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ADB:Chamisso, Adelbert von

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Artikel „Chamisso, Adelbert von“ von Jacob Achilles Mähly in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 97–102, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Chamisso,_Adelbert_von&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 01:57 Uhr UTC)
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Chamisso: Adelbert v. Ch. (eigentlich Louis Charles Adelaide), berühmt als Dichter, bekannt als Naturforscher, von Geburt und Vaterland Franzose, von Natur und Charakter mehr Deutscher, wurde geboren in der letzten Woche des Januar (27.?) 1781 auf dem Schlosse Boncourt in der Champagne, wo schon seit Jahrhunderten seine Ahnen, die von Chamizzot oder Chamissot, lothringischen Geschlechtes, ihren Stammsitz hatten. Von den Stürmen der französischen Revolution vertrieben, ihrer Habe beraubt, suchten die Eltern unseres Ch., der als neunjähriger Knabe im Verein mehrerer Geschwister die Flucht mitmachte, ein Asyl auf deutschem Boden und fanden es nach ziemlich unstäten Versuchen, erst in den Niederlanden, dann im südlicheren Deutschland (in Würzburg und Baireuth), endlich zu Berlin 1796. Hier hatte der junge Ch. das Glück als Edelknabe der Königin Gemahlin Friedrich Wilhelms II. angenommen zu werden, in welcher Stellung er nicht blos Privatunterricht erhielt, sondern auch am öffentlichen Lehrgange des französischen Gymnasiums zu Berlin theilnehmen durfte. Durch eine kriegswissenschaftliche Arbeit dem König Friedrich Wilhelm III. sich empfehlend, wurde er zum Fähndrich bei dem Regiment v. Götze ernannt, welches damals in Berlin stand (1798), und bei dem nämlichen Regimente wurde er, erst 20 Jahre alt, 1801 Lieutenant. Die mildere Herrschaft des ersten Consuls gestattete zu Anfang des Jahrhunderts seinen Eltern die Heimkehr nach Frankreich, Ch. selbst blieb in Berlin zurück. So stand er – denn auch seine Geschwister waren den Eltern gefolgt – wie er selbst sagt: „in den Jahren, wo der Knabe zum Mann heranreift, allein, durchaus ohne Erziehung.“ Die Liebe zum Kriegshandwerk scheint sich bei ihm mehr und mehr abgekühlt zu haben, unter den damaligen Verhältnissen der preußischen Kriegszucht kein Wunder, und getäuscht in seinen Erwartungen warf er sich mit dem ersten Eifer des Wissensdurstes auf Litteratur und Lectüre, besonders auf die deutsche; er las Klopstock’s Messias, Schiller, Goethe, Shakespeare in deutscher Uebersetzung, machte auch selber Verse, französische wie deutsche. In seinem Nachlasse fand sich das Manuscript eines in Prosa abgefaßten Trauerspiels („Graf Comminge“), welches aus dieser Zeit stammt – ein Nacht- und Schauerstück, [98] übrigens schwerlich Original. Bei aller Vorliebe für deutsche Litteratur litt übrigens Ch. in diesen Jahren an Heimweh und es bedurfte der eindringlichsten Vorstellungen seiner Eltern, seine gesicherte Stellung nicht gegen eine ungewisse Zukunft umtauschen zu wollen. Aber das Schicksal kam seinem Willen zu Hülfe: sein jüngerer Bruder, welcher in die Ingenieurschule zu Potsdam aufgenommen worden war, erkrankte so bedenklich, daß Ch. ihn (1802) zu seinen Eltern zurückzubringen sich entschloß. Er fand zu Hause einen kränkelnden Vater und – einen ziemlichen Abstand in den Anschauungen und der Denkweise zwischen sich und der Familie. Mit Anfang des J. 1803 in anderer Stimmung, als er es verlassen, nach Berlin zurückgekehrt, versenkte er sich wieder mit wahrer Sehnsucht in seine deutschen Studien und sein dramatischer Versuch „Faust“ („fast knabenhaft metaphysisch“ nennt er ihn selber) brachte ihn zufällig einem andern Jünglinge nahe, K. A. Varnhagen v. Ense. Sie verbündeten sich und gründeten im Verein mit W. Neumann, J. E. Hitzig und einigen andern jungen Männern im J. 1804 einen „Musenalmanach“, der zum erstenmal auf das Jahr 1804, auf Kosten Chamisso’s – da kein Buchhändler den Verlag übernehmen wollte – erschien. Der Bund, zu welchem dann auch Fr. H. K. Freiherr de la Motte Fouqué aus der Nähe in vertrauteres Verhältniß trat, während aus der Ferne der Romantiker Zachar. Werner eine engere Verbindung anzuknüpfen suchte, wählte zu seinem Symbol den Nordstern, τὸ τοῦ πὁλου ἂστρον (mit welchen Chiffern Ch. beinah regelmäßig seine Namensunterschrift in Briefen begleitet). Im übrigen war nie eine Spur von Ordenswesen bei dem kleinen Bunde zu erblicken, das Ganze nur ein Freundschafts- und Studienzeichen. Für den Almanach selber interessirte sich A. W. v. Schlegel lebhaft, auch W. v. Schütz und Achim v. Arnim wurden dafür gewonnen, und der patriotische Philosoph Fichte sogar bedachte ihn mit Beiträgen. Es folgten noch zwei Jahrgänge nach, zu welchen sich ein Verleger gefunden hatte, und das Buch hörte erst auf zu erscheinen, als die politischen Ereignisse die Herausgeber und Mitarbeiter auseinander gesprengt hatten (der erste Band erschien zu Leipzig 1804, die beiden andern zu Berlin in 12. Erst im J. 1832 finden wir Ch. wieder im Verein mit Gust. Schwab als Herausgeber eines, seit 1829 von Wendt besorgten Musenalmanachs; Ch. redigirte die Jahrgänge 4–10, den letzten zusammen mit Freiherrn v. Gaudy, Leipzig in 16. Diese zweite Periode ist hauptsächlich auch darum zu erwähnen, weil Ch. das Verdienst hat, eine Anzahl junger Talente, wie Freiligrath, Fr. Kugler, Simrock, W. Wackernagel durch Aufnahme ihrer Beiträge in die Litteratur eingeführt zu haben). Der litterarische Verkehr zwischen den Freunden blieb auch nach der Trennung ein reger und ununterbrochener. Ch. war für immer deutscher Sprache und Bildung gewonnen, indem er aber mit dieser Vorliebe die Pflichten seiner äußern Stellung als Militär nicht zu vereinigen vermochte, schlich sich eine düstere Stimmung in sein Herz, welche ihm „diese erbärmliche Welt“ in ihrer ganzen „Trostlosigkeit“ erscheinen ließ. Er fühlte, daß diese Lage, „geklemmt zwischen schwerwandelnden Recruten und griechischen Lexika“ (seit 1805 war auch das lateinische, sowie das Studium moderner Sprachen hinzugekommen) auf die Länge unerträglich sei, aber zwischen seinen Entschluß, den Kriegsdienst zu verlassen und sich ganz den Studien zu widmen, traten hemmend und verzögernd die verhängnißvollen Ereignisse vom J. 1806. Schon im October des J. 1805 mußte Ch. seinem Regimente folgen, welches nach verschiedenen Märschen im März 1806 in Hameln einrückte und bis zur schmachvollen Uebergabe der Festung daselbst verblieb. Hier fand Ch. Zeit den Plan zu einem größer angelegten Gedicht „Fortunatus’ Glückseckel und Wünschhütlein“ eine Strecke weit auszuführen; mehr als tausend Verse wurden niedergeschrieben, es blieb aber beim Torso, und selbst dieser ist nicht mehr vorhanden. [99] Es ist merkwürdig, daß Ch. trotz seiner großen Vorliebe für Poesie und trotz eigenen Versuchen in der Kunst noch keine Ahnung hatte von seinem wirklichen Berufe als Dichter von Gottes Gnaden, ja er kam zu dieser Ueberzeugung eigentlich erst im letzten Jahrzehnt seiner Laufbahn. Daran war eine angeborene liebenswürdige Bescheidenheit schuld, ein allzu gewissenhaftes Abwägen zwischen Wollen und Vollbringen; denn des deutschen Ausdrucks – nur von diesem Organ konnte fürder bei ihm die Rede sein – war er jetzt vollkommen mächtig, zumal des schriftlichen, während im mündlichen hier und da noch leise Nachklänge aus der frühesten Jugendzeit vernehmbar waren. Scrupulöse Forscher mögen freilich auch in seinen Briefen einzelne Gallicismen aufspüren, wie folgende: Professor bei der Universität’ – ein hohl im Leibe seiendes Pferd – es fallen Schneen – wegen Verhältnisse – ein wehes Herz – ich fürchte widersagt zu werden – du weißt von meinem Uebersatz der Schlegel’schen Vorlesungen – das Deficit ist von so und so viel Thalern u. a. m.

Ein wiederholtes Gesuch um Entlassung aus dem Kriegsdienste, wozu ihn besonders ein Besuch Varnhagen’s und Neumann’s in Hameln aufgemuntert zu haben scheint, wurde abschlägig beschieden, und unter solchen Umständen war es für Ch., obschon auch er in seiner militärischen Ehre sich tief dadurch verletzt fühlte, daß der preußische Befehlshaber die Festung ohne Schwertstreich den Franzosen übergab, ein Glück zu nennen, daß die Kriegsereignisse diese Wendung nahmen. Auf Ehrenwort kriegsgefangen, begab er sich nach Frankreich. Er fand seine Eltern nicht mehr am Leben. Im Herbst 1807 kehrte er nach Berlin zurück und erst zu Anfang des folgenden Jahres erhielt er seine Entlassung aus preußischem Dienst. Es folgten zwei trübe Jahre. „Irr an sich selber, ohne Stand und Geschäft, gebeugt, zerknickt“ verbrachte er die düstere Zeit. Da erhielt er durch Vermittlung eines Familienfreundes einen Ruf an das neu zu errichtende Lyceum zu Napoleonville in der Vendée. Der Drang nach einer endlichen gesicherten und geregelten Lebensstellung überwog alle anderen Rücksichten. Ch. trat die Reise an, um – eine neue Enttäuschung zu erfahren: die ihm zugedachte Stelle war aufgehoben worden (1810)!

Doch nahm Ch. diese Widerwärtigkeit gelassener hin, als sich nach seiner Stimmung erwarten ließ, und zwar zunächst darum, weil er sich der ihm zugedachten Berufspflicht nicht gewachsen fühlte: er sollte Latein und Griechisch dociren; letzteres aber hatte er „schon wieder vergessen und ersteres nie gewußt“. Einstweilen ging es ihm nicht so schlimm; er fand in Paris fürs erste neue Bekanntschaften und Beschäftigung. Die für ihn erfolgreichste war die mit A. W. v. Schlegel, der ihn nicht nur mit der Uebersetzung seiner dramatischen Vorlesungen (im Verein mit Helmina v. Chezy) beauftragte, sondern auch den lohnenden Umgang mit Frau v. Staël vermittelte. Ch. brachte in Gesellschaft dieser merkwürdigen Frau und des sie umgebenden litterarischen Hofes den Sommer des J. 1810 in Chaumont, dem wunderherrlich auf einer Höhe am südlichen Ufer der Loire gelegenen Schlosse zu, folgte ihr nach Blois, wohin sie übersiedelte, und als sie durch Napoleon’s unedlen Machtspruch auch von hier vertrieben wurde, begab er sich zu dem gebildeten, später berühmt gewordenen Prosper de Barante, dem Präfecten der Vendée, in Napoléon, wo er den Winter über 1810–1811 sich hauptsächlich mit altfranzösischer Litteratur (Sammlung von Volksliedern) beschäftigte. Trotzdem, daß er fühlte, er „könne nur im protestantischen Deutschland gedeihen“, finden wir ihn im Sommer 1811 zu Coppet (im schweizerischen Canton Waadt) bei Frau v. Staël, bei welcher er blieb, bis sie (Mai 1812) auch von hier flüchten mußte. Hier war es hauptsächlich neben den modernen Sprachen (Englisch und Spanisch) die Botanik, welche sein regstes Interesse in Anspruch nahm; sie ist bis ans Ende seiner Tage [100] sein Lieblingsstudium geblieben. Für Frau v. Staël empfand er eine an Bewunderung grenzende Achtung; auch der „zierliche“ A. W. v. Schlegel wußte ihm mehr Sympathien für seine Person einzuflößen als manchem andern der seines Umganges theilhaftig wurde. Von litterarischer Beschäftigung während dieser Zeit verlautet nicht viel, doch ist die deutsche Bearbeitung eines französischen Lustspiels (vielmehr Plagiats) von Etienne „Conaxa“ zu erwähnen; das Manuscript scheint indeß verloren zu sein. Im Herbst endlich finden wir Ch. nach einer größeren botanischen Wanderung in die Umgebung des Montblanc wieder in Berlin, um sich dem „Studium der Natur zu widmen“. Hiermit zeichnete er seinem Leben diejenige Richtung vor, welche er fortan unverwandt verfolgte. Und es war endlich Zeit, denn der „Studiosus medicinae“, als welcher er sich in die Matrikel eintragen ließ, hatte das dreißigste Jahr bereits hinter, das zweiunddreißigste nahe vor sich. Aber noch war ihm ein ruhiges Arbeiten nicht beschieden. Das J. 1813, so hoffnungsreich für jeden Preußen, brachte schmerzliche innere Kämpfe: die Sympathien für sein Geburtsland waren in seinem Herzen nicht erloschen und durften es nicht sein, andrerseits liebte er aber auch sein zweites Vaterland, und dieser Conflict zerriß sein Herz. Es war daher eine wahre Wohlthat für ihn, als ein wohlwollender Lehrer der Universität ihm für diese verhängnißvolle Zeit ein Asyl bei der Familie v. Itzenplitz, nicht allzufern von Berlin, erwirkte. Hier, in ländlicher Abgeschiedenheit, konnte er mit Erfolg seinen botanischen Studien leben, aber auch für unsere deutsche Litteratur fiel ein Gewinn ab – das Märchen „Peter Schlemihl“, welches er schrieb „um sich zu zerstreuen und die Kinder seines Freundes Hitzig zu ergötzen“. Das Märchen ist in manche Sprache übersetzt worden, muß also wol seine Verdienste haben; bei Nähe betrachtet, scheint es aber doch überschätzt zu werden. Auch der Dichter hat seinem Product schwerlich den Werth beigemessen, der ihm von manchen Litterarhistorikern vindicirt wird. Von großem „Tiefsinn“ wenigstens ist nichts darin zu verspüren, und dies gereicht dem „Märchen“ kaum zum Nachtheil. Ein entschiedener Fehler dagegen scheint uns der, daß das Märchen ein so unbefriedigendes, oder wenn man lieber will, kein Ende hat. – Nach Vertreibung der Franzosen aus Preußen begann in Berlin wieder zwischen Ch. und seinen alten Freunden ein anregender, ihm persönlich wohlthuender Verkehr; da fuhr der Sturm vom Jahre 1815 dazwischen. Die Zeit hatte kein Schwert für Ch., und die Aussicht, die sich ihm erst durch Zufall, dann durch Vermittlung seines Freundes Hitzig bot, Europa zu verlassen, erschien ihm als eine wahre Wohlthat. Ch. wurde nämlich (nachdem etwas früher ein ähnlicher Plan am Kostenpunkt gescheitert war) zum Naturforscher für die mit russischem Geld (Ausrüster Graf v. Romanzoff) zu unternehmende Entdeckungsreise in die Südsee und um die Welt ernannt (12. Juni 1815). Diese Reise, von Mitte Juli 1815 bis gegen Ende October 1818, also über drei Jahre dauernd, hat Ch. selber in klarer, anziehender Sprache geschildert. Die wissenschaftliche Ausbeute derselben erlitt, ohne Schuld und zum Schaden Chamisso’s, dadurch einigen Abbruch, daß man seine Arbeit nicht nur ganz incorrect sondern recht eigentlich verstümmelt in das größere beschreibende Werk aufnahm. Wie viel Schuld an dieser Rohheit dem Capitän der Expedition, Otto v. Kotzebue, beizumessen sei, mag dahingestellt bleiben. Der Rückkehrende, von den Freunden mit alter Liebe empfangen, übergab dem Berliner Museum was er an Naturmerkwürdigkeiten von der Reise mitgebracht hatte. Die Wanderungen lagen nun hinter ihm: die Meisterjahre begannen. Das Jahr 1819 brachte Ehren, eine Anstellung und eine Frau. Die Universität ernannte ihn zum Doctor honorarius der Philosophie, und die Gesellschaft naturforschender Freunde zu ihrem Mitgliede; er erhielt das Amt eines Custoden am botanischen Garten und in der achtzehnjährigen Antonia Piaste, welche er im Hause seines Freundes [101] Hitzig kennen gelernt hatte, eine blühende, liebenswürdige Braut. Der Born der Poesie fing, natürlich, nun reichlicher an zu sprudeln, noch nicht aber für die Oeffentlichkeit. Das traute häusliche Leben, welchem sich Ch., „aufgelöst in lauter Wonne“ hingab, wurde nur durch kürzere Reisen (1823 nach Greifswald und der Insel Rügen, zum Zwecke barometrischer Beobachtungen, 1824 nach dem Harz zur Erholung, 1825 nach Paris in Vermögensangelegenheiten) unterbrochen. In das J. 1824 fällt ein nicht zum Abdruck gekommener, ursprünglich für eine Mittwochsgesellschaft litterarischer Freunde bestimmter dramatischer Versuch des Dichters, „Die Wundercur“, ein gegen den Magnetismus und dessen Schwindel gerichtetes kleines Lustspiel. Trotz des großen L. Devrient’s Bemühen (im Königstädter Theater) errang es keinen Erfolg. Auch ein wissenschaftliches, freilich erst drei Jahre später erschienenes Werk über Botanik wurde in diesem Jahre zu Ende gebracht. Merkwürdig und charakteristisch für Chamisso’s bescheidenes Wesen ist, daß er noch im J. 1826 keinen Glauben an seinen Dichterberuf hat. Still und ohne eingreifende Ereignisse verliefen die folgenden Jahre; erst im J. 1831 erlitt die eisenfeste Natur Chamisso’s durch einen Grippenanfall den ersten, leider nachhaltigen Stoß. Er erholte sich nie wieder von den Folgen der tückischen Krankheit; ein wiederholter Badeaufenhalt brachte der kranken Lunge zwar zeitweilige Erleichterung, aber keine Genesung. Aber auch die Gesundheit seiner Gattin wurde von einem langsam zehrenden Uebel ergriffen; zu alle dem ward die Last seiner Amtspflicht noch drückender, als sein College v. Schlechtendal nach Halle übersiedelte und die Arbeit nun ungetheilt auf Chamisso’s Schultern fiel. In diese trübe Zeit brachte das J. 1835 zwar einen Freudenstrahl, als Ch. auf Alexanders v. Humboldt Vorschlag fast einstimmig zum Mitgliede der Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, aber das Glücksgefühl wurde mehr als aufgehoben durch den herben Schlag, welchen der Tod seiner Frau (Mai 1837) dem Herzen des Dichters versetzte. Er ertrug sein Schicksal mit stiller, männlicher Ergebung. Wir dürfen uns aber nicht wundern, daß er schon im nächsten Frühjahr sich den Anstrengungen, welche sein Amt auch von seinem Körper verlangte, nicht mehr gewachsen fühlte und um seine Entlassung nachsuchte, welche ihm auch mit Belassung seines vollen Gehaltes gewährt wurde. Letzteres war gut, denn Ch. konnte nach den Aussagen seines unmittelbaren Vorgesetzten „keinen Groschen von seinen Einnahmen missen“. Der Genuß der Ruhe war ihm leider nicht lange beschieden: am 21. August desselben Jahres (1838) starb er. Das vorletzte Jahr seines Lebens ist auch für die Wissenschaft nicht unwichtig geworden durch seine der Akademie vorgelegte Hawai’sche Grammatik (das Lexikon dazu blieb unvollendet). Noch im letzten Jahre beschäftigte ihn der „Musenalmanach für 1839“, und er hatte die Freude gerade noch das Erscheinen seiner im Verein mit Freiherrn Franz v. Gaudy besorgten Uebersetzung seines Lieblingsdichters Béranger zu erleben. – Wir geben hier eine Uebersicht der Schriften, vorerst der gelehrten (wobei aufmerksam zu machen auf eine Würdigung Chamisso’s als Botaniker durch seinen Freund und Collegen v. Schlechtendal in dessen Zeitschrift „Linnaea“, 1839. Bd. XIII. Heft 1): „De animalibus quibusdam e classe vermium Linuaei“, Berol. 1819. – „Bemerkungen und Ansichten“ (im III. Bd. der „Entdeckungsreise in die Südsee und nach der Behringsstraße zur Entdeckung einer nordöstlichen Durchfahrt etc.“ von Otto v. Kotzebue, Weimar 1821 in 4.). – „Reise um die Welt in den Jahren 1815–1818, Tagebuch“ (aufgenommen in die Werke Chamisso’s). – „Uebersicht der nutzbarsten und der schädlichsten Gewächse, welche wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen, nebst Ansichten von der Pflanzenkunde und dem Pflanzenreiche“, Berlin 1827, gr. 8. – „Ueber die Hawai’sche Sprache“, vorgelegt der königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin [102] 12. Jan. 1837, gr. 4, 79 S. Von seinen poetischen Gaben hat zuerst das Licht erblickt: „Peter Schlemihl’s wunderbare Geschichte“, Nürnberg 1814. 8.; es folgen „Gedichte“, Leipzig 1831. 8. – „Béranger’s Lieder. Auswahl in freier Bearbeitung von A. v. Ch. und Fr. Freiherrn v. Gaudy“, Leipzig 1838; – Chamisso’s „Werke“ sind zuerst herausgegeben von Jul. Ed. Hitzig, 6 Bde., Leipzig 1839 (die beiden letzten Bände enthalten „Leben und Briefe von A. v. Chamisso“), zuletzt von Heinr. Kurz („kritisch durchgesehene Ausgabe“), 2 Bde. Hildburghausen (ohne Jahr; 1873?).

Als Dichter zählt Ch. zu den besten und gelesensten unserer Nation, und dem Dichter völlig ebenbürtig ist der Mensch in seiner Herzensunschuld und Charakterreinheit, seinem Ernst und seiner geläuterten Sittlichkeit. Seine lyrische Poesie ist treuer Spiegel und Abglanz des Innern. Das Anziehende und Liebenswürdige an dieser edlen Erscheinung ist die sonst so selten sich zeigende, hier aber aufs glücklichste vollzogene Vermählung zweier Volksthümlichkeiten in ihren schönen Seiten. Alter und herbe Lebensschicksale haben die Schläge des jugendlich fühlenden Herzens nicht zu dämpfen vermocht; Chamisso’s Muse schlägt zwar auch düstere Weisen an, und unheimliche Schatten lagern wie Trauerflor über manchen seiner Gedichte: das sind aber nicht die Ausflüsse eines verbitterten und verzweifelnden Herzens, sondern die Nachwehen der Romantik, jener Schauerromantik, die er an anderen wie an Freiligrath, gar wohl herausfühlt und vor der er warnt, ohne selber ihrem Bann sich völlig entziehen zu können. Aber auch ein edler männlicher Zorn braust bisweilen durch seine Saiten; Ch. ist ein Kind seiner Zeit, er sieht ihr fest ins Auge und hat nicht nur ein Herz, sondern auch eine Sprache für die Gebilde ihres Elendes und Jammers. An Hoheit der Gesinnung, an Tiefe des Gefühls weicht er keinem unserer Dichter, und auch die Welt seiner Gedanken bewegt sich nicht auf der Oberfläche. Seine Seele lebt und athmet in der Luft der Freiheit, nicht in der wehseligen Erinnerung an „des Hauses Glanz, der Väter Schild und Schwert“, und eine männliche Schwermuth bemächtigt sich seiner, wo er ein offenes oder geheimes Sperren gegen den heiligen Geist der Zeit und Verrath an den Heiligthümern des Menschen gewahrt. Dabei ist er ein Meister in erschütternden Wirkungen durch einfache Mittel; seine Sprache, von geheimnißvoller Kraft, ist weniger blühend und bilderreich, als knapp und gedrungen, seine metrische Form gewissenhaft abgewogen; er ist, noch mehr als Rückert, Meister der Terzine, auch die altmodische Form der Allitterationspoesie hat er, wenn auch nur in einem Beispiel „Thrym’s Lied“, glücklicher zu beleben gewußt als die meisten deutschen Dichter. –

Quellen zu Chamisso’s Leben sind vor allem seine von Hitzig herausgegebenen Briefe (s. o.); dazu vgl. Koberstein, Grundriß der deutschen Litteratur III. Bd. 4. Aufl. S. 2275 ff.