Zum Inhalt springen

ADB:Varnhagen von Ense, Karl August

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Varnhagen von Ense, Karl August“ von Oskar Franz Walzel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 769–780, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Varnhagen_von_Ense,_Karl_August&oldid=- (Version vom 7. Dezember 2024, 06:34 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 39 (1895), S. 769–780 (Quelle).
Karl August Varnhagen von Ense bei Wikisource
Karl August Varnhagen von Ense in der Wikipedia
Karl August Varnhagen von Ense in Wikidata
GND-Nummer 118626167
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|39|769|780|Varnhagen von Ense, Karl August|Oskar Franz Walzel|ADB:Varnhagen von Ense, Karl August}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118626167}}    

Varnhagen *): Karl August V. von Ense wurde zu Düsseldorf am 21. Februar 1785 geboren. Er entstammte einem ritterbürtigen Geschlechte, dessen Vertreter im Laufe der Zeiten dem Stande der Gelehrten und Geistlichen sich zuwandten und in diesem Berufe ihren Adelstitel allmählich fallen ließen. Varnhagen’s Vater, ein unverfälschter Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, ließ sich in Düsseldorf als Arzt nieder und verband sich mit einer Straßburgerin, einer braven, doch wenig bedeutenden Frau. Von Jugend auf dem Berufe des Vaters bestimmt, wandte sich V. frühe schon anderen Berufszweigen zu, wurde vom Schicksal mannichfach hin und hergeworfen und gelangte nach kurzer diplomatischer Thätigkeit zu einer ungestörten Muße voll rastloser schriftstellerischer Arbeit, bei glücklichsten äußeren Verhältnissen verstimmt und verdrossen, da er trotz einem überwiegend receptiven Naturelle dennoch nach thatkräftigerem, nachhaltigerem Wirken sich sehnte. Ein Mann von ungewöhnlich feinsinniger Empfänglichkeit, erinnert V. immer wieder an Aug. Wilh. Schlegel, der – wie jener – Erbe und Nachfahr einer langen Reihe geistig hochstehender und hochstrebender Männer war. Beiden eignet dasselbe Raffinement geistiger und sinnlicher Art, das den Epigonen wissenschaftlicher oder litterarischer Vorkämpfer ein für allemal das Siegel temperamentsarmer Uebercultur auf die Stirne drückt. V. wurde als Mensch und als Schriftsteller früh in die Kreise der Romantiker gezogen; doch als Sohn seines aufklärerisch gesinnten Vaters wußte er sich mitten im romantischen Gefühls- und Stimmungsleben einen klaren Kopf, einen kühlen, nüchternen Sinn zu bewahren, der ihn vor allen Ausschreitungen der Romantik bewahrte und der ihn wieder dem unromantischsten der Romantiker, W. Schlegel, in die Nähe rückte. Der vom Vater ererbte praktische Sinn ließ ihn nicht nur die Gefahren der romantischen Lebenskunst meiden; mit geschickter Hand steuerte V. sein Lebensschifflein über Untiefen hinweg und an Klippen vorüber. In der Jugend leiht ihm dieses praktische Geschick, diese weltgewandte Findigkeit ein entschiedenes Uebergewicht über weltunläufige Naturen, über träumerische romantische Genossen. Im Alter lehrt sie ihn seine innerste Herzensmeinung verschweigen und doch läßt sie ihn wieder einen bequemen, unstrafbaren und ungefährlichen Weg finden, was er an Groll, an schier hochverrätherischen Invectiven auf dem Herzen hatte, rasch und sicher der unmittelbaren Nachwelt zu überliefern. Correct und tadellos bis an sein Ende sorgte er durch jahrelange und jahrzehntelange Arbeit, daß einst neben seinem frisch aufgeschütteten Grabe ein ungeheurer litterarischer und politischer Scandal losbreche, der von seinen nächsten Freunden bis hinauf zu den höchsten Spitzen des damaligen Preußens Jung und Alt auf unerhörte Weise bloßstellte. Sein Feinsinn, seine rückhaltlose Hingebung gewinnt ihm die Hand einer der geistreichsten Frauen seiner Zeit, den Beifall des größten Dichters deutscher Nation. Beiden konnte er nur seine wachsweiche Anschmiegsamkeit, seine feinnervige Empfänglichkeit als Gegengabe bieten, freilich ein seltenes und von ihm mit seltenem Tacte dargebrachtes Geschenk.

V. verlebte seine ersten Jugendjahre in stiller Häuslichkeit, eng verbunden [770] mit seiner älteren Schwester Rosa Maria. Rousseau’sche Erziehungsexperimente wurden an ihm versucht; erfolgreicher und gewinnbringender waren Wanderfahrten, die der vielbeschäftigte Vater mit seinem Söhnlein unternahm, und die V. zu einem stillen und scharfen Beobachter erzogen. In Brüssel holt sich der Knabe reiche Eindrücke; als die Eltern nach Straßburg übersiedeln, genießt er die Poesie des Rheins, blickt ehrfurchtsvoll ergriffen zu dem Münster empor und lernt die ersten Regungen der neuen französischen Freiheit aus der Nähe kennen. Sein Vater wird den Schreckensmännern bald verdächtig; er verläßt mit den Seinen die Vaterstadt der Gattin; ein unruhiges Wanderleben beginnt. In Düsseldorf verdirbt sichs der freiheitlich gesinnte Mann mit den Vertretern der alten Ordnung, er wird des Landes verwiesen. In dem Dorfe Herd bei Düsseldorf, in ländlich eingezogenem und einfachem Leben widmete er sich ausschließlich der Erziehung des Sohnes. Im J. 1794 wendet man sich nach Hamburg. Die gewaltige Handelsmetropole nimmt den Sinn des Knaben gefangen. Solide Handelsleute von streng hamburgischer Ehrbarkeit und feinsinnige Aufklärer vom Schlage des alten Reimarus wirken auf ihn ein. Mannichfache Bildung wird von verschiedenen Seiten ihm zugeführt; zugleich beginnt ein unendliches Lesen. Er lernt die Bibel rational fassen und bildet sich ein von den Dogmen einer Confession unabhängiges Christenthum, dem er bis zu seinem Tode treu bleibt. Früh beginnt er zu schriftstellern. Die Siegeslaufbahn Bonaparte’s nimmt er sich zum Vorwurfe; in lateinischer Sprache schreibt er Lebensabrisse berühmter Männer nach dem Vorbilde des Cornelius Nepos. Einige Hexameter glücken, und die Schwester erklärt ihn begeistert für einen deutschen Dichter. Erst zwölf Jahre alt, besucht er schon die Anatomie, füllt seine Herbarien und liest in Nebenstunden den Christus patiens von Grotius. Am 5. Juni 1799 stirbt der Vater. Einflußreiche Vermittlung verschaffte dem Verwaisten den Eintritt in die 1795 gegründete medicinisch-chirurgische Pepinière in Berlin, die dem preußischen Heere tüchtige Wundärzte erziehen sollte. Die widerlichen Zustände der im ungünstigsten Sinne an die Stuttgarter Karlsschule gemahnenden Anstalt entfremdeten V. mehr und mehr dem vom Vater ihm zugewiesenen Berufe; er wendet sich mit aller Kraft der Litteratur zu, eifert den Ramler, Klopstock und Voß nach und holt sich aus Kiesewetter’s Vorlesungen warme Begeisterung für Kant’s Philosophie. Kiesewetter führt ihn den Berliner schöngeistigen Kreisen zu, und bald erkennt V., daß nicht in der Poesie des „goldenen Zeitalters deutscher Litteratur“ das Heil liege, er lernt Goethe und Schiller verehren, bis ihn dann vollends W. Schlegel’s Vorlesungen und der verdeutschte Shakespeare in die Gedankenwelt der Romantik einweihen. Der Zopf deutscher Dichtung des 18. Jahrhunderts wird für immer abgethan; die geistige Selbstbefreiung greift auch ins Praktische hinüber, und V. verläßt mit einem übermüthig tollen Jugendstreiche die Pepinière; er schneidet sich den vorschriftsmäßigen Zopf ab und nagelt ihn an der Hausthüre der Anstalt an. Die selbstgewollte Selbständigkeit sollte V. nicht leicht zu stehen kommen. Ein heftiges Nervenfieber stellte sich ein; im Augenblicke höchster Gefahr griff Dr. Erhard ein. Kranker und Arzt blieben zeitlebens innig befreundet. Kaum genesen legte sich V. mit Macht aufs Schriftstellern; doch ein Oedipus, ein Aufsatz über spanische und französische Trauerspiele reichen zum Lebensunterhalte nicht hin. V. tritt auf den Rath der Freunde in das reiche Cohen’sche Haus als Privatlehrer ein. Ein neues, ungewohntes Wohlleben umfing ihn; und zugleich gelangte er jetzt in enge Berührung mit dem geistreichen Berlin. Nicht nur der stille, in sich gekehrte Wilhelm Neumann, auch der fahrig geistreiche Graf Alexander zur Lippe tritt ihm nahe. Bald erweitert sich der Kreis: Chamisso, Ludwig Robert, der Bruder Rahel Levin’s, Koreff, Klaproth schließen sich an. V. bewährt sein Organisationstalent; [771] man schließt einen Bund und wählt, an romantisch-mystische Anschauungen Baader’s anknüpfend, den Polarstern zum Symbol. Frauen nehmen an den Bestrebungen der Jünglinge Antheil; in aller Unschuld begeistert man sich für die Doctrinen der „Lucinde“ und ihres Schöpfers. Tieck, Novalis, Schleiermacher werden verehrt; Goethe, sein „Wilhelm Meister“ und die in dem Roman geschilderte Lebenskunst, sie werden alle zu Schlagworten auch dieser jung-romantischen Partei. Freilich zu einer halbwegs befriedigenden Production kam es nicht; selbst Chamisso versprach damals nicht viel. Herzlich bescheiden in der Ausführung suchte man die romantische Theorie nur in geschmacklos übertreibender Anwendung des Sonetts zu verwirklichen. V. arbeitet fleißig mit und ist einer der ersten Macher, als die junge Schule sich ein Organ schafft. V. und Chamisso stehen als Herausgeber auf dem Titel des sogenannten „grünen“ Musenalmanachs; trotz der mehr als schlechten Aufnahme, die das junge Unternehmen fand, brachte man es doch in den Jahren 1804 bis 1806 zu drei Jahrgängen. Varnhagen’s Beiträge hüllen sich gern in die Form der Ode und des Sonetts. Wie ihn selbst Theremin und Neumann ansingen, so huldigte er wiederum dem gemeinsamen Vorbilde Friedrich Schlegel. Gegner der Romantik vom Schlage Merkel’s ließen an dem grünen Musenalmanache kein gutes Haar; die Angegriffenen rächten sich durch eine Blumenlese romantischer Verdicte über Merkel, die unter dem Titel „Testimonia auctorum de Merkelio, das ist Paradiesgärtlein für Garlieb Merkel“ (Köln 1806) zusammengefaßt wurden. Wieder war Varnhagen der Veranstalter, und seinem Geschäftssinne gelang es auch zwar nicht einen vierten Jahrgang des Almanachs, aber an seiner Stelle eine Sammlung „Erzählungen und Spiele“ (Hamburg 1807) auf den Markt zu bringen. Inzwischen hatte V. Berlin verlassen, war im J. 1804 nach Hamburg gegangen und füllte hier die Lücken seiner ungleichmäßigen, überhasteten Bildung aus. Jetzt erst bemächtigte er sich, zusammen mit Neumann, des Griechischen. Gründlich vorbereitet sitzt er alsbald in Halle zu Füßen Friedrich August Wolf’s. Steffens und Schleiermacher drängen die medicinischen Studien Varnhagen’s noch mehr in den Hintergrund. Unter Immanuel Bekker’s Führung liest V. den Aristophanes. Alexander v. d. Marwitz, Karl v. Raumer, Achim von Arnim kommen mit ihm in Verbindung. Mitten in strengwissenschaftlicher Thätigkeit wird die Dichtkunst nicht vergessen, man pilgert nach Lauchstädt und läßt die „Natürliche Tochter“ des vielbewunderten Goethe von der Bühne herab auf sich wirken. Das gewinnreiche Stillleben fiel dem Napoleonischen Feldzuge von 1806 zum Opfer, die Universität Halle wurde geschlossen. Wiederum gings nach Berlin; unter dem Drucke der Zeitverhältnisse, unfähig sich zu rascher That aufzuraffen, arbeiteten die Freunde emsig an ihrer Bildung weiter; nebenbei vollendeten sie den in Halle begonnenen humoristisch-satirischen Roman „Die Versuche und Hindernisse Karls, eine deutsche Geschichte aus der gegenwärtigen Zeit“ (Bd. 1, Leipzig 1808). Ein gemeinsames Werk Varnhagen’s, Neumann’s, Fouqué’s und Bernhardi’s, absichtlich ohne allen Plan hingeschrieben, ein echt romantischer Scherz. Jean Paul’s „Flegeljahre“ hatten ihn angeregt, Jean Paul selbst, dann Wilhelm Meister treten handelnd auf; Johannes v. Müller und Voß wurden parodirt. Das Buch, dem nie ein zweiter Theil beschieden war, fand wenig Beifall; neben den von Fouqué geschriebenen Capiteln fielen die Beiträge der Freunde, auch die von V. in schleppend-getragenem Stile geschriebenen Anfangspartien stark ab. Doch nicht lange ließ die große Zeit V. und seine Freunde in spielrig kleinlichen litterarischen Scherzen aufgehen. Fichte’s gewaltige Persönlichkeit, seine Reden an die deutsche Nation lehrten die jungen Romantiker, dem Ernst des Moments andere Bestrebungen entgegenzubringen. Neben Fichte wirkte [772] Rahel’s Erscheinung läuternd und wegeweisend auf V. ein. Schon nach kurzer Bekanntschaft kam der junge Mann dem um 14 Jahre älteren Weibe freundschaftlich nahe; bald indeß erkannte er, wie unbedeutend und nichtig er, der Unfertige, ihr gegenüberstand. Die Universität Tübingen soll ihm endlich zum Abschlusse seiner medicinischen Studien verhelfen. Auf der Reise nach Schwaben besucht er Jean Paul, in Schiller’s Vaterland verkehrt er mit Justinus Kerner und entdeckt Uhland. Wiederum scheint die ästhetische Richtung zu siegen. Jetzt indeß erhebt sich Oesterreich gegen Napoleon. Rasch entschlossen sagt V. der Papierwelt Lebewohl und eilt mit Marwitz und Willisen in das Lager des Siegers von Aspern. Nicht zum Siege. Nur die Niederlage von Wagram lebt V. mit und holt sich in der Schlacht eine leichte Wunde. Um so leichter gelingt ihm der Eintritt in die der Romantik sich zuneigenden Wiener geistreichen Salons der Arnstein, Pereira und Eskeles. Nur eine kurze Lagerepisode in Ungarn entzog ihn dem Wiener Wohlleben. In Ungarn bethätigte er zum ersten und letzten Male seine medicinischen Kenntnisse und curirte seinen schwer erkrankten Obersten Graf Bentheim nach Brown’scher Methode. An Bentheim war ein unerschütterlich dankbarer Gönner gewonnen. Ein vielbewegtes Reiseleben beginnt; nach Wien, nach Prag, dann im Interesse Bentheim’s nach Steinfurt, endlich mit Bentheim selbst nach Paris sieht er sich versetzt. In Paris macht er aus unmittelbarster Nähe die letzte Glanzepoche des ersten Kaiserthums mit. Mit Chamisso, Bekker und Uhland bewundert er Paris und beschaut er die von Napoleon zusammengeschleppten Kunstschätze. Er verkehrt mit Metternich, besucht in seiner einsamen Klause den seltsamen Grafen Schlabrendorf, nimmt den ungünstigen Eindruck eines Napoleon en robe de chambre mit sich und erlebt endlich das glänzende, tragisch endende Ballfest, das der österreichische Botschafter Fürst Schwarzenberg der Tochter seines Souveräns und französischen Kaiserin zu Ehren gab; V. selbst hat dem entsetzlichen Brandunglücke eine classische Schilderung gewidmet. Von Paris gings wieder nach dem stillen Steinfurt; doch hier war seines Bleibens nicht lange. V. war der französischen, überall Verschwörung und Rebellion witternden Polizei verdächtig geworden. Er eilte nach Oesterreich, verkehrte hier mit dem Freiherrn vom Stein, verlebte mit Rahel angeregte Tage in Teplitz und verließ endlich, als der Krieg gegen Rußland ausbrach, die österreichischen Dienste. Während seine nächsten Freunde nur mit Mühe den französischen Nachstellungen entgingen, bewegte er sich frei und unbehelligt in Berlin. Erst die unzweifelhafte Niederlage Napoleon’s, dann Tettenborn’s herzgewinnende Persönlichkeit bewogen ihn, aus der Reserve hervorzutreten. Nicht dem langsam und vorsichtig vorbereitenden preußischen Könige, sondern dem frisch zugreifenden Tettenborn schloß V. sich an. In ähnlicher Stellung ist W. Schlegel als Adjutant Bernadotte’s an den Freiheitskriegen betheiligt. Tettenborn’s heldenhafte aber erfolglose Vertheidigung Hamburgs machte V., aus mehrfachen Gründen nahe berührt, mit und in seiner „Geschichte der hamburgischen Ereignisse“ (London 1813) lieh er ihr eine eingehende, ans panegyrische streifende Darstellung. Als Adjutant begleitete V. den kühnen Kosakenführer nach Mecklenburg, erlebte blutige Gefechte und sang seine Lieder an Tettenborn und auf Lüneburgs Jeanne d’Arc, auf Johanna Stegen. Die „Gedichte des Feldzugs 1813“ erschienen alsbald in Friedrichstadt gedruckt. Nach den Schlachten von Großbeeren und Leipzig schloß Tettenborn sich den siegreich in Frankreich eindringenden Scharen an. Zum zweiten Mal kam V. nach Paris. Mit militärischen Ehren von schwedischer, preußischer und russischer Seite überhäuft, tritt er auf Stein’s Zureden in den preußischen Staatsdienst. Der Geschichte der hamburgischen Ereignisse fügt er die „Tettenborn’schen Kriegszüge“ (Stuttgart 1814) an.

[773] Als ein völlig Anderer konnte er jetzt Rahel gegenübertreten. Der Befreiungskrieg hatte ihm eine überaus ehrenvolle Stellung geschaffen und V. auch das Gebiet schriftstellerischer Thätigkeit finden lassen, auf dem seiner die besten Erfolge harrten. Aus der Zeit und aus dem Leben heraus Geschichte zu schreiben hat er an Tettenborn’s Seite gelernt. Nach einem in Teplitz still und glücklich verlebten Sommer verband er sich endlich am 24. September 1814 mit Rahel. Als Glied des preußischen diplomatischen Corps machte er den Wiener Congreß mit, dessen gesellige Festlichkeiten in V. einen anziehenden Schilderer fanden. Im Auftrage des Staatskanzlers Hardenberg arbeitete er mit Andern an der Denkschrift über die Abtretung Sachsens an Preußen. Gegen die persönlich befreundeten Publicisten Oesterreichs, gegen Gentz und Friedrich Schlegel, trat er für die Preßfreiheit ein; andere Denkschriften dienten der Ansicht, den Franzosen die Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten zu überlassen. Nach Waterloo ging V. an Hardenberg’s Seite zum dritten Male nach Paris und that hier die ersten wenig erfreulichen Blicke in die herannahende Reaction. Mit Schlabrendorf beklagte er die Rückkehr der Bourbons, sah Deutschlands Heil nur in Preußens Hegemonie; dem Volke wollte er Antheil an der Regierung gewähren; Elsaß und Lothringen sollten zu Deutschland geschlagen werden. In diesem Sinne correspondirte er unter Hardenberg’s vorsichtigen Augen offen und dreist im „Hamburger Beobachter“. Hardenberg’s Gunst erkaltete bald; statt in Hardenberg’s Nähe zu bleiben, wird V. nach Karlsruhe als diplomatischer Vertreter Preußens gesendet. Er war kaltgestellt; denn zu thun gabs in Karlsruhe nicht viel. Die Muße ließ ihn seine schriftstellerische Thätigkeit wieder aufnehmen, sie gestattete Reisen nach Brüssel und Berlin. Aufmerksamen Blickes beobachtet V. die Südstaaten und voll Sympathie freut er sich der hier neu eingeführten ständischen Verfassungen. In Berlin, wo Metternich’s Einfluß von Tag zu Tag zunahm, fand man an dem freisinnigen Diplomaten immer weniger Gefallen. Kotzebue’s Ermordung wurde auch für V. verhängnißvoll; er gerieth mit Gruner und Dorow in Untersuchung. Im Sommer 1819 wird er von Karlsruhe abberufen; allein beweisen konnte man ihm nichts. Er sollte also, um völlig unschädlich gemacht zu werden, nach Amerika als Ministerresident gehen. V. zog es vor, als Privatmann an Rahel’s Seite in Berlin zu bleiben und seinen Studien nachzuleben. Zwei Mal noch, im J. 1829 und 1830, hatte er Gelegenheit dem Staate zu dienen, erst in einer delicaten Mission nach Kassel und Bonn, dann unter Bernstorff’s Ministerium. Als Ancillon kam, war V. froh, mit guter Art wieder zur Ruhe zu kommen. Späteren Anträgen, mit denen man ihn noch unter Friedrich Wilhelm IV. überlief, setzte er ein beharrliches „Nein“ entgegen.

Schon im J. 1815 war V. wieder schriftstellerisch thätig gewesen. Unter dem Titel „Deutsche Erzählungen“ legte er eine Reihe Novellen vor, im Titel wol anknüpfend an den Goethe’schen Vers „Deutschen selber führ’ ich euch zu in die stillere Wohnung“. In Deutschland und in Oesterreich, in Berlin und in Wien zumeist spielen sich seine Erzählungen ab. Doch das Localcolorit ist gering. Vereinzelt stehen ein paar Worte des Lobes, den Berliner Linden, dem Schlosse, dem Lustgarten zugedacht. Durchaus überwiegt das psychologische Interesse. Wie Heinrich v. Kleist, wie gleichzeitig Chamisso im „Schlemihl“ oder Hoffmann, wie endlich Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ und in den für die „Wanderjahre“ bestimmten Novellen sucht auch V. seelische Probleme zu erledigen, charakterisirt Zwangslagen des Gemüthes, die theils dem Charakter der Menschen, theils dem ihnen zufällig angewiesenen Milieu entkeimen. Der epische Bericht, das psychologische Raisonnement herrscht vor; Varnhagen’s an Goethe’s Muster gebildeter Stil gefällt sich in breit behaglicher Erörterung. Dem Dialog wird [774] wenig Raum gegönnt; längere Berichte erscheinen gern in indirecter Rede. Unplastisch ist V. durchaus; selten nur zieht er neben dem Innenleben auch das Aeußere seiner Personen in Betracht. Mit Vorliebe behandelt er Liebesprobleme, dann wandeln seine Liebenden meist verbundenen Auges umher, bis ein plötzlicher Ruck ihnen die Binde abreißt und die Katastrophe herbeiführt. Der Leser bleibt bis zu dem entscheidenden Augenblick über den wahren Sachverhalt im Ungewissen; auch ihn überrascht die Lösung. Gerne, wie in den Novellen „Die Strafe im Voraus“ und „Reiz und Liebe“, macht er preußische oder österreichische Officiere zu Helden seiner Erzählung, freilich nicht die kampfeslustige, siegesfreudige Soldateska der Befreiungskriege, sondern jene Halbsoldaten der nachfridericianischen Zeit, deren Lebensinteressen weitab von ihrem Berufe liegen. Als Folie tritt neben diese Gestalten der ewig donnernde und wetternde, aber grundgutmüthige Gamaschenknopf der Art, die dem jugendlichen Lieutenant Chamisso viele böse Stunden bereitet hat. An die Zeit der Schlacht von Jena und an eigene Hallenser Erlebnisse knüpfen die „Drangsale unstäten Gefühls“ an. Ueberhaupt verläßt nur selten V. die Gegenwart. Auch die „Kriegsabenteuer“, eine Episode aus der Belagerung Ofens vom Jahre 1686, dienen nur zur Erläuterung zeitgenössischer Verhältnisse. Personen und Gefühle sind ganz modern gefaßt und gegeben. Eine größere historische Novelle „Die Sterner und die Psitticher“ erschien erst 1821 im „Gesellschafter“. Sie bewegt sich auf mittelalterlich-schweizerischem Boden, auf K. F. Meyer’s eigenstem Gebiete, und schildert ständische Zwietracht. Doch grade neben Meyer’s greifbar lebendiger Darstellungskunst fallen Varnhagen’s schemenhafte, wenig individualisirte, echt romantische Heldenjünglinge und Heldenmädchen gewaltig ab. Werthernaturen zur Zeit des Interregnums! Das Ganze läuft auf eine Verherrlichung Rudolf’s von Habsburg hinaus. Die Grenzen der realen Welt überschreitet V. nur einmal, in seinem „Warnenden Gespenste“. Im J. 1816 sammelte V. seine Gedichte. Das Büchlein führt auf dem Titel die Goethe’schen Worte „Ach, wie traurig sieht in Lettern, schwarz auf weiß, das Lied mich an“. V. scheint den Doppelsinn dieser Verse nicht gefühlt zu haben; sonst hätte er seine schwächlichen Producte, die er später nur zum kleinsten Theile in die Sammlung seiner Schriften aufnahm, nicht durch das Motto wohlfeiler Ironie ausgesetzt. Romantisch-formenreich ist die Sammlung gewiß; neben 24 Sonetten und zwei Canzonen an 70 Seiten formal antikisirender Gedichte. Ja auf J. H. Voß’ Spuren wandelnd, singt er diesen gar in Galliamben an. Neben solchen antikisirenden Experimenten kamen auch spanische Formen zur Geltung; eine Ballade in Assonanzen wird noch übertrumpft durch zwei in Espinelenform geschriebene Gedichte. Einfache schlichte jambische und trochäische Vierzeiler fehlen nicht. Gern singt V. Personen an. Reiselieder feiern den Rhein und nehmen Heine das Thema der Nordseebilder vorweg. Goethe spielt jetzt wie in späteren Producten eine große Rolle. Im J. 1823 schreibt V. endlich noch ein Gedicht über Tieck’s Gedichte aus Italien in der von Tieck grade hier mit Vorliebe gebrauchten Form des freien Rhythmus.

In der neuen durch seine Abberufung geschaffenen Muße trat V. nicht sofort als selbständiger Schriftsteller auf. Wie später oft und gern bethätigte er sich zunächst als Herausgeber und Sammler. Schon im Polarsternbunde war der Name Goethe’s mit Verehrung genannt worden. Was damals romantische Mode war, wurde durch Rahel’s Goethebegeisterung bald Varnhagen’s Lieblingsaufgabe, die Verherrlichung Goethe’s, die Vermittlung zwischen Goethe und dem Publicum. In den Jahren 1811–1814 schreibt er Anzeigen der allmählich erscheinenden Bände von Goethe’s Autobiographie, 1833 zeigt er noch den letzten, vierten Band, an. Mit Rahel’s divinatorischen Aeußerungen über [775] Goethe tritt er an den Weimaraner Dichter selbst heran, und allmählich gewinnt er durch seine Ausdauer die Zuneigung des alten Herrn. Nicht leicht und nicht ohne Selbstverleugnung! Wer die Correspondenz beider durchsieht, bemerkt auf den ersten Blick, daß Goethe seinem Verehrer nicht mit offenen Armen eutgegengekommen ist. Manche Frage des Wißbegierigen scheint ihn belästigt zu haben; und er kann lange schweigen, läßt V. lange auf eine Antwort warten, die dieser durch immer erneuerte Briefe anzuregen sucht. Dennoch fand Goethe früh in Varnhagen’s Wesen einen ihm selbst verwandten Zug; schon im J. 1817 notiren die Tag- und Jahreshefte: „Der Besuch von V. blieb mir, wie die Frommen sich auszudrücken gewohnt sind, nicht ohne Segen; denn was kann segensreicher sein als wohlwollende, einstimmende Zeitgenossen zu sehen, die auf dem Wege, sich und andere zu bilden, unaufhaltsam fortschreiten?“ Man vergesse nicht: der alte Goethe war ruhig geworden und er wollte Ruhe um sich haben. Nicht das stärkste Temperament war ihm der liebste Verkehr, sondern die bescheidener, zurückhaltender Anpassung fähigste Natur. V. hatte sich mit Bewußtsein geschult, nicht dem jungen, stürmischen Titanen, nein dem greisen, formellen Goethe sich nachzubilden. Sollte Goethe’s klares Auge das Mißverhältniß von Varnhagen’s Alter und seinem Goethischer Abklärung nachstrebenden Wesen nicht erkannt haben? Sollte er nicht geschmunzelt haben, wenn er in den Briefen des Dreißigers Wendungen und Umschreibungen wiederfand, die er selbst in den letzten Decennien seines Lebens sich angeeignet hatte? Nicht ohne Ironie nahm er wenigstens die Gabe auf, mit der V. im J. 1823 ihn beschenkte. V. und Rahel wollten Goethe einen litterarischen Triumphbogen errichten, durch den er gesicherten Ruhmes der Unsterblichkeit zugehen könnte. Man stellte aus eigenen und fremden Beiträgen einen Octavband „Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden“ zusammen; Goethe corrigirte „in den wohlwollenden Zeugnissen“ und machte den Vorschlag zur Güte, einen Band mißwollender Zeugnisse herauszugeben. V. aber schritt unentwegt weiter; 1828 und 1829 bespricht er den Schiller-Goethe’schen Briefwechsel, im folgenden Jahre die Tag- und Jahreshefte. Der Litteratur über Goethe hat er bis ins höchste Alter hinauf Beachtung geschenkt. 1824 zeigt er Eckermann’s „Beiträge zur Poesie“ an, später auch seine „Gespräche mit Goethe“, unmittelbar nach Goethe’s Tod weist er ein Antigoetheanum zurück, dann recensirt er Wagner’s auf Goethe bezügliche Briefpublicationen, Stahr’s „Weimar und Jena“, auch ferner stehendes wie Dorer-Egloff’s „Lenz“. Die Faustcommentare von Schubarth, Deycks, Weiße finden seine Beachtung. Selbst Viehoff’s und Düntzer’s Erläuterungen kommen an die Reihe; und neben Palleske’s „Schiller“ natürlich auch Lewes’ „Goethe“. Mit vollem Recht konnte Heine ein Wort von Novalis auf V. anwenden und ihn den Statthalter Goethe’s nennen. Ein Theil dieser Kritiken erschien in dem Organe der Hegel’schen Schule, in den „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik“, an dessen Stiftung der mit Hegel und mit dem Herausgeber Gans befreundete V. thätigen Antheil genommen hatte. Aber nicht auf den Kreis Goethe’s beschränken sich die Recensionen Varnhagen’s; nirgends zeigt sich die emsige Vielseitigkeit Varnhagen’s besser, als wenn man die Fülle verschiedenster Schriften überblickt, an denen er Kritik geübt hat. Freilich wird diese Kritik mit der Zeit nicht tiefer; und schließlich kam es ihm nur mehr drauf an, die Recensenda in bestimmte stilistische Rubriken einzuordnen, den Verfassern sein stilisirtes Wohlwollen zu bezeugen. Allein welche Fülle des Verschiedenartigsten! Mit Vorliebe verweilt V. bei der Geschichte der französischen Bewegung, die er zum Theil miterlebt hatte, und ihrer Folgen. Mignet’s und Dan. Stern’s Darstellungen der französischen Revolution, Scott’s Bonaparte, dann eine ganze Reihe von Memoirenwerken, wie die Denkwürdigkeiten von Brienne, vom Herzog [776] von Rovigo, von Bourienne, sind zu nennen, endlich Chateaubriand’s Darstellung des Congresses von Verona. Ihnen reihen sich an die autobiographischen Schriften Arndt’s, Niebuhr’s, Rumohr’s, der Briefwechsel zwischen Gentz und Ad. Müller; die Briefe J. G. Forster’s und Jean Paul’s leiten zur deutschen Litteratur hinüber. Von jüngeren Historikern stellen Dahlmann und Ranke sich ein. Auf dem Gebiete der deutschen Litteratur tritt er vor allem für seine romantischen Freunde auf den Kampfplatz. Novellen von Tieck und Arnim, die französische Uebersetzung von Chamisso’s Schlemihl, selbst ein Buch des Jugendfreundes und Polarsternbündlers Theremin kommen zur Besprechung. Rückert und Stägemann, dann Amalie v. Helwig, endlich Rellstab bezeichnen den weiteren romantischen Kreis. Warm und energisch nimmt er sich der Jüngsten an. Seinem Landsmanne H. Heine hat er nicht zum mindesten durch drei Recensionen die litterarische Laufbahn geebnet und neben Rahel auf ihn läuternd und wegeweisend gewirkt. Neben Heine steht sein Freund Immermann, der schon durch den Angriff auf Pustkuchen’s falsche Wanderjahre V. sympathisch sein mußte. Dem Freundeskreise Heine’s gehört auch der Elsässer A. Weill an, schließlich Laube. Dem jungen Deutschland hat V. mannichfach auch sonst beigestanden und für dessen freie Auffassung der Moral in Ernst und Scherz sich eingesetzt. Auch im Scherz; denn V. las Gellert’s „Schwedische Gräfin von G***“ als modernen Roman vor und weidete sich an der Ueberraschung der Zuhörer, die das Product des moralischen Bremer Beiträgers für einen der sittenlosesten Romane des jungen Deutschland gehalten hatten. Neben den jungen Deutschen beachtete er auch ihre französischen Verbündeten und besprach G. Sand’s „Mont-Revêche“. Pückler-Muskau war ja auch schon von Goethe gelobt worden; V. konnte also nicht zurückbleiben. Die jüngste deutsche Erscheinung, die sein Interesse wachrief, war G. Keller’s „Grüner Heinrich“. Gerne lieh er den russischen Dichtern sein Ohr; er zeigt eine Uebersetzung Puschkin’s an und überträgt selbst kleine Erzählungen von Odojewsky und Melgunoff. Mit Philosophie beschäftigte sich der Freund Hegel’s am seltensten; die Hegelbiographie von Rosenkranz und Carriere’s „Philosophische Weltanschauung der Reformationszeit“ stehen vereinzelt unter den von V. recensirten Büchern da.

Schon die Wahl der besprochenen Schriften bezeugt, daß V. als Recensent nicht den Vorwurf politischer oder litterarischer Reaction zu scheuen hat. Für das junge Deutschland, für verwandte ausländische Richtungen persönlich einzutreten, dazu gehörte schon ein gut Theil männlichen Muthes. Heine, der erbittertste Feind Preußens, hat Varnhagen’s treue Freundschaft mehr als einmal öffentlich in Anspruch genommen. Wir begreifen, daß ein solcher Genosse V. nicht nur bei den führenden Kreisen Preußens schaden mußte; auch heute noch werfen ihm Gegner der jungdeutschen Bewegung vor, daß er nicht minder erfolgreich als Heine und Börne für die Verbreitung neufranzösischer Ideen gewirkt habe. Grade in den Recensionen sucht V., nicht derb dreinfahrend, wie Börne, auch nicht mit der sarkastischen Schärfe Heine’s, aber desto sicherer, mit leiser, behutsamer Hand im Interesse der modernen Zeitrichtung zu wirken. Viel harmloser als jene kritischen Aeußerungen sind die Bücher, die er seit 1824 auf dem Gebiete vaterländischer Historik schrieb, die „Biographischen Denkmale“, erst fünf Bände (1824–30), dann noch fünf weitere Einzelbiographien (1837 bis 1853). Ohne Zweifel war es V. eine angenehme Thätigkeit, die an Tettenborn’s Seite erworbene oder wenigstens entdeckte biographische Kunst an größeren und kleineren Leuten auszuüben. Er selbst wies auf Schiller’s Absicht hin, einen deutschen Plutarch zu schreiben; und wie Schiller wollte auch er an der Tugend der Vorzeit die erschlaffte Gegenwart aufrichten. Goethe klatschte Beifall; er meinte, V. habe etwas Ultra-Plutarchisches geliefert. Der erste [777] Band bot auch wirklich im Plutarchischen Sinne Parallelbiographien; Graf Wilhelm zu Lippe, Graf Matthias v. d. Schulenburg und König Theodor von Corsika sind einander nahe verwandt, sind nur Variationen desselben Themas. Zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert, meint Goethe, wären sie als Condottieri, als kühne Miethhelden aufgetreten; zwischen dem 17. und 18. Jahrh. mußte ihr Betragen milder, sittlicher werden, nahm selbst ihr Eigennutz einen edleren Charakter an. Im Sinne Plutarch’s treten dann im 2. Bande der alte Derfflinger und der alte Dessauer zusammen. Der 3. Band wagt sich zum ersten Male in die Gegenwart; er ist Blücher gewidmet. Wieder um ein Jahrhundert und mehr zurückgehend faßt V. dann im 4. Bde. die drei Dichter Flemming, Canitz und Besser zusammen und zeichnet endlich im 5. die Gestalt des Grafen Zinzendorff. Goethe fand sich besonders von dem 4. Bde. berührt, schilderte er doch, ebenso wie der 1., Gestalten, die in seiner Jugend noch bedeutend und einflußreich dastanden. Anknüpfend an diesen 4. Bd. schrieb er die anspornenden Worte nieder: „Seit geraumen Jahren wirkt V. auf die freundlichste Weise mit mir in gleichem Sinne und befördert mein Bestreben durch ein bejahendes Entgegenkommen. Ich zähle ihn zu Denjenigen, die zunächst unsere Nation litterarisch in sich selbst zu einigen, das Talent und den Willen haben. Möge er mit seinen biographischen Darstellungen immer weiter in das achtzehnte Jahrhundert herangehen und durch Darstellung der Individualitäten und des Zeitgeistes, mit dem sie in Wechselwirkung standen, Klarheit des ganzen Zustandes befördern“. V. folgte dieser Aufforderung, allein wol nicht im Sinne Goethe’s. Nicht Vertreter des Zeitgeistes holte er sich aus dem 18. Jahrhundert, er beschränkte sich auf vier Generale Friedrich’s des Großen, auf Seydlitz, Winterfeld, Schwerin und Keith. Neben Blücher stellte er noch den Grafen Bülow. Mehr und mehr scheint ihn, den alten Waffengefährten Tettenborn’s, die Schilderung von Kriegsthaten gefesselt zu haben. Nur eine Ausnahme gestattete er sich: er zeichnete das Charakterbild des Sonderlings Hans v. Held; aus nächster Nähe beobachtet, glückte ihm nochmals eine lebensvolle Schilderung; der liberale Patriot war ja auch ein seinen verborgensten Neigungen sympathischer Stoff. Goethe lobt auch Stil und Ausdruck der biographischen Denkmale. Seiner Zeit galt V. als unübertrefflicher Meister der Biographie. Man fand, daß den Individualitäten ihre Eigenheit gelassen, die Zustände mit Einsicht erfaßt, die Darstellung klar und durchsichtig war. Man schätzte die antike Gelassenheit des Erzählers, der den Ausdruck eher zu blaß, als zu glänzend gibt, nur um die leise Linie der Wahrheit nicht zu verletzen. Die neuere Kritik urtheilt schärfer; sie macht V. zum Vorwurf, er habe die urkräftigen Gestalten Blücher’s oder des alten Dessauers in voller Persönlichkeit lebendig zu machen, zu wenig Leidenschaft, zu wenig derben Humor besessen. Wir begreifen, daß eine machtvolle Individualität von dem Temperamente Treitschke’s jene Heldennaturen in Varnhagen’s glatter Darstellung leblos, ja abgeschmackt finden kann und nur den sauberen Bildchen, die V. von den Hofleuten Canitz und Besser entwirft, ein karges Lob zollt. Gewiß ist Varnhagen’s Anpassungsfähigkeit zu weich, zu rückgratlos, um große Naturen in großen Zügen zu zeichnen. Er schreitet langsam und vorsichtig von Factum zu Factum, von Nachricht zu Nachricht, von Anekdote zu Anekdote, ohne bei aller Vorsicht an den reichlich benutzten Quellen scharfe Kritik zu üben. Und selbst der vielgerühmte Stil, die gepriesene Form, sie genügt nicht unsern gesteigerten Ansprüchen. Auch wer die wohlabgezirkelten Perioden Varnhagen’s liebt und nicht nach lebendigerer, frischerer Form dürstet, wird nicht leicht durch die Menge unbearbeiteter Documente, durch Briefe und Notizen aller Zungen dringen, die V. seiner Erzählung einverleibt. Rahel’s Ableben erst gab dem Wittwer Gelegenheit seine Gabe der Charakteristik in [778] durchaus ansprechender Form zu bethätigen. Merkwürdigerweise hat V. eine umfangreichere Darstellung von Rahel’s interessanter Individualität nie versucht. Doch die Zugaben, mit denen er ihre und ihrer Freunde Briefe versah, zeigen den Biographen V. im glänzendsten Lichte. Zwar das erste Denkmal, das er Rahel errichtete, „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ (Berlin 1833, als Mscr. gedr.; dann 1834 auf 3 Bde. erweitert) bietet nur eine kärgliche Schilderung seiner persönlichen Beziehungen zu Rahel und ihrer letzten Tage. Im übrigen bewährt sich V. hier nur als Sammler und Herausgeber Rahel’scher Documente. Doch die „Galerie von Bildnissen aus Rahel’s Umgang“ (Leipzig 1836) begnügt sich nicht, die Briefe von siebzehn Freunden und Freundinnen mitzutheilen; mehr oder minder ausgeführte Charakterbilder der einzelnen Briefschreiber sind beigegeben. Neben knapperen Skizzen gibt V. hier die glänzende Charakteristik des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, der sich im 2. Bde. ein erschöpfendes Charakterbild von Friedrich Gentz ebenbürtig anschließt; beiden Studien hat man den Vorwurf der Schönfärberei gemacht, vielleicht nicht mit Unrecht. Muster anempfindender, glücklich nachfühlender Charakterisirkunst sind sie um so mehr. Als dann Varnhagen’s Nichte Ludmilla Assing sich anschickte, die in seinem Nachlasse befindlichen Briefe an Zeitgenossen herauszugeben, konnte sie fast jedem Briefsteller eine mehr oder minder ausgeführte Schilderung von Varnhagen’s Feder beigeben. Diese von kurzer Notiz zu abgerundeter Biographie aufsteigenden Charakterbilder, jetzt im 17., 18. und 19. Bde. von Varnhagen’s „Ausgewählten Schriften“ (Leipzig 1875–1876) bequem zugänglich, bilden für jeden auf dem Gebiete der Romantik thätigen Forscher eine unschätzbare Fundgrube oft gerade durch persönliche Mißgunst um so scharfsichtigerer Erkenntniß romantischer Individualitäten. Friedrich Schlegel und Schleiermacher, Tieck und sein Schwager Bernhardi, Brinckmann, Franz v. Baader, Adam Müller, Arnim und Brentano, Chamisso und Neumann und viele Andere sind vertreten. Ueber die Grenzen der Romantik greift V. ins 18. Jahrh. zurück; auch Wilhelm v. Humboldt ist ein Panegyricus gewidmet. Rahel und ihr Bruder Ludwig Robert müssen sich mit kleineren, einzelne Züge hervorhebenden Aufsätzen begnügen. Wenn diese biographischen Miniaturbilder die vorgeführten Personen mit nicht gewöhnlicher Kunst in das Centrum ihrer Individualität treffen, so bieten Varnhagen’s „Denkwürdigkeiten“ (Mannheim 1837, 1838, Leipzig 1840–1859) neben ähnlichen Meisterstücken individualisirender Wesenserfassung zugleich eine auf gewaltiger Fülle persönlich geschauten Materials aufgebaute, freilich nicht immer ganz zuverlässige Schilderung deutschen Lebens in der Zeit von 1785 bis 1819. Deutschland müßte an Memoirenwerken erst weit reicher werden, ehe es Varnhagen’s „Denkwürdigkeiten“ aus dem Reiche classischer Schriften des Faches streichen dürfte. In sauberer und plastischer Ausführung steigt das Bild des geistreichen Berlins, der Jung-Romantik des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts vor dem Leser empor. In zusammenfassender Darstellung und in der Menge werthvollen Details übertrifft dieser Theil der „Denkwürdigkeiten“ sämmtliche Briefwechsel und Memoirenwerke der Zeit. Wien und die ersten Keime der Wiener Romantik kommen nach der Schilderung der Schlacht von Wagram zu ähnlich glücklicher Erscheinung, ebenso das Paris der letzten Jahre des ersten Kaiserthums. Nach seinen eigenen älteren Schriften zeichnet V. dann das Bild der an Tettenborn’s Seite verlebten Jahre, um endlich den Wiener Congreß als Eingeweihter vorzuführen, der gerne und oft einen Blick hinter die Coulissen thut. V. liebt überhaupt diese Blicke hinter die Coulissen; und sie geben seiner Autobiographie einen besonderen Anstrich. Große Männer werden gerne im Hausrocke vorgeführt. Wie seine Biographien preußischer Feldherren und Dichter mit Vorliebe die Anekdote verwerthen, so greift er auch jetzt gerne zu ihr; [779] freilich kann sie in diesem Zusammenhange auch kaum mehr vom niedrigsten Klatsche unterschieden werden. Mit Behagen hängt er gerade den historisch bedeutendsten Individuen, großen Staatsmännern wie großen Schriftstellern, einen Denkzettel an und zieht geflissentlich die unerquicklichsten, kleinlichsten Momente ihres Lebens in den Vordergrund. Die Denkwürdigkeiten reichen in ununterbrochener Kette bis zum Jahre 1819, bis zu seiner Abberufung von Karlsruhe. Die letzten fünf Capitel greifen nur mehr einzelne Episoden seines Lebens heraus, dienen gelegentlich nur seiner Klatschsucht. Ein Capitel schildert Rahel’s Ableben, ein anderes Varnhagen’s seltsame, unmittelbar nach Rahel’s Tod sich anspinnenden Beziehungen zu Marianne Saaling. Den Abschluß bildet Varnhagen’s Zusammenkunft mit Metternich vom Jahre 1834. Auch hier wieder ist manches Intime nutz- und zwecklos herausgesagt; allein trotzdem liefert V. in diesem erst nach seinem Ableben im J. 1853 veröffentlichten Capitel eine der günstigsten Schilderungen, die der vielgeschmähte österreichische Staatsmann je gefunden hat, eine Schilderung, die um so mehr auffallen mußte, als sie von einem Liberalen kam.

In emsiger Thätigkeit, kritisirend, sein Leben und das Leben anderer schildernd, in voller geistiger Frische lebte V. in Berlin; hie und da unterbrach eine Reise das Stilleben. In innigem Verkehre mit den hervorragendsten Vertretern des geistigen Berlin bewahrte er das Erbe, das Rahel’s litterarischer Salon, das seine eigne einst vielbewegte Lebensbahn ihm geschenkt hatte. Rahel’s Andenken und ihrem Nachlasse widmete er dauernd einen Theil seiner schriftstellerischen[WS 1] Arbeit, dann auch dem Nachlasse einer Reihe Fernerstehender, wie Fr. Gentz oder Karl Müller. Allgemein geschätzt, insbesondere von den Jüngeren hoch geachtet und verehrt, entschlief er am 10. October 1858. Man mochte meinen, die lange Reihe der oben aufgeführten Schriften hätte das Leben des Greises ausgefüllt. Um so größer war das Erstaunen, ja die Entrüstung, als Ludmilla Assing aus Varnhagen’s Nachlaß nacheinander eine Reihe von Publicationen vorlegte, die sein Bild wesentlich veränderten. Daß V. mit den bestehenden Verhältnissen, mit der Regierung Friedrich Wilhelm’s IV. nicht einverstanden war, wußte man ja wohl; und die nicht geringe Mehrheit stimmte ihm zu. Daß er die Anekdote, den Klatsch liebte, daran konnte kein Leser seiner historischen und autobiographischen Schriften zweifeln. Wol aber mußte es überraschen, daß V. allen erbärmlichsten Klatsch, den er über die führenden Persönlichkeiten erfahren hatte, mit Bienenfleiß Tag für Tag zusammentrug, daß er mit erbittertstem Hasse das böseste Wort, die kränkendste Wendung über die ihm Unsympathischen für das Gedächtniß der Nachwelt aufzeichnete. Namenlos bloßgestellt waren alle, mit denen er intim verkehrt hatte, so Alexander v. Humboldt, Bettina von Arnim und viele Andere. Freilich er selbst kam in seinen Aufzeichnungen am schlechtesten weg. Mögen sie auch die Fülle des Geistreichen, eine Menge unschätzbaren historischen und litterarischen Materials bieten, sie zeugen doch unwiderleglich für die maßlose Eitelkeit des Mannes, der früh morgens in Kissingen den anwesenden Hoheiten in den Weg läuft und nach ihrer Ansprache buhlt, Abends seinem Tagebuch Klagen über die störende Anwesenheit derselben Hoheiten einverleibt. Diese hämisch klatschende, wiederum an W. Schlegel gemahnende Eitelkeit macht Varnhagen’s Tagebücher auch dann unsympathisch, wenn er heute beliebten, nachträglich zu Recht gediehenen politischen Anschauungen das Wort redet. Als einer Darstellung der Zeitgeschichte aber hat V. selbst durch eine beiläufige Aeußerung seinen Tagebüchern alle Berechtigung entzogen; er sagt einmal: „Eine mikroskopische Geschichte ist nicht besser als eine mit natürlichem Auge gesehene, nicht die Richtigkeit des fast nicht mehr sichtbarsten Kleinen, sondern der Eindrücke im Großen ist die Hauptsache“ (10, 174). V. hat, und zwar [780] am meisten in den Tagebüchern, dem kaum mehr Sichtbaren, mindestens nur Wenigen sichtbaren Kleineren sein Interesse gewidmet. Wir aber begreifen, wenn ein Historiker von Treitschke’s Art V. einen Schwamm nennt, der jedes Schmutzbächlein aufsog. Sein treuster Helfershelfer war Alexander v. Humboldt; und mit der Veröffentlichung seiner Briefe an V. setzte Ludmilla Assing 1860 ein. Sie gab ein paar Tagebuchstellen Varnhagen’s als Pröbchen hinzu. Fünf Auflagen waren in einem Jahre vergriffen. Von 1861 bis 1870 folgten dann Varnhagen’s Tagebücher aus den Jahren von 1835 bis zu seinem Tode, vierzehn starke Bände, die Ludmilla erst bei Brockhaus. dann vor der Censur fliehend in Zürich, endlich bei Hoffmann und Campe in Hamburg herausgab. In den Jahren 1868 und 1869 edirte sie noch unter dem Titel „Blätter aus der preußischen Geschichte“ Varnhagen’s Tagebücher der Jahre von 1815 bis 1825; sie nehmen den Faden auf, den V. in seinen Denkwürdigkeiten fallen gelassen hatte. Wer die Wirkung der Briefe Humboldt’s und der ersten Bände der Tagebücher, dann die Art der Antikritik kennen lernen will, die von conservativer Seite geübt wurde, der lese etwa die Kreuzzeitung vom 24. November 1861. Wären die Tagebücher, wie V. testamentarisch bestimmt hatte, erst 20 Jahre nach seinem Tode ans Licht getreten, sein Andenken stände heute in besseren Ehren. Auf Ludmilla Assing fällt der Vorwurf, daß sie den größten Theil des Skandals durch allzufrühe Veröffentlichung verschuldet hat. Nicht in Varnhagen’s Sinn war es gelegen, noch Lebende oder eben Verstorbene bloßzustellen. Ludmilla’s Indiscretion machte die scharfen Worte begreiflich, die ein mittelbar Betheiligter von der vornehmen Art Herman Grimm’s ihr gab. (Fünfzehn Essays. Erste Folge3 362–374.) –

Die obige Studie geizt nicht nach dem Ruhme, sämmtliche Schriften Varnhagen’s anzuführen; sie wäre sonst bei beschränktem Raume zu einem bibliographischen Verzeichniß geworden. Hoffentlich bietet die 2. Auflage von Goedeke’s Grundriß an Stelle des völlig unzureichenden Artikels der ersten (3, 78 f.) eine umfassende Zusammenstellung. Hier sei nur bemerkt: Die 19bändigen von Ludmilla Assing besorgten „Ausgewählten Schriften“ (Leipzig 1871–76) bieten durchaus nicht den gesammten Inhalt der von V. selbst besorgten „Denkwürdigkeiten und vermischten Schriften“. (Mannheim, dann Leipzig 1837–59.) Insbesondere fehlen die Recensionen, die allerdings zum Theil nur in dem Buche „Zur Geschichtschreibung und Litteratur. Berichte und Beurtheilungen“ (Hamburg 1833) gesammelt vorliegen. Ein Neudruck der „deutschen Erzählungen“ erschien Stuttgart 1879. Einen Neudruck des „Musenalmanachs“ auf das Jahr 1806 besorgte L. Geiger (Berliner Neudrucke Ser. 2. Bd. 1, 1889); vgl. auch Kürschner’s Deutsche Nationallitteratur 135, 3, 170–177. 287–291. – Als Quellen der Biographie Varnhagen’s kommen natürlich zunächst seine eignen autobiographischen Gaben und seine Briefe in Betracht. Panegyrisch gehalten ist ein anonymer Artikel über V. „Unsere Zeit“ 1859, 3, 508–522. Wenig, aber interessantes Material, auch reiche Litteraturangaben aus zeitgenössischen Zeitschriften bei Wurzbach 49, 282–286.[1]


[769] *) Zu S. 499.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 780. Z. 8 v. u.: Beachtenswerth ist noch R. Haym’s ausgezeichnete Charakteristik, Preuß. Jahrb. 1863, XI, 444 ff. [Bd. 45, S. 675]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schrifstellerischen