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ADB:Middendorff, Alexander von

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Artikel „Middendorff, Alexander Theodor von“ von Ludwig Stieda in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 387–395, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Middendorff,_Alexander_von&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 18:42 Uhr UTC)
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Middendorff: Alexander Theodor von M., berühmter Reisender und Naturforscher, entstammt einer alten, seit dem 15. Jahrhundert in Riga und Reval ansässigen, aus Deutschland eingewanderten Familie. Seit 1707 sind in Esthland drei Prediger dieses Namens bekannt. Ein Johann Middendorf starb als Pfarrer in Kegel 1742, dessen Sohn und Enkel waren auch Pfarrer; der Enkel war der Großvater des Reisenden. Der Vater des Reisenden, Theodor Johann Middendorff aber, der in Deutschland studirt hatte, war zuletzt Director des pädagogischen Haupt-Instituts in St. Petersburg (geboren am 28. April 1776, † am 4. Januar 1856). Theodor Johann M. war ein umsichtiger Schulmann und Gelehrter, unermüdlich bei der Arbeit, ausgezeichnet [388] sowol durch hervorragende Kenntnisse der alten und neuen Sprachen, als auch durch liebenswürdige Umgangsformen, ein fester Charakter, wohlwollend gegen seine ihn hoch verehrenden Schüler. – Alexander M. wurde am 6./18. August 1815 (in einem und demselben Jahre mit Bismarck und A. Keyserling) in St. Petersburg geboren, erhielt seine erste Erziehung in Reval, trat dann in das III. Petersburger Gymnasium und zuletzt in die propädeutischen Curse des Normal-Pädagogiums zu St. Petersburg. Nach Absolvirung der Curse wandte sich M. nach Dorpat und wurde hier im Wintersemester 1832 für das Studium der Medicin immatrikulirt. Einem Wunsche des Vaters folgend, schloß er sich keiner der damals in Dorpat bestehenden landsmannschaftlichen Verbindungen an, sondern lebte im Kreise der Burschenschafter. Mit Fleiß und Eifer warf M. sich auf das medicinische Studium und erwarb sich am 2./14. Juni 1837 den Grad eines Dr. med. Obwol die Dissertation ein medicinisches Thema, „quaedam de bronchorum polypio“, behandelte, so muß damals doch schon in M. die Neigung zum Reisen gesteckt haben: der Dissertation ist als Motto ein Ausspruch Chamisso’s (Reise um die Welt, I) vorangesetzt: „Ich habe nur dem, der die uncivilisirte Welt zu sehen begehrt, anrathen wollen, sich mit dem Doctorgrad, als mit einer bequemen Reisemütze, zu versehen“. – Darauf ging der junge Dr. med. M., wie es damals üblich war, zur Fortsetzung seiner Studien ins Ausland, und besuchte verschiedene Universitäten: Berlin, Erlangen, Breslau, Wien, doch beschäftigte er sich nicht mit praktischer Medicin, sondern mit den Naturwissenschaften, vor allem mit Zoologie. Bald nach seiner Rückkehr in die Heimath, 1839, erhielt M. die Stelle eines Adjunct-Professors für Zoologie an der Wladimir-Universität in Kiew. Allein die Beschäftigung sagte ihm nicht zu; es stellten sich seinen wissenschaftlichen Arbeiten und Bestrebungen allerlei Schwierigkeiten entgegen. Sein Sinnen und Trachten war darauf gerichtet, zu reisen, fremde Länder zu durchwandern und zu durchforschen. Mit großer Freude ergriff M. die sich ihm darbietende Gelegenheit, das damalige Mitglied der Kais. Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, K. E. v. Baer, im Sommer 1840 auf dessen zweiter Reise nach Lappland zu begleiten. Baer war bereits einmal, 1837, mit dem Botaniker Alexander Lehmann in Lappland und Nowaja-Semlja gewesen; es hatte ihm so gut im Norden gefallen, daß er sich zu einer zweiten Reise entschloß. Auf dieser zweiten, im Sommer 1840 ausgeführten Reise war der damals noch sehr junge Dr. M. der Genosse Baer’s. Die Reisenden verließen Petersburg am 28. Mai (9. Juni) 1840, fuhren nach Archangel, schifften sich hier am 13./25. Juni ein, besuchten die lappländische Küste bis Wadsoe; die ursprünglich beabsichtigte Fahrt nach Nowaja Semlja konnte nicht gemacht werden, weil die Jahreszeit leider zu ungünstig war. Am 20. August (1. September) traten die Reisenden, aber getrennt, den Rückweg an. Baer fuhr gerade nach Archangel zurück; M. dagegen begab sich nach der Stadt Kola und wanderte von da, meist zu Fuß, durch die Kola-Halbinsel bis Kandalask. In Archangel trafen die Reisenden zusammen, um gemeinsam die Heimreise nach St. Petersburg zu machen. – Bekanntlich wurde Baer, der mit so großem Eifer die erste wie die zweite nordische Reise angetreten hatte, durch mancherlei Umstände verhindert, die Ergebnisse der Reise so zu bearbeiten, wie es wünschenswerth gewesen wäre. Daher ist es um so mehr anerkennenswerth, daß M. nicht nur als Zoologe, sondern auch als Geograph in den Stand gesetzt war, einen Theil der Reiseergebnisse wissenschaftlich zu bearbeiten. M. hatte sich besonders das Studium der Vögel angelegen sein lassen; er veröffentlichte einen Bericht über die ornithologischen Ergebnisse der naturhistorischen Reise in Lappland während des Sommers [389] 1840 (Baer und Helmersen, Beiträge zur Kenntniß des Russischen Reiches, Bd. VIII). Das Werk gibt unter andern eine tabellarische Uebersicht über 138 Vogelarten in Lappland, Norwegen, Faröerinseln, Grönland und Nordamerika, und enthält hervorragende Resultate inbezug auf die geographische Verbreitung der Vögel. Später (1860) verfaßte M. noch eine geographisch-geologische Beschreibung der kleinen bei Kola gelegenen Insel Anikijew (Bull. der Akademie II, S. 152–158). Hervorzuheben ist, daß M. infolge seiner Wanderung durch die Halbinsel Kola in die Möglichkeit versetzt wurde, einen bisher auf allen Karten befindlichen Irrthum zu berichtigen. M. stellte fest, daß der Fluß Kola nicht, wie man bis dahin angenommen hatte, von Westen nach Osten fließe, sondern von Süden nach Norden verlaufe. (Man vergleiche Baer: „Bericht über einen Abstecher durch das Innere von Lappland“, Beiträge zur Kenntniß des Russ. Reiches, Bd. II; „Ueber Herrn Middendorff’s Karte von seinem Wege durch das Russische Lappland“, Bull. scient. de l’Academie, Tome IX, Nr. 19.)

M. kehrte nach Kiew zurück, um seine unterbrochene Lehrthätigkeit wieder aufzunehmen. 1841 wurde er zum außerordentlichen Professor der Zoologie ernannt. Allein das Leben und die Lehrthätigkeit eines Professors in Kiew befriedigte den strebsamen Jünger der Wissenschaft nicht. Als daher die kais. Akademie der Wissenschaften M. aufforderte, die Leitung einer wissenschaftschaftlichen Expedition nach Sibirien zu übernehmen, war er sofort dazu bereit. Baer war die Veranlassung dazu gewesen, daß der Plan einer sibirischen Forschungsreise in der Akademie gefaßt wurde, B. war auch die Ursache, daß die Akademie ihre Aufmerksamkeit auf M. gerichtet hatte. Auf der gemeinschaftlichen Reise nach Lappland hatte Baer erkannt, wie außerordentlich geeignet M. zu einer derartig beschwerlichen Reise sei. „Kräftig an Körper und Geist, von Jugend auf ein eifriger Jäger, ist er [M.] gewohnt, die Beschwerden der Witterung mit Lust zu ertragen, oder vielmehr, sie existiren für ihn nicht, so lange sie noch zu ertragen sind“ (Baer). – M. gab sein Amt in Kiew auf und trat in den Dienst der Akademie, um die denkwürdige Forschungsreise nach Sibirien zu unternehmen, die seinen Ruhm als Naturforscher und Reisender begründen sollte. Es ist leider über die Middendorff’sche Reise weder damals noch in der Neuzeit ein Alles gehörig zusammenfassender Bericht erschienen. Ueber den ersten Theil der Reise (die Taimyr-Reise) liegt ein kurzer Bericht Baer’s vor, im IV. Band der „Beiträge zur Kenntniß des Russischen Reiches“. Aus der Feder Middendorff’s besitzen wir nur wenige Worte über diesen Reiseabschnitt (Bd. I, 1. Theil, Einleitung, St. Petersburg 1859, S. XLV–XLVII). Der zweite Reiseabschnitt, Reise an das Ochotskische Meer, ist ebenso kurz von M. in der citirten Einleitung behandelt, S. LI–LIII. Von Baer findet sich kein Bericht darüber. Dieser Mangel einer übersichtlichen Darstellung ist sehr zu bedauern; er hat Anlaß zu Mißverständnissen und falschen Schlußfolgerungen gegeben.

M. selbst hat erst ganz allmählich die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise verarbeitet. Der Schluß des Reisewerks erschien erst 1875 – also 30 Jahre nach der Rückkehr Middendorff’s.

Hier soll in kurzen Zügen der Gang der Reise angedeutet werden. Was die Reisegesellschaft Middendorff’s betrifft, so war dieselbe sehr wechselnd. Vielfach ist M. eigentlich ganz allein gewesen.

Vom Ausgangspunkt der Reise an, von St. Petersburg, wurde M. begleitet von einem dänischen Forstmann Branth und von einem Diener als Präparator, Michael Fuhrmann. Zeitweilig aber trennte sich M. von diesen seinen Begleitern, und in verschiedenen Gegenden schlossen sich dann an M. [390] Eingeborene des Landes, Kosaken, Tungusen u. s. w. an, die zur Wartung der Reit- und Fahrthiere und zur Beförderung des Gepäcks nöthig waren.

M. hatte durch die Akademie sehr eingehende Instructionen erhalten, denen er folgen sollte; freilich mußte er oft doch andere Wege einschlagen. Hier können wir von diesen Instructionen absehen.

Kaiser Nikolaus I. hatte 13000 Rubel zur Bestreitung der Unkosten der Reise bewilligt. Die drei Reisenden (M., Branth und Fuhrmann) verließen am 14./28. November 1842 St. Petersburg und reisten Tag und Nacht, über Moskau, Kasan, Jekaterinburg, auf der großen Sibirischen Straße nach Omsk und schwenkten dann nach Süden ab, um in Barnaul die großen Erdbohrungen in Stand zu setzen. Die Reise ging dann nordwärts nach Tomsk und weiter nach Krasnojarsk und nach Jenisseisk. Nach mühsamen und langsamen Tagereisen langten die Reisenden in Turuchansk am 9. März 1843 an; die Reise bis hierher hatte fast fünf Monate gedauert. Hier in Turuchansk wurde fast einen ganzen Monat, vom 9. März bis 4. April, gerastet, um die Vorbereitungen zur eigentlichen Entdeckungsreise zu treffen. Das Ziel war die Untersuchung der Taimyr-Halbinsel und der Taimyr-Bucht; dies Ziel lag aber von Turuchansk etwa so weit entfernt, wie Odessa von St. Petersburg. Am 4. April verließen die Reisenden, von drei Kosaken begleitet, den Ort Turuchansk, und fuhren, theils mit Hunden, gen Norden, zunächst auf dem Eis des Flusses Jenissei bis zum Kirchdorf Dudino, dann über die Tundra nach Nordosten zum Flusse Pjäsina und zu einer kleinen Ansiedlung Filipowskoje an dem Flusse Boganida. Hier blieben Branth, der Diener Fuhrmann und ein Kosak zurück; M. mit seinen zwei Kosaken, denen sich noch ein Samojeden-Dolmetscher und ein Topograph aus Omsk Waganow angeschlossen hatte, zogen mit Hülfe von Rennthierschlitten weiter nach Norden. Am 14. Juni erreichten die Reisenden den Taimyr-Fluß, zimmerten sich ein Boot und fuhren am 16. Juli abwärts in den Taimyr-See hinein, und aus dem See heraus am 27. August in die eigentliche Taimyr-Bucht hinein (75° n. Br.). M. benannte eine hier entdeckte kleine Insel nach seinem Gönner die „Baer-Insel“. Der eintretende Winter nöthigte sie zur Umkehr; auf der Rückkehr verloren sie im Eis des Taimyr-Sees ihr Boot und wurden durch Hunger und Frost arg bedrängt. Hier war es, wo M. schwer krank von seinen Leuten verlassen werden mußte, wo er Tage lang in Schnee und Eis krank darniederlag, und nur wie durch ein Wunder gerettet, wieder mit seinen Leuten, die Hülfe suchend weiter marschirt waren, zusammentraf. Am 21. October kam M. mit seinen Begleitern wieder an die Boganida zurück, vereinigte sich mit Branth, der unterdeß in seinem Standort sehr genaue Beobachtungen, namentlich meteorologische, angestellt hatte, und langte nach achtmonatlicher Abwesenheit am 30. November 1843 in Turuchansk an. Der erste Theil der sibirischen Reise, die bemerkenswerthe Untersuchung des hochnordischen Taimyr-Gebiets, war beendigt.

Die Gegend am Taimyr-See war bisher nur ein Mal, und zwar vor etwas mehr als 100 Jahren, durch Laptew, aber nur im Winter, besucht worden. Das offene Wasser des Taimyr-Ses ist zum ersten Mal von M. gesehen worden. Es war eine große Kühnheit, so weit vorzudringen; die Gegend ist vollkommen unbewohnt, sie wird nur gelegentlich von den Samojeden und Dolganen besucht. M. war auch nur mit Mühe dem Untergang entronnen.

Nachdem M. sich gehörig erholt hatte, verließ er mit seinen Begleitern, Branth, Fuhrmann und dem Topographen Waganow, am 1. Januar 1844 Turuchankk. Sie eilten auf der großen Poststraße über Irkutsk nach Jakutsk, [391] das sie am 13./24. Februar 1844 erreichten. Hier wurde Halt gemacht, weil der sogen. Schergin-Schacht untersucht und die Temperatur des Schachtes beobachtet werden sollte. Neben den Vorbereitungen zur Weiterreise nach Udskoj und an das Ochotskische Meer wurde M. durch den Schergin-Schacht in Anspruch genommen.

Wir können es uns nicht versagen, mit einigen Worten auf den Schergin-Schacht und die hier zu Tage tretenden geologischen Phänomene einzugehen. Der Schergin-Schacht verdient auch genannt zu werden, weil er die eigentliche Veranlassung zu Middendorff’s sibirischer Reise war.

Schergin, Kaufmann in Jakutsk, wollte 1828 auf seinem Hofe einen Ziehbrunnen graben lassen. Nach zweijähriger Arbeit fand er den Boden immer noch gefroren. Als der Admiral Wrangel nach Jakutsk reiste und davon hörte, forderte er Schergin auf, auf Kosten der amerikanischen Compagnie weiter zu graben, um die Mächtigkeit der Eistiefe kennen zu lernen. Es wurde weiter gearbeitet mehrere Jahre, und erst in einer Tiefe von 54 Sashen 2 Arschin (382 engl. Fuß = 114,8 Meter) glaubte Schergin zu bemerken, daß der Boden weicher wurde, doch betrug die Temperatur noch 0,5° R.; die Compagnie und Schergin hörten auf zu graben. – Die Tiefe der gefrorenen Erdschicht hatte unter den Physikern großes Aufsehen erregt; die Beobachtungen Schergin’s waren nicht mit aller nöthigen Vorsicht angestellt worden, es sollte das Phänomen genauer beobachtet werden. M. fand sich dazu bereit, die Reise dahin zum Zweck der Untersuchung zu machen, wenn man ihm gleichzeitig Gelegenheit geben würde, die Thierwelt Sibiriens zu untersuchen. Es wurde dies zugestanden. M. verweilte wegen des Schergin-Schachtes längere Zeit in Jakutsk – fast zwei Monate –, wegen der betr. Arbeiten. Er berichtet darüber ausführlich in der Einleitung zu seinem Reisewerke: I. Bd., 1. Theil, St. Petersburg 1859, S. 92–183. Wir können hier auf die Ergebnisse nicht weiter eingehen.

Von Jakutsk aus begann der zweite Theil der Forschungsreise: die Erforschung des südlichen Theils der Ochotskischen Küste, des Gebiets von Udskoj und der Schantar-Inseln. Die Reisegesellschaft, die sich um 2 Kosaken und 2 Jakuten vermehrt hatte, wandte sich zuerst nach Amginsk und brach von hier am 11./23. April auf, um in möglichst gerader Richtung gen Süden Udskoj und Ochotsk zu erreichen. Die 1000 Werst zwischen Amginsk und Udskoj erforderten 2 Monate, so groß waren die Hindernisse beim Ueberschreiten des Stanovoi-Gebirges. Am 9./21. Juni in Udskoj angelangt, wurde sofort ein Lederboot gebaut; als der Bau beendigt worden, schiffte die Gesellschaft am 9. Juli sich ein und fuhr stromabwärts bis zum Meere. Durch Hinzukommen eines Kosaken und eines Tungusen war die Gesellschaft auf 12 Köpfe gestiegen. – Es wurde das Küstengebiet untersucht und erforscht, eine Meerfahrt auf dem Ochotskischen Busen nach Osten hin bis zur Tungur-Küste unternommen, die Insel Medweschij wie die Schantar-Inseln untersucht. Branth kehrte nach Udskoj Ostrog zurück; allein M. ruderte noch mit Waganow bis zum Tungur-Fluß in die Tungur-Mündung hinein, und machte einen Ausflug landeinwärts und kehrte erst am 3. October wieder nach Udskoj zurück. Nun wurde der Rückweg angetreten; man überschritt das Gebirge und wanderte gen Süden auf den Amurfluß los.

Nach gewaltigen Anstrengungen und einer viermonatlichen Wanderung gelangten am 26. Januar 1845 die Reisenden nach dem Kosakenposten Streljka, der an der Vereinigung des Schilka mit dem Argun gelegen ist. Ueber die Orte Gorbiza, Nertschinsk und Kjachta trafen die Reisenden endlich in Jakutsk ein, nachdem Fuhrmann zunächst in Udskoj geblieben, um weitere Beobachtungen [392] anzustellen. Auf dem Rückwege nach Jakutsk stellte er geothermische Beobachtungen im Amginsker Schacht an und unterstützte Herrn Dawydow in seinen Beobachtungen am Schergin-Schacht. Fuhrmann trat später in den Dienst des Gouverneurs Dr. Stubendorf, um unter dessen Aufsicht zoologische und botanische Gegenstände für die Akademie zu sammeln. Waganow blieb in Irkutsk; Branth und M. begaben sich nach St. Petersburg, woselbst sie am 1. April 1845 glücklich anlangten. M. hatte im ganzen 20000 Werst auf gebahnten Straßen und über 8000 Werst auf wegelosen Strecken zugebracht. Von den 20000 Werst kommen auf einen Tag 160 Werst, von den 8000 wegelosen Werst auf einen Tag ca. 20 Werst. Die Gesammtdauer der Reise betrug 2½ Jahr, davon kamen auf die eigentlichen Wanderungen ca. 1½ Jahr. – Eigentlich umfaßte Middendorff’s sibirisches Forschungsreise zwei völlig getrennte Perioden: 1. eine hochnordische Reise im Sommer 1843 im Taimyr-Gebiet, und 2. eine südöstliche Reise im Winter 1844–45 im Gebiet von Ochotsk, bis zur chineischen Grenze und dem Amur. Es klingt daher sehr sonderbar und gibt ein ganz falsches Bild, wenn ein geographischer Schriftsteller sagt, M. sei von Rußland durch das Taimyr-Gebiet nach Ochotsk gereist.

Die wissenschaftlichen Ergebnisse sind in einem großartigen, deutsch wie russisch erschienenen Werke niedergelegt, dessen erster Band 1854, dessen letzter 1895 erschien. Das Werk führt den Titel: „Reise in den äußersten Norden und Osten Sibiriens während der Jahre 1843 und 1844, ausgeführt und in Verbindung mit vielen Gelehrten herausgegeben von Dr. Th. v. Middendorff“. – Von M. ist darin bearbeitet die Einleitung des I. Bandes, dann der 2. Band: Zoologie, und ferner vom IV. Band, 1. Theil: die Uebersicht der Natur von Nord- und Ost-Sibirien (1. Einleitung, Geographie und Hydrographie; 2. Orographie und Geognosie; 3. Klima; 4. Gewächse Sibiriens), St. Petersburg 1859–1864. Der 2. Theil behandelt die Thierwelt (Lfg. 1 und 2), und die Eingeborenen Sibiriens (Lfg. 3). Die letzte Lieferung, der Schluß des Werkes ist erst 1895 erschienen.

M. war nach St. Petersburg heimgekehrt – ein Festmahl für ihn und seinen getreuen Gefährten Branth wurde veranstaltet; auch der Akademiker Schrenck war kürzlich von seinen Reisen heimgekehrt und wurde gleichzeitig gefeiert. – Hier, bei Gelegenheit dieses Festmahls, wurde auch die Gründung der Kais. Russischen geographischen Gesellschaft beschlossen. Baer pries den kühnen Reisenden in längerer Rede; er forderte ihn auf, treu seinem Namen, jetzt „mitten im Dorfe“ zu bleiben und Ruhe zu halten. – Zunächst hielt M. wirklich sich still; nach Kiew ging er nicht zurück, er blieb in St. Petersburg. Im October 1845 wurde er zum Adjuncten der Akademie gewählt, 1850 zum außerordentlichen, 1852 zum ordentlichen Mitglied der Akademie für Zoologie ernannt. M. konnte jetzt in Ruhe seinen wissenschaftlichen Arbeiten und Studien sich hingeben, aber leider wurden diese bald unterbrochen.

Seit 1852 war M. als Docent für Hippologie an der Garde-Kosaken-Schule thätig; er hatte vorher schon den Großfürsten Nikolai und Michail Nikolajewitsch (den Brüdern Kaiser Alexander’s II.) hippologische Vorträge gehalten. Er hielt nun abermals diese Vorträge vor einem Auditorium, das aus älteren und jüngeren Officieren (Junkern) zusammengesetzt war.

An die Vorträge über Hippologie knüpfte sich die Abfassung einer wissenschaftlichen Pferdekunde für Cavallerie und Artillerie: „Die Anforderungen des Kavallerie-Wesens an die Pferdekunde“ und andere hippologischen Schriften.

Für Stassow’s Werk „Chambre sépulchrale de Kertsch“ lieferte M. eine Arbeit, in der er alle in den Fresken dargestellten Pferderassen bestimmte, [393] unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Pferderassen auf egyptischen, assyrischen, griechischen und römischen Kunstdenkmälern.

Dazu kam, daß M. im April 1855 nach dem Tode des Akademikers Fuß († 1854) das Amt eines beständigen Secretärs der Akademie hatte übernehmen müssen; er bekleidete dieses Amt aber nur bis 1857; die Kanzleigeschäfte waren ihm zu unbequem; überdies gab es schon damals in der Akademie verschiedene einander bekämpfende Elemente: M. versuchte es, die Gegensätze auf friedlichem Wege zu versöhnen; er veranstaltete in seiner eigenen Wohnung an jedem 2. Dienstag-Abend sehr beliebte Zusammenkünfte, in denen wissenschaftliche Vorträge gehalten wurden. Da ihm aber doch nicht alles nach Wunsch gelang, so strebte er darnach, seine Stellung als Secretär aufzugeben. Die gewaltig großen Anstrengungen, die durch seine umfangreiche Thätigkeit bedingt wurden, die Nachwirkungen der sibirischen Reise, das ungünstige St. Petersburger Klima ließen ihn keine Ruhe finden.

Es ist noch zu erwähnen, daß M. 1859 zum Präsidenten der Freien ökonomischen Societät gewählt worden war, daß M. ferner eine Zeit lang dem später verstorbenen Großfürsten-Thronfolger Nikolai Alexandrowitsch Vorträge über Naturwissenschaft gehalten hat.

Alles dies hatte Middendorff’s Kräfte erschöpft; Bade- und Erholungsreisen verfehlten ihre Wirkung. Er beschloß, St. Petersburg zu verlassen; er bat um die Erlaubniß, als Akademiker außerhalb St. Petersburgs leben zu dürfen. Die Erlaubniß wurde ihm 1860 gewährt; M. verließ St. Petersburg und zog aufs Land. Er besaß in Livland zwei große Güter, Pörrafer und Hellenorm. Das Gut Pörrafer bei Pernau in Livland war ihm als Erbtheil von seinem Vater zugefallen; hier hatte sein alter Vater die letzten Lebensjahre zugebracht; das Gut Hellenorm, das er sich später gekauft hatte, bewirthschaftete er selbst.

Mit der Uebersiedlung Middendorff’s aufs Land beginnt gleichsam eine zweite Periode seines Lebens: M. wurde Landwirth. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß er seine bisherigen wissenschaftlichen Bestrebungen aufgab – keineswegs; aber sein Interesse wandte er doch jetzt in erster Linie der Landwirthschaft zu, wenngleich er seine alten wissenschaftlichen zoologischen Arbeiten so viel als möglich fortsetzte.

Als Landwirth war M. außerordentlich thätig. Mit Energie betrieb er alle landwirthschaftlichen Meliorationen des Bodens, verbesserte die Lage seiner Bauern und Gutsarbeiter, war bemüht, die Pferdezucht durch Einführung der Ardennen-Pferde und die Rindviehzucht durch Einführung von Angeler Rindern zu heben, richtete ein livländisches Stammherdenbuch ein, beaufsichtigte das livländische ritterschaftliche Gestüt Torgel. Infolge dieser landwirthschaftlichen Bestrebungen übertrugen die russische Großfürstin Helene Pawlowna und deren Tochter Jekaterina Michailowna ihm die Verwaltung ihrer Gütercomplexe Karlowska im Gouvernement Poltawa.

Aber die Reiselust verließ M. auch als Landwirth nicht – so oft ihm Gelegenheit zum Reisen geboten wurde, ergriff er sie.

Nachdem M. im J. 1865 zum Ehrenmitglied der Akademie ernannt worden war und somit seine akademische Stellung einem andern Gelehrten überlassen und sich in gewissem Sinne größere Freiheit verschafft hatte, begleitete er 1867 den Großfürsten Alexei Alexandrowitsch auf einer Reise in den Süden: die Krim, Constantinopel, Athen, Malta, die Küste des mittelländischen Meeres wurden besucht, aber auch weiter hinaus die canarischen Inseln, die Inseln des grünen Vorgebirges wurden besichtigt.

Im J. 1869 folgte M. einer Einladung des Großfürsten Wladimir [394] Alexandrowitsch, ihn auf einer Reise nach Sibirien zu begleiten. Die Reise ging zuerst zum Ural und diesem entlang nach Süden, dann durch das südliche und mittlere Sibirien bis zur chinesischen Grenze. Bei dieser Gelegenheit lernte M. die große Baraba-Steppe kennen und machte dieses Gebiet zum Gegenstand eines sehr eingehenden Studiums. Er lieferte eine sehr anziehende und bemerkenswerthe Schilderung der Baraba-Steppe (Mémoires de l’Academie, VII Serie, Tome XIV, No. 9. St. Petersburg 1876. Mit Karten. 78 Seiten in 4°). Das von Kirgisen bewohnte Gebiet führt den Namen Steppe mit Unrecht; denn es ist viel mit Wald (Birken) bewachsen und außerordentlich fruchtbar an Korn. Das Gebiet ist aber äußerst gefährlich, denn es gibt hier eine einheimische, die Thiere und Menschen befallende Krankheit, die sibirische Pest, die sich leicht auch weiter verbreiten kann.

Im J. 1870 ließ M. sich abermals bereit finden, den Großfürsten Alexei Alexandrowitsch zu begleiten. Die Reise ging nach Nord-Rußland, nach Archangel, über das Weiße Meer nach Nowaja Semlja, längs der Küste Norwegens bis nach Island. Als wissenschaftliches Ergebniß dieser Reise verfaßte M. die Abhandlung „Golfstrom“. (Der Golfstrom ostwärts vom Nordcap in Petermann’s Geographischen Mittheilungen 1871.) M. bestätigt darin die zunächst wenig glaubliche Voraussetzung Petermann’s, daß sich die Wärmemasse des Golfstroms bis über Nowaja Semlja hinaus erstreckt.

Und noch ein Mal, 1878, sah M. sich veranlaßt, eine wissenschaftliche Reise zu unternehmen – nach Turkestan, nach dem Ferghana-Thal. Der damalige Generalgouverneur von Turkestan, General Kaufmann, wünschte ein wissenschaftliches Urtheil über die neuerworbenen mittelasiatischen Besitzungen Rußlands, und wandte sich deshalb an den damaligen Vicepräsidenten der Geographischen Gesellschaft Semenow. Auf Semenow’s Aufforderung hin bereiste M. in Begleitung seines jüngsten Sohnes Max (jetzt Arzt in Reval) das Ferghana-Gebiet, vom 9. Januar bis Anfang Juli 1878. Die Ergebnisse dieser Reise sind niedergelegt in dem „Einblick in das Ferghanathal“ (Memoiren der Akademie zu St. Petersburg 1881, 482 Seiten). Diese Abhandlung schildert das Land als ein reich gesegnetes, reich an Naturproducten, und überreich an Resten alter Culturarbeit.

In den achtziger Jahren erhielt M. noch einmal den Auftrag, als Führer einer Regierungscommission die nördlichen und östlichen Gouvernements Rußlands zu bereisen, um die Rindviehzucht der Staatsdomänen zu studiren und die Mittel zur Hebung derselben anzugeben. Die Ergebnisse sind in einem besonderen, mit zahlreichen Photographien ausgestatteten Bericht zusammengefaßt, der für die Viehzucht außerordentlich wichtig ist.

M. war ein außerordentlich fleißiger Schriftsteller; er schrieb leicht, klar und faßlich und sehr anziehend, oft humoristisch, auch in wissenschaftlichen Arbeiten. Ein Verzeichniß aller Schriften hier zu geben, ist ganz unmöglich. Die Hauptarbeiten sind im Verlauf der Lebensschilderung genannt. Eine Zusammenstellung findet sich bei Blasius (Ornithol. Jahrbücher 1894). – Nur auf eine Arbeit Middendorff’s muß hier noch hingewiesen werden, auf die Abhandlung über die Isepiptesen Rußlands.

Trotz der vielen Berufsgeschäfte fand M. während seines St. Petersburger Aufenthalts Zeit zum Abschluß einer großen Arbeit, die ihn seit seiner Lapländischen Reise beschäftigt hatte: die Isepiptesen Rußlands („Grundlage zur Erforschung der Zugzeiten und Zugrichtungen der Vögel Rußlands“, St. Petersburg 1855). Die Arbeit behandelt die Wärmeökonomie, sowie die Wanderungen der Vögel. Durch die Feststellung der Ankunfts- und Abzugstage der Zugvögel ermittelte M. die mittleren Tage für Ankunft und Abzug [395] jeder Vogelart unter den verschiedensten geographischen Längen- und Breitengraden; ferner erörtert er dann die Zugrichtung und die Schnelligkeit des Fluges der Vögel.

M. ist ganz außerordentlich vielseitig gewesen, er hat auf den verschiedensten Gebieten gearbeitet und auf allen Großes und Hervorragendes erreicht. Er war Reisender, Gelehrter, Administrator, praktischer Landwirth. Seine zahlreichen wissenschaftlichen, ganz verschiedene Gebiete berührenden Arbeiten legen ein glänzendes Zeugniß von seiner Begabung und seiner Thätigkeit ab. An äußeren Ehren fehlte es ihm nicht. Wir können es uns nicht versagen, einzelne aufzuführen: bald nach Beendigung seiner sibirischen Reise erkannte die Londoner geographische Gesellschaft M. die Goldene Medaille zu. – M. zu Ehren sind 16 Thiere, 12 Pflanzen und 4 geographische Localitäten benannt. (Siehe das Verzeichniß bei Blasius im Ornithol. Jahrbuch November und December 1894). Blasius nennt nur drei geographische Punkte – es fehlt die Baer-Insel in der Taimyr-Bucht.

Middendorff’s Vater hatte infolge seines Staatsdienstes sich den russischen Verdienstorden erworben; der Adel ging selbstverständlich auf den Sohn über. M. selbst erhielt durch Kaiser Alexander II. am 24. März 1854 die Zuerkennung des russischen Erbadels, unter Veränderung des bisherigen väterlichen Wappens: ein Boot wurde dem Wappenschild zugefügt. Nachdem M. sich aufs Land zurückgezogen hatte, wurde er (am 10. Mai 1861) mit seiner Familie in die livländische Adelsmatrikel aufgenommen.

Wer M. kannte, weiß, daß ihm solche Aeußerlichkeiten des Lebens ziemlich gleichgültig waren. Ein Zeitgenosse Middendorff’s sagt mit vollem Recht: „Seinem [M.] selbstlosen Charakter, seiner auf so mannifachen Gebieten bethätigten uneigennützigen und aufopfernden Hingebung war an äußerer Ehre wenig gelegen. Er hat der Wissenschaft um der Wahrheit und jeder Sache um ihrer selbst willen gedient“.

Im J. 1887 feierte M. sein 50jähriges Doctorjubiläum; er war damals schon sehr leidend. Eine schwere Nervenkrankheit fesselte ihn oft ans Krankenbett, was der unermüdliche Reisende, der immerfort thätige Mann schwer ertrug. Nach langem Kranksein ist er am 16./28. Januar 1894 still dahingeschieden.

M. war seit dem 12. April 1850 mit Hedwig v. Hippius verheirathet; dieser Ehe sind 5 Kinder entsprossen: 2 Töchter und 3 Söhne. Von den Söhnen ist einer jung gestorben, der älteste, Ernst, bewirthschaftet das elterliche Gut Hellenorm, der jüngste, Max, lebt als Arzt in Reval.