man in einem Zeitraum von 30 Jahren lernen kann?‘ Darauf fingen der König und sein Hof herzlich zu lachen an.“ Zuletzt erwähnt finden wir K. in dem Tractatus de Astronomia des Guido de Forlivio (Guido Bonatus, Basel 1550), in dem der Herausgeber Nicolaus Prugner (Pontinus, siehe A. D. B. XXVI, 674/5) in der Widmung an Paget, des englischen Königs Magister of the Rolls, sagt: „Welchen Nutzen das Buch den Mathematikern bringt, wirst du selbst erkennen, aber auch von eurem Mathematiker Nicolaus Kratzer erfahren können, der ein so guter, trefflicher und gerechter Mann ist, daß er eigentlich eine höhere Stellung verdient als die eines Mathematikers, und der ein solcher Meister in seiner Kunst ist, daß er als darin einzig dastehend angesehen werden muß.“ Zu dieser Charakteristik von Seite Prugner’s tritt noch eine andere, die der französische Dichter Nicolaus Bourbon de Vandoeuvre von K. gibt; er schickt unter dem 25. Sept. 1835 Grüße u. a. „Nic. Cratzero regio astronomo viro honestis salibus facetiisque ac leporibus concreto“, d. h. an K., der in allen Ehren von Witzen, Schwänken und launigen Einfällen voll steckt. Daß übrigens K. auch ein trinkfester Deutscher war, geht aus den schon früher erwähnten acht Distichen der Corpus Christi-Handschrift hervor, wo es von ihm und dem Engländer Wilhelm Aost heißt:

[368] Ambo viri semper germano modo bibebant
 Et poterant potus sugere quicquid erat.

Aber die wunderbarste Charakteristik Kratzer’s besitzen wir in effigie – eines der herrlichsten Werke Meister Holbein’s des Jüngeren ist das jetzt im Louvremuseum befindliche Porträt Kratzer’s: „Imago ad vivam effigiem expressa Nicolai Kratzeri Monacensis qui Bavarus erat. quadragesimum primum annum tempore illo complebat. 1528“ verzeichnet das auf dem mit astronomischen Instrumenten bedeckten Tische liegende Papier: „Das bartlose Gesicht ist nicht eben schön: große Nase, breiter Mund, grobes Kinn; eine schwerfällige, doch tüchtige Erscheinung, wie es scheint, auch jovial“. (Woltmann, Holbein und seine Zeit I, S. 344.)

Im vierten Jahre des Königs Edward VI. (1550) ist sein Leben noch bezeugt; kurz nach 1550 soll Nicolaus K. gestorben sein; man weiß nicht, wo er begraben ist. Als nachherige Besitzer seiner Bücher werden Johannes Dee (1527–1608), der Mathematiker und Astrolog, und Dr. Richard Foster, Physiker und Mathematiker, genannt.

English Dictionary of National Biography XXXI, 344/5 und die daselbst verzeichnete Litteratur. – Nikolaus Kratzer, ein Münchener Humanist, ein biographischer Versuch von M. (Max Maas), Beil. z. Allgem. Zeitung (München) Nr. 64 u. 65 vom 18. u. 19. März 1902.
Max Maas.