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ADB:Görres, Joseph von

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Artikel „Görres, Joseph von“ von Friedrich. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 378–389, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:G%C3%B6rres,_Joseph_von&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 23:23 Uhr UTC)
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Görres: Joseph v. G., eine Persönlichkeit, deren mächtiger Einfluß auf seine Zeit nicht geleugnet werden kann, die aber eine so verschiedenartige, bald [379] verurtheilende, bald in den Himmel erhebende Beurtheilung erfuhr, daß es schwer wird eine ihn richtig würdigende Charakteristik zu geben. Dieser Versuch gründet sich auf die reiflichste Erwägung aller Phasen seines Lebens und seiner Schriften, sowie des Ganges der gleichzeitigen deutschen Geschichte und ist von dem Entschluß geleitet, sein Bild ohne jede Voreingenommenheit für oder gegen ihn zu zeichnen. G. zeigt sich in seinen Schriften als einen reich begabten Geist, aber zu mystischem Tiefsinne angelegt. Ein unersättlicher Drang nach der Wahrheit und ein ganz besonders tiefes Rechtlichkeitsgefühl, verbunden mit einer von einem greisen Freunde desselben noch jetzt gerühmten, seltenen Uneigennützigkeit, zeichnen ihn aus. Er lebt und wirkt nicht für sich, sondern für das Wohl des Ganzen, sowie er es erkannt hat und es ihm als Ideal vorschwebt. Ohne eine höhere Schule durchlaufen und einer bestimmten Wissenschaft ausschließlich sich gewidmet zu haben, ist er Autodidakt in Allem, was er angreift, und hat er vielleicht gerade deshalb seine geistige Vielseitigkeit und Empfänglichkeit für alle ihm begegnenden geistigen Eindrücke bewahrt. Dazu kommt eine unerschöpfliche Phantasie. Auch sie litt nicht unter einer strengen Schulung zu einem bestimmten Wissenszweig, und wenn es wahr ist, daß sie ihn auch bei den schwierigsten Materien des Denkens mit sich fortreißt und oft über alle Schwierigkeiten hinwegzuführen weiß, so hat doch sie ihm auch wieder jene Sprache und jenen Ton einzugeben vermocht, welche ihn stets, wenn er sich an das deutsche Volk wandte, eines mächtigen Eindrucks sicher machten. Ein anderer Zug seines Wesens ist, daß er eben so sehr, als er auf seine Umgebung einwirkte, auch wieder von derselben abhängig war. So sehen wir und deutet es auch seine Tochter Maria an, daß er sich, wie in Coblenz und Heidelberg, so in Straßburg und München nicht weniger gebend als empfangend verhält; was er aber empfangen, verarbeitet er alsbald selbständig in seinem Gedankenkreis. G. war am 25. Januar 1776 zu Coblenz geboren und der Sohn eines Floßhändlers, seine Mutter aber stammte aus dem italienischen Geschlechte Mazza, so daß deutsches und italienisches Blut ihm eigen wurden, und wenn wir ihn in seiner Schrift „Glauben und Wissen“ S. 117 ff. mit so plastischer Anschaulichkeit den Unterschied zwischen süd- und nordländischer Natur entwerfen sehen, so mag er wol aus eigener Empfindung geschildert haben: er ist in der That eine solche Mischung deutschen und italienischen Charakters, nur überwiegt der letztere den ersteren. Sogar äußerlich gibt sich das kund: wie nach ihm die „inbrünstige Andacht vor dem Bilde der Madonna“ für die Südländer charakteristisch ist, so schwebt auch ihm sein ganzes Leben die Madonna vor, so daß er als enttäuschter Republikaner sich „die Freiheit der Teutschen“ nur als eine Madonna denken kann, die „mit liebevoller Güte ihren Segen und nichts als Segen spenden soll; nicht Glanz und Tand und Flitter soll sie umstrahlen, nur Liebe aus ihr sprechen, an ihrem Busen sollen ihre Kinder Wohlseyn saugen und in ihrer Gabenfülle sich sättigen“. Pol. Schrift. I, 95. Vielleicht ohne es zu ahnen, hat er daher das Geheimniß seiner Entwickelung im „Glauben und Wissen“ geschildert: „Glaube und Religion gehört insbesondere dem Süden an. Diese volle, reiche, entzündliche Einbildungskraft, die das Erbtheil der südlichen Nationen ist –, sie ist es auch, die den Südländer zu den Füßen der Altäre zieht, die ihn mit inbrünstiger Andacht vor dem Bilde der Madonna niederwirft, daß er glühend, überfließend vor innerer Heiligung der Erde entrückt, sich in der Nähe des Ewigen fühlt und vertrauten Umgang mit den höheren Naturen pflegt“. So wenigstens geschah es auch ihm. Görres’ Jugend fällt gerade in die Zeit des Ausbruchs der französischen Revolution und wie viele Andere von ihren Ideen begeistert und fortgerissen wurden, so auch er. Eben war er vom Gymnasium (1793) entlassen, als die französischen Truppen in die Rheinlande einzogen und sich auch in Coblenz ein republikanischer [380] Club bildete. G. wurde dessen Sprecher und Leiter, später gab er ihm auch ein öffentliches Organ im „Rothen Blatte“ (1797), das freilich, da es auch den französischen Machthabern nichts nachsah, vielmehr ihnen zurief: „Ewiger Krieg allen Spitzbuben, die Hand den tugendhaften Männern“, rasch unterdrückt, aber von G. durch den „Rübezahl“ (1798) ersetzt wurde. Mit einer Deputation auf der Reise nach Mainz, um dort gegen die Willkür des commandirenden Generals Leval zu protestiren, ließ dieser ihn mit seinen drei Freunden aufheben und 20 Tage in Haft behalten. Trotzdem dauerte der republikanische Taumel fort. 1799 steht G. an der Spitze einer Deputation nach Paris, um statt der Occupation Einverleibung des linken Rheinufers in Frankreich zu verlangen. Diese Sendung machte den Jüngling nüchtern. Er durchschaute rasch das republikanische Treiben und erkannte in einer Audienz bei dem ersten Consul sofort den künftigen Kaiser. Alsbald klärte er seine Mitbürger auf, aber kaum heimgekehrt legte er seine Erlebnisse und Erfahrungen in der Schrift nieder: „Resultate meiner Sendung nach Paris im Brumaire VIII“ (1800). Man hat später G. diese Jugendhaltung zum Vorwurfe gemacht, Gutzkow richtete gegen ihn die Schrift „Die rothe Mütze und die Capuze“, und noch heute kann man die Hindeutung auf diese erste Lebensperiode Görres’ hören. Allein es ist schwer sich dem anzuschließen. Was ein unreifer, gerade den Schulbänken entwachsener Jüngling im allgemeinen Sturme der Zeit that, ist nicht so hoch anzuschlagen; das ist vielmehr ein Beweis der ganz furchtbar verrotteten Zustände, daß ein solcher Jüngling überhaupt eine solche Rolle spielen konnte. Seine hervorragenderen Zeitgenossen beurtheilten ihn offenbar auch nicht anders. – So in seiner politischen Thätigkeit plötzlich ernüchtert, wandte er sich um so eifriger der Wissenschaft zu. Anfangs unseres Jahrhunderts Professor der Naturwissenschaften an der Secundärschule in Coblenz geworden, erschienen von ihm „Aphorismen über Organonomie“, 1803, „Aphorismen über Organologie“, 1805, und „Exposition der Physiologie“, 1805, aber es war auch hier die Richtung der deutschen Philosophie, welche sich geltend machte. Schelling’s Naturphilosophie hatte auch ihn ergriffen, und so suchte er für seinen Theil ebenfalls an dem Werke, dem die Zukunft zu gehören schien, mitzuwirken. Aber G. konnte sich nicht lange in der Abstraction halten, er fiel immer wieder ins Praktische und Politische zurück. So wird ihm in seiner „Exposition der Physiologie“ der Sternenhimmel zum Bilde eines Staatslebens mit conservativem und radikalem Pole, eine Anschauung, die ihn auch nie mehr verließ. Noch vor Veröffentlichung dieser „Exposition“ fällt „Glauben und Wissen“, 1805 in München wol deshalb erschienen, weil eben v. Aretin wegen seiner Berufung entweder an die Universität Landshut oder an die Akademie in München mit ihm verhandelte. Diese Schrift ist eine merkwürdige Erscheinung. G. war noch weit entfernt vom positiv christlichen, geschweige katholischen Glauben; seine 1801 mit Kath. v. Lasaulx geschlossene Ehe war nur bürgerlich eingegangen, und gleich Anderen, welche neues kirchliches Leben am Rheine wachriefen, blieb er diesem persönlich doch fremd. Es war ihm ein Abgelebtes, das ein Neues ersetzen müsse. So findet sich auch in seiner Schrift neben dem persönlichen Gott die „Weltseele“, spricht er aber gleichwol überall in der Sprache des Kirchenglaubens von „lebendigem Glauben“, „Gnade“ etc. Sein Hauptzweck ist aber „den Gott Jacobi’s“, „die Gottheit in dem Identitätssystem“ und „den Gott Fichte’s“ zu vereinigen; im Grunde jedoch ist die Schrift eine „verklärte Mythologie“ oder phantasiereiche Vereinigung des Heidenthums mit dem Christenthum. G. selbst glaubt Schelling fast ganz auf seiner Seite; aber in katholischen Kreisen, wie es Windischmann d. Ae. ausspricht, erblickte man in der Schrift das Höchste, was zu leisten war. Seine Uebersiedelung nach Heidelberg (1806), um an der Universität Vorlesungen zu halten, führte ihn auf neue [381] Bahnen, welche eben in der Entwicklung des deutschen Geistes betreten zu werden anfingen. Clemens Brentano, Achim von Arnim zogen ihn an und er betheiligte sich nicht nur an ihrer „Einsiedler-Zeitung“ und Brentano’s „Tröst-Einsamkeit“, sondern fing selbst an auf das deutsche Alterthum seine Studien auszudehnen, woraus seine „Deutschen Volksbücher“ entstanden. Auch begann er nun seine „Altteutschen Volks- und Meisterlieder“ zu sammeln, sowie die mittelalterliche Kunst seine Aufmerksamkeit erregte. Durch innere Begabung wie durch die Freunde, zu denen er sich am meisten hingezogen fühlte, wurde er mehr und mehr Romantiker, die, wenn sie auch nach und nach meistens aus persönlichem Bedürfnisse allmählich dahinkamen, das (katholische) Mittelalter wieder in die Gegenwart versetzen zu wollen, doch für die Erweckung des deutschen Geistes und des Sinnes für die Vergangenheit des Volkes unerkennbare Verdienste sich erwarben. Die Mythologie spielt schon in den Schriften des G., welche vor dem Heidelberger Aufenthalt liegen, eine große Rolle. Ihrer Erforschung und damit, wie er meinte, der des Geheimnisses der Religion widmete er sich auch in Heidelberg um so mehr, als die Freundschaft mit dem Symboliker Creuzer ihn überdies dazu aneiferte. Kaum nach Coblenz in seine alte Stellung zurückgekehrt (1808), ließ er auch seine „Mythengeschichte der asiatischen Welt“, 2 Bände, erscheinen (1810), ein begreiflich jetzt veraltetes Werk, das aber damals nicht geringes Aufsehen machte und den forschenden Blick auf Gebiete lenkte, welche bis dahin mehr oder weniger unberücksichtigt geblieben waren. In diesem Buche sind ihm die Religionsstifter der Vorzeit, wie Hermes Trismegistos, Orpheus etc., Propheten der Völker nach dem Plane Gottes, um eine successive Erziehung und Steigerung der Menschheit unter ihrer Leitung herbeizuführen. Die Seher aller Zeiten sind ihm Lehrer der Weltreligion. Diesen Standpunkt behielt er noch lange bei und er ist namentlich auch festgehalten in der für das Perthes’sche Vaterländische Museum 1810 geschriebenen, aber wegen Eingehens desselben nicht mehr erschienenen Abhandlung „Fall der Religion und ihre Wiedergeburt“ (Pol. Schr. I, 132–88). Wie in „Glauben und Wissen“ ihm Katholicismus und Protestantismus gleichberechtigt nebeneinander stehen und nur Folgen der verschiedenen Volkscharaktere sind, so auch hier: Jung Stilling wird von ihm so gut als Lehrer und Kirchenvater für das protestantische Europa gepriesen, als Graf Stolberg es ihm für das katholische Deutschland ist. Noch ruft er der Nation zu: „Versündige darum sich Niemand durch frevelhaftes Urtheil, auch nicht an der Reformation; sie erfüllt ihre Zeit in der Religionsgeschichte mit gleicher Nothwendigkeit wie eine andere Naturerscheinung. Nicht umsonst hat Teutschland 30 Jahre hindurch geblutet; was sündhaft gewesen bei dem Unternehmen, hat es mit seiner Verheerung und zuletzt noch mit dem Verluste seiner Selbständigkeit abgebüßt; was aber als reine Absicht, als brave redliche Gesinnung sich bewährt, ist der Nation gut geschrieben als Capitalwerth, womit sie die neue Zeit beginnt.“ „Von der anderen Seite ist die neue teutsche Philosophie eine in ihrer Art ebenso historische Erscheinung wie die Reformation, und durch sie begründet und herbeigeführt. Ihre Aufgabe ist, alle die abgefallenen, in eigener Eitelkeit befangenen, wie ein Polypenleben in 1000 Gliedern zerstreuten Wissenschaften zu einer höheren geistigen Mitte und durch sie zur Religion zurückzuführen, ein neues Feuer der Begeisterung in allen Gemüthern anzuzünden, sie zu lehren, in Allem Gott zu finden und durch alle Anschauung die unveränderte Wesenheit des Ewigen zu erkennen.“ Die gleiche Aufgabe habe „die neuere Poesie“, welche übrigens ihre Bestimmung bereits gelöst habe. Es gelte eine neue Kirche, nicht Religion, zu gründen; denn diese, „die auch jetzt noch besteht, hat zu allen Zeiten bestanden, und alle religiösen Formen und alle Mythen sind aus dieser Grundreligion hervorgegangen, alle eines Stammvaters Kinder in verschiedenen [382] Erscheinungsformen.“ Schon bilde sich eine solche neue Kirche, „die die alte nicht vernichtet, nur erweitert“; auch „alle die einfältigen Sinns, dem alten Glauben treu geblieben, gehören, insofern sie von ihm durchdrungen sind, dem neuen Vereine an, denn nicht der Glaube, nur der Unglaube und wissentliches Widerstreben schließen aus“, und natürlich, da Görres’ überschwengliche Phantasie selbst nur in den katholischen Formen und Lehren und Geheimnissen sich heimisch fühlte und darum in dieser Abhandlung alle katholischen Glaubenslehren und Geheimnisse, sogar die Verwandlungslehre, für die neue Kirche zu deuten weiß. Das Wesen der neuen Kirche und alten Religion ist aber: „der Mensch soll nichts thun ohne Gott, seine Liebe soll ihn erfüllen, seine Begeisterung ihn zu allem Guten treiben. Er muß ihm sein wie sein innerster schlagender Punkt im Herzen; wie ein tiefster Nerv unter den Nerven; wie ein Keimpunkt aller Lebenswärme.“ Nichts anderes ist auch das Christenthum: „Christus hat davon geredet und die Apostel haben es verkündigt, alle Weisen haben eine solche Gemeinschaft der Heiligen gewollt.“ Mitten in seinen gelehrten Arbeiten vergaß G. doch der Noth des Vaterlandes nicht, wenn er auch nicht öffentlich seine Stimme erhob. Doch ist ein Artikel in dem nämlichen Museum „Ueber den Fall Teutschlands und die Bedingungen seiner Wiedergeburt“ (1810) sehr bezeichnend. Die alte Offenheit läßt ihn auch die Wunden aufdecken, aus denen die Nation blutete, und, soweit seine Einsicht reichte, die Heilmittel bezeichnen, namentlich findet er aber die Schaffung einer „bestimmten öffentlichen Meinung“ gegenüber der Charakterlosigkeit der Tagespresse nothwendig. (Pol. Schr. I, 115–32.) Vorläufig, meint er, sei dem deutschen Volke nicht zu helfen: „Einem Volke, das so unklar, in sich selbst so getheilt, in so Vielem kläglicher Seichtigkeit hingegeben, so übel berathen von denen, die seine Repräsentanten sind, mochte man nicht die Schicksale der Zukunft anvertrauen, so lange bis es die Einheit seiner Kräfte erst gewonnen, muß es dienen dem, der zu befehlen weiß. Ein solcher hat sich gefunden in dieser Zeit, der von sich sagen konnte: Gott hat mir die Macht gegeben, Alles zu vollbringen, was ich unternommen; jeder Tag bekräftiget, daß er wahr gesprochen.“ Daran, daß das deutsche Volk „die Einheit jener Kräfte“ erst und so rasch wie möglich wieder gewinne, glaubte er darum vor Allem und nicht besser arbeiten zu können, als wenn er fortfahre, dasselbe durch seine eigene Litteratur mit der Vorzeit und ihrer Größe bekannt zu machen. In gleicher Richtung arbeiteten damals schon die beiden Grimm und die gleichen Bestrebungen verknüpften alle drei in inniger Freundschaft: ein reger wissenschaftlicher Verkehr, gegenseitiges Aufmuntern, Unterstützen und Aufklären begann zwischen Coblenz und Cassel. So erschien denn 1813 seine Ausgabe des „Lohengrin“, während er zugleich das Persische erlernte, um das „Heldenbuch von Iran“ aus dem Schah-nameh des Firdusi zu übersetzen.

Plötzlich wurde er aber aus gelehrter Thätigkeit gerissen, nicht sowol dadurch, daß ihn Just. Gruner, der Generalgouverneur des Mittelrheins, nach der Besitznahme des Landes durch die Verbündeten, zum Generaldirector des öffentlichen Unterrichts bestellte (1814–16), als durch sein neues politisches Auftreten. Kaum hatte Blücher mit Neujahr 1814 den Rhein bei Coblenz überschritten, als G. glaubte, daß die Zeit vorüber, wo das deutsche Volk dem dienen muß, der zu befehlen weiß, und daß es gelte, dessen Kräfte zu einer Einheit zu sammeln, um es nicht blos zu einem energischen Widerstand zu ermuthigen, sondern auch in die neue Zeit einzuführen. Es entstand sein „Rheinischer Merkur“, mächtig, wie kein anderes Blatt jener Zeit, verdienstvoll um das Vaterland in so seltenem Maße, daß es alsbald überall, auch von den Fürsten beachtet und gelesen, von Napoleon selbst als „die fünfte Großmacht“ bezeichnet wurde. Von allen Seiten kam ihm der Ausdruck der Bewunderung zu, Rückert feierte G. und Gentz sogar erstaunte [383] über ihn; Goethe besuchte in Stein’s Begleitung später G. ebenfalls in Coblenz. Dagegen traf sein Wort die Rheinbundsstaaten so hart, daß Baden, Würtemberg und Baiern schon im Sommer 1814 den Merkur verboten. Von allwärts kamen Beiträge, so auch von Stein, J. Grimm etc., von denen jener insbesondere seine Gedanken über Deutschlands künftige Verfassung darin niederlegte. Gneisenau war G. besonders gewogen. Wie aber Napoleons Verbannung nach Elba G. zu einer „Proklamation an die Völker Europa’s vor seinem Abzuge“ (Merk. Nr. 51) mit einer beißenden Ironie und seltenen Kraft der Sprache veranlaßte, so steigerten sich seine Kräfte, als Napoleon plötzlich in Frankreich aufs neue erschien: „Ruft alle auf zur Wehr, was Waffen tragen kann; es ist nicht gemeine Noth, die andringt, auch ist sie nicht mit gemeinen Mitteln zu bezwingen!“ „Ihr Fürsten, laßt durch die Stimmen eurer Völker euch beschwören, zerreißt endlich die Netze, die euch verstricken… Wie ein neues Heer geschaffen worden und ein frischer Geist im Felde jene Wunder hervorgebracht, so muß auch im Cabinet in den Camaschendienst der Diplomatie endlich ein neues Leben kommen, die Politik muß sich verjüngen und der Quell frischer Jugendkraft nicht länger in die Wüste abgeleitet werden, daß er die Höfe tränke. – Wahrlich, das Herz blutet jedem in tiefer Brust, dem sein Vaterland werth ist… Seht den Drachen, wie er mit seinem Schweif ein ganzes verblendetes Volk umschlingt und euch entgegenwirft – seht, wie sie Feuerbrände nach allen Seiten schleudern und eine Hölle in lichtem Brand entzünden. Schon dröhnt und kracht das alte europäische Gebäude in allen Fugen, unterirdische Stürme heulen … aber diese Verblendung ist das einzig Furchtbare.“ Das war Hardenberg zu stark und G. erhielt eine erste Warnung vom 16. Mai 1815. Es gelang, Napoleon ein zweites Mal niederzuwerfen; aber immer dachte man noch an keine Aenderung der alten Zustände. Wiederum erhob sich G. im „Merkur“, um die deutschen Forderungen hinsichtlich des zweiten Friedensschlusses geltend zu machen, und Stein fuhr fort sich des Merkur zu bedienen, um seine Verfassungspläne in die Oeffentlichkeit zu bringen. Als G. sich aber auch gegen Preußen wendete und über die „Reaction in Preußen“ schrieb, da war die Zeit des Merkur um; eine Cabinetsordre vom 3. Januar 1816 verbot ihn und am 10. Januar erschien die letzte Nummer. Dagegen wollte nunmehr der baierische Kronprinz Ludwig G. nach Baiern ziehen und versprach ihm für die Fortsetzung des Merkur uneingeschränkte Preßfreiheit. Montgelas widersetzte sich und es kam nichts zu Stande. Zugleich wurde G. als Generaldirector des Unterrichts entlassen und es bedurfte der Vermittlung Gneisenau’s und anderer Freunde, daß G. nicht einen Ruf ins Ausland, nach Stuttgart oder Lüttich, annahm. Doch wollte er nicht vom politischen Kampfplatz weichen, ohne vorher noch seine Stimme in „Teutschlands künftige Verfassung“, 1816, welches Buch in fast alle Sprachen Europa’s übersetzt wurde, erhoben zu haben. Im Ganzen sind es die im Merkur schon besprochenen Gedanken: Einheit, nicht Föderativsystem, eine allgemeine deutsche Staatsverfassung, gemeinsame Landesbewaffnung und allgemeiner deutscher Kriegsbund, gemeinsames Steuersystem und Recht, unbeschränkter Handelsverkehr in Deutschland, Bundesgericht und deutscher Kaiser. Nach diesen Jahren wirft sich G. mit neuer Kraft auf seine alten Studien, der alte Verkehr mit den Brüdern Grimm wird wieder aufgenommen und 1817 erschienen seine „Altteutschen Volks- und Meisterlieder“. Aber nun nahm auch die herrschende Hungersnoth einen Theil seiner Zeit in Anspruch: er gründete einen Hilfsverein und erließ einen öffentlichen Aufruf, auf den von überall, auch aus Paris und Nordamerika, Gaben bis zu einer halben Million zusammenströmten. G. war, wie das Bruchstück eines Memorandums für Staatskanzler Hardenberg zeigt (P. Schr. III, 447 ff.), nicht nur kein principieller Gegner Preußens, sondern mehr ein Bewunderer [384] desselben, dem er 1815 sogar die Aufgabe zuschrieb, die deutsche Schirm- und Vormacht in gewissem Sinne und „Vorfechter der Meinung und des teutschen Geistes“ zu sein. Aber die Hoffnungen, welche er und so viele Vaterlandsfreunde auf dasselbe setzten, wurden nicht nur nicht alsbald erfüllt, sondern durch reactionäre Schritte mehr und mehr enttäuscht. 1817 plante er darum eine Adresse, welche überall am 18. October unterzeichnet werden sollte, um den Bundestag um Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände zu bitten. Der Plan wurde indeß nicht so ausgeführt, sondern nur als Adresse der Stadt Coblenz vom 18. October 1817 an den König von Preußen abgefaßt und im Frühjahr 1818 Hardenberg durch eine Deputation, an deren Spitze G. stand, in Coblenz überreicht. Spätere Darstellungen des Vorgangs entstellen denselben. G. als Sprecher forderte ständische Verfassung, Dotation der katholischen und protestantischen Geistlichkeit, Preßfreiheit für den gelehrten Stand, Besserung des Volksschulwesens, ständische Vertretung des anspruchsloser gewordenen Adels, soweit es die neue Verfassung erlaube, mildere Durchführung des preußischen Aushebungsgesetzes für den Beginn seiner Wirksamkeit, öffentliches und mündliches Gerichtsverfahren mit Geschworenen- und Friedensgerichten, Städteordnung mit freier Wahl der Beamten, Schutz der Industrie und des Handels gegen Frankreich und England, indem die unbedingte Handelsfreiheit ohne wechselseitige Leistung eine „thörichte Theorie“ sei und Deutschland zum „allgemeinen Trödelmarkt“ für alle Völker mache; eine feste Gewerbe-Ordnung für innere Disciplin und das Verhältniß der Meister zu den Gesellen, um der bisherigen Liederlichkeit und dem Leichtsinn zu steuern, aber auch den Consumenten für die Güte der Arbeiten Gewähr zu leisten, endlich Entreißung der Eifelbewohner aus den Händen der Wucherer durch Beseitigung jener Uebel, welche ihn beförderten etc. Hardenberg war gnädig und zeigte sich entgegenkommend, aber das „Stockpreußenthum“ war noch nicht ausgestorben und wollte die neue Zeit nicht begreifen, noch weniger Wurzel fassen lassen. Man wollte insbesondere nichts von einer constitutionellen Verfassung wissen; auch auswärtige Emissäre waren zu diesem Zwecke thätig; die deutschen Hochschulen und Professoren wurden namentlich des Demagogenthums beschuldigt. Da fiel einer dieser Emissäre, Kotzebue, durch die Hand des Studenten Sand (1819) und auf den nassauischen Präsidenten wurde ein Mordversuch gemacht. Dadurch hatte das Gespenst der Revolution in den Augen der Verehrer der alten Zeit Gestalt erhalten, sogar Stein, Gneisenau wurden überwacht, der Gesandte Gruner in Bern etc. verdächtig. G. aber benutzte die Gelegenheit zur Abfassung einer Abhandlung „Kotzebue und was ihn gemordet“ für die Börne’sche Wage. Er sah darin der „Himmel Zeichen als warnende Boten“ vor den Zeiten großer Verhängnisse und Folgen der „Abweisung der billigsten und gerechtesten Forderungen der Zeit“ und der grausamsten Enttäuschung der heranwachsenden Jugend in allen ihren Hoffnungen auf „ein einiges, freies, starkes, unabhängiges, wohl geordnetes und sicher gewährtes Teutschland“. Das Blut aber, das geflossen, wird über das Haupt derjenigen kommen, die dem Volke „den Preis seiner Anstrengungen“ geraubt und sogar den Frieden der Gemüther stören und „beinahe allen Glauben an Wahrheit und Ehre der Menschheit rauben“. Viele der hervorragendsten Männer stimmten G. bei, aber die Reaction schritt bekanntlich unverdrossen ihren Weg weiter. Da regen G. auch die Karlsbader Beschlüsse auf und denkt er an eine neue Schrift. Als dann das Reformationsfest mit dem Wartburgfest der Studenten einfiel, flammte die Verfolgungswuth noch mehr auf. Alles was in der Franzosennoth deutschen Sinn und vaterländische Begeisterung hervorrief, war nun verdächtig. Endlich erschien Görres’ Buch: „Teutschland und die Revolution“, 1819, das ungeheures Aufsehen erregte. 3 Auflagen waren rasch vergriffen, in England erschienen zwei Uebersetzungen, ebenso eine französische und schwedische. [385] Er verkennt die allgemeine Gährung der Gemüther in Deutschland nicht, aber sie ist die Folge der Wirksamkeit von Oben, wo man sich nur zu „einigen liberalen Gaukeleien“ verstehen konnte. G. hat seine Kraft der Sprache wiedergewonnen und schonungslos geißelt er das wilde Treiben. Er spricht sich sogar gegen die Klassen der Phantasten und Pedanten aus, von denen erstere „vom Mittelalter träumten, wie früher die Ritterbücher“, letztere sich an das Starre, Todte, den öden Buchstaben hingen, deren beider Evangelium das Buch Haller’s über die Restauration der Staatswissenschaften sei. Gleichwol sieht man aber hier schon, daß G. mehr und mehr auf Seite der katholischen Kirche gedrängt wurde. Gegenüber der Befeindung derselben bei Gelegenheit und in Folge des Reformationsfestes nimmt er sich der Angefeindeten an und wird ihr eifrigster Vertheidiger, wenn er auch noch immer „Protestantismus und Katholicismus nur wie Integral- und Indifferentialrechnung“ sich verhalten läßt. Im Verhältnisse der Kirche zum Staate verlangt er aber nicht Unterordnung jener unter diesen, sondern Beiordnung beider. Am Tische eines Freundes in Frankfurt sollte er durch einen anderen Freund verhaftet werden; aber er erkannte rechtzeitig die Gefahr und flüchtete nach Straßburg, also nach Frankreich, das er einst so sehr bekämpft, und findet dort, während seine Familie in Coblenz bleibt und ihm seine Pension entzogen wird, freundliche Aufnahme. Dieses allgemeines Aufsehen erregende Ereigniß wurde zugleich der Anstoß, daß seine ohnehin durch und durch katholisch angelegte Natur sich der katholischen Kirche ganz und gar zuwandte. In Straßburg erregte er nach seinen eigenen Worten (1819) „Bewunderung über einen Liberalismus, der wie der meinige mit dem Adel und Papste sich verträgt. Ich sehe dem ruhig zu und werde sicher nichts Erhebliches an meinen Grundsätzen ändern“. Es kam jedoch anders.

Da sich seine Verbannung trotz aller Bemühungen, ihn vor ein ordentliches Gericht zu stellen, verlängerte, zog auch seine Familie zu ihm nach Straßburg und dauerte sein Aufenthalt dort bis zu seiner Berufung nach München, einen kurzen Aufenthalt in der Schweiz (1820) abgerechnet. Anfänglich gab er sich seinen alten Studien wieder hin, 1820 erschien das „Heldenbuch von Iran“, und für die altdeutsche Litteratur wurden neue Forschungen und Sammlungen in Straßburg und in der Schweiz gemacht; die Bekanntschaft mit Laßberg ist ihm dabei nicht werthlos. Auch der Verkehr mit den alten Freunden in Deutschland dauerte noch fort und Stein hörte bei der Gründung der Monumenta Germaniae auch seinen Rath. Allein das Gefühl erlittenen Unrechts und gar der Verbannung stimmt schon weicher und macht empfänglicher für die Anschauungen der neuen Freunde, welche dem Verfolgten Mitleid entgegenbringen. Dies schon trug zu einer Wendung bei, aber wol noch mehr das italienische Element in seinem Charakter lebte in ihm mehr und mehr auf, je südlicher er kam. Dies merkt man schon in seiner vorletzten politischen Schrift „Europa und die Revolution“, welche er 1820 in Aarau schrieb und die 1821 erschien. Sie ist in politischer und religiöser Hinsicht eine Art Ueberschau der ganzen Menschheitsgeschichte, um daraus die Forderungen der Zukunft abzuleiten, aber zugleich auch viel positiv gläubiger und kirchlicher; eine neue Würdigung des Christenthums tritt hervor; die Reformation ist „der zweite Sündenfall“, jedoch immer noch mit einer gerechteren Würdigung der Reformatoren und einer Vertheilung der größeren Schuld auf die mittelalterliche Kirche und den „italienischen Uebermuth“ gegenüber den Reformatoren, welche „mit Mäßigung im Beginne nur das Gerechteste, ja weniger als das, begehrt“, und wenn er auch „das in der Kirche verjüngte Rom (künftig) aufs Neue sein altes Recht behaupten“ sieht und der protestantische Norden sich ihm keineswegs zu entziehen im Stande sein wird, so wird dieser doch, „gehalten von dem Bande des gemeinsamen [386] Christenthums, in ihm die heilsame Opposition fortführen, und also, wie Umkreis und Mittelpunkt sich wechselseitig voraussetzen, sich bedingt finden von dem Centrum, wie selbst bedingend. Die dritte, die griechische Kirche, aber wird als eine untere und äußerliche Vermittlung durch den Uebergang zwischen beide treten“. Da aber G. auch seine alten Anschauungen über die Neuordnung des Staatswesens wiederholte, so wurde auch dieses Buch in Preußen verboten. Ebenso erging es, nachdem er erfolglos „In Sachen der Rheinprovinzen und in eigener Angelegenheit“, 1822, geschrieben hatte, seiner Schrift „Die heilige Allianz und die Völker auf dem Congreß zu Verona“, 1822, worin er sowol den Absolutismus der Fürsten als die unveräußerliche Souveränetät der Völker bekämpfte und auf die christlichen Grundsätze hinwies. In Straßburg, wo eben neues kirchliches Leben sich zu entfalten begann, blieb G. bald nicht mehr blos äußerlicher Bewunderer des Doms und faßte er in philosophischer Erhabenheit die Geheimnisse, welche darin gefeiert wurden, blos symbolisch auf, sondern wurde er als halber Südländer unwillkürlich und unwiderstehlich zu den Füßen der Altäre gezogen und mit inbrünstiger Andacht vor dem Bilde der Madonna niedergeworfen. Nunmehr läßt er, obwol seine Frau nie eine gläubige Katholikin war, die kirchliche Einsegnung seiner Ehe nachholen, und bald sehen wir ihn in eifrigem Verkehr mit Geistlichen; die Rührigkeit des Bischofs und seiner Gehülfen findet sein Lob, ja seine Bewunderung wegen der von ihnen eingeführten Volksmissionen, zumal seitdem „der unermüdliche Demarest nun auch eingetreten und den Strom seiner Reden durch das immer gefüllte Münster hinkreisen läßt“. G. ist Rathgeber des „Katholik“ und eifriger Mitarbeiter an demselben. Nicht ohne Einfluß blieb auf ihn aber das damals durch de Maistre und Lamennais aufgestellte neue System zur Rettung der Gesellschaft durch die Theocratie, an deren Spitze der unfehlbare Papst stehen sollte. Görres’ Freunde, Fr. Schlegel und Windischmann, waren darüber voll Entzücken und letzterer lieferte zu der Uebersetzung der de Maistre’schen Werke durch seinen Schwiegersohn Moritz Lieber philosophische Beilagen, welche er nicht versäumte G. zu schicken und zu empfehlen. Bald zeigt er auch seine Bekanntschaft mit Lamennais, den er „ein Schlachtschwert im Munde tragen“ läßt; noch in späterer Zeit aber beruft er sich auf de Maistre, ohne jedoch je die äußersten Consequenzen ihres Systems anzunehmen. Doch war es ihm auch im „Katholik“ noch eine „große und edle Bewegung im teutschen Volke, die die Reformation herbeigeführt. Mögen die lateinischen Völker sie unbedingt verwerfen; wir Teutsche können es nicht und dürfen es nicht, weil sie aus dem innersten Geiste unseres Stammes hervorgegangen und sich auch nahe so weit wie er verbreitet hat. Dieser Geist ist jener edle ethische Unwille über den Frevel am Heiligen; jener Abscheu vor jeder moralischen Fäulniß, die sich irgendwo offenbart; jene Entrüstung, die sich gegen jeden Mißbrauch schnell erhebt; jene unzerstörbare Freiheitsliebe, die jedes Joch, das treulose Gewalt ihr aufzulegen sucht, früh oder spät immer abzuschütteln weiß“ etc. (Pol. Schr. V, 216.) Noch von Straßburg aus ergeht sein Mahnruf des „Kurfürsten Maximilian I. an den König Ludwig von Baiern bei dessen Thronbesteigung“ 1825, in dem er diesem zuruft: „Sei ein christlicher Fürst, Säule zugleich dem Glauben und Schützer der Geistesfreiheit, und Dein Beispiel möge die Zeloten von zweierlei Art verstummen machen… Dulde nicht, daß aufrührerische Gesinnung die Grundveste des Thrones untergrabe… Wolle auch Du die Erfahrung der Zeiten ehren; denn das Volk hat sich dem Fürsten nicht zur Dienstbarkeit, sondern zum Schutze übergeben, daß er nicht mit Gewalt über Sclaven, sondern mit Milde, nicht blos über Bürger, sondern für sie herrscht. Sei Du ein rechter Fürst von Gottes Gnaden… Achte jedes Talent und jedes Verdienst in Deinem Reiche, aber laß Dir jene frechen Glückspilze nicht nahe [387] kommen, die im Verderben der letzten Zeit aufgeschossen und im Schlamme der Sündfluth, die über Deutschland hergestiegen, festgehaftet. Sei fortan ein Schirmvogt und Hort des Glaubens, damit Baiern wieder werde ein Schild und Eckstein der deutschen Kirche… In Mitte Deines Volkes herrsche sein Gesetz, und Du sei nur seiner Diener erster!… Wem viel anvertraut ist, von dem wird auch viel gefordert.“ König Ludwig I., der ihn schon 1816 nach Baiern hatte ziehen wollen, rief den Mahner selbst (1826) als Professor der Geschichte an die Universität München. Diese neue Wendung in Görres’ Leben sollte auch sonst von Bedeutung werden. In Straßburg hatte er eine vergleichende „Sagengeschichte“ begonnen und wollte auf 1823 daraus vorläufig „Altteutschland“ drucken lassen; es unterblieb und wurde auch in Baiern nicht mehr vollendet; andere Arbeiten drängten sich ihm auf. Außerdem wurde er in einen neuen, fast ausschließlich katholischen Wirkungskreis versetzt und umgab ihn, den von seiner Umgebung stets beeinflußten Mann, bald eine ganze Reihe der hervorragendsten katholischen Gelehrten und auswärtige fanden sich ebenfalls gern bei ihm ein. Getragen und gestärkt durch den katholisch gesinnten König Ludwig I. und seine Minister Schenk und Abel, welch’ letzterer aber so wenig ein Werkzeug des Görres’schen Kreises war, daß er diesen vielmehr zu seinen Zwecken und seiner absolutistischen Politik ausnutzen wollte, wurde München bald der Mittelpunkt katholischen Lebens in Deutschland. Von Frankreich, der Schweiz und anderwärts richtete man die Augen dahin, sogar Lamennais’ Agentschaft hatte ihre Verbindung bis nach Baiern. Allerdings war G. ein gefeierter Lehrer, aber als Mittelpunkt des neuen katholischen Lebens warf sich der allgemeine Haß auf ihn; die alten Freunde ziehen sich von ihm zurück und sein Verkehr ist in anderen Kreisen, meist nur noch in Süddeutschland und Tirol, auch bei den ekstatischen Jungfrauen. Es wird jedoch von seinen wenigen noch überlebenden Freunden versichert, daß er seine Stellung beim König oder der Regierung niemals zur Erlangung ungesetzlicher Dinge mißbrauchte. Die Romantik hatte zuletzt in Clemens Brentano und seiner Nonne Katharina Emmerich den Höhepunkt der geistigen Verrücktheit erstiegen. G. verschloß sich anfänglich gegen diese Art Mystik und höhnte auch gelegentlich über dieselbe, und doch sollte er bald selbst derselben gänzlich verfallen. An sich war bei ihm der Schritt dazu nicht schwer und in seiner Natur begründet, denn von Anfang an bewegte er sich in einem Mysticismus eigenthümlicher Art; der Teufel etc. spielte stets eine Rolle in seinen Schriften; je mehr er sich der Kirche auch innerlich zuwandte, desto mehr mußte ihm auch die von ihr stets anerkannte heilige und unheilige Mystik ein Element seines Glaubens werden. Er bedurfte nur noch einer Art Vertiefung des künftigen Systems, wie sie seinem Geiste entsprach, und diese fand er in der nunmehr aufkommenden Günther’schen Philosophie. Sie wurde, wie sich in seiner Einleitung zu Sepp’s Leben Jesu zeigt, die Ergänzung seiner ohnehin immer festgehaltenen naturphilosophischen und mythologischen Anschauung von der Religion. Die Günther’sche Theorie vom Sündenfall und der Erbsünde wurde für G. ein Cardinalpunkt, um den sich sein Denken bewegte und durch sie wußte er die heilige und unheilige Mystik begründet. Dies theoretisch und historisch auszuführen und nachzuweisen war sein umfassendes Buch „Die christliche Mystik“, 4 Bde., 1836–42, bestimmt. Damit war jede freundlichere Verbindung mit den früheren Freunden abgeschnitten; er erschien ihnen als ein „Dunkelmann“, während er zugleich auch bei vielen Katholiken ein Kopfschütteln verursachte. In Rom sollte die Mystik sogar auf den Index verbotener Bücher gesetzt werden und konnte nur auf Anrufen Görres’ durch die Dazwischenkunft König Ludwig I. vor diesem Schicksale bewahrt werden; doch wurde sie insofern später indirect censurirt, als Günther’s Theorie von dem Menschen, die auch G. acceptirt hatte, [388] verdammt wurde. Eine förmliche Teufelsmanie brach unter den Professoren der Münchener Universität und im Volke aus: Ringseis gründete bekanntlich auf die nämliche Erbsünden- und Teufelstheorie sein medicinisches System: die Krankheit ist Folge der Sünde, also besteht die wahre Heilkunde darin, die Sünde erst zu beseitigen, die andere Thätigkeit der Heilkunde aber ist nur secundär. Sofort sieht G. darin eine Umwälzung in der Medicin und das allein wahre System derselben; dieses darzustellen war zur Wendung noch nothwendig, nachdem in Kirche, Staat und Schule schon eine gleiche vorangegangen (Hist.-pol. Bl. VIII, 87 ff.). Zu Gunsten Görres’ kann jedoch außer seiner persönlichen Veranlagung noch das gesagt werden, daß er in der wissenschaftlichen Kritik schwach und in seinen späteren Jahren überhaupt äußerst leichtgläubig geworden war. Behauptete er doch allen Ernstes, daß der Teufel ihm zum Verdrusse ein verlegtes Manuscript beseitigt habe! Es wäre an Anderen gewesen, ihn von diesem Wege zurückzuhalten. Uebrigens bewahrten ihm dieser mystische Zug und seine Beschäftigung mit den Mystikern des Mittelalters, Franz v. Assisi (Der heilige Franz v. Assisi, ein Troubadour, 1826), Tauler und Suso, auch gegenüber der Kirche und den Päpsten die jenen Mystikern eigene Freimüthigkeit und Unabhängigkeit, welche ohnehin zu Görres’ Natur gehörte. In der langen Vorrede zu Diepenbrock’s Ausgabe des Suso (1829) spricht er mit einer solchen Offenheit und Herbe über die Gebrechen der Kirche und die Fehler der Päpste, daß sie jetzt um so mehr überraschen muß, als nunmehr eine solche Sprache in der römischen Kirche geradezu verpönt ist. Dieser Zug findet sich aber auch in jenen Schriften, welche durch die sogenannte Kölner Irrung veranlaßt wurden. Die damalige Kirchenpolitik Preußens und das Verhalten gegen Droste-Vischering wird heute von Niemandem mehr in Allem gebilligt: jene war ein Mißgriff und dieses als Polizeimaßregelung gehässig. Nochmals erhob G. mit jugendlicher Kraft seine Stimme und sie fand wiederum einen mächtigen Wiederhall: vier Auflagen erschienen in weniger als einem Jahre von seinem „Athanasius“, 1837. Seinen Gegnern antwortete er in „Die Triarier, H. Leo, P. Marheinecke und K. Bruno“, 1838; endlich erschien noch „Kirche und Staat nach Ablauf der Kölner Irrung“, 1842. Gerade in dieser ist er freimüthig wie je und seine alten Gedanken kehren immer wieder; ja, er adoptirt sogar (S. 109) den Gedanken Möhler’s: „Wenn der Papst seine Schuldigkeit nicht thut, so derivirt seine Obliegenheit an die Bischöfe; versäumen diese ihre Pflicht, dann geht die Aufgabe an den unteren Clerus über, und wenn der Clerus seine Mission nicht erfüllt, ist die Sache an den Laien.“ Gegenüber dem Protestantismus ist G. freilich schonungslos: er wirft ihm nicht blos „Anarchie“ vor, sondern auch sein feindseliges Verfahren gegen den Katholicismus, der endlich, seit langem als todt betrachtet, wieder erwacht sei und eine Macht dastehe; aber er mahnt doch nur zur gegenseitigen Verträglichkeit, denn in der bisherigen Befeindung könne es nicht fortgehen. Es ist gewissermaßen sein letztes Wort in dieser Beziehung: „Wir Alle, Katholische und Protestantische, haben in unseren Vätern gesündigt und weben fort an der Webe menschlicher Irrsal, so oder anders; Keiner hat das Recht sich in Hoffart über den Anderen hinauszusetzen, und Gott duldet es an Keinem, am wenigsten bei denen, die sich seine Freunde nennen.“ Das Weitere wird die künftige Geschichte offenbaren; „die Gegenwart aber gebietet peremtorisch: daß wir miteinander uns vertragen. Das kann aber schlechterdings auf dem alten Wege, auf dem ihr seither die Dinge getrieben, nicht mit Erfolg geschehen.“ Die Stellung ist klar gezeichnet; sie sollte in den von ihm gegründeten „Historisch-politischen Blättern“ ein dauerndes Organ erhalten. G. war ein viel und gern gehörter Lehrer (Augsb. Allg. Ztg. 1876, Beil. 41), aber sein Vortrag war eigenartig wie seine Persönlichkeit, wenn man so sagen darf, theosophisch. Ueber [389] die Art seiner Geschichtsbehandlung geben noch die Schriften Aufschluß: „Ueber die Grundlagen, Gliederung und Zeitfolge der Weltgeschichte“, 1830; „Die Japhetiden und ihre gemeinsame Heimath Armenien“, 1844; „Die drei Grundwurzeln des celtischen Stammes und ihre Einwanderung“, 1845. Nachdem er noch „Die Wallfahrt nach Trier“ 1845 geschrieben und darin, ohne Rücksicht auf die Aechtheit oder Unächtheit des „heiligen Rocks“, das Recht der Katholiken vertheidigt hatte als „ein großes vor dem Angesicht aller Völker von mehr als einer Million freier Menschen abgelegtes Zeugniß für ihren lebendigen Glauben an Christus, den Sohn Gottes“, schloß er mit dem „Spiegel der Zeit, Gesicht des Sehers“, 1848, seine Thätigkeit und sein Leben (29. Januar). Jedenfalls war G. ein merkwürdiger Mann. Zweimal war er mächtig: das erste Mal ein Sprecher der Nation gegen das Franzosenthum und die darauffolgende Reaction, und diese Thätigkeit wird von der Nation unvergessen bleiben; das zweite Mal trat er nur als Sprecher der katholischen Deutschen auf, aber sein Wort hatte eine gleiche Erhebung zur Folge wie das erste Mal; die Katholiken fingen an sich als eine Macht zu fühlen. Die schon längst vor und neben G. bestehende römische Partei pflückte die Früchte, obwol G. keine Faser von ihrem Wesen an sich hatte. Jetzt nennt sich seit der Säcularfeier seiner Geburt (1876) ein römisch-katholischer Verein „Görres-Verein“ oder „Akademie“. Al. Denk wollte ihn für die Altkatholiken vindiciren und sein Schüler Sepp ebenfalls die Figur seines Lehrers jener Partei entreißen. Lassen wir den Todten ruhen: er war nicht, was jene aus ihm machen wollen; was er wäre, wenn er noch lebte, wissen wir nicht. Seine Schriften sind bis auf einige kleinere und unbedeutendere schon genannt und bedürfen keiner wiederholten Aufzählung.

Biographien über ihn existiren eine ganze Reihe, von Haneberg, Sepp, G. Görres, Heinrich, Lasaulx, Brühl, Galland, Denk und nochmals Sepp etc.
Friedrich.