ADB:Hardenberg, Carl August Fürst von

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Artikel „Hardenberg, Karl August Fürst von“ von Heinrich von Sybel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 572–590, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hardenberg,_Carl_August_F%C3%BCrst_von&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 08:30 Uhr UTC)
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Hardenberg: Karl August Fürst v. H., war aus einem alten freiherrlichen Geschlechte entstammt und am 31. Mai 1750 zu Essenrode im Lüneburgischen geboren. Schon mit 16 Jahren bezog er die Universität, studirte in Göttingen, Leipzig, und wieder in Göttingen, hörte mit Fleiß und Eifer Gellert und Pütter, verkehrte mit dem Mineralogen Heinitz und trat 1770 in den hannoverschen Staatsdienst als Auditor bei der Justizkanzlei und dann bei der Kammer in Hannover. Als seine Beförderung sich hinauszog, folgte er dem Rathe König Georgs III., einige Jahre zu reisen, sah eine große Anzahl deutscher Höfe, nahm an Ort und Stelle Kenntniß vom Reichskammergerichte und vom Reichstage, und machte dann einen längeren Aufenthalt in England, wo er die persönliche Gunst des alten Königs gewann. Er zeigte Talent und Regsamkeit, hatte mannigfache wenn auch nicht stets gründliche Kenntnisse, eine rasche jedoch nicht eben tiefe Beobachtungsgabe, war in religiöser Beziehung der damaligen Aufklärung zugewandt, überhaupt zugänglich für alle Geistesströmungen der vorwärtsdrängenden und reformlustigen Zeit, im persönlichen Verkehre geistreich und liebenswürdig, im sittlichen Wandel aller guten Vorsätze voll, aber locker und haltungslos. In die Heimath zurückgekehrt, verheirathete er sich nach dem Willen des Vaters mit einer Gräfin Reventlow[WS 1]; er hatte unmittelbar vorher den Eltern seine unbeschreibliche Neigung zu einer Schwester des späteren Ministers v. Stein bekannt, auf den Widerspruch des Vaters aber sich ohne Weiteres gefügt und sich sofort mit gleicher Wärme in die ihm bestimmte Braut verliebt. Er wurde dann Kammerrath und bald Geheimer Kammerath, fand bei der hannover’schen Verwaltung an hundert Stellen Bedürfniß und Möglichkeit zu gründlichen Verbesserungen, gerieth aber mit dem leitenden Minister Gemmingen[WS 2] in Differenz, als er bei dem baierischen Erbfolgestreit eifrig sich für die Unterstützung Preußens aussprach, und faßte dann, auf die königliche Gnade, die eigne Fähigkeit und das Ansehen seiner Familie bauend, den kecken Gedanken, sich die Stelle des beim Könige in London residirenden hannoverschen Ministers zu erwerben. Er ging zu diesem Zwecke mit seiner Gemahlin nach England hinüber, mußte hier aber erleben, daß der ausschweifende Prinz von Wales mit der leichtsinnigen Frau v. Hardenberg ein Liebesverhältniß anknüpfte, welches zu einem großen Zeitungsscandal führte. H. trat in Folge dessen aus dem hannoverschen in den braunschweigischen Staatsdienst über, wo er im Mai 1782 als Präsident des Klosterraths und Mitglied des Geh. Raths-Collegiums eine ministerielle Stellung erhielt. Der Herzog Carl Wilhelm Ferdinand schätzte ihn hoch und ließ sich wesentlich durch ihn 1785 zu einer kräftigen Mitwirkung bei der Entstehung des deutschen Fürstenbundes bestimmen. Aus Hardenberg’s Thätigkeit in der inneren Verwaltung ist der von Campe angeregte Plan einer Reform des Unterrichtswesens zu erwähnen, nach welchem die Schulen, bisher unter der Aufsicht des Consistoriums und der Landstände, von beiden emancipirt und ausschließlich einem landesherrlichen Directorium unterstellt werden sollten. Die Meinung ging dahin, daß dann die ausdrückliche Opposition gegen die orthodoxe Kirche überall nach Pestalozzi–Campe’schen Gesichtspunkten zu leiten wäre. Der Plan scheiterte an dem [573] nachdrücklichen Widerspruch der Stände. Hier wie überall zeigte sich H. erfüllt von den Tendenzen der damaligen Aufklärung, den feudalen Ordnungen abgekehrt, kritisch gegen das überlieferte Kirchenthum, um so mehr begeistert für die Idee des gemeinnützigen, ordnenden, fürsorgenden Staats; nach seinen persönlichen Verhältnissen ergab sich ihm daraus kein demokratisch-revolutionäres Streben, wol aber die lebhafte Unterstützung der landesfürstlichen Gewalt sowol gegen die versumpfende Hierarchie des heiligen römischen Reiches als gegen die eigensüchtigen und jedem Fortschritt unzugänglichen landständischen Corporationen. Man erkennt leicht, für welchen der damaligen deutschen Staaten er bei dieser Stimmung gleichsam prädestinirt war, und ohne sein Wollen führten ihn seine Sterne in den angemessenen Wirkungskreis. Seine Stellung in Braunschweig wurde durch ähnliche Gründe wie einst in Hannover unmöglich: die Aufführung seiner Frau war so übel, daß es zu einer Ehescheidung kam, und noch übler war, daß H. gleich darauf eine andere Dame heirathete[WS 3], die, wie es scheint, seinetwegen von ihrem bisherigen Gemahle sich geschieden hatte. Das Aergerniß war groß, auch der Herzog nahm es nicht leicht, und H. empfand den Wunsch nach Ortsveränderung. Da traf es sich günstig, daß Markgraf Alexander von Ansbach-Baireuth, kinderlos und der Regierungssorgen überdrüssig, seine Lande schon bei Lebzeiten dem Stammesvetter und demnächstigen Erben, dem König Friedrich Wilhelm II. von Preußen zu cediren wünschte; in Berlin hatte man Sorge, daß sich daraus einige im Augenblick unliebsame Weiterungen mit Oesterreich entwickeln könnten und schob deshalb die förmliche Besitzergreifung des Landes noch hinaus. Um so mehr begehrte der Herzog, daß wenigstens an die Spitze seiner Verwaltung ein preußischer Beamter gestellt würde, und da auch dies dem Berliner Hofe noch nicht unbedenklich erschien, empfahl der Minister Hertzberg die Anstellung des zufällig in Berlin anwesenden H. Dieser schlug mit Freuden ein, errang sich bald nachher die Ernennung zum preußischen Cabinetsminister und übernahm, da der Markgraf 1792 das Land verließ, in großer Selbständigkeit die Regierung der beiden Fürstenthümer. Auch hier, wie in Braunschweig, fand er Antrieb in Fülle, unter den feudalen Ueberlieferungen aufzuräumen und seinen Anschauungen von einem arrondirten, souveränen Staate, der für Cultur, Wohlstand und Machtentwicklung ungehindert walten könnte, Raum zu schaffen. Er hatte mit Trägheit und Unredlichkeit der Beamten, mit allen faulen Gewohnheiten einer eingerosteten, halb fürstlichen, halb ständischen Administration zu thun; dabei war das Territorium zersplittert und vielfach mit fremden Besitzungen im Gemenge; überall griffen die Ansprüche der fränkischen Kreisverfassung und der benachbarten Bischöfe störend in die Landesverwaltung ein. H. aber ließ sich nicht beirren. Mit Gewandtheit, Sachkenntniß und Rührigkeit setzte er seine Einrichtungen durch, brachte dem Staate Vermehrung von Steuern und Rekruten und der Bevölkerung Verbesserungen aller Art in Justiz und Unterricht, in Berg- und Straßenbau, so daß er sich dort auf mehrere Menschenalter hinaus ein dankbares Andenken geschaffen hat.

Bald wurde es ihm vergönnt, an größeren Aufgaben mitzuwirken. Die französische Revolution war ausgebrochen, der Krieg auf der ganzen deutschen und belgischen Grenze entflammt, Ende 1793 die Heeresmacht der Franzosen in drohender Stärke aufgetreten. Diesseits war zwischen Preußen und Oesterreich ein starkes gegenseitiges Mißtrauen lebendig und durch die zweite Theilung Polens das innerste Interesse der beiden Höfe stark nach Osten abgelenkt: gegen Preußens Interessen auf jener Seite hatte sich Oesterreich so feindselig gestellt, daß König Friedrich Wilhelm mit dem Abmarsch seiner Truppen vom Rheine drohte, und als unerläßliche Bedingung ihres Verbleibens das Begehren ihrer Verpflegung durch das deutsche Reich aufstellte. Kaiser Franz wollte davon [574] nichts wissen; damit wurde eine günstige Entscheidung beim Reichstage in Regensburg höchst zweifelhaft, und so erhielt H. am 31. Januar 1794 den Auftrag, die vorderen Reichskreise zu besuchen und wenigstens bei diesen die Gewährung materieller Beihülfe für das preußische Heer am Mittelrhein durchzusetzen. H. folgte der Berufung mit großem Eifer, gewann aber trotz vieler schöner Reden keinen Erfolg, und die Armee hätte den Kriegsschauplatz verlassen, wenn nicht im April der Minister Haugwitz den Haager Vertrag zu Stande gebracht hätte, durch welchen die Seemächte dem Könige starke Subsidien verhießen (vgl. den Artikel „Haugwitz“). Als sich dann über die Frage, ob das Heer am Rheine bleiben oder nach Belgien abrücken sollte, ein scharfer Streit mit den Engländern entspann, suchte H. vergeblich zwischen dem englischen Gesandten Malmesbury[WS 4] und dem preußischen General Möllendorf zu vermitteln. Trotz des englischen Widerspruchs blieb Möllendorf am Rheine, that aber bei dem stets wachsenden Zerwürfniß mit Oesterreich nichts Rechtes gegen die Franzosen und drängte den König zu möglichst raschem Friedensschluß. H., welcher damals sich längere Zeit in Frankfurt aufhielt, stimmte soweit mit dem General überein, als auch er der Meinung war, es könne bei dem Benehmen Oesterreichs für Preußen aus der Fortsetzung des Krieges nichts Gutes entspringen; auch er also wünschte den Frieden mit der Republik. Aber er dachte nicht an einen preußischen Separatvertrag, sondern an einen allgemeinen, oder mindestens doch an einen deutschen Reichsfrieden; er hatte die hiernach richtige Vorstellung, daß man zur Erreichung dieses Zieles mit den Seemächten fest zusammenhalten und vor allen Dingen dem Gegner mit aller Energie zu Leibe gehen müsse. So war er geradezu entrüstet über Möllendorf’s widerhaarige Unthätigkeit, die er als „beinahe verrätherisch“ bezeichnete. Wir müssen schlagen, sagte er, damit den Franzosen der Friede mit uns wünschenswerth wird. Einstweilen that er hiernach, was er konnte, um Malmesbury für Preußen wieder günstig zu stimmen, mußte aber bald erfahren, daß England die Subsidien kündigte und damit das letzte Band zwischen Preußen und der Coalition zerriß. H., um so mehr von Friedenssehnsucht erfüllt, bestimmte einige der vorderen Kreise, die Vermittlung des Königs zwischen ihnen und Frankreich anzurufen. Es dauerte aber nicht lange, so entschloß sich Friedrich Wilhelm selbst zur Anknüpfung einer directen Friedensunterhandlung in Basel, mit deren Führung er den früheren Gesandten in Paris, Grafen Goltz, beauftragte. Indessen starb dieser bald nach den ersten Gesprächen mit dem französischen Bevollmächtigten Barthelemy[WS 5], und jetzt wurde am 28. Februar 1795 H. mit der weiteren Verhandlung betraut. Die beiden Mächte, des Friedens gleich sehr bedürftig, waren in den meisten Punkten sich rasch entgegengekommen; nur eine Hauptfrage trennte sie noch, das französische Begehren auf Abtretung des linken Rheinufers. H. war entschieden der Ansicht, die Neutralität Preußens sei für Frankreich so wichtig, daß der Wohlfahrtsausschuß endlich auch ohne rheinische Erwerbungen abschließen würde, wenn Preußen fest bleibe und nöthigenfalls mit Abbruch der Verhandlung und energischer Offensive drohe. Aber in Berlin wollte man diese Gefahr nicht laufen (vgl. den Artikel „Haugwitz“), sondern sich mit einem Artikel begnügen, welcher die Frage des linken Rheinufers auf den Reichsfrieden vertagte und für den Fall der Abtretung Preußen eine Entschädigung versprach. H. erprobte die Richtigkeit seiner allgemeinen Auffassung, indem er dem Ausschuß trotz dessen kriegerischem Gepolter eine ganze Anzahl untergeordneter Concessionen entriß: leider wagte er in der Hauptsache nicht, im Widerspruch mit seinen Instructionen das gleiche Verfahren inne zu halten, das ohne Zweifel zu gleich günstigem Ergebnisse und zur Anerkennung der deutschen Reichsintegrität geführt hätte. Er zeichnete am 9. April auf Haugwitz’s Artikel und charakteristisch war es jetzt wieder für seine [575] leichtlebige, wenig ernste Weise, wie er sich trotz der Vereitelung seines Hauptwunsches seiner kleinen Errungenschaften erfreute, und mit Wohlgefallen die Trefflichkeit seines schönen Friedenswerkes erläuterte. Er blieb dann noch längere Zeit in Basel, um bei dem Wohlfahrtsausschuß die Annahme der preußischen Vermittlung zwischen Frankreich und den deutschen Reichsständen durchzusetzen, mußte schließlich aber unverrichteter Sache nach Franken zurückkehren. Das J. 1796 eröffnete ihm dort die Aussicht, die beiden Markgrafiate in erwünschter Weise zu einer vergrößerten und geschlossenen Provinz zu erweitern. Er erhielt die Vollmacht, alle alten Rechtsansprüche der Hohenzollern auf fränkische Gebiete zu ermitteln und dann ohne Weiteres zu verfahren. Hiernach nöthigte er eine erhebliche Anzahl kleiner Territorien und Ortschaften zur Anerkennung der preußischen Landeshoheit, und als im Sommer Jourdan’s[WS 6] Armee in Franken einfiel, die preußischen Gebiete schonte und alle anderen verwüstete und brandschatzte, ließ sich auf des Ministers eifriges Betreiben sogar die bedeutende Reichsstadt Nürnberg herbei, preußische Besatzung aufzunehmen und um Vereinigung mit dem preußischen Staate selbst zu bitten. H. jubelte. Aber die Freude hatte kurzen Bestand. Wenige Wochen später trieb Erzherzog Carl die Franzosen wieder aus Süddeutschland hinaus, und den siegenden Oesterreichern gegenüber entschloß sich der Berliner Hof, Nürnbergs Gesuch abzulehnen. Kein besseres Glück hatte H., als er bei der endlichen Regulirung der großen deutschen Entschädigungssache nach dem Luneviller Frieden seinen Hof bestimmte, Anspruch auf die beiden Bisthümer Würzburg und Bamberg zu erheben, deren Vereinigung mit Ansbach und Baireuth dem Könige allerdings in Süddeutschland eine ebenso einflußreiche Stellung gegeben hätte, wie Preußen sie im deutschen Norden unbestritten besaß. Bonaparte[WS 7], welcher damals als erster Consul die Geschicke Frankreichs und Europas lenkte, war nicht gesonnen, Preußen eine solche Ausdehnung zu gestatten, und nach seiner Verfügung gelangten zu Hardenberg’s großem Kummer die beiden Bisthümer in baierischen Besitz.

Schon seit 1793 hatte H. eine nahe Freundschaft mit dem Grafen Haugwitz, dem damals einflußreichsten Minister des Auswärtigen, geknüpft. In Folge dieses Verhältnisses berief ihn dieser, August bis October 1803, zu seiner Stellvertretung während eines sechswöchentlichen Urlaubs. Kurz zuvor hatte Bonaparte nach Wiederbeginn des englischen Krieges Hannover besetzt; Haugwitz hatte ihm zuvorkommen, dann in Gemeinschaft mit dem gleichgesinnten Rußland rüsten und die Räumung des Landes fordern wollen, fort und fort sehr nachdrücklich den Abschluß eines Bundesvertrags mit Alexander[WS 8] beantragt: daß der König auf Betreiben des Cabinetraths Lombard Alles zurückwies, rief bei Haugwitz den Wunsch hervor, das Ministerium aufzugeben und sein Ausscheiden zunächst durch einen längeren Urlaub vorzubereiten. H. beruhigte sich während seiner Geschäftsführung bei den königlichen Intentionen; neue Aufforderungen Rußlands wurden ablehnend beantwortet. Als Haugwitz Ende October zurückkam, als Bonaparte jede Milderung seines Vorgehens weigerte und als Bedingung irgend welcher Einräumung den Abschluß einer französisch-preußischen Allianz aufstellte: da brachte Haugwitz den König zu einem festeren Entschlusse, zu der Frage an Kaiser Alexander, 21. Februar 1804, ob Rußland bei einer Bedrohung Preußens durch Bonaparte helfend eintreten würde, worauf Alexander am 15. März mit einem bestimmten Ja erwiederte. Daraus ergab sich ein geheimer Vertrag zwischen beiden Staaten (durch Declarationen vom 3. und 24. Mai), worin ein Angriff Bonaparte’s auf Preußen oder weitere Ausdehnung der Franzosen in Norddeutschland als Kriegsfall bezeichnet war. Inzwischen war Haugwitz, stets über die Cabinetsräthe zürnend, auf’s Neue ausgeschieden und H. am 14. April wieder sein Vertreter geworden; vier Monate später wurde seine Stellung definitiv [576] durch die förmliche Entlassung des Grafen. Unter den schwierigsten Verhältnissen war die Leitung der preußischen Politik in seine Hand gelegt.

In seinen Memoiren, die an diesem Punkte beginnen, führt er weitläufig aus, wie er die Schwäche und Haltlosigkeit des bisherigen Systems, das Hin- und Herschwanken von einer Seite zur anderen, die unthätige Mattherzigkeit verurtheilt und stets auf feste Gesichtspunkte und muthige Thatkraft gedrungen habe, wie aber leider an der absoluten Friedensliebe des Königs und der Nichtsnutzigkeit der im Cabinete einwirkenden Männer alle seine Bemühungen gescheitert seien. In Wahrheit war das Gegentheil der Fall. Er war noch ganz der talentvolle, leichtgesinnte Staatsmann, wie wir ihn zehn Jahre früher am Rheine kennen gelernt haben, auch sein Gesichtskreis und seine Zwecke und Mittel hatten sich nicht erweitert. Von der unermeßlichen Gefahr, welche jetzt die kolossale Anhäufung aller Streitkräfte Frankreichs, Spaniens, Italiens, der Schweiz und der Niederlande in der einen gewaltigen Hand des genialsten Feldherrn, des gewissenlosesten Diplomaten, des unersättlichsten Eroberers über alle Staaten Europas heraufführte, scheint er damals keine Ahnung gehabt zu haben. So ganz überwältigend, sagte er einmal, ist Frankreichs Macht doch noch nicht. Im Frühjahr 1805 stellte er dem König sein Programm: „auf geschickter Benützung der Gelegenheiten, wo Erwerbungen gemacht oder dem Staate besser abgerundete Grenzen gegeben werden können, beruht, so viel ich sehe, das Ziel der preußischen Politik.“ Es war ganz und gar die von Hertzberg inaugurirte Kunst, ohne Kampf noch Anstrengung durch schlaue Combinationen und wechselnde Stellungen Profit zu suchen, eine Kunst, die auch Haugwitz mehrere Jahre hindurch geübt, seit 1799 aber, seit der Entwicklung der erdrückenden französischen Uebermacht, auf das Entschiedenste hatte verlassen wollen, um im Bunde mit Oesterreich und Rußland für die Unabhängigkeit Europa’s kräftig mitzuwirken. Mit Hardenberg’s Eintritt aber fiel Preußen sofort wieder in das System der kriegsscheuen Annexionspolitik zurück. Er versichert zwar hundert Mal, sein Grundsatz sei gewesen, man müsse die unentschlossene Neutralität verlassen und nach einer Seite hin thatkräftig Partei nehmen: da er aber die Frage, auf welche Seite Preußen zu treten habe, völlig offen und von augenblicklichen Umständen abhängig ließ, so ergab sich auch für ihn ein unaufhörliches Hin- und Herschwanken, dessen Resultat bei der Friedensliebe des Königs nothwendig die Fortsetzung der neutralen Unthätigkeit sein mußte.

Unter den etwa erreichbaren Annexionen dünkte ihm die Erwerbung Hannovers bei Weitem die wünschenswertheste und zugleich erreichbarste zu sein. Da nun Hannover das angestammte Erbe des englischen Königs, des Gegners der Franzosen war, so ergab sich für H., in geradem Gegensatze zu der einzig großen und wahren Politik, im Widerspruch mit dem eben geschlossenen russischen Vertrag eine halb unbewußte Hinneigung zu Frankreich. Seine Hauptsorge war zunächst, den im russischen Vertrage vorgesehenen Kriegsfall zu verhüten. Er gewann Bonaparte’s Zusage, keine Uebergriffe in Norddeutschland zu machen, durch das Versprechen, seinerseits die Franzosen in Hannover gegen jeden feindlichen Angriff zu schützen. Als die Franzosen dann fortdauernd kleine Gewaltstreiche gegen die Hansestädte unternahmen, erhob er wol Reklamationen, freute sich, wenn sie Erfolg hatten, blieb aber ruhig, wenn es nicht geschah. Als jedoch Schweden in Vorpommern Truppen zum Vorstoß gegen Hannover aufstellte, drohte er den Schweden in der That mit Waffengewalt, ließ aber freilich die Arme auf der Stelle sinken, als Rußland hiegegen seinerseits den Kriegsfall stellte. Seit Anfang 1805 forderten Rußland und Oesterreich gemeinsam zu festen Abreden über den Frankreich zu leistenden Widerstand auf; H. blieb dabei, man dürfe sich von jenen nicht unbedingt abhängig machen und ließ nicht einmal Haugwitz’s Gedanken eines Versprechens zu, ohne Vorwissen derselben [577] kein anderes Bündniß (mit Napoleon) einzugehen. Er begnügte sich, am 12. März in Petersburg erklären zu lassen, es sei nothwendig, übereinstimmend zu denken und zu handeln; man müsse die Absicht hegen, daß keine Macht ohne Wissen der anderen Verträge eingehe. Indessen wuchs die Spannung zwischen Frankreich und den Ostmächten; der Ausbruch des Krieges wurde immer wahrscheinlicher, man hatte Grund zu fürchten, daß Rußland seine Heere durch preußisches Gebiet vorschieben, oder doch zur See nach Pommern und Hannover bringen werde, was dann für Preußen die Fortdauer der Neutralität unmöglich gemacht hätte. H. hielt den Augenblick günstig und warf dem französischen Gesandten den Vorschlag hin, Napoleon möge Hannover dem preußischen Hofe zum Depot oder Besitz überlassen. Es erfolgte sogleich die Antwort Napoleons, daß er Preußen das volle Eigenthum Hannovers garantiren wolle, wenn Preußen ihm durch einen Bundesvertrag seine damaligen Besitzungen in Italien decke. H. malte sich aus, daß damit die Franzosen aus Norddeutschland entfernt und ein Hauptgrund zum Kriege beseitigt würde; wenn dann noch Napoleon die Unabhängigkeit Italiens, Hollands, der Schweiz respectire, werde sich der Friede erhalten lassen. Er gewann den Herzog von Braunschweig für die französische Allianz; Graf Haugwitz aber, welchen der König befragte, stimmte entschieden dagegen und rieth dringend zu rüsten, um in jedem Falle die eigenen Lande gegen das Kriegswetter schützen zu können. Der König entschloß sich, als jetzt Rußland gebieterisch den Durchmarsch für seine Truppen durch Preußen begehrte, zur Deckung der Ostgrenzen zuerst 80,000 Mann und dann die ganze Armee zu mobilisiren; um so eifriger setzte H. im September die Unterhandlung mit Napoleon über die Einräumung Hannovers fort; er redete jetzt nicht von Allianz, da die Hoffnung, durch eine solche die Ostmächte vom Kriege abzuhalten, bereits verschwunden war; er begehrte jetzt Hannover als Preis für Preußens Neutralität, während Haugwitz nach Wien gesandt wurde, um auch hier die Thür zu etwaiger Anknüpfung offen zu halten. Napoleon, eben im Zuge gegen die Oesterreicher in Ulm, war dicht daran, Hardenberg’s Vorschläge rundweg anzunehmen und damit hoffentlich Preußen doch noch auf seine Seite gegen die Coalition herüberzuziehen.

Da trat die Wendung ein. Drei französische Corps zogen rücksichtslos durch das preußische Gebiet in Ansbach. Der König, der stets erklärt hatte, er werde Frieden halten, so lange kein feindlicher Soldat sein Land beträte, der soeben erst zur Rüstung geschritten war, um eine ähnliche Verletzung durch Rußland zu hindern, der König war empört und ohne Zaudern zum Schlagen entschlossen. Auf der Stelle wollte er den diplomatischen Verkehr mit Frankreich abbrechen, was mit der Kriegserklärung gleichbedeutend gewesen wäre: H. aber fiel ihm in den Arm, jetzt müsse Preußen als bewaffneter Vermittler auftreten und als Genugthuung für die Verletzung Ansbachs endlich die Einräumung Hannovers durchsetzen. Der König hielt den Krieg für gewiß und schrieb in diesem Sinne an die Kaiser Franz und Alexander; Haugwitz, eben aus Wien zurückgekehrt, setzte im Rathe des Königs die Eröffnung einer Verhandlung mit England auf Erlangung von Subsidien durch. Immer hielt H. unter der steten Erklärung, man müsse auch den Ostmächten gegenüber seine Selbstständigkeit wahren, die Rolle des Vermittlers auch jetzt aufrecht; der König, nicht energisch genug, dies zu hindern, war doch mit Hardenberg’s Lauheit unzufrieden und berief Haugwitz gemeinsam mit jenem in das Ministerium des Auswärtigen, zu Hardenberg’s schwerem Verdrusse. Darüber kam Kaiser Alexander nach Berlin und am 3. November wurde in Potsdam mit ihm der Vertrag über die Bedingungen unterzeichnet, welche Preußen dem Kaiser Napoleon vorlegen würde, unter der Erklärung des Kriegsfalls, falls sie bis zum 13. December (dem Termin, welchen das preußische Heer zur letzten Fertigstellung noch bedurfte), [578] nicht angenommen wären. Charakteristisch für H. war es, daß er auch in diesen Vertrag, im Begriffe, von England Subsidien zu erlangen, einen Wunsch für die Erwerbung Hannovers einschob und von der Erfüllung desselben sogar den Verzicht Preußens auf einen Separatfrieden mit Frankreich abhängig machte. Haugwitz reiste am 13. Nov. ab, um Napoleon diese Forderungen zu überbringen, die im Wesentlichen auf die Innehaltung des Vertrags von Luneville hinauskamen; daß nicht unter fröhlichem Kriegseifer die Reise angetreten wurde, zeigt der Schlußsatz der von ihm selbst entworfenen, von H. genehmigten Instruction, er werde, falls während seiner Unterhandlung Oesterreich einen Separatfrieden schließe oder zu schließen Anstalt mache, Alles aufbieten, um Napoleons Zorn über Preußens Rüstung zu beschwichtigen. Leider trat dieser Fall ein, Oesterreich schickte am 22. November zwei Gesandte nach Wien, um mit Napoleon direkt zu unterhandeln und zwar unter Gewährung nachgiebigerer Bedingungen als man sie zu Potsdam veranlaßt hatte. Dazu kam der ungeheure Fehler der Russen, anstatt bis Mitte December, dem Zeitpunkt für den Eintritt des preußischen Heeres und zugleich der österreichischen Verstärkungen, in vorsichtiger Defensive zu bleiben, statt dessen plötzlich zum Angriff überzugehen und sich die furchtbare Niederlage von Austerlitz zu holen. Durch Beides auf das Tiefste betroffen, zeichnete Haugwitz unter Napoleons herrischer Drohung sofortigen Krieges am 15. December den Vertrag von Schönbrunn, durch den Preußen von der Coalition hinweg in Frankreichs Bund trat, Hannover empfing, dafür aber Ansbach, Neufchatel und Cleve dem Kaiser Napoleon überließ. Auch H. hatte seinerseits auf die erste Nachricht von Austerlitz und dem darauf gefolgten Waffenstillstand dem russischen Gesandten erklärt, hiermit sei der Vertrag vom 3. November hinfällig geworden; er dachte wieder nur an die alte Neutralität und die Erwerbung von Hannover und hatte schon am 12. December dem Grafen Haugwitz unbeschränkte Vollmacht nachgesandt, nach seinem erleuchteten Eifer und Patriotismus zu verfahren. Als der Graf dann am 25. sein schlimmes Werk in Berlin vorlegte, als der stets unerschrockene Stein darauf die Erklärung gab, man habe noch 17 Millionen Thaler und mit den Bundesgenossen ein Heer von 250,000 Mann (die Schätzung war noch zu niedrig), und könne also eine unabhängige und ehrenvolle Rolle aufrecht erhalten, als es aller Welt und H. selbst deutlich war, daß man nur die Wahl zwischen Krieg und Annahme des Vertrages habe: da genehmigte H. das Allerunglücklichste, einen Mittelweg, Ratification des Vertrags unter interpretirenden Abänderungen, 4. Januar 1806, und sandte damit Haugwitz auf’s Neue zu Napoleon. Während dieser reiste, kam am 23. Januar ein Brief Talleyrand’s[WS 9] nach Berlin, worin derselbe die Hoffnung aussprach, Haugwitz werde sich mit dem Kaiser leicht verständigen. Auf Befragen des Königs gab H. das Votum ab, hiermit sei die Angelegenheit für erledigt zu erachten, Hannover also zu besetzen und die fremden Truppen (Russen und Engländer, die bisherigen Bundesgenossen) dort wegzuweisen. Der König trug hiernach keine Bedenken, die Abrüstung der Armee zu befehlen, also im Angesicht des großen französischen, in Süddeutschland verfügbaren Heeres die Entwaffnung zu beginnen. Wozu Rüstungsgelder zahlen, wenn der Minister des Auswärtigen das französische Bündniß für abgeschlossen erklärte? H. befestigte sich täglich mehr in der Meinung, mit dem französischen Bündniß den Besitz Hannovers gewonnen zu haben; er dachte oder träumte schon von weiteren Erwerbungen, von einer stärkeren Stellung Preußens im deutschen Reiche, von einer ringsum glänzenden Zukunft. Die Täuschung zerrann nur zu bald. Am 8. Februar meldete Haugwitz, daß Napoleon die preußischen Aenderungen verwerfe und seinerseits neue lästige Bedingungen stelle. Bereits hatte der König die Abrüstung theilweise wieder sistirt; H. aber begehrte keine weiteren militärischen [579] Maßregeln. Als dann am 25. der von Haugwitz gezeichnete neue Vertrag ankam, war er allerdings entrüstet über die Ungeschicklichkeit und Schwäche, wenn nicht Böswilligkeit des Gesandten, aber bei der letzten Berathung über die Ratification hatte er kein anderes Wort, als daß die Annahme des Vertrags die Unterwerfung unter Frankreich sei, daß auf der anderen Seite Frankreichs Heere gesammelt, die preußischen Truppen zerstreut seien, daß vor dem Entschluß zum Kriege die Aussichten des Gelingens wohl erwogen werden müßten, und schließlich, daß in einer solchen Krisis der König allein aus der eignen Brust die Entscheidung schöpfen müsse. Da alle Generale sich für die Unmöglichkeit des Widerstandes aussprachen, entschied sich der König für die Unterwerfung.

Die erste Folge davon war die Entlassung Hardenberg’s, nachdem Napoleon im Moniteur vom 26. März den Minister, den er für den Haupturheber des Potsdamer Vertrages hielt, als den entehrtesten Menschen in Europa, als einen Meineidigen und Verräther bezeichnet hatte. Am 24. April 1806 trat der Minister aus dem activen Dienste, durch Napoleons Schmähungen allen Patrioten als tapferer Vorkämpfer gegen die allgemeine Unterdrückung bezeichnet, während Haugwitz fortan als das servile Werkzeug des französischen Welteroberers galt. Denn freilich, alle Welt wußte, daß H. der leitende Minister zur Zeit des stolzen Potsdamer Vertrags gegen Napoleon gewesen und daß Haugwitz die Feder bei den kläglichen Verträgen von Schönbrunn und Paris mit Napoleon geführt hatte. Wie oft aber jener in den letzten Jahren dem französischen Bündniß zustrebt, wie standhaft dieser bis zum dem Unglückstage von Schönbrunn zum Kriege gegen Frankreich gerathen hatte, das blieb zwei Menschenalter hindurch Geheimniß der Archive. Man darf annehmen, daß die letzte Katastrophe H. bis in den tiefsten Kern seines Wesens getroffen, daß Zorn und Schmerz ihn zum weiteren Kampfe gegen Napoleon von Innen heraus gereizt und gewappnet haben. Die Aechtung, welche Napoleon zwei Jahre später über Stein verhängte, hat diesen der Welt als ebenbürtigen Gegner des Imperators bekannt gemacht; mit Hardenberg’s Beschimpfung, durch die er Preußens Knechtung vor Europa signalisirte, hat er sich einen kaum weniger gefährlichen Widersacher selbst erst geschaffen. Seit diesen Tagen erscheint, wo es Frankreich ankommt, der preußische Staatsmann verwandelt. Es ist keine Rede mehr von den sogenannten Erinnerungen der fridericianischen Zeit, von der angeblichen Gleichheit der französischen und preußischen Interessen; weggeschoben sind die schwankenden Künste einer finassirenden Politik, einer gewinnsüchtigen Schlauigkeit ohne Kraft und ohne Opfermuth: sein Wesen geht jetzt auf in dem einen Gedanken des Kampfes gegen den Bezwinger Europas; er will keinen anderen Gewinn, als der sich aus der Lösung dieser weltbefreienden Aufgabe auch für Preußen von selbst ergeben muß. Sonst bleibt er was er gewesen, liebenswürdig, leichtsinnig und sittenlos, im Arbeiten selten gründlich, im Urtheil vielfach dilettantisch: aber aus dem großen Mittelpunkte, in welchem sein Leben und Weben seitdem aufgeht, entspringt ihm Kühnheit, Zähigkeit, Rastlosigkeit, und in den beispiellosen Stürmen, welchen er und der Staat entgegen ging, mußte selbst sein Leichtsinn dienen, ihm zu geben, was Stein aus der Wucht seines sittlichen Ernstes schöpfte, die unverwüstliche Sicherheit des endlichen Sieges.

Obgleich amtlich von den Geschäften entfernt, blieb er fortdauernd in vertrautem Verkehr mit dem Könige. Friedrich Wilhelm hatte den Pariser Vertrag keinen Augenblick in einem anderen Lichte gesehen als in dem eines aufgezwungenen Joches, und während Haugwitz die officielle Politik mit Napoleon zu verhandeln hatte, nahm H. im Stillen an der eifrig gepflegten geheimen Unterhandlung mit Rußland über die künftige Befreiung Theil. Nach wenigen Monaten kam die Katastrophe: im August 1806 mußte Haugwitz selbst die Rüstung zum [580] Kriege gegen Frankreich bewirken, im October folgte Jena und Auerstädt, dann die Vernichtung der Armee, der Fall der Festungen, das Vordringen Napoleons bis zur Weichsel. H. war mit den Anderen nach Ostpreußen geflüchtet und als Kaiser Alexander endlich mit einem russischen Hülfsheere erschien, wurde H. in das Hauptquartier beschieden und bald nachher vom Könige zum leitenden Minister für alle Angelegenheiten ernannt, 10. April 1807. Trotz der verzweifelten Bedrängniß hatte er sich schon mehrere Wochen früher auf das Kräftigste gegen den von Napoleon angebotenen Separatfrieden ausgesprochen; jetzt entwickelte er den beiden Herrschern in großen Zügen die anzustrebenden Ziele, Sicherung von Europa gegen die napoleonische Ehrsucht, Befreiung Italiens, Neugestaltung Deutschlands, Wiedereroberung des linken Rheinufers; die beiden Souveräne schlossen in der That am 26. April nach diesen Gesichtspunkten einen Vertrag zu Bartenstein, dem freilich ein langes Dasein nicht bestimmt war. H. ging inmitten dieser Stürme sein drittes Ehebündniß ein, am 19. Juni 1807, wunderlicher Weise wieder mit einer geschiedenen Frau, Charlotte Langenthal, geb. Schönemann[WS 10]. Bald nachher kam der Tag von Friedland, der Tilsiter Friede, der beispiellose Sinneswechsel Alexanders. H. wurde durch das Unheil seines Staates persönlich mitbetroffen: Napoleon wollte mit ihm nicht unterhandeln und verfügte, daß er auf eine Entfernung von 40 Stunden vom Hofe weg gewiesen werden müsse. H. schlug dem Könige den Freiherrn v. Stein als seinen einzig geeigneten Nachfolger vor, empfahl bis zu dessen Ankunft die Geschäfte durch seine bisherigen Räthe in der Form einer Immediatcommission führen zu lassen und ging über die russische Grenze nach Riga.

In den Monaten, die er hier zubrachte, schrieb er, unterstützt durch die Geh. Räthe Altenstein und Niebuhr, auf den Wunsch des Königs eine große Denkschrift über die Reorganisation des niedergeschlagenen Staates. Wie bei jenen diplomatischen Entwürfen in Bartenstein bewährte er auch hier die Frische und Elasticität seines Geistes; er arbeitete, wie unbekümmert um die Nöthe und Hindernisse der Gegenwart, einen umfassenden Zukunftsplan aus, in dessen Bildern weit mehr seine persönlichen Ideale als die Bedürfnisse und Mittel des Augenblicks sich reflectirten. Lange Zeit vor der Julirevolution redete er hier von einer Monarchie mit demokratischen Institutionen, von einer irgend wie zu wählenden National-Repräsentation, der er freilich keine entscheidende Stimme bei Gesetzgebung und Budget, sondern Theilnahme an den Verwaltungsgeschäften, in der Gemeinde, dem Kreise, dem Ministerium zudachte, von der Aufstellung einer Landwehr, die jedoch nicht aus den ausgedienten Liniensoldaten, sondern nothdürftig geübten Milizen bestehen und durch Freiwilligen-Corps unter gewählten Officieren verstärkt werden sollte. Er begehrte ferner Aufhebung der Steuerexemtionen und Adelsprivilegien, Erklärung der Gewerbefreiheit, Pflege der Kunst und Wissenschaft, Religionsfreiheit und Toleranz. Genug, er war erfüllt von dem hohen Grundgedanken, daß die Herstellung und Befreiung nur durch die thätige Theilnahme der ganzen Nation erreicht werden könne: er gab Anregungen dieses Sinnes in Fülle. Allerdings von seinen Sätzen war es noch ein weiter Weg zu praktisch verwendbaren Gesetzentwürfen und jedenfalls war es gut für den König und den Staat, daß der wirkliche Angriff der Reform damals in die gediegenere Hand des Freiherrn v. Stein gelegt war.

Im Frühling 1808 kam H. zurück nach Tilsit, wo er die Memoiren über seine Geschäftsführung in den letzten fünf Jahren niederschrieb, eine Apologie seiner ministeriellen Thätigkeit, ohne allen Zweifel mit voller Wahrheitsliebe entworfen, dennoch aber fast an allen entscheidenden Stellen unzuverlässig, weil sich dem Verfasser in einer psychologisch ganz merkwürdigen Weise die damalige Gesinnung und Anschauung der früheren entgegengesetzten unterschob. H. kam dann 1808 nach Preußen zurück [581] und lebte zuerst in Tilsit, dann in Marienwerder oder auf seinen Gütern bei Tempelberg und Grohnde in völliger Zurückgezogenheit, bis im J. 1810 die Noth des Vaterlands ihm den Schauplatz umfassender Wirksamkeit auf’s Neue eröffnete.

Damals trug Preußen noch an der Last der ihm in dem Tilsiter Frieden auferlegten Kriegscontribution, welche nach Stein’s Ausscheiden der verarmte Staat unter der schwachen Leitung des Ministeriums Dohna-Altenstein nicht aufzubringen vermochte und sich deshalb von dem unerbittlichen Gläubiger fortdauernd mit Vernichtung bedroht sah, so daß die unglücklichen Minister endlich den Vorschlag an den König brachten, zur Tilgung der Schuld die Provinz Schlesien dem Kaiser Napoleon anzubieten. In diesem über Tod und Leben entscheidenden Momente wurde der König durch den Oberkammerherrn Fürsten Wittgenstein an H. erinnert, und Napoleon, der aus Rücksicht auf Rußland nicht wol Preußen geradezu zertrümmern konnte und in Folge seines spanischen Krieges selbst in schwerem Geldbedürfniß war, gab seine Einwilligung zu der Wiederanstellung eines Ministers, der allein, wie man ihm versicherte, das Talent besäße, die geschuldeten Contributionsgelder aufzubringen. So wurde 1810 H., jetzt als Staatskanzler, zum zweiten Male mit der Leitung aller Staatsgeschäfte betraut. Der Finanzplan mit dem er zuerst hervortrat, war etwas windiger Natur, so daß die fähigsten Mitarbeiter, auf die er gehofft hatte, Schön und Niebuhr, sich erschreckt zurückzogen und auch Stein bei gelinderem Gesammturtheil doch im Einzelnen starke Einwendungen erhob. Indessen brachte H. zu seiner schwierigen Aufgabe eine Hauptsache, und zwar die größte, mit, den unvertilgbaren Haß gegen die Unterdrücker und die nicht zu beugende Frische und Festigkeit der allgemeinen Haltung. So wurde der Finanzplan allmählich umgearbeitet und verbessert und endlich doch eine ausreichende Einnahme geschafft, die Contributionszahlungen in Gang gebracht, für die Staatsbedürfnisse, vor Allem für die Heereseinrichtungen wenigstens nothdürftig vorgesorgt. An den politischen Reformplänen des Programms von 1808 hielt der Kanzler fest; die Aufhebung der ständischen Steuerprivilegien, des städtischen Zunftmonopols, der Zwangs- und Bannrechte, die volle Freiheit des Gewerbes wurde verkündet, den Erbpächtern gegen Zurückgabe eines Drittels oder der Hälfte ihrer Grundstücke an die Gutsherrschaft das volle Eigenthum an dem Reste verliehen. Die letzte Maßregel war an sich gewaltsam und schädlich, die anderen erschienen dem Volke im Augenblick nur zum Zwecke allseitiger Steuererhöhung ergriffen, so daß die nächste Wirkung eine grimmige Unzufriedenheit auf allen Seiten war. H., welcher am Schlusse des Finanzgesetzes eine Nationalrepräsentation in Aussicht gestellt hatte, berief im Februar 1811 eine Versammlung von 60 Notabeln, meist Rittergutsbesitzern, und erlebte hier eine so stürmische Opposition, daß er nach dem Schlusse der Sitzungen zwei Führer der Feudalpartei fünf Wochen lang einsperren ließ, dann aber nach Wiedereröffnung der Versammlung mehrere sehr erhebliche Concessionen machte. Dies Verfahren konnte nicht zur Erhöhung seines persönlichen Ansehens dienen; die Klage war berechtigt, daß er weder stetig noch gründlich in der Durcharbeitung seiner Ansichten sei – wenn er z. B. 1808 die Hauptaufgabe der Volksvertreter in die Theilnahme an den Verwaltungsgeschäften gesetzt hatte, so schrieb er jetzt an Stein, daß sie grundsätzlich nicht das Geringste mit der Verwaltung zu schaffen haben dürften – und noch übler war seine, theils aus Selbstgefühl, theils aus Bequemlichkeit entspringende Abneigung gegen kräftige und bedeutende Mitarbeiter, die sich im Zusammenhange mit seinem stets sittenlosen Privatleben fast zur Vorliebe für anrüchige und zweideutige Menschen steigerte. Der einzige starke und große Einfluß, den er neben sich duldete, war jener Scharnhorst’s; hier hielt ihn der patriotische Zorn gegen Napoleon auf der seiner Stellung würdigen Höhe. Daß er in der damaligen [582] Lage des Staates der Volksvertretung weder entscheidende Stimme noch Oeffentlichkeit der Verhandlungen einräumte, daß er als Staatskanzler alle anderen Minister seiner bestimmten Oberaufsicht unterstellte, darüber wird ihm kein verständiger Beurtheiler einen Vorwurf machen. Die Dictatur lag hier in der Natur der Dinge.

Nur zu bald aber traten die Einzelheiten dieser inneren Fragen gegen den pressenden Drang der auswärtigen Sorgen zurück. An Napoleons Wunsch, den letzten selbständigen Continentalstaat, das russische Reich, seinem Herrscherwillen zu unterwerfen, war seit dem Wiener Frieden von 1809 für keinen sachkundigen Beobachter ein Zweifel; mit dem Ausgange des J. 1810 wurde Napoleons Kriegsdrang gegen Norden für alle Welt offenkundig. Bis dahin hatte, wie man in Berlin sehr gut wußte, nur die Rücksicht auf den russischen Bundesgenossen Napoleon von der Vernichtung des preußischen Staates abgehalten: was würde jetzt das Schicksal des Letzteren sein, wenn Napoleon mit dem Petersburger Hofe bräche? Welche Schritte hätte man zu thun, um das Uebelwollen des Welteroberers zu beschwichtigen? Oder auf der anderen Seite, wenn es zwischen den beiden gewaltigen Mächten zum Kriege käme, wäre dann nicht der Augenblick vorhanden, im Bunde mit Rußland die erdrückenden Ketten der fremden Unterjochung zu brechen? Es war wieder eine Frage über Tod und Leben. Wie damals die Dinge standen, konnte Preußen im Kriegsfall höchsten 70,000 Mann für den ersten Moment des Kampfes aufstellen. Dagegen hatte Napoleon eine gleiche, täglich anwachsende Truppenmacht an der unteren Elbe, starke Garnisonen in den Oderfestungen und Danzig, das sächsische Heer in der Lausitz, das polnische an der Weichsel: auf einen Wink konnte er alle Provinzen des verstümmelten Staates mit seinen Waffen gleichzeitig überschwemmen. Die Erwägungen oder, nach Droysen’s Ausdruck, die Agonien setzten sich in Berlin durch das ganze Jahr 1811 hindurch fort. Es ist hier nicht der Ort, ihren einzelnen Wechselfällen zu folgen; was H. betrifft, so wird man sagen müssen, daß diese Zeit der schwersten Prüfung für ihn die Zeit der höchsten Bewährung geworden ist. Man schritt vorwärts wie auf schmaler Felsenkante, rechts und links den Abgrund zur Seite. Ob im einzelnen Augenblick etwas mehr, etwas weniger auf den Rath der Vorsicht oder der Kühnheit zu hören sei, war weniger Erwägungs- als Gewissenssache. Anfangs war H. einig mit dem Könige gegen Scharnhorst und Gneisenau, daß man auf möglichst leidliche Bedingungen mit Frankreich eine Abkunft suchen müsse; dann im Juni 1811 durch Napoleon’s Forderungen und Drohungen zum Muthe der Verzweiflung gepreßt, stimmte er mit den beiden Generalen für ein Bündniß mit Rußland und den Beginn des Kampfes um siegende Befreiung oder ehrenvollen Untergang; es wurden dann die erforderlichen Schritte in Petersburg, Wien und London gethan, bis zum Ende des Jahres aber festgestellt, daß auf keiner Seite rasche und wirksame Unterstützung zu hoffen wäre. Der König war fortan entschlossen, die französische Allianz als das einzige Rettungsmittel vor sofortigem Verderben auf sich zu nehmen, während H. und die beiden Generale der Meinung blieben, auf jede Gefahr den Kampf zu beginnen. Der Erfolg hat dieses Mal der bedächtigen Klugheit gegen die Forderungen des begeisterten Todesmuthes Recht gegeben; doch wird man hinzusetzen dürfen, daß ohne die unablässig vorwärts drängende Gesinnung der Drei der König niemals die Früchte des Erfolges geerntet haben würde. Der Bundesvertrag, welcher ganz Preußen dem Machtgebote Napoleons bedingungslos unterwarf, wurde am 24. Februar 1812 unterzeichnet, und General York rückte mit der großen Armee gegen Rußland in das Feld; im September stand das preußische Corps vor Riga und Napoleon hielt seinen triumphirenden Einzug in Moskau. H. ließ die Hoffnung nicht sinken. Er meinte, daß bei den kolossalen Entfernungen und dem Herannahen des Winters [583] große Diversionen in Napoleons Rücken möglich seien, wenn Oesterreich und Preußen kräftig zusammenwirkten und ließ Aufforderungen diese Inhalts nach Wien ergehen. Graf Metternich aber nahm die Mittheilung völlig kühl auf, erklärte, daß Oesterreich mit Napoleon nicht brechen werde, fand es allerdings begreiflich, wenn Preußen anders handle und begnügte sich, in London seine Vermittlung für einen allgemeinen Frieden anzubieten. Der König wünschte sehr, nicht ohne Oesterreich vorzugehen, ließ aber zu, daß H. den General York über die Lage instruire und gab dessen Adjutanten die Vollmacht mit, daß der General nach den Umständen verfahren möge. Ende December, als die Vernichtung der französischen Armee bekannt und Napoleon nach Paris zurückgeeilt war, erklärte H. dem Könige, daß die Zeit zum Handeln, mit oder ohne Oesterreich, gekommen; die größte Eile sei nöthig, um Napoleon keine Frist zu neuen Rüstungen zu lassen; doch müsse man einstweilen noch scheinbar an der Allianz festhalten, um unter deren Deckmantel die nöthigen Vorbereitungen sicher treffen zu können. York’s kühne That, das preußische Corps von dem französischen Heere zu trennen und einstweilen neutral zu stellen, wurde zwar von dem Könige officiell getadelt, beschleunigte aber im Cabinet die zum Befreiungskampfe drängenden Entschlüsse. Wieder ist es nicht möglich, an dieser Stelle jeden Schritt der Entwicklung zu verzeichnen; es muß uns ausreichen, Hardenberg’s Haltung genau zu charakterisiren. Der König nahm damals neben H. Rath hauptsächlich von Ancillon und Knesebeck; unter diesen war Ancillon ein Mann schöner Worte, kleiner Ziele, schwächlicher Mittel; Knesebeck spannte seine Forderungen etwas höher, begehrte den Bruch mit Napoleon, verwickelte sich aber bei jedem Schritte in untergeordnete Bedenklichkeiten; schließlich waren Beide mittelmäßige Geister und halbe Charaktere; H. allein vertrat damals die große Sache mit dem Schwunge der Seele und der Weite des Blickes eines ächten Staatsmannes. In dem Wesen Friedrich Wilhelm’s gab es Berührungspunkte für jeden dieser Berather: bei seiner bedächtigen Pflichttreue lastete das Gefühl der ungeheuren Verantwortung schwer auf ihm und machte ihn selbst für Ancillon’s schwachmüthige Einwendungen zugänglich; im innersten Herzen freilich theilte er Hardenberg’s Auffassung der gewaltigen Aufgabe und gab beim letzten Wort nach peinlichen Zweifeln stets die rechte Entscheidung. Ganz schlagend traten diese Stimmungen an das Licht, als der König Ende Januar mit H. nach Breslau übersiedelte, dort die ersten Maßregeln zur nationalen Rüstung ergriff und den eben von einer Mission nach Wien zurückgekehrten Knesebeck in das russische Hauptquartier zur Unterhandlung der Allianz mit Kaiser Alexander absandte. Knesebeck hatte zu Wien in dem Grafen Metternich einen ihm überlegenen, aber wahlverwandten Geist gefunden; während Stein’s ganzes Wesen damals in dem Satze aufging, daß in der hohen Krisis die größte Kühnheit auch die größte Klugheit sei, herrschte in Wien die umgekehrte Ansicht, die höchste Staatsweisheit bestehe eben in der Vermeidung jeder Kühnheit. Vor Allem weise erschien es, nach Napoleons Niederlage sich vor einer künftigen russischen Uebermacht zu fürchten und sich deshalb lieber nicht mit Alexander gegen Frankreich zu verbünden, sondern als Vermittler zwischen beiden Mächten einen allseitig gesicherten Zustand zu erlangen, also demnächst dem französischen Kaiser möglichst annehmbare Bedingungen vorzuschlagen, vor Allem aber keine Vergrößerung Rußlands auf polnischem Boden zu dulden. Als Knesebeck darauf nach Kalisch abging, erhielt er die einfache Instruction, ein Waffenbündniß zu Schutz und Trutz anzubieten, auf die Bedingung, daß Alexander nicht eher Frieden schließe, bis Preußen wieder einen Machtumfang wie vor 1806 zurückgewonnen habe. Er aber, auf seinen persönlichen Einfluß beim Könige bauend, schrieb sich unter die Instruction auf eigene Hand den Zusatz, daß er die Zurückgabe Warschau’s an [584] Preußen zu begehren hätte. Weder der König noch H. hatten einen solchen Gedanken gehabt; sie wünschten lieber deutsche als polnische Länder zu gewinnen und begriffen, daß Alexander nimmermehr auf die Erwerbung Polens und damit auf jede Vergrößerung verzichten würde. So erfuhr denn auch Knesebeck den kategorischen Widerspruch der Russen und die ganze Unterhandlung wäre ohne Stein’s Dazwischenkunft gescheitert. Dieser bestimmte den Kaiser, ihn selbst und den Staatsrath Anstett[WS 11] ohne Knesebeck’s Vorwissen nach Breslau zu senden: und auf Rußlands Erbieten, die heutige Provinz Posen an Preußen zu überlassen und auf die allgemeine Zusage der Herstellung der preußischen Macht, wurde dort in 24 Stunden von H. und Anstett abgeschlossen. Ganz in gleichem Sinne, das vielleicht Angenehme aber Untergeordnete hinter das unbedingt Nothwendige zurückzustellen, begann H. jetzt auch die Bundesverhandlung mit England, indem er ohne Vorbehalt die Herstellung Hannovers genehmigte und nur eine große Erweiterung des welfischen Gebietes ablehnte; und nicht anders sandte er zur Werbung weiterer Genossen nach München und bot Baiern für seinen Eintritt in die Allianz den Verzicht Preußens auf Ansbach und Baireuth. Sein Gedanke ging auf die Erwerbung Sachsens, welche Alexander bereits genehmigt hatte als treffliche Entschädigung für das verlorene Hannover, sowie auf Erweiterung des altpreußischen Besitzes in Westdeutschland durch ehemals geistliches und rheinbündnerisches Gebiet, anstatt der früheren Besitzungen in dem stets unzuverlässigen Polen und dem zu weit südwärts entlegenen Franken. Dabei ging die Meinung sowol der preußischen wie der russischen Regierung auf eine Gestalt der deutschen Verfassung, nach welcher der Norden unter Preußens, der Süden unter Oesterreichs Hegemonie kommen sollte. Daß H. dies Alles nicht in specieller Redaction zu Kalisch und Breslau in die Verträge brachte, lag in der Natur der Dinge: eben aus tiefster Ohnmacht auf die Schwelle eines immer noch gigantischen Kampfes tretend, wie hätte man damals schon mit genauen Schnitten das Fell des Bären vertheilen sollen? H. verließ sich, trotz der Tilsiter Erfahrungen, dieses Mal auf die begeisterte Gesinnung des russischen Kaisers, und die Folge hat gezeigt, daß sein Urtheil richtiger war als Metternich’s Angst über die drohende Weltherrschaft der Kosaken.

So begannen Preußen und Rußland den Krieg, zunächst allein, da Metternich fortdauernd Frieden und Vermittlung predigte und noch lange Monate brauchte, um in Oesterreich so viele Streiter aufzutreiben wie das viermal kleinere Preußen innerhalb weniger Wochen. In den Schlachten bei Lützen und Bautzen behielt Napoleon das Uebergewicht, trat aber, um seine letzten Rüstungen zu vollenden, in einen Waffenstillstand, zu Pleißnitz, ein, während dessen die österreichische Vermittlung ihre Thätigkeit entfalten sollte. Bis dahin hatte Metternich, um Rußland von directen Unterhandlungen mit Napoleon abzuhalten, den Verbündeten vorgeschlagen, von dem Gegner die Auflösung des Herzogthums Warschau, die Rückgabe Illyriens und Venetiens an Oesterreich, die Herstellung Preußens und die volle Unabhängigkeit Deutschlands bis zur Rheinlinie zu fordern (H. an den König, 14. Mai): jetzt aber dünkte dies seiner Friedensliebe zu viel, er versprach die Kriegserklärung gegen Frankreich, wenn Napoleon die ihm aufzuerlegenden Bedingungen nicht annehme, beschränkte diese aber auf die Forderung, daß Preußen einen Theil des Herzogthums Warschau und die Stadt Danzig bekomme, Oesterreich die illyrischen Provinzen erhalte und Napoleon auf die hanseatischen Departements sowie auf das Protektorat des Rheinbundes verzichte. Dies Programm war ein Hohn auf die erhoffte Befreiung Europa’s, aber trotz des Widerspruchs der Verbündeten blieb Metternich unerschütterlich und gewährte endlich nur die Zusicherung, daß wenn Napoleon selbst diese unsäglich bescheidenen Bedingungen abwiese und Oesterreich demnach in den Kampf einträte, dann die Forderungen erweitert und die Selbständigkeit [585] des rechtsrheinischen Deutschlands, Hollands, Spaniens, Italiens, sowie die Herstellung Oesterreichs und Preußens zu den Machtverhältnissen von 1805 begehrt werden sollte. H. hatte auch hier wieder den richtigen Blick, bei Napoleon’s Charakter die Verwerfung jeder Concession vorauszusehen und deshalb Metternich’s Anträge in der Convention von Reichenbach am 27. Juni 1813 zu genehmigen. Es geschah, wie er vermuthet hatte; Napoleon blieb gegen jede Vorstellung taub und Oesterreich erklärte am 10. August den Krieg. Die Wiener Regierung brachte geringen Eifer, immer aber ansehnliche Heeresmassen zu dem weiteren Feldzug; drei Monate später war die Leipziger Völkerschlacht geschlagen und die französischen Heerestrümmer flüchteten in völliger Auflösung zum Rheine und über den Rhein. H., im Jubel des mächtigen Triumphes, sah sich bereits am Ziele. „Möchte ich Worte finden können“, schrieb er am 20. October dem Könige, „um Ew. Majestät mit der Empfindung, die das Innerste meines Herzens durchdringt, zu dem glorreichen Siege Glück zu wünschen, den Sie erfochten haben. … Man versichert, daß der König von Sachsen sich an Ew. Majestät ergeben habe. Ich beschwöre Höchstdieselben, ihn, zwar mit aller seinem Range gebührenden Achtung, aber als einen Gefangenen zu behandeln und ihn mit seiner Familie nach Königsberg in Preußen zu schicken. Er hat dieses durch seine Treulosigkeit und durch die bis ganz zuletzt bewiesene Beharrlichkeit, die feindliche Parthey zu halten, voll verdient. In Absicht auf sein Land gilt das Eroberungsrecht, wie es nur immer geltend gemacht werden kann. Ew. Majestät kennen die Absichten des Kaisers von Rußland und wenn gleich über den Besitz jetzt noch nichts entschieden werden mag, so ist es doch höchst wichtig, ihn für Preußen möglichst zu sichern. An österreichische Insinuationen würde ich mich wegen des Königs von Sachsen gar nicht kehren. Ew. Majestät muß der Ruhm werden, mehr als irgend einer Ihrer hohen Vorfahren für die Monarchie gethan zu haben, indem Sie ihr Sachsen erwerben. Der Tag wird der glücklichste meines Lebens sein, an dem ich Ew. Majestät als König von Preußen und Sachsen und als souveränen Herzog von Schlesien und Groß-Pohlen werde begrüßen können. Die Vorsehung hat Alles dazu eingeleitet.“ – Bei dieser fröhlichen Siegessicherheit verschwand mit der Gefahr auch die Spannkraft, welche den hochbejahrten Staatsmann auf die Höhe der Erfolge geführt hatte. Wieder sank er in die altgewohnte Planlosigkeit und Bequemlichkeit zurück. Als er im November 1813 nach Frankfurt a. M. kam, fand er dort Metternich höchst geneigt, unter Ueberlassung der Rheinlinie mit Napoleon Frieden zu machen, und Knesebeck zeigte sich höchst entsetzt über Gneisenau’s tollen Gedanken, sich der Gefahr einer Invasion in das Innere Frankreichs auszusetzen. H. ließ sich ohne langes Widerstreben zu den Anschauungen der Beiden hinüberziehen. Auch die Russophobie derselben wirkte so weit auf ihn ein, daß er für die künftige Politik Preußens sich ein enges Zusammenhalten der drei „deutschen“ Großmächte, nämlich Preußens, Oesterreichs und England-Hannovers als Grundlage dachte, ohne den mindesten Argwohn gegen die grimmige Eifersucht des Wiener und des welfischen Hofes bei jedem Anwachs Preußens. So erhob er keine Einwendung gegen die Herstellung der österreichischen Herrschaft in Italien, noch auch gegen den englischen Plan, die oranische Dynastie in Holland mit Belgien und einem Theile der Rheinlande auszustatten; er bedachte nicht, wie wichtig es für Preußen gewesen wäre, die Angelegenheiten der anderen Mächte ganz so lange in der Schwebe zu erhalten, als dies von deren Seite den preußischen widerfuhr. Es machte ihn sogar nicht irre, daß, als er jetzt bindende Zusagen auch für Preußens Erwartungen in Sachsen und am Rheine begehrte, Metternich mit süßen Worten ihn lediglich auf künftige Verhandlungen aller Großmächte tröstete. Indessen hatten Alexander, Stein und Gneisenau endlich doch die Ueberschreitung [586] des Rheines und den Einbruch in Frankreich durchgesetzt; H. aber blieb noch lange Wochen in dem Fahrwasser der zaudernden und zurückhaltenden Kriegspolitik Metternich’s und Knesebeck’s. Nach dem Siege von La Rothière forderte man zwar von Napoleon anstatt der Rheinlinie die alte Grenze von 1790; als dann aber Napoleon im Februar 1814 Blücher’s Heertheile mit schweren Schlägen traf, war H. mit Metternich und Castlereagh[WS 12] wieder bereit, auf die Rheingrenze abzuschließen. Zum Glücke wies jetzt Napoleon mit gleichem Uebermuthe wie das Jahr zuvor auch die kleinste Concession zurück; König Friedrich Wilhelm riß sich von dem Einflusse Knesebeck’s los und so kam es zu dem Marsche auf Paris, dem Sturze Napoleon’s und zum vorläufigen Abschlusse des Weltkampfes, zu dem ersten Pariser Frieden. Wieder versuchte H. vergeblich, bindende Bestimmungen über Preußens künftigen Besitzstand zu erlangen; wieder verwiesen ihn Oesterreich und England auf den bevorstehenden allgemeinen Congreß, und dieses Mal stimmte auch die russische Regierung zu, um ihr Votum für Preußen auf dem Congresse von Preußens Unterstützung ihrer polnischen Pläne abhängig zu machen. H. war tief verstimmt, richtete aber seinen Aerger vornehmlich gegen Rußland, da er in Alexander’s Wunsch auf Herstellung eines Königreiches Polen ganz in Knesebeck’s Sinn jetzt eine große Gefahr für Preußen sah und in seinen deutschen Gefühlen durch Alexander’s Widerspruch gegen die Zurückforderung des Elsasses tief gekränkt war. Um so mehr setzte er sich in der Ansicht fest, Preußens Heil in festem Anschluß an England und Oesterreich zu suchen. In solchen Stimmungen zeichnete er die Friedensurkunde am 30. Mai 1814 und wurde dann von seinem Könige, zum verdienten Danke für seinen entscheidenden Antheil an dem Befreiungskampfe, am 3. Juni in den Fürstenstand erhoben.

Daß sich H. mit jener letzten Wendung seiner auswärtigen Politik auf einen verhängnißvollen Irrweg einließ, wird heute nicht leicht mehr bestritten werden. Sein Plan für die Neugestaltung Preußens richtete sich auf die Erwerbung einer polnischen Provinz zur Verbindung von Ostpreußen und Schlesien, auf die Annexion des ganzen Königreichs Sachsen sowie des früher schwedischen, jetzt dänischen Vorpommern, sodann auf die Erwerbung der Herzogthümer Westfalen und Berg, sowie der Rheinlande von Mainz bis Wesel. Mit der Zurückgewinnung der altpeußischen, 1807 abgetretenen Lande hätte das eine Gesammtbevölkerung von 10 bis 12 Millionen ergeben. Hardenberg’s weiterer Gedanke war dann, Oesterreich und Baiern in ähnlicher Weise am Oberrheine als Grenzwächter gegen die Franzosen auszustatten und dann dem ganzen Deutschland eine feste Bundesverfassung unter der gemeinsamen Hegemonie Oesterreichs und Preußens zu geben. Mit alle dem war Kaiser Alexander von Herzen einverstanden. Für sich wollte er nach wie vor den größten Theil des Großherzogthums Warschau als souveränes Königreich Polen behaupten, aber wie er es in Kalisch zugesagt, dem preußischen Bundesgenossen die Provinz Posen bis zur Prosna überlassen; bedenklich für Preußen war dabei nur seine Forderung, das wichtige Thorn für sich zu behalten. Dafür versprach er auf das Bestimmteste, ganz Sachsen dem Könige zu verschaffen und die sonstigen Wünsche Preußens sowie den Plan einer deutschen Bundesverfassung kräftigst zu unterstützen. Auf der anderen Seite war Metternich in allen Punkten der Todfeind dieses ganzen Systems. Er gönnte dem Rivalen einige niederrheinische Landstriche, um ihn zu Frankreich in feindselige Stellung zu bringen; aber keine Scholle Landes sollte Preußen südlich der Mosel erhalten, damit sein Einfluß nicht bei den süddeutschen Staaten festen Fuß fasse. Er war entschlossen, Sachsen soweit wie irgend möglich vor der preußischen Habgier mit allen Mitteln zu beschützen. Statt dessen sollte Preußen im Osten über die Prosna bis zur Linie der oberen Warthe, ja bis zur Weichsel hinaus vergrößert, dadurch mit Rußland überworfen und in dieser Isolierung für jeden [587] Widerstand gegen Oesterreichs Pläne unfähig gemacht werden. Von einer geschlossenen Bundesverfassung Deutschlands wollte Metternich gar nicht reden hören. Schon vor der Eröffnung des Wiener Congresses waren diese Verhältnisse durchsichtig genug und hätten den Staatskanzler mit Entschiedenheit auf Rußlands Seite stellen müssen. Aber Monate lang ließ er sich durch das Schreckbild des polnischen Königreichs unter russischer Hoheit weiter ängstigen und durch Metternich und Castlereagh mit unbestimmten Verheißungen über Sachsen hinhalten, während Metternich dem Kaiser Alexander heimlich eröffnete, Oesterreich werde in der polnischen Sache nachgiebig sein, wenn Rußland die sächsischen Ansprüche Preußens nicht mehr unterstütze. Die Gefahr für Preußen, gleichzeitig mit Rußland über Polen und mit Oesterreich über Sachsen zu zerfallen, wurde immer dringender: da griff am 6. November König Friedrich Wilhelm persönlich ein, verständigte sich mit Alexander und befahl dem Kanzler, fortan von der bisherigen Opposition gegen Rußland abzulassen. H. war tief gekränkt, dachte daran, seinen Abschied zu nehmen, blieb schließlich aber doch im Amte und feilschte dann noch Wochenlang mit den Russen über Warthe und Prosna, über Thorn und Culmerland. Indessen ließen jetzt mit verdoppelter Erbitterung Oesterreich und England die bisherige Gönnermaske fallen und erhoben offenen Protest gegen die preußische Besitznahme Sachsens, näherten sich dem französischen Botschafter Talleyrand und zeigten sich dem Kaiser Alexander möglichst gefügig, um alle Kraft gegen Preußen zu concentriren. Da H. diesen Umtrieben nur durch ungeschickte, theils schwächliche, theils herausfordernde Vorschläge begegnete, so traten Oesterreich, England und Frankreich in immer näheres Verständniß und schlossen endlich am 3. Januar 1815 in tiefem Geheimniß einen Kriegsbund gegen Preußen. Aber gerade indem man so dicht an die Möglichkeit des offenen Bruches herantrat, leuchtete plötzlich die Abscheulichkeit desselben auf beiden Seiten ein. Schon am 9. Januar thaten Castlereagh und Metternich einen Schritt zur Versöhnung und H. gab seinerseits nach, daß der südliche Theil Sachsens dem Könige Friedrich August bleibe. Mit russischer Unterstützung wurde dann die Abgrenzung des heutigen Besitzstandes festgestellt, und als England die Stadt Leipzig hartnäckig dem preußischen Staate weigerte, gab Kaiser Alexander dafür Thorn zur Entschädigung. Am Rheine wurde Mainz Bundesfestung, die preußische Provinz über die Mosel hinaus wenigstens bis zur Nahe ausgedehnt. Sodann, um Vorpommern zu gewinnen, entschloß sich H. den Dänen das kleine Herzogthum Lauenburg anzubieten und, um dieses wieder von Hannover zu erlangen, dem Welfenhause Ostfriesland zu überlassen. Es war ein hartes Opfer, aber im deutschen Interesse damals unvermeidlich. In der deutschen Verfassungssache endlich mußte H. auf jede die partikulare Souveränität beschränkende Bundesgewalt verzichten und sich mit den kümmerlichen Einrichtungen des Frankfurter Bundestags begnügen. Mit großem Eifer hatte er sich bemüht, feste Gewähr für repräsentative Verfassung der Einzelnstaaten in die Bundesacte zu bringen, jedoch bei dem Widerstreben Oesterreichs und der Rheinbundskönige nur den fast inhaltlosen Artikel 13 durchgesetzt.

Unterdessen erfüllte auf’s Neue der Tumult eines großen Krieges die Welt: Napoleon war von Elba zurückgekehrt und hatte noch einmal Besitz vom französischen Kaiserthrone ergriffen. H. zog wieder mit dem Könige in das Feld, mußte aber zum zweiten Male erleben, daß der Versuch, Elsaß dem deutschen Vaterlande zurückzugewinnen, gegenüber dem Uebelwollen Rußlands und Englands vergeblich blieb. Eine kleine Grenzerweiterung an der Saar war der einzige materielle Gewinn, welchen Blücher’s Thaten bei Ligny und Belle-Alliance dem Staate zuführten. Der König war nicht ganz zufrieden mit der Art und Weise, in welcher H. die Verhandlung geführt hatte: es sei keine Kunst, sagte er, Minister zu sein, wenn man jedem Anspruch der Anderen nachgebe.

[588] H. hat dann in der folgenden Friedenszeit noch sieben Jahre lang an der Spitze der inneren Verwaltung Preußens gestanden. Es war die Zeit, in welcher der tief verarmte, erschöpfte, bunt und ungünstig componirte Staat alle Gebiete der Regierungsthätigkeit durch angestrengte, einsichtige und ökonomische Arbeit neu zu organisiren hatte, die ruhm- und erfolgreichste Zeit des preußischen Beamtenthums, welches hier durch geräuschlose allseitige Thätigkeit die festen Grundlagen für die künftige Größe der deutschen Nation legte. Eine neue Einrichtung der Ministerien und Provinzialbehörden, ein neues Finanz- und Zollsystem, die definitive Ausgestaltung der Heeresverfassung, die Organisation der katholischen Bisthümer, die ersten Schritte zur Reform des Unterrichtswesens: alle diese Schöpfungen wurden nebeneinander in dem ersten Jahrzehnt nach dem Frieden durchgeführt. Der persönliche Antheil Hardenberg’s an denselben war nicht erheblich. Altersschwäche, Taubheit und Arbeitsscheu wirkten zusammen; den Finanzfragen stand er völlig interesselos gegenüber. Nur wo die alten liberalen Tendenzen seiner früheren Lebensjahre zur Sprache kamen, entwickelte er eine zähe, wenn auch nicht immer kräftige Thätigkeit. Bei den Verhandlungen mit der römischen Curie hielt er fest an den Auffassungen seines Ministerialreferenten Raumer gegen Niebuhr’s romantische Sympathien für den heiligen Stuhl, welche ganz bereit waren wesentliche Staatsaufsichtsrechte zu opfern und die deutschen Katholiken ohne Weiteres der Herrschaft des Vaticans zu unterwerfen. Einen noch breiteren Raum aber nahm in seinem damaligen Wirken die preußische Verfassungsfrage ein. Der Gedanke einer Volksvertretung, den er in der Zeit der napoleonischen Unterdrückung so lebhaft in das Auge gefaßt, war ihm auch im Augenblicke des Sieges und der Befreiung gegenwärtig und blieb es bis zur letzten Stunde seines bewegten Lebens. Leider hatte er auch bei diesem Lieblingsthema weder vorausschauende Besonnenheit noch entschlossene Thatkraft mehr einzusetzen und lieferte damit selbst den Gegnern die Waffen, ihn Schritt auf Schritt von der ursprünglichen Linie abzudrängen und ihn endlich völlig matt zu setzen. Gleich sein Ausgangspunkt, die berühmte Verordnung vom 22. Mai 1815, war mit einer fast leichtsinnigen Unbedachtsamkeit gewählt. Es solle, hieß es dort, eine Nationalrepräsentation eingerichtet werden; dieselbe solle aus den Provinzialständen hervorgehen und diese also, wo sie nicht mehr beständen, neu gebildet werden. Nun gab es damals adlige Landstände in allen den ehemaligen kleinen Territorien, aus welchen jetzt die Monarchie zusammengesetzt war und wo eben die Franzosen in der napoleonischen Zeit dieselben hinweggefegt hatten, suchten die Reste derselben sofort ihre Wiedereinsetzung zu bewirken. Ein unendlicher Partikularismus rührte sich mit tausendfachen Stimmen; es wäre unmöglich gewesen, aus diesem Gewirre eine einheitliche Nationalvertretung hervorgehen zu lassen und hätte es sich thunlich erwiesen, so wäre das Ergebniß ein ausschließlich aristokratisches Parlament geworden. Bald genug zeigte sich auch, daß die Feudalpartei ein solches Ziel gar nicht wollte, sondern territoriale Stände anstatt der Volksvertretung anstrebte. Es war also eine nutzlose Verschleppung der Sache, wenn auf den Antrag des Finanzministers Klewitz zunächst drei Commissare in die Provinzen geschickt wurden, um dort die überlieferten Rechte der adligen Stände zu studiren. H. ging Ende 1817 selbst an den Rhein, empfing auf Schloß Engers im Januar 1818 durch eine von Görres geführte Coblenzer Deputation eine Adresse im constitutionellen Sinne, dann eine Denkschrift des rheinischen und Eingaben des westphälischen Adels mit hochfeudalen Forderungen, gab nach allen Seiten hin freundliche und unbestimmte Antworten, mußte aber dann erfahren, daß der König über die Coblenzer Adresse und noch mehr über die Veröffentlichung derselben sehr verdrießlich und ungnädig war. In Berlin erhob sich neben der feudalen eine [589] bureaukratisch-absolutistische Opposition, welche von einer parlamentarischen Reichsverfassung eine verderbliche und revolutionäre Schädigung der Kronrechte besorgte, zugleich sich aber im Stillen vorbehielt, im Interesse der Staatseinheit auch die Rechte der künftigen Provinzialstände auf ein sehr bescheidenes Maaß zu beschränken. Dazu kam der Einfluß Oesterreichs, welches die einer liberalen preußischen Politik sichere Volksgunst in Deutschland scheute und deshalb durch das Schreckbild künftiger Revolutionen den König im absolutistischen Systeme festzuhalten suchte. Als nun das Wartburgfest und Kotzebue’s Ermordung eintraten, als der tolle Lärm gegen die Burschenschaften und die Universitäten sich erhob, als die süddeutschen Könige im Zorn und Angst wegen der oppositionellen Haltung ihrer Kammern sich hülfeflehend an die preußische Regierung wandten und unter allen diesen Einflüssen König Friedrich Wilhelm den Vorstellungen Metternich’s immer zugänglicher wurde: da hielt es H., der um keinen Preis sein persönliches Ansehen beim Könige gefährden wollte, für eine kluge Politik, wider sein besseres Wissen den Alarmisten seine Zustimmung zu geben und Metternich’s Vorspiegelungen bei dem Könige zu unterstützen. Ohne Zweifel hatte er die Meinung, dadurch seine persönliche Stellung zu befestigen und mit dieser die Zukunft der Verfassungsarbeit zu retten. Im August 1819 legte er dem Könige einen Entwurf der letzteren vor und bewirkte die Ernennung eines Ausschusses zur Begutachtung desselben. Der hervorragendste Vertreter der constitutionellen Richtung in dieser Commission war der vor Kurzem in das Ministerium berufene W. v. Humboldt; leider stand dieser seit Jahren mit dem Kanzler persönlich auf gespanntem Fuße und wurde von demselben als gefährlicher Nebenbuhler betrachtet; als dann Humboldt im October sich gegen die Karlsbader Beschlüsse erhob, benutze dies der Kanzler, den verhaßten Mann aus dem Ministerium und dem Verfassungsausschuß hinauszudrängen. Noch blieb Hardenberg’s eigner Einfluß stark genug, um von dem Könige das Edict über die Staatsschulden vom 17. Januar 1820 zu erlangen, mit der Erklärung, daß in Zukunft die Aufnahme einer Anleihe nur unter Zuziehung und Mitgarantie der künftigen Reichsstände geschehen könne, zugleich wurden neue Demonstrationen der adligen Stände von Brandenburg und der Grafschaft Mark energisch zurückgewiesen und im Laufe des Frühjahrs drei Gesetzentwürfe als Grundlage der Reichsverfassung, eine Landgemeinde-, eine Städte-, eine Kreisordnung ausgearbeitet, deren Inhalt in vollem Gegensatze zu den feudalen Anforderungen stand. So weit gelangte der Kanzler mit seinem schmiegsam gewundenen Spiele; von hier an aber mußte er erfahren, daß all seine Nachgiebigkeit gegen Metternich, sein Anbequemen an die königlichen Vorstellungen, seine Umtriebe gegen Humboldt den eignen Tendenzen den Boden entzogen und die Zahl und die Macht seiner principiellen Widersacher vermehrt hatten. Er begleitete den König zu den Congressen von Troppau und Laibach, wo dann Metternich den preußischen Monarchen zu dem bestimmten Entschlusse brachte, zur Zeit von dem Erlasse einer Reichsverfassung abzusehen. Als H. April 1821 nach Berlin zurückkam, hatte der König die drei Gesetzentwürfe einer neuen Commission zur Prüfung überwiesen, deren Mitglieder, Fürst Wittgenstein, Schuckmann, Ancillon, Albrecht, ebenso wie ihr Vorsitzender Kronprinz Friedrich Wilhelm, den liberalen Wünschen Hardenberg’s gründlich abgekehrt waren. Zu spät erhob sich jetzt H. zu offenem Widerstand; der König entschied am 11. Juni, daß das Weitere hinsichtlich der Reichsstände der Zeit, der Erfahrung und der landesherrlichen Fürsorge vorbehalten bleibe und beauftragte am 30. October die durch vier neue Mitglieder verstärkte Commission mit der Berathung über die Zusammensetzung und Berufung der Provinzialstände. H. sah mißmuthig und unthätig zu; er verwarf die Beschlüsse der Commission vom ersten bis zum letzten Worte, fand sich aber durch die Gegner vollständig überflügelt [590] und wich jeder weiteren Polemik aus. Im October 1822 folgte er dem Könige zum Congresse von Verona und starb auf der Rückreise am 26. November.

Vgl. außer den allgemeinen Werken über die Revolutions- und Kaiserzeit: L. v. Ranke, Denkwürdigkeiten des Fürsten Hardenberg. – M. Duncker’s Recension dieses Buches; Derselbe, Preuß. Jahrbücher Bd. XXXIX u. XLII. – H. v. Treitschke, ebendaselbst Bd. XXIX, XXXVI und XXXVII. – Historische Zeitschrift Bd. XXXI, XXXVII, XXXIX (Aufsätze von Lehmann[WS 13] und Bailleu[WS 14]).


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Christiane Friederike Juliane von Reventlow (1759–1793) aus Kopenhagen, verheiratet von 1774–1778.
  2. Ludwig Eberhard von Gemmingen (1719–1782) war hannoverscher Regierungsrat und Staatsminister sowie Großvogt in Celle und Hannover.
  3. Sophia Wilhelmine Louise von Hasberg (1757–1835), geschiedene von Lenthe (verh. mit Ernst Ludwig Julius von Lenthe von 1772–1788), verheiratet mit Hardenberg von 1788–1801.
  4. James Howard Harris, 1. Earl of Malmesbury (1746–1820); britischer Diplomat.
  5. François Barthélemy (1758–1830), französischer Diplomat und Politiker.
  6. Jean-Baptiste, Comte Jourdan (1762–1833); Marschall von Frankreich.
  7. Napoleon Bonaparte, als Kaiser Napoleon I. (1769–1821); ein französischer General, revolutionärer Diktator und Kaiser.
  8. Alexander I. Pawlowitsch Romanow (1777–1825); war Kaiser von Russland (1801–1825), König von Polen (1815–1825) und erster russischer Großfürst von Finnland (1809–1825) aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp.
  9. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838); einer der bekanntesten französischen Staatsmänner sowie Diplomat während der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und beim Wiener Kongress.
  10. Charlotte Sophie Schönemann (1772–1851); Berliner Opernsängerin in Frankfurt, die Ehe wurde 1821 getrennt, sie lebte seither in Liegnitz.
  11. Anstett, Joh. Protasius von (1766–1835); russischer Diplomat.
  12. Robert Stewart, 2. Marquess of Londonderry und Viscount Castlereagh (1769–1822); britischer Staatsmann, der im irischen County Down geboren wurde.
  13. Max Lehmann (1845–1929), deutscher Historiker und Hochschullehrer.
  14. Paul Bailleu (1853–1922); ein deutscher Historiker und Archivar, Direktor der preußischen Staatsarchive.