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ADB:Schlabrendorff, Gustav Graf von

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Artikel „Schlabrendorf, Gustav Graf von“ von Colmar Grünhagen in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 320–323, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schlabrendorff,_Gustav_Graf_von&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 11:57 Uhr UTC)
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Schlabrendorf: Gustav Graf v. S., philanthropischer Sonderling, 1750 bis 1824. Geboren am 22. März 1750 zu Stettin als dritter Sohn des nachmaligen schlesischen Ministers Ernst Wilhelm v. S. (Biographie vorstehend), dessen Nachkommen die Gunst des Königs 1772 resp. 1786 die Grafenwürde verlieh. Mit seinem Vater 1755 nach Breslau übergesiedelt, genoß er hier durch Hofmeister eine sorgfältige Erziehung und Ausbildung, die ihn 1767 zum Besuche der Hochschulen zu Frankfurt a. O. bis 1769 und Halle bis 1772 befähigte. Er suchte hier, wenngleich als Rechtsbeflissener eingetragen, nicht sowohl die Vorbereitung für den Staatsdienst, als vielmehr Gelegenheit zu ernsten Studien auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft, alten Sprachen ebenso wie Philosophie und Staatsrecht. Seit dem Tode des Vaters 1769 im Besitze ansehnlicher Geldmittel, zu denen 1766 noch die Einkünfte einer Dompfründe von Magdeburg gekommen waren, auf welche ihm der äußerst fürsorgliche Vater bereits 1753 eine Anwartschaft erworben hatte, suchte er weitere Belehrung auf großen Reisen durch ganz Deutschland, die Schweiz, Frankreich und England, in welch letzterem Lande er sechs Jahre verweilte, mächtig angezogen durch dessen Eigenart, seine Verfassung, seine entwickelte Industrie und nicht zum mindesten auch seine auf kirchlichem Boden erwachsenen philanthropischen Anstalten. Hier machte er die Bekanntschaft vieler bedeutender Männer und trat auch hervorragenden Landsleuten näher. So begleitete er 1786–87 eine Zeit lang den großen Freiherrn v. Stein auf dessen in Gemeinschaft mit dem nachherigen Minister v. Reden zur Erforschung der Berg- und Hüttenindustrie Englands unternommenen Reisen, und in demselben Jahre schloß er auch eine herzliche Freundschaft mit dem damals im Hause des Gesandten Graf Reventlow als Gast weilenden Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi. Dabei zeichnete er sich schon hier durch originelle Züge von Menschenliebe aus, wie er z. B. eines deutschen Handwerksburschen, den die äußerste Noth zu einem Raubanfall getrieben und der dabei ergriffen und zum Tode verurtheilt worden war, sich eifrig annahm, und nachdem er vergebens versucht sein Schicksal zu mildern, bei demselben im Gefängnisse die letzten Tage zubrachte und ihn bis zum Galgen mit frommen Tröstungen geleitete. Kurz vor dem Ausbruche der französischen Revolution ist er dann nach Paris übergesiedelt und hat mit Begeisterung die Erhebung des Volkes begrüßt, von welcher er wie so viele Andere das Höchste hoffte. In gleicher Gesinnung fand sich damals eine Anzahl von Deutschen mit ihm zusammen, der spätere französische Diplomat Reinhard, der Schlesier L. E. Oelsner, nachmals durch seine Preisschrift über Mahomet berühmt geworden, der Schwabe Georg Kerner (Bruder von Justinus K.), auch der bekannte Georg Forster. Einige dieses Kreises hatten nähere Fühlung mit den Girondisten, und nach deren Sturze fand auch S. sich bedroht, und seine Verhaftung im Sommer 1793 löste zugleich seine Verlobung mit einer liebenswürdigen Schottin Miß Christie. Im Gefängnisse ward er wiederum der freigebige Wohlthäter seiner Leidensgenossen. Sein Vermögen vertraute er seinem Freunde Oelsner an, der sich damals noch durch die Flucht zu retten vermochte, und der dann unter den schwersten eigenen Entbehrungen den ihm übergebenen Schatz getreu gewahrt und seiner Zeit zurückgegeben hat. S. erwartete mit vollster Fassung täglich seinen Tod, und in der That wurde eines Morgens sein Name mit unter denen verlesen, die der verhängnißvolle Karren zur Guillotine führen sollte. Er war sogleich bereit, doch fehlten ihm die Stiefeln und wollten sich nicht finden; infolge dessen ward er für die Ladung des nächsten Tages aufgespart. An diesem aber ward sein Name nicht mit aufgerufen; er war vergessen worden und blieb es, wenngleich für ihn an jedem Morgen die bängliche Sorge, ob nicht doch einmal das Versäumte werde nachgeholt werden, sich erneute. Erst [321] nach dem Sturze Robespierre’s erlangte er mit vielen Anderen die Freiheit wieder und bezog nun nach achtzehnmonatlicher Haft wiederum sein altes Zimmer im Hotel des Deux Siciles in der Rue Richelieu, wohin ihn einst der Postillon aus Boulogne gefahren, und in dem er über 30 Jahre gehaust hat, in brieflichem wie in persönlichem Verkehr mit vielen Berühmtheiten und verschiedenen ästhetisch und litterarisch gebildeten Frauen, seine reichen Geldmittel freigebig allen Bedürftigen, die sich an ihn wandten, nicht selten allerdings auch Unwürdigen zuwendend. An den Geschicken der Heimat nahm er lebhaften Antheil, und er hat z. B. große Summen aufgewendet, um das Loos seiner Landsleute, welche in französische Kriegsgefangenschaft gerathen waren, zu erleichtern, wie er denn sich selbst als einen in der Fremde angestellten Armenpfleger seiner Landsleute betrachtete. Im J. 1803 ward er von der preußischen Regierung als schlesischer Vasall zur Rückkehr in die Heimath geladen, und da er diesen Ladungen nicht Folge leistete, mit Confiscation seiner schlesischen Güter bedroht und das Confiscationsdecret in der That auch unter dem 7. September 1803 von der Glogauer Oberamtsregierung ausgesprochen. Doch ging man auch jetzt noch mit größter Milde vor, und unter dem 3. November d. J. schreibt ihm der Minister für Schlesien, Graf Hoym, es käme nur darauf an, daß S. sich entschlösse, „auf eine ganz kurze Zeit, wenn auch nur auf 4 Wochen, sein Vaterland zu besuchen, um dadurch seine Achtung gegen den Willen des Königs an den Tag zu legen“. „Ich wiederhole meine ganz einfache Bitte“, schließt der Minister, „das Wohl der Ihrigen zu beherzigen und diesem das kleine Opfer einer kurzen Veränderung Ihrer gewohnten Lebensweise zu bringen“. Aber S. blieb hartnäckig und schützte Kränklichkeit vor. Vielseitige Fürsprache hatte dann die Wirkung, daß man statt einer Confiscation nur eine zeitweilige Sequestration über die Güter verhängte. Der preußische Gesandte Luchesini erhielt den Auftrag, dem Grafen Vorstellungen zu machen, aber S., der damals das Ganze auf eine von seiner Familie ausgehende Intrigue zurückführte, lehnte es ab, denselben aufzusuchen (Februar 1804), und als er dann im Sommer 1804 wieder um eine neue sechswöchentliche Verlängerung der ihm zur Rückkehr gewährten Frist bat, gewährte dies König Friedrich Wilhelm III. unter dem 26. August mit dem Ausdruck seiner Zufriedenheit darüber, daß S. nun wirklich zur Rückkehr sich entschließen wolle. Aber den Entschluß dazu fand S. dann doch nicht, und 1805 ging man endlich ernster gegen ihn vor, sprach ihm seine Magdeburger Pfründe ab, deren Obliegenheiten er allerdings schlecht entsprach, namentlich seit er (1780) unter die besser dotirten canonicos majores cum residentia eingetreten war, und machte eine Aufhebung des Sequesters von seiner Rückkehr abhängig (Cabinetsordre vom 24. Sept. 1805). Eine Wirkung hatte das nicht; S. blieb in Paris und empfand die arge Schmälerung seiner Einkünfte bei seiner Bedürfnißlosigkeit persönlich sehr wenig, und eigentlich nur darin, daß er jetzt Anderen weniger zu geben vermochte. Als dann Ende 1807 des Königs jüngerer Bruder Prinz Wilhelm nach Paris kam, um bei Napoleon Erleichterungen der Friedensbedingungen auszuwirken, gelang es seinem Begleiter Alexander v. Humboldt, dem Grafen ebenso wie sein Bruder Wilhelm befreundet, Jenen dem Prinzen vorzustellen. Prinz Wilhelm zog ihn wiederholt an seine Tafel und lernte ihn schätzen, erwirkte ihm auch durch eifrige Verwendung bei seinem königlichen Bruder die Aufhebung des Sequesters seiner schlesischen Güter. Was ihn in Paris festhielt, war eigentlich nur die Macht der Gewohnheit; sonst hatte ihn die Entwickelung der Revolution von aller Sympathie für diese „grundausverdorbene“ Nation, bei der „die große Alles verschlingende Tyrannei der Sinnlichkeit und des Egoismus in dem Herzen jedes Einzelnen alle Gesetze entkräftet und vernichtet“, gänzlich zurückgebracht. So [322] schildert er die Franzosen in seiner umfänglichsten Schrift „Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Consulate. Germanien, im J. 1804“, für dessen Verfasser lange mit Unrecht der Musiker Reichardt galt, der anscheinend den Druck veranlaßt hat, einem Buche, das s. Z. ein großes Aufsehen machte, insofern es die brutale Gewaltherrschaft Napoleon’s ebenso scharf kritisirte wie den Charakter der von ihm unterjochten Franzosen. In Frankreich wußte man von dieser Autorschaft nichts, und wenn gleich die Regierung Schlabrendorf’s oppositionelle Gesinnung kannte, so hielt sie es doch nicht der Mühe werth, den einflußlosen Sonderling zu verfolgen. Im J. 1813, wo die kriegerische Erhebung Preußens von ihm mit Begeisterung begrüßt wurde, zog es ihn mächtig nach der Heimath, aber die Regierung hielt ihm die Pässe vor. Nach dem Einzuge der Verbündeten in Paris soll er dann deren Sache so wichtige Dienste geleistet haben, daß ihm das eiserne Kreuz zu Theil wurde. Dabei blieb dann der immer auf’s neue geäußerte Vorsatz, nunmehr nach der Heimat zurückzukehren, doch unausgeführt – hauptsächlich aus Bequemlichkeit, wie er denn mit zunehmendem Alter als der Einsiedler von Paris, wie er sich selbst bezeichnete, sich mehr und mehr in seine schmutzige, aller Bequemlichkeiten entbehrende Klause vergrub, in der er bei schlechtester Kost unter Büchern und Schriften hauste, und die er sehr selten nur noch verließ. Seine kräftige Natur hat lange seine wenig rationelle Lebensart ertragen. Als er endlich im Sommer 1824 ernstlich erkrankte und sein Arzt mit großer Schwierigkeit seine Uebersiedelung in bessere Luft, nach dem damals noch ländlichen Batignoles durchsetzte, war es zu spät; er verschied am 21. August 1824. Baares Geld fand sich nur so wenig vor, daß die preußische Gesandtschaft die Begräbnißkosten größtentheils vorschießen mußte. Wenn er wiederholt daran gedacht hatte, eine allgemeinere Schulstiftung mit einem Familienfideicommiß zu verbinden, so hat er dann doch nicht die Zeit gefunden, darüber letztwillige Verfügungen zu treffen, und ein vorgefundenes Testament von 1785 war so geartet, daß es mehrfach angefochten ward. Wie mit seinem Testamente ist es eigentlich mit seinem ganzen Leben gegangen, die besten Absichten und löblichsten Vorsätze haben keine Erfüllung gefunden; die reichsten Gaben des Geistes und Herzens, ein selten vielseitiges Wissen hat er in würdiger und angemessener Weise auszugestalten nicht vermocht. In der Geschichte der Buchdruckerkunst wird sein Name genannt. In Gemeinschaft mit Herhan, Errand, Renouard hat er eine wesentliche Verbesserung der Stereotypie in’s Leben gerufen, und die Versuche der Genannten nicht nur durch seine Geldmittel, sondern auch durch eine schnell erworbene Sachkenntniß wesentlich gefördert. Von Schriften, die er verfaßt, darf man neben dem bereits erwähnten Werke über Napoleon und das französische Volk eine in Leipzig 1816 erschienene kleine Schrift: „Einige entferntere Gründe für ständische Verfassung“, sowie den Artikel Horne Tooke in der Biographie universelle anführen. In einer s. Z. vielgerühmten Schrift: „Ueber die Sprache“, Heidelberg 1828, erklärt ein nicht genannter Freund und Verehrer Schlabrendorf’s im wesentlichen dessen Ideen vorzutragen. Ein Werk über allgemeine Sprachlehre, Forschungen über Wortabstammung, Versuche in deutscher Sprachbildung haben ihn dauernd beschäftigt, ohne je zum Abschluß gekommen zu sein, ebensowenig wie andere litterarische Pläne einer Philosophie des Staates und Denkwürdigkeiten über die französische Revolution im Sinne von Machiavelli’s Discursen über Livius. Von den in großer Zahl in seinem Nachlasse befindlichen Aphorismen, Einzelblicken, wie er sie nannte, hat sein Freund Varnhagen eine Anzahl veröffentlicht, die uns doch nur mäßig anmuthen können. In vielen derselben lehnt sich der Eremita Parisiensis (wie er sich bezeichnet) an Angelus Silesius an, und begreiflicher Weise wird das Verständniß derselben nicht erleichtert durch die große Zahl „selbstgeprägter“ Worte. Möge [323] hier einer der faßlichsten dieser Einzelblicke, in welchen der durch die Schule der Revolution und des Bonapartismus gegangene Weltbürger sich ausspricht, folgen:

Mehr wird und schädlicher Völkern gehöfelt als Fürsten,
Volksthümlichkeit, Bürgersinns Urhauch, stürmt menschenfeindlich.
Bürgersinn schmelzen im Menschthum, der Aufgaben höchste!
Kindisch bleibt Grenzrain, sinnlich verstümmelnd geist’gen Allkreis.

Varnhagen v. Ense, Graf Schlabrendorf, amtlos Staatsmann, heimathsfremd Bürger, begütert arm. Züge zu seinem Bilde. – F. v. Raumer’s histor. Taschenbuch. Leipzig 1832, ergänzt durch Materialien aus Schlabrendorf’s Nachlasse.