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ADB:Thausing, Moritz

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Artikel „Thausing, Moriz“ von Theodor Frimmel von Traisenau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 660–664, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thausing,_Moritz&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 02:13 Uhr UTC)
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Thausing: Moriz Th., Kunstgelehrter. Geboren am 3. Juni 1838 zu Tschischkowitz, einem Schlosse bei Leitmeritz i. Böhm., wo sein Vater Julius Th. herrschaftlicher Amtsdirector war. Moriz wurde als sechstes Kind der Familie geboren. Der Schulbildung wegen mußte er schon früh (mit 7 Jahren, sagt die Familienüberlieferung) die Eltern verlassen. Er kam ins Haus seiner Großmutter [661] nach Lobositz, wo er von seinem Oheim, einem Priester, im elementaren Wissen unterrichtet wurde. Auch späterhin, als Moriz an die höheren Schulen gekommen und der Onkel Pfarrer geworden war, führten ihn die Ferien noch öfter zu diesem Verwandten. Mit 9 Jahren kam Moriz ans Gymnasium nach Brüx, wo er stets der Liebling seiner Lehrer war, an denen er auch mit seltener Innigkeit hing, besonders am Geschichtsprofessor Ressel. Die Universitätsstudien begann Th. 1856 in Prag; 1858 setzte er sie in Wien fort, wo er germanistische Studien bei Fr. Pfeiffer und am Institute für Oesterreichische Geschichtsforschung historische Studien trieb. 1859 wurde er Mitglied dieses Instituts. Als erste Schriften des jungen Gelehrten werden genannt: „Die Nibelungen in der Geschichte und Dichtung, ein Beitrag zur Frage über die Entstehungszeit des Liedes“ (Pfeiffer’s Germania VI), eine Abhandlung, auf welche hin Th. den philosophischen Doctorgrad der Universität Tübingen erwarb, und eine Studie für ein Wiener Realschulprogramm: „Beziehungen Böhmens und Mährens zum Reiche der Karolinger“. Wie diese beiden Arbeiten, so hingen auch die nächstfolgenden noch enge mit linguistischen und historischen Studien zusammen, so die „Nibelungenstudien“, die „Neumark Oesterreich und das Priviliegium Henricianum 1043–1058“, endlich „Das natürliche Lautsystem der menschlichen Sprache, mit Bezug auf Brücke’s Physiologie und Systematik der Sprachlaute dargestellt“, welche Arbeit 1863 selbständig bei Engelmann in Leipzig erschienen ist. Die Abhandlung über die Neumark wurde im October desselben Jahres der Akademie der Wissenschaften vorgelegt.

Eine Neigung zur bildenden Kunst scheint bei Th. schon früh durch Besuche in der Dresdener Galerie geweckt worden zu sein; die Richtungsänderung seiner Studien aber zur Kunstgeschichte hin trat bei Th. wol hauptsächlich infolge seiner Beziehungen zu Eitelberger ein, dessen Vorlesungen er emsig besuchte und der, wie er späterhin selbst schrieb, bemerkte, daß Th. „eine ganz specielle Befähigung für Kunstwissenschaft besaß. Eine leichte Auffassung, ein scharfer Blick und ein vorwiegendes Phantasieleben befähigten ihn ganz besonders hiezu“. Eitelberger’s Vorlesungen waren stets anregend, da er seine Schüler in den Umgang mit den Kunstwerken selbst einführte, auf hervorragende technische Merkmale aufmerksam zu machen verstand und die Eigenart jedes talentvollen Hörers berücksichtigte. Th. stand zwar von vorne herein auf einer festeren geschichtswissenschaftlichen Basis, als sein Lehrer, doch hatte er von mütterlicher Seite eine ideale, schwärmerische Anlage geerbt, die ihm das Verständniß für Eitelberger’s Wesen vermittelte, das mehr aufs intuitive Erfassen, als aufs methodische Forschen gerichtet war. 1862 hatte Th. eine Stellung als Bibliotheksbeamter an der Wiener Akademie der bildenden Künste erhalten, an welcher er in der Folge auch als Docent für allgemeine Welt- und Culturgeschichte thätig war (1865–1868). 1864 kam der, nunmehr zum Kunsthistoriker gewordene Gelehrte als Official an die „Albertina“, womit für ihn ein wichtiger Lebensabschnitt erreicht war. Bis zum Inspector und Director (1876) dieser reichen und wichtigen Kunstsammlung ansteigend, wurde er durch sie nach und nach zum Mittelpunkte alles ernsten kunstgeschichtlichen Strebens in Wien. Der ungeheure Vorrath an Kupferstichen und Handzeichnungen, deren wissenschaftliche Ausnützung durch eine reichhaltige Bibliothek so wesentlich erleichtert wurde, bot dem feurigen Naturell Thausing’s fortwährend Stoff zu Studien über Kupferstichkunde und Geschichte der Malerei, wovon eine Reihe von Arbeiten Zeugniß ablegt, die zum Theil in der Zeitschrift für bildende Kunst erschienen sind. Ganz besonders aber war es der Schatz von Handzeichnungen Albrecht Dürer’s in der Albertina, die für die Richtung der Thausing’schen Arbeiten bestimmend werden sollten. 1871 hielt der neue Dürerforscher im Wiener Alterthumsvereine [662] einen Vortrag über Dürer’s Sanct-Veiter Altar, welche Arbeit noch 1871 in den Mittheilungen der k. k. Centralcommission für Kunstdenkmale im Druck erschien. Dieselbe Commission veröffentlichte auch Thausing’s Aufsatz über „Dürer’s Triumphwagen und seinen Antheil am Triumphzuge Kaiser Maximilian’s I.“ (in Band XIII, S. 135). Wieder eine Dürerstudie war die Einleitung zur Publication der Dürer’schen Reiterskizzen zum Triumphzuge Kaiser Maximilian’s I. nach sechs Zeichnungen der Albertina (Wien, Verlag der photographischen Correspondenz, 1872). Mit der Jahreszahl 1872 erschienen dann auch „Dürer’s Briefe, Tagebücher und Reime“ als 3. Band der Eitelberger’schen Quellenschriften für Kunstgeschichte, eine Arbeit, die Van Eye im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit (1873) sehr günstig beurtheilte. All’ dies, neben mehreren kleinen Artikeln nur Vorläufer des großen Werkes: „Dürer, Geschichte seines Lebens und seiner Kunst“, zu dem Th. am 9. October 1875 das Vorwort schrieb, und das als wichtigste Leistung Thausing’s gelten muß. Ist auch manches von den Ergebnissen seiner Dürerforschungen seither überholt, so kann doch Niemand leugnen, daß für einige Jahrzehnte Thausing’s Arbeiten über Dürer geradewegs wie eine Erfrischung der neueren Kunstgeschichte gewirkt, daß sie des Guten, bleibend Werthvollen sehr viel zu Tage gefördert haben und daß die meisten neueren deutschen Arbeiten über Dürer doch zumeist wesentlich durch Thausing’s Vorgang bedingt sind. Auf keinen Fall hat das Werk so alberne und wegwerfende Beurtheilungen verdient, wie eine solche z. B. der 2. Auflage 1884 durch Lübke zu theil geworden ist. Thausing’s Dürer ist ins Französische und Englische übertragen worden, was denn doch zu Gunsten der Bedeutung dieses Buches sprechen dürfte. Aus Anlaß eines Rufes an die Universität Straßburg hatte Th. 1873 eine Lehrkanzel für neuere Kunstgeschichte an der Wiener Universität erhalten. 1879 wurde er zum Ordinarius befördert. Er oblag den Pflichten des Lehramtes mit regem Eifer und jener Begeisterung, deren nur bedeutende Naturen fähig sind. Ihm verdankt man es, daß an der Wiener Universität durch eine lange Reihe von trefflich ausgearbeiteten Collegien und aufmerksam geleiteten Uebungsstunden der Geist wissenschaftlicher Methode in der neueren Kunstgeschichte seinen Einzug hielt. Seine Vorträge über Geschichte des Kupferstiches und des Formschnittes, sein Dürercollegium, seine Vorlesungen über deutsche Kunst, über italienische Renaissance, über Rafael, Michelangelo, über mittelalterliche Kunst, christliche Ikonographie und andere zogen allmählich nicht nur die kunstfreundlichen Hörer der Wiener Universität heran, sondern auch angehende Kunstgelehrte des Auslandes, so daß unter der jüngeren Generation namentlich deutscher und österreichischer Kunstgelehrter nicht wenige sind, die ihre Ausbildung wenigstens zum Theil den Thausing’schen Lehren verdanken, die freilich (was nicht verschwiegen werden darf) auch gewisse Schwächen hatten und von Einseitigkeit nicht frei waren. So wurden bei Th. beispielsweise die Spanier stets sehr von oben herab beurtheilt, so hörte man von ihm über moderne Kunst selten etwas anderes als abfällige Aeußerungen. Nur in seinem Werk über Ferstl’s Votivkirche in Wien, das in glänzender Ausstattung 1879 erschienen ist, wird er den Leistungen des modernen Künstlers gerecht. Beim „Kunsthistoriker“ legte Th. ohne Zweifel zu wenig Nachdruck darauf, daß er in erster Linie von der Kunst Etwas wissen müsse, bevor er über ihre Erscheinungsäußerungen arbeite. Der Kunstgelehrte war ihm in erster Linie Historiker, was ja theoretisch zum Theil richtig ist, aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß sich der Kunstgelehrte eben in erster Linie mit Kunst befaßt. Thausing’s Ansichten auf diesem Gebiete sind zum Theil ausgesprochen in einem Essay „Die Stellung der Kunstgeschichte als Wissenschaft“, der im Maihefte der Oesterreichischen Rundschau (begründet von Edlinger) von 1883 erschienen [663] ist. Alles zusammengenommen gehört aber Th. neben Karl Schnaase, Anton Springer und Eitelberger unbestritten zu den verdienstvollsten und geistreichsten Vertretern der neueren Kunstgeschichte. Sein früher Hingang wird noch heute besonders an der Wiener Universität schmerzlich empfunden. Th. verfügte über eine ungewöhnliche geistige Begabung und eine tüchtige Willenskraft, wodurch es denn zwischen ihm und seinen Gegnern zu Reibungen ja zu Kämpfen führen mußte, denen der reizbare Mann schließlich nicht mehr gewachsen war. Daß er empfindlich gewesen, sprach er nicht undeutlich selbst aus (bei Gelegenheit einer Besprechung von A. Springer’s: Rafael und Michelangelo im Repertorium für Kunstwissenschaft III): „Wir Kunsthistoriker sind ein empfindliches Geschlecht. Wir lassen uns nicht gerne berathen und bald bildet jeder einzelne allein seine Partei.“ Wie Thausing’s Familie weiß, war er schon als Kind zart und empfindsam angelegt. Später, von den Kämpfen des Lebens hart mitgenommen, durch die gewaltigen Insulte, denen das Streben und Schaffen des Gelehrten ausgesetzt war, im Grunde erschüttert, mußte er einem traurigen Ende unvermeidlich anheimfallen. Schon gegen 1880 zeigten sich zudem die Anfänge eines schmerzhaften Nervenleidens. Das Ableben seiner Mutter Eleonore, die er geradewegs schwärmerisch verehrte, der Tod des Freundes Alfred Woltmann, das Bewußtsein des Sinkens der eigenen Körperkraft, die damals auch durch eine diphteritische Erkrankung geschwächt war, wirkten in jenem Jahre höchst drückend auf ihn ein. Sein blasses Antlitz und seine abgemagerte Gestalt gab zu ernsten Besorgnissen Anlaß. Seine Reizbarkeit und Streitsucht steigerte sich merklich und verwickelte ihn nach und nach in ein ganzes Netz von Feindschaften aller Art; die Veröffentlichung eines Skizzenbuches von Jacques Callot (1880 in H. O. Miethke’s Verlag) fand nicht jene rasche Anerkennung, die Th. erhofft hatte. Sein Gegensatz zu dem verfehlten System der Malerdirectoren an Gemäldesammlungen, seine Stellung gegen den frevelhaften Plan einer Umgestaltung des Riesenthores der Wiener Stefanskirche und manches andere führte zu öffentlichen Erörterungen, die den kranken Mann im höchsten Grade erregten. Es war im Frühling 1881, als der Schreiber dieses ihn in der Albertina abholte, um im Künstlerhause die damals in Wien befindlichen Zeichnungen C. Fr. Lessing’s zu besichtigen. Er war höchst gesprächig und sagte bald: „Wissen sie was? ich bin unter die Journalisten gegangen.“ (An Ausfällen gegen die modernen Maler ließ er es nicht fehlen. Makart’s Gedankenlosigkeit erregte besonders seinen Aerger.) Bald darauf erschienen in der N. Freien Presse jene schneidigen Feuilletons, in denen er, man kann sagen, gegen Freund und Feind Hiebe austheilte, die deshalb eine mehr oder weniger nachhaltige Verstimmung in den weitesten Kreisen hervorriefen und sogar die amtliche Stellung Thausing’s gefährdeten. Denn er dehnte seine Angriffe, die anfänglich gegen Herman Grimm, Lübke und Ephrussi hauptsächlich gerichtet waren, auch auf den, damals in hohen Gnaden stehenden Director der kaiserl. Gemäldegalerie E. v. Engerth aus, und forderte durch seinen Spott die ganze mächtige Partei des Dombaumeisters Fr. Schmid heraus. Diese Feuilletons erschienen während der Jahre 1881–1883 unter dem Titel „Wiener Kunstbriefe“ und wurden mit Auswahl in einem Buche gesammelt, das 1884 bei Seemann in Leipzig erschienen ist. Mittlerweile hatte Thausing’s Nervenleiden furchtbare Fortschritte gemacht, und die zeitweilige Kampfunfähigkeit des Streiters wurde von seinen Gegnern nicht nur zu empfindlichen Angriffen in der Oeffentlichkeit, sondern leider auch zu geheimer Wühlarbeit ausgenützt. Sie hatten leichte Mühe, da auch die ruhig denkenden Freunde des Gelehrten nicht alles gut heißen konnten, was er in seinen Feuilletons geschrieben hatte und dadurch in ihren Bestrebungen gehemmt waren. Als Th. im October 1883 als zeitweiliger Leiter der damals neugeschaffenen „Istituto Austriaco di studii [664] storici“ nach Rom ging, konnte man sich von diesem Schritte keine guten Folgen versprechen. Nach wenigen Wochen zeigten sich so deutliche Anzeichen einer vollkommenen Geisteskrankheit, daß Th. in eine Heilanstalt gebracht werden mußte. Zwar konnte er im Frühling 1884 scheinbar geheilt, von dort entlassen werden, doch erschien es dringend nöthig, daß er einige Zeit fern von jeder Amtsthätigkeit verbringe. Er ging zu seinen Verwandten nach Leitmeritz, wo er den Frühsommer in leidlichem körperlichem Wohlsein verbrachte. Nun verlor er aber seine Stellung an der Albertina, was ihn aufs tiefste kränkte und ihm den Lebensnerv seiner wissenschaftlichen Thätigkeit durchschnitt. Uebrigens glaubten er und seine Freunde noch nicht alles verloren, da er im Herbst seine Lehrthätigkeit an der Universität wieder aufnehmen wollte. Dann aber am 11. August 1884 mag ihn die Unlust über alles Geschehene übermannt haben. Einige Tage nachher wurde er als Leiche aus der Elbe gezogen.

Benützte Quellen: Familiennachrichten, eigene Erinnerungen und Notizen, die Nekrologe von R. v. Eitelberger, Eng. Mühlbacher, S. Laschitzer, Ant. Springer, ferner der Nachruf in den Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen (XXIII, S. 273), C. v. Wurzbach’s biogr. Lex. Bd. 44, C. v. Lützow’s Geschichte der Akademie der bild. Künste (passim), „Eine Erinnerung an Moritz Thausing“ (Deutsche Zeitung 21. August 1884), endlich viele Arbeiten von Thausing selbst, die hier nicht im einzelnen angeführt werden können, unter denen aber hervorgehoben seien: „Die falschen Dürerzeichnungen in Berlin, Bamberg und Weimar“ 1871 (in der Zeitschrift für bild. Kunst), ferner seine gehaltvollen Beiträge für Zahn’s Jahrbücher der Kunstwissenschaft und für die Mittheilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung.