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ADB:Niebuhr, Barthold Georg

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Artikel „Niebuhr, Barthold Georg“ von Heinrich Nissen in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 646–661, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Niebuhr,_Barthold_Georg&oldid=- (Version vom 15. Oktober 2024, 16:27 Uhr UTC)
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Band 23 (1886), S. 646–661 (Quelle).
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Niebuhr: Barthold Georg N., ausgezeichneter Staatsmann, Geschichtschreiber und Alterthumsforscher, Begründer der kritischen Methode der neueren Geschichtschreibung, durch seine Römische Geschichte den Gang der Alterthumsforschung, mittelbar die historische Wissenschaft überhaupt bestimmend. Er ward am 27. August 1776 zu Kopenhagen geboren, wo sein Vater der berühmte Reisende Carsten N. nach der Rückkehr aus dem Orient als Ingenieurhauptmann mit der Bearbeitung seiner Arabischen Reise beschäftigt lebte. Die Mutter, eine Tochter des verstorbenen Leibmedicus Blumenberg aus Thüringen, war zwar deutscher Abkunft aber in Kopenhagen erzogen. Außer dem Sohn entsproß der Ehe noch eine zwei Jahr ältere Tochter. Nach dem Vater, der „sein ganzes Lebelang ein ächter Bauer blieb“, war Barthold nicht geartet, vielmehr ein Ebenbild der zarten reizbaren Mutter; wie er selbst sagt: „ich habe die ganze Heftigkeit und Reizbarkeit meines Naturells mit den Gesichtszügen von meiner Mutter geerbt“. Im Sommer 1778, nachdem Carsten aus dem Militärdienst ausgeschieden und zum Landschreiber (oberster königl. Hebungsbeamter) der Landschaft Süderditmarschen ernannt worden war, siedelte die Familie nach Meldorf über. In reizloser Gegend an der Grenze von Geest und Marsch gelegen, war die alte Hauptstadt der freiheitsliebenden Ditmarsen damals ganz herunter gekommen, ein stiller, vom Weltverkehr abgeschiedener, zur Winterzeit schwer zugänglicher Ackerbauflecken. Der Vater fühlte sich in der seiner hadelnschen Heimath entsprechenden Natur unter den friesischen Stammesgenossen wohl; Mutter [647] und Sohn hatten viel vom Marschfieber zu leiden. Die Aengstlichkeit der Mutter verzärtelte den Sohn und verhinderte, daß seiner geistigen Frühreife durch Ausbildung des Körpers das nöthige Gegengewicht geboten worden wäre. Selbst Autodidakt, nahm der Vater den Unterricht in die Hand, lehrte ihn Geographie, Geschichte, Englisch, Französisch, Latein, Mathematik, fing auch mit Arabisch an. Dann wurde hauptsächlich für die alten Sprachen ein Lehrer der dortigen Gelehrten Schule zu Privatstunden herangezogen, aber leider eilte der neunjährige Knabe dem Lehrer an Fähigkeiten und Kenntnissen voraus. Ostern 1789 wurde er in die Prima des Gymnasiums aufgenommen, die er 1½ Jahr besuchte. Die nächsten 3½ Jahre gab ihm der wackere Rector Jäger täglich eine Stunde griechischen und lateinischen Unterricht allein. So blieb der Knabe wesentlich auf sich selbst angewiesen und man ließ ihn ruhig gewähren. Wie er in der Widmung des Fronto (1816) ausspricht, verdankte er Jäger seine philologische Schulung. Auch J. H. Voß, der jeden Sommer seinen Schwager Boie zu besuchen pflegte, hat die Richtung Niebuhr’s zum Alterthum mächtig gefördert. Boie, seit 1781 Landvogt (Landrath) in Meldorf und den vertrautesten Verkehr mit dem Niebuhr’schen Hause unterhaltend, hat den Sinn des Knaben für Litteratur geweckt; der Genosse des Hainbundes und Herausgeber des Deutschen Museums trug den Hauch des Schönen in die schlichte Prosa dieser einförmigen Welt hinein. Aber wahrer Lehrmeister blieb doch der Vater. Zwar nicht den Gleichmuth, doch das Beste was er geben konnte, die unbestechliche Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit seines Wesens hat er dem Sohn eingeimpft. Er macht den Knaben zum Vertrauten seiner orientalischen Studien, zum Gehilfen seiner amtlichen Geschäfte, nimmt ihn mit auf seinen Besuchen bei den Verwandten in Hadeln, öffnet ihm das Auge für die wirkliche Welt. In jenen Marschbauern ist der alte Friesenstolz und Freiheitsdrang lebendig, in ihrer Selbstverwaltung haben sich noch zahlreiche Ueberreste der alten republikanischen Verfassung erhalten. Die Schemen römischer Vorzeit, welche Barthold späterhin von den Todten auferweckte, hat er mit dem Blut seiner Heimath genährt. Mit dem Vater theilt er die eifrige Beschäftigung mit Geographie und Statistik, das rege Interesse an den politischen Tagesereignissen, die conservative Gesinnung, die Vorliebe für das stammverwandte England, die Abneigung gegen Frankreich, den Abscheu gegen die Revolution. Aber wo jener breit und fest auf dem Boden der Wirklichkeit stehen bleibt, flüchtet die unersättliche Phantasie des Knaben in eine selbstgeschaffene Traumwelt, saugt aus einer maß- und ziellosen Lectüre immer neuen Stoff und auch das Alterthum das er mit Leidenschaft studiert, dient ihm jene Traumwelt reicher zu bevölkern und glänzender zu beleben. „Ein kleines Wunder von Kenntnissen und an Reife des Verstandes“ nennt Boie den sechzehnjährigen N. Er besaß ein staunenswerthes Gedächtniß, das was er einmal gesehen, gehört, gelesen, fürs Leben festhielt. Zu seiner außergewöhnlichen Kenntniß von Sprachen, deren er nach und nach an zwanzig beherrschen lernte, war schon damals der Grund gelegt. N. hat später mit Wehmuth auf seine Kindheit zurück geblickt. Eine Kindheit in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes hat er allerdings nicht gehabt; dafür bewahrte er bis ins Alter kindliche Sinnesart.

Barthold wollte Philolog werden. Carsten erblickte in dem Sohn anfänglich den berufenen Fortsetzer seines Lebenswerkes, einen Reisenden und Entdecker im Orient: der Mutter Zärtlichkeit hintertrieb den Plan. Mit größerer Zähigkeit hielt er an der diplomatischen Laufbahn für den Sohn fest, als der geeignetsten, um Europa nach allen Seiten hin kennen zu lernen. Der erste Schritt in dieser Richtung schlug freilich alsbald fehl. Er schickte (Juni 1793) Barthold zu dem befreundeten Professor Büsch in Hamburg (Bd. III S. 642), dessen Haus eine von Fremden viel besuchte Handelsakademie enthielt und zugleich den geistigen Mittelpunkt [648] der Stadt abgab. Im Verkehr mit munteren Altersgenossen, im gesellschaftlichen Treiben wurde der einsiedlerische Jüngling von heftigem Heimweh befallen und fand allein bei dem ehrwürdigen Klopstock Trost und Erbauung: ungern gab der Vater seinem ungestümen Drängen nach und holte ihn (September 1793) wieder heim. – Besser ging es, als Barthold Ostern 1794 die Universität Kiel bezog. In dem Hause des alten Hensler, Professors der Medicin (Bd. XII S. 8), fand er den Anhalt, den seine weiche liebebedürftige Seele brauchte. Mit der früh verwittweten Schwiegertochter Dora Hensler geb. Behrens (geb. 1770) bahnte er den sein ganzes Leben dauernden Seelenbund an, dem eine ununterbrochene Reihe von Briefen, die wichtigste Quelle für Niebuhr’s Lebensgeschichte entsprang. Auch zu dem Historiker Hegewisch, dem Philosophen Reinhold, dem Juristen Cramer trat er in anregende Beziehungen. Das Vorrecht akademischer Freiheit, die überschäumende Jugendfreude war für ihn nicht vorhanden. Er suchte und fand den Umgang ernst strebender Genossen wie z. B. Thibaut, die trotz höheren Alters seine Ueberlegenheit willig anerkannten. Mit dem Eutiner Kreis (Voß, Stollberg, Fr. H. Jacobi,) unterhielt er regen Verkehr, hegte namentlich für Jacobi schwärmerische Verehrung, für Voß tiefgefühlte Dankbarkeit. Mit dem elf Jahr älteren Grafen Adam Moltke (Bd. XXII S. 156) verband ihn innige Freundschaft. Allen hat er Zeitlebens Treue bewahrt. Die Vorlesungen aus den verschiedensten Gebieten (Jurisprudenz, Naturwissenschaft, Philosophie, Geschichte) übten geringen Einfluß, den stärksten die philosophischen, welche N. zum eindringenden Studium Kant’s führten. Indessen hat ihn die Philosophie stets mehr nach ihrer praktischen Bedeutung für die Sittlichkeit als nach ihrer speculativen Seite hin angezogen. Seine geistige Selbständigkeit machte Fortschritte; er schreibt am 16. Novbr. 1794 „wenn mein Name genannt werden sollte, wird man mich als Geschichtschreiber und politischen Schriftsteller, als Alterthumsforscher und Philologen kennen“. Zwei glückliche Jahre verflossen in Kiel, als (Januar 1796) vom dänischen Finanzminister Grafen Schimmelmann der Antrag in dessen Dienste als Privatsecretär zu treten, einlief. Der Wunsch des Vaters entschied die Annahme.

Hauptstadt der ungetheilten dänischen Monarchie und Welthafen stand Kopenhagen damals in voller Blüthe. Das Haus, in welches N. aufgenommen wurde, bildete den Sammelplatz aller geistigen Interessen. Er wurde rasch des hochsinnigen Grafen erklärter Liebling und unbedingten Vertrauens gewürdigt. Aber den Anforderungen einer zerstreuenden Geselligkeit wußte der seine geistige und sittliche Förderung mit Selbstquälerei verfolgende Jüngling nicht gerecht zu werden. Nach reichlich einem Jahr (März 1796 bis Mai 1797) schied er aus dieser Stellung und versah vorläufig an der königlichen Bibliothek Secretärdienste. Die verschiedensten Zukunftspläne tauchten auf: Schimmelmann, dessen Wohlwollen ungemindert bleibt, will ihn im diplomatischen Dienst in Paris oder Konstantinopel, als Leiter eines philologischen Seminars in Kopenhagen, als Professor in Kiel unterbringen. Der Unsicherheit wurde durch Niebuhr’s Verlobung in Kiel (30. Septbr. 1797) mit Amalie Behrens (geb. am 20. Juni 1778) der Schwester seiner Freundin Dora, ein Ende gemacht: er hatte sie schon früher im Hause ihres Vaters, des inzwischen verstorbenen Landvogts von Norderditmarschen, zu Heide kennen gelernt. Die Gründung eines eigenen Herdes war nun als nächstes erstrebenswerthes Ziel gesteckt, und da sein Gönner ihm die Aemter eines Assessors im Ostindischen Bureau des Commerzcollegiums sowie eines beständigen Secretärs für die Barbareskenangelegenheiten in Aussicht stellte, entschloß sich N. schweren Herzens, auf die gelehrte Laufbahn zu verzichten. Zuvor jedoch sollte nach dem Wunsch des Vaters zur weiteren Ausbildung ein längerer Aufenthalt in England genommen werden. So verließ er [649] vorläufig Kopenhagen (April 1798) und schiffte sich nach zweimonatlicher Rast bei den Seinen in Cuxhaven ein (27. Juni), wohin der Vater das Geleit gegeben hatte. Die Reise übte auf die Festigung von Niebuhr’s Charakter und die Entwickelung seiner Fähigkeiten den heilsamsten Einfluß aus. Aus der empfindsamen Gefühlsschwärmerei in der er bisher geschwelgt, sah sich der verzogene Jüngling auf eigene Füße gestellt, von der gesunden Luft eines praktisch denkenden und handelnden Volkes umweht. Das hohe Ansehen, dessen der Vater in England genoß, öffnete ihm den gastlichen Zutritt zu einer Menge hervorragender Männer. Er verweilte drei Monate (12. Juli bis 22. October) in London, wo er mit dem dänischen Geschäftsträger Schönborn, einem älteren und bedeutenden Mann, Freundschaft schloß, in Edinburg ein ganzes Jahr (27. Octbr. 1798 bis 7. Octbr. 1799). Hier hörte er Vorlesungen über Chemie, Physik, Mathematik, Agricultur, und erwarb jene tiefe umfassende Kenntniß der englischen Volkswirthschaft, welche in späteren Jahren englische Besucher seines Hauses geradezu verblüffte. Und wenn er auch für Gefühlsergüsse weder Ohr noch Verständniß fand, lernte er doch die nüchternen Menschen Schottlands achten und lieben. – Den Winter nach der Rückkehr (Anfang November 1799) verlebte N. in Holstein, da die ungewöhnliche Kälte die Verbindung mit Kopenhagen unterbrach. Seine Anstellung hing von seiner persönlichen Anwesenheit ab und verzögerte sich deshalb bis Ende April 1800. Nunmehr konnte N. seine Braut heimführen (22. Mai) und die oben bezeichneten Aemter am 1. Juli antreten.

Die Erwartungen, welche man in seine Tüchtigkeit gesetzt hatte, wurden glänzend gerechtfertigt. Mit spielender Leichtigkeit arbeitete er sich in die Geschäfte ein. Nach einer im Sommer 1803 nach Hamburg, Leipzig, Frankfurt in Finanzangelegenheiten unternommenen Reise wurde er (Jan. 1804) erster Director der Bank, zugleich Director des Ostindischen Bureaus und Mitglied der permanenten Commission für die Barbareskenangelegenheiten. Die Einsicht und Rechtlichkeit seiner Geschäftsleitung hat ihm bei seinen Beamten wie bei der Kaufmannschaft ein gutes Andenken hinterlassen. „Rechnungen sind meine Beschäftigung – schreibt er an Moltke – Kaufleute, Juden, Mäkler mein Umgang. Alcibiades hatte nicht Unrecht, daß man auch unter Thraciern und Persern in ihrer Art sich hervorthun müsse (wenn man unter ihnen leben will oder muß, setze ich hinzu, denn freilich ist es besser wegzubleiben) und so ist es mein Ehrgeiz, mit den Juden in die Wette Vortheile und Pfiffe zu berechnen, und unseren Kaufleuten voraus. Du solltest nicht glauben, mit welcher Achtung die Juden mich betrachten und es nur nicht begreifen können, daß mir am Geld für mich nichts liegt. Ich bin aber dies Leben herzlich satt.“ Im stillen Zusammenleben mit der geliebten Frau fand er den Lohn für sein Mühen und die innere Befriedigung, welche der Beruf versagte. – Aller Arbeitslast ungeachtet huldigte er nach wie vor weit ausgedehnten historischen Studien. Zuerst dachte er an eine Darstellung der griechischen Verfassungen: ein bereits auf der Universität gefaßter Plan. Dann trieb er eifrig Arabisch und drängte den Vater, ihm die Bearbeitung des unveröffentlichten Schlußbandes der Arabischen Reise in englischer Sprache zu gestatten. Als Probe dieser Studien liegt die (1846 gedruckte) theilweise Uebersetzung von El Wakedi’s Geschichte der Eroberung Asiens unter den ersten Kalifen nach einer Kopenhagener Handschrift vor. Aber da der Vater zauderte, wandte er sich der römischen Geschichte zu und begann eine Abhandlung über das römische Eigenthumsrecht und die Ackergesetze: ein Gegenstand, der schon in Kiel seine Aufmerksamkeit angelockt hatte und in der That den Schlüssel zum Verständniß der ganzen Entwickelung der Republik gibt. Eine Reihe anderer Abhandlungen aus dem nämlichen Gebiet sollte nachfolgen. – Allein der [650] Ruf des jungen Bankdirectors war inzwischen zum Freiherrn v. Stein gedrungen, der als preußischer Finanzminister im September 1805 mit der Oberleitung der Bank und Seehandlung betraut, nach einer kräftigen Hülfe aussah, um die eingerissenen Mißbräuche abzustellen. N. hatte damals Grund über dienstliche Zurücksetzung und drückende Belastung mit untergeordneten Arbeiten zu klagen, seine Regierung konnte mit den preußischen Anträgen nicht wetteifern. Nach schweren Kämpfen nahm er unter der Bedingung, zu keinem Geschäft berufen zu werden, welches Dänemark schädlich oder feindlich wäre, die Stelle als Mitdirector der Bank und bei der Seehandlung an, verließ im September Kopenhagen und langte am 8. October 1806 in Berlin an.

Zu den vielen ausgezeichneten Deutschen, welche an der Erhebung Preußens mitgewirkt haben, trat ein Holsteiner hinzu, dem die Weihe großer Zeiten seinen wahren Beruf künden sollte. Deutsch hatte N. seit je gefühlt und in glühendem Haß gegen den französischen Umsturz kurz vor der Schlacht bei Austerlitz die erste Philippische Rede des Demosthenes übersetzt, um alle Mächte Europa’s zum gemeinsamen Widerstand gegen den Erbfeind zu entflammen. Der 1807 erfolgende Anschluß Dänemarks an Napoleon würde seine Ueberzeugung auf eine harte Probe gestellt haben. N. hatte den preußischen Dienst nicht gesucht: eine schöne Fügung entriß ihn dem Sonderleben seiner Landsleute und brachte ihn in dasjenige Lager, welches die Zukunft der Nation umschloß. In Kopenhagen schrieb er dänisch, französisch, englisch, sein Stil trägt die Spuren davon – ein großer deutscher Schriftsteller konnte er nur in Deutschland werden. Beide Ehegatten waren schwacher Natur, hatten aber bereits bei der Beschießung Kopenhagens durch die englische Flotte (2. April 1801) bewiesen, daß ihre reizbaren Nerven wol durch das Nahen der Gefahr, nicht durch die Gefahr selbst erregt wurden. Jetzt wartete ihrer eine schwerere Prüfung. – Die Schlacht bei Jena fiel sechs Tage nach ihrer Ankunft in Berlin. Alsbald hatten sie mit den Kassen zu flüchten über Stettin, Danzig nach Königsberg und Memel. Das Unglück Preußens öffnete N. Herz und Auge für Preußens Größe. „Wenn Du dieses Volk kenntest, Du würdest es Deiner Liebe werth finden. Ich habe in unseren Tagen nirgends mehr so viel Kraft, Ernst, Treue und Gutmüthigkeit vereinigt zu finden erwartet. Mit einem großen Sinne geleitet, wäre dies Volk immer der ganzen Welt unbezwingbar geblieben: und wie sturmschnell auch die Fluth unser Land überschwemmt, noch jetzt drängte ein solcher Geist sie wieder zurück“ schreibt er am 22. October. Die Anstrengungen und Entbehrungen dieser Jahre haben N. und seine Frau wiederholt aufs Krankenlager geworfen, die Gesundheit der letzteren für immer untergraben. Was N. abhielt aus dem Schiffbruch mit so vielen anderen sich zu retten, nach der Heimath zurückzukehren, oder irgend einen der verschiedenen von auswärts ihm gemachten Anträge anzunehmen, war nicht der Kopf, sondern das Herz. Freiherr v. Stein besaß sein unbegrenztes Vertrauen, mit Schön und Nicolovius schloß er herzliche Freundschaft. Um so weniger konnte er den Freiherrn v. Hardenberg, seinen Chef seit April 1807, unbefangen würdigen. Für eine collegiale Behandlung der Geschäfte, wie Hardenberg, der ihn im Mai ins Hauptquartier nach Bartenstein berief, sie einführte, war Niebuhr’s Empfindlichkeit nicht geeignet und gegen die Eigenart des Chefs sträubte sich seine strenge Sittlichkeit. Als daher nach dem Rückzug der Russen über die Memel die ganze Verwaltung sich auflöste, reichte N. seine Entlassung ein, zog sie aber auf Hardenbergs dringende Vorstellungen wieder zurück und begleitete denselben mit der geflüchteten Kasse nach Riga (19. Juni). Während des Kriegslärms hatte er Zeit gefunden, die slavischen Sprachen sich anzueignen. Wie unschätzbar seine Kenntnisse den leitenden Männern erschienen, lehren die Worte, mit denen Hardenberg bei seinem Rücktritt ihn dem König in einem Privatschreiben [651] (7. September 1807) empfahl: „Der Geheime Rath Niebuhr, den ich näher kennen lernte, ist ein Mann von der seltensten und ausgebreitetsten Gelehrsamkeit, von sehr gründlicher und praktischer Kenntniß des Handels und der großen Geldparthien. Er gehört zu den feinsten und edelsten Menschen in jeder Beziehung. Schade, daß seine Gesundheit so schwach ist. Was er übernimmt, kann ihm mit vollem Vertrauen übergeben, Belohnungen müssen ihm aufgedrungen werden.“ Der Friede von Tilsit (9. Juli) veranlaßte N. von neuem um seine Entlassung zu bitten; dem Wunsch des Königs, er möge seine Dienste dem Staate vorläufig nicht entziehen und nach Memel kommen, gab er jedoch nach. Die Uebernahme der Geschäfte durch Stein (30. September) entschied sein Bleiben. Von diesem ward ihm der Auftrag überwiesen, eine Anleihe in Holland aufzunehmen. – Die Reise von Memel bis Berlin (23. November bis 17. Decbr.) mit einer leidenden Frau, auf schlechtesten Straßen, oft aus Quartiermangel die Nächte hindurch fahrend, sah N. als eine der sorgen- und kummervollsten Zeiten seines bisherigen Lebens an. In Berlin erfuhr er den Tod seiner Mutter. Ein längerer durch Geschäfte bedingter Aufenthalt in Hamburg (13. Januar bis 26. Februar 1808) gab Gelegenheit den Vater und die holsteinischen Freunde wieder zu sehen. Die Anleihe, deren Abschluß die französische Politik verzögerte, hielt N. über ein Jahr (März 1808 bis April 1809) in Amsterdam fest. Daß sie zuletzt gelang, ist ein rühmliches Zeugniß für das Geschick des Unterhändlers; denn trotz vielfacher Bemühungen hat Preußen in diesen Unglücksjahren keine zweite auswärtige Anleihe ins Werk setzen können. Die unfreiwillige Muße wurde zu gründlichem Studium des Landes verwandt: die Früchte desselben sind in den an den Vater und die Angehörigen gerichteten Circularbriefen (Nachgelassene Schriften S. 1–312) niedergelegt. – In völliger Ungewißheit über seine weitere Verwendung verbrachte er den Sommer in Holstein, wurde alsdann nach Königsberg beschieden und erhielt endlich (11. December) seine Ernennung zum Geheimen Staatsrath und Sectionschef für das Staatsschuldenwesen und die Geldinstitute. Am Weihnachtsabend kamen die beiden Ehegatten in Berlin an und nach viertehalbjähriger Irrfahrt zur vorläufigen Ruhe. N. meint (30. März 1808), sie hätten in der schweren Zeit viel Gunst vom Schicksal genossen: „in dem allen schöpfe ich Beruhigung für die Zukunft und Dank gegen Gott für meinen Lebensweg, welcher mich überhaupt vielleicht mehr erzogen hat als ich es ahne.“

Die preußischen Finanzen befanden sich in trostloser Lage, die Verwaltung in völliger Verwirrung, der Staat andauernd in höchster Gefahr. Stein wurde am 24. November 1808 entlassen, das Ministerium Altenstein folgte, am 4. Juni 1810 übernahm Hardenberg als Staatskanzler die Oberleitung der Geschäfte, die ihm bis zum Tode (26. November 1822) verblieb. Die erbitterten Kämpfe, welche seinem Eintritt vorausgingen, fanden an N. zunächst einen unbetheiligten Zuschauer. Hardenberg suchte ihn zu gewinnen und stellte ihm das Finanzministerium in Aussicht. So bereitwillig ein derartiges Anerbieten angenommen worden wäre, hätte Stein dasselbe gemacht, so wirkungslos blieb es gegenüber dem Mißtrauen, das N. gegen Hardenberg’s Charakter und der Mißachtung, die er gegen Hardenberg’s Umgebung hegte. In der Uebergangszeit, bis die Erlaubniß Napoleons zur Berufung des letzteren eintraf, kam es zum ersten Zusammenstoß. Ein ordnungswidriges Ansinnen um Mittheilung von Actenstücken wies N. schroff zurück und reichte dem König sein Entlassungsgesuch mit der Bitte ein, ihm die Professur der Geschichte an der neu gegründeten Universität Berlin zu übertragen (23. Mai). Hardenberg war ihn zu halten bemüht. Schließlich wurde N. von den übrigen Geschäften entbunden, dagegen mit einigen wichtigen Finanzsachen unter alleiniger Oberaufsicht des Staatskanzlers betraut [652] und zugleich zum königlichen Historiographen (an Joh. v. Müller’s Stelle) ernannt. Zu einem Gutachten über Hardenberg’s Finanzplan aufgefordert, unterwarf er denselben einer vernichtenden und durchaus gerechtfertigten Kritik (23. Juni), richtete aber seine Denkschrift nicht an den Vorgesetzten, sondern unmittelbar an den König. Dieser verwies ihn auf die Dienstordnung und versagte die nachgesuchte Audienz (15. Juli). Hardenberg wandte sich nunmehr an Schön und erfuhr die gleiche Zurückweisung. Gewiß war Hardenberg im Finanzfach reiner Dilettant und hat hier keine Lorbeeren geerntet, aber seine bezüglichen Entwürfe dienten ihm lediglich als Mittel, eine Stellung zu gewinnen. Der König bewährte seine oft erprobte Verständigkeit in dem Vertrauen, das er dem genialen Leichtsinn des Staatskanzlers schenkte. Daß N. dasselbe nicht theilte, läßt sich andererseits wohl begreifen. Um nach bestem Wissen und Gewissen die preußischen Finanzen zu ordnen, brauchte N. volle Unabhängigkeit, der Staatskanzler wollte und konnte auf die Gesammtleitung aller Staatsangelegenheiten nicht verzichten. Der Bruch war unheilbar. Indem also das Schicksal N. die Gelegenheit, seine praktischen Talente an einer Aufgabe großen Stils zu bethätigen, vorenthielt, gewährte es zum Ersatz seinen Jugendträumen die Erfüllung. – Die Akademie der Wissenschaften hatte ihn zum Mitglied erwählt (25. Januar 1810). Auf Spalding’s Anregung entschloß er sich bei Eröffnung der Universität zu Vorlesungen, als deren Gegenstand zuletzt römische Geschichte bestimmt wurde. Sie begannen am 26. October 1810 und wurden im Winter 1811–12 fortgesetzt. Mit gutem Grund hat die philosophische Facultät N. zu ihrem ersten Doctor creirt (2. Februar 1811); denn eine bedeutendere That ist von der jungen Hochschule überhaupt nicht ausgegangen. Für N. bezeichnet der Winter 1810–11 den Beginn eines neuen Lebens. Die Vorlesungen hatten unerwarteten Erfolg. Savigny, der ihnen beiwohnte, fühlte sich in die Zeiten des Alterthums versetzt, wo die Vorlesung neuer Werke die Stelle unserer gedruckten Bücher vertreten mußte, mit geringerem Umfang der Verbreitung aber mit einem wärmeren persönlichen Eindruck. Der freundschaftliche Umgang mit Spalding, Heindorf, Buttmann, Schleiermacher, Nicolovius und namentlich Savigny versetzte N. in eine ideale Welt. Wie er von den Genossen beurtheilt wurde, lehrt eine Aeußerung Schleiermacher’s (4. Juli 1812, Leben IV, 187): „der hiesige wissenschaftliche Kreis hat bedeutenden Zuwachs erhalten durch die Universität, aber den bedeutendsten durch einen Mann, der der Universität nicht angehört, sondern ursprünglich für Staatsgeschäfte berufen war, Niebuhr. Ich habe nie eine so bewundernswerthe Gelehrsamkeit gesehen und ein so vielseitiges und tiefes kritisches Talent und selten ein so schönes Gemüth. Ich würde auch hinzufügen: einen so großen Charakter, wenn er nicht unter den Einwirkungen eines schwächlichen Körpers stände.“ N. selbst schrieb 1826: „es war eine sehr schöne Zeit, die Zeit der Eröffnung der Universität Berlin – und die Begeisterung und Seligkeit, worin die Monden verflossen, da als Vorlesungen und Ausarbeitung entstand, was die ersten Bände dieser Geschichte umfassen – diese genossen und 1813 erlebt zu haben, das allein schon macht das Leben eines Mannes bei manchen trüben Erfahrungen zu einem glücklichen.“ Unter solchen Umständen entstand der großartige Plan, die römische Geschichte bis zum Anschluß an Gibbon zu schreiben. Der erste Baud, die Königszeit enthaltend, erschien 1811, der zweite die ältere Republik bis zu den Licinischen Gesetzen 1812. Dann hat der Plan über ein Jahrzehnt geruht und ist erst in Bonn wieder aufgenommen worden.

Niebuhr’s römische Geschichte ist das wichtigste litterarische Denkmal, welches die Epoche der Freiheitskriege hervorgebracht hat. Sie leitet jene gewaltige historische Strömung ein, die das 19. Jahrhundert kennzeichnet im ausgesprochenen [653] Gegensatz zum Rationalismus des achtzehnten. Im regsten Gedankenaustausch mit N. stand Savigny, der Begründer der historischen Rechtsschule. Wahlverwandt sind die Forschungen J. Grimm’s auf dem Gebiet des deutschen Alterthums und Fr. Bopp’s auf dem Gebiet der vergleichenden Sprachforschung. In allen Fällen gilt es das Werden durch die mannichfachen Phasen der Umbildung hindurch zu verfolgen, wird das Volksleben in die Mitte der Betrachtung gerückt, welche bis dahin nur einzelne Individuen gekannt hatte. Von entscheidender Wichtigkeit war es, daß N. den Reichthum seines Geistes dem Römervolk zuwandte. Nach F. A. Wolf gab dasselbe keinen geeigneten Stoff philologischer Betrachtung ab; ihm galt die Geschichte lediglich als Dienstmagd für die Erklärung der Schriftsteller, die hiefür passenden Handbücher lieferte England. Der politische Verfall unserer Nation spiegelt sich in unserer damaligen Geschichtschreibung wieder: man nahm die Erzählungen der Vorgänger ganz einfach herüber, um daran philosophische Betrachtungen im Sinne der herrschenden Aufklärung anzuknüpfen. N. setzte das Thatsächliche in sein Recht ein, rückte den Staat in die Mitte der Darstellung, wählte hiefür ein Volk, dessen geistige Fähigkeiten in Politik aufgingen, dessen Bürger in Wissenschaft und Kunst keine originalen Schöpfungen erzeugten, aber den vollkommensten Staat und die größte Geschichte von der die Ueberlieferung meldet, ein Muster und Vorbild, an dem das staatlose Deutschland, das gleich dem alten Hellas sich in Litteratur und Philosophie verlor, die ersten Pflichten des Bürgerthums, gleichsam das politische ABC lernen konnte. Seit der Wiedergeburt des Alterthums war durch den Fleiß und Scharfsinn großer Gelehrter eine unschätzbare Masse von Wissen aufgehäuft worden, aber das geistige Band fehlte. N. schuf dies Band. Er lehrte die Vergangenheit von der Auffassung zufällig erhaltener Schriftwerke loslösen, mit dem Geist unserer Zeit durchdringen, sie anschaulich und klar machen als handle es sich um Begebenheiten der Gegenwart. Das Leben des Volkes ist ihm eine Einheit und entwickelt sich organisch nach bestimmten Gesetzen, welche die Vergleichung mit anderen Völkern an die Hand gibt. Dies neue Ideal der Geschichtschreibung hätte nun und nimmer dem Staub der Schule und Gelehrtenstube entwachsen können. Wenn N. oftmals über den Zwiespalt seines Lebens, die vereitelten Jugendwünsche klagt, so vergißt er, daß sein praktischer Beruf ihn zum Geschichtschreiber erzogen, seine Kenntniß der englischen und deutschen Verfassung ihm das Verständniß der römischen erschlossen hat. In dieser Hinsicht ist die ditmarsische Heimath sowie die Schriftstellerei J. Mösers von besonderem Einfluß gewesen. Zur Erfahrung und zum Wissen kam bei N. eine schöpferische Phantasie hinzu. Er besaß nicht nur einen seltenen Scharfsinn unter der Hülle des Falschen das Wahre zu entdecken, sondern dazu die prophetische Gabe, verborgene Dinge zu errathen. Schon als Knabe hatte er seine Umgebung durch die richtige Voraussage kommender Tagesereignisse in Erstaunen gesetzt. Auch der heutige Leser der z. B. auf die 1815 über Italien gethane Aeußerung stößt „auf eine oder die andere Art wird doch dieses Land im Laufe eines oder einiger Menschenalter zu einem Reich verbunden“, auf die Bemerkung 1829 „Ninive wird das Pompeji Mittelasiens werden, eine unermeßliche und noch unberührte Fundgrube für unsere Nachkommen, denen ein Champollion für die assyrische Schrift nicht fehlen wird, hoffentlich schon für unsere Kinder“ wird von seinem Seherblick nicht gering denken. Diese mächtige Divination, der so lange mühsam gezügelte Schaffenstrieb warf sich nunmehr auf die Vorzeit Roms und zauberte ein Bild mit ganz anderen Zügen hervor als die Welt seit 2000 Jahren geschaut hatte. N. nennt 1826 die Ausführung eine übereilte: „ich hatte das Ziel erreicht wie ein Nachtwandler der auf der Zinne schreitet.“ Und doch war der Wurf gelungen. Der historische Charakter der Alterthumswissenschaft [654] stand seitdem unerschütterlich fest; 1817 widmete Böckh seine Staatshaushaltung der Athener „dem scharfsinnigen und großherzigen Kenner des Alterthums B. G. N. zum Zeichen inniger Verehrung“, das bedeutendste Werk, welches die Forschung des 19. Jahrhunderts zum Verständniß des hellenischen Staatswesens hervorgebracht hat. Goethe war über die Tragweite von Niebuhr’s Verfahren sofort im Klaren: „möchten doch – schreibt er am 17. Dec. 1811 – alle ähnlichen Erscheinungen der Weltbegebenheiten auf diese Weise behandelt werden“, und am 17. Januar 1831 nach Niebuhr’s Tod: „so eines Mannes tiefer Sinn und emsige Weise ist eigentlich das was uns auferbaut. Die sämmtlichen Ackergesetze gehen mich eigentlich gar nichts an, aber die Art wie er sie aufklärt, wie er mir die complicirten Verhältnisse deutlich macht, das ist’s was mich fördert, was mir die Pflicht auferlegt in den Geschäften die ich übernehme auf gleiche gewissenhafte Weise zu verfahren.“ Die Zeitereignisse thaten im Uebrigen der augenblicklichen Wirkung der römischen Geschichte Eintrag, wie sie auch deren Fortsetzung unterbrachen.

Im Winter 1812–1813 las N. über römische Alterthümer. Schon vor dem Abzug der Franzosen aus Berlin fing er das Exerciren heimlich an, nach dem Abzug trieb er es in Gesellschaft von einigen zwanzig Männern in einem Garten: am 22. März hofft er in vier Wochen so gut eingeübt zu sein als irgend ein ausexercirter Rekrut. Er meldete sich zur Landwehr, richtete jedoch an den König ein Gesuch um die Erlaubniß in ein Linienregiment eintreten zu dürfen (9. April). Die holsteinischen Angehörigen trauten ihren Augen kaum, als sie lasen, mit welcher Begeisterung Mann und Frau in diesen Gedanken eingingen. Der König schlug die Bitte mit der Bemerkung ab, er werde ihm seinen Talenten angemessenere Aufträge geben. Inzwischen hatte N. mit höherer Genehmigung eine Zeitung den „Preußischen Correspondenten“ gegründet, von deren Redaction er indeß noch im April nach Dresden ins Hauptquartier abberufen wurde. – Der Auftrag mit England einen Allianz- und Subsidienvertrag, später einen Handelsvertrag zu vereinbaren wartete seiner. Inbetreff der Subsidien kam man am 14. Juni ins Reine, die ferneren Verhandlungen hielten N. den ganzen Sommer im Hauptquartier fest. Die Schlacht bei Bautzen erlebte er in nächster Nähe. Er bethätigte seine Theilnahme für die preußische Armee durch ansehnliche Geldopfer, trat auch zu mehreren der hervorragendsten Officiere z. B. Grolmann, Röder, späterhin Gneisenau in nähere Beziehung. „Es ist als ob Alles was unserer Armee angehörte während des Krieges, mir nahe verwandt wäre“ äußert er 1824. Nach Erledigung der übertragenen Geschäfte kehrte er im Spätherbst von Prag nach Berlin zurück. – Am 21. Februar 1814 bei hartem Frostwetter ging es nach Holland, um hier mit dem englischen Commissar über weitere Subsidien zu unterhandeln. Schwere Arbeitslast, Verdruß an dem hinterhaltigen Gebahren des Unterhändlers, zunehmende Kränklichkeit seiner Frau machten den Aufenthalt in Amsterdam sehr unerquicklich. Erst im Juni fand er Zeit zu einem Ausflug nach Brüssel und Antwerpen und konnte endlich Ausgang Juli nach Pyrmont aufbrechen, um einige Wochen der Erholung zu pflegen. Sodann besuchte N. zum letzten Mal seinen alten gelähmten und erblindeten Vater, der nach Erfüllung aller Lebenswünsche heiteren Sinnes auf den Tod wartete, und war am 31. October wieder in Berlin. – Diesen Winter begann er den Unterricht des Kronprinzen in Finanzkunde, der den Grund inniger Zuneigung zwischen beiden legte. Im Januar 1815 erschien die Flugschrift „Preußens Recht wider den sächsischen Hof“, nach Treitschke (D. G. I. 642) „wol überhaupt die vornehmste Leistung der deutschen Publicistik aus jenem Zeitraum, denn sie vereinigt Arndts edle Leidenschaft und rhetorischen Schwung mit dem Gedankenreichthum und der politischen Sachkenntniß von Friedrich Gentz. Wie [655] frei und kühn entwickelt der große Historiker zwei Kerngedanken unserer nationalen Politik, welche noch niemals früher mit solcher Klarheit ausgesprochen, seitdem allen edleren Deutschen in Fleisch und Blut gedrungen sind. Er zeigt, daß ein großes seiner Einheit bewußtes Volk den Abfall von der Sache der Nation auch dann als Felonie bestrafen darf, wenn der Verräther kein geschriebenes Recht verletzt hat. Alsdann sagt er mit der Sicherheit des Sehers voraus, daß die Tage der deutschen Kleinstaaterei gezählt sind: schwache Gemeinwesen die sich nicht durch eigene Kraft behaupten können, hören auf Staaten zu sein.“ – Am 26. April starb der Vater, am 20. Juni die Gattin. Sie war die unzertrennliche Genossin seiner Gedanken und Beschäftigungen gewesen, da die Kinderlosigkeit ihrer Ehe diese beiden Menschen ganz auf einander anwies. Die Mühsal der letzten neun Jahre hatte die Auflösung der zarten zur Schwindsucht veranlagten Frau beschleunigt. Sie trug ihm als letzten Herzenswunsch die Vollendung der römischen Geschichte auf. Mit ihrem Scheiden, äußert er 1824, „ging das bis dahin eine und zusammenhängende Leben meiner Jugend unter, und die Wurzeln womit es Nahrung gesogen hatte, wurden abgeschnitten.“ Bald nachher erhielt er den Auftrag als außerordentlicher Gesandter nach Rom zu gehen, um das Verhältniß der neu erworbenen katholischen Landestheile mit der Curie zu regeln. Seine Absendung verzögerte sich indeß fast ein Jahr lang. In der Zwischenzeit gab er die kürzlich gefundenen Fragmente des Fronto heraus und verfaßte mehrere politische und gelehrte Abhandlungen. Unter den ersteren verdient die ernste Zurückweisung der von Prof. Schmalz gegen die preußischen Patrioten erhobenen Verdächtigungen besonders erwähnt zu werden. – Die Ankunft seiner alten Freundin Dora Hensler, die sich zu dem Opfer verstanden hatte ihm nach Rom zu folgen, im April 1816 gab N. den Muth das Leben seines Vaters zu schreiben: ein an schlichter Einfalt und Größe in deutscher Sprache unübertroffenes Lebensbild. Die Hensler war von ihrer anmuthigen Nichte, der sie seit dem achten Lebensjahr Mutterstelle vertreten hatte, begleitet. Mit dieser verheirathete sich N. im Juni, worauf die Freundin nach Kiel zurückkehrte. Margarethe Lucie, Tochter des Professors der Theologie Hensler (geb. 7. Juli 1787) hat ihrem von jung auf gekannten und verehrten Gatten ein neues durch vier Kinder verschöntes Lebensglück erschlossen. Die fromme gebildete Frau brachte in die Ehe die gläubige Stimmung, die in Niebuhrs Elternhaus gefehlt hatte.

Am 22. Juli 1816 reiste das neuvermählte Paar ab, in Gesellschaft von Brandis (Bd. III S. 245) als Legationssecretär (anfänglich war Dahlmann für diesen Posten ausersehen). In der Kindheit hatte N. von codices rescripti geträumt: zu Verona in der Bibliothek des Domcapitels entdeckte er in einem solchen die Institutionen des Gaius, für die historische Rechtswissenschaft ein köstlicher Fund. In der Vaticana zu Rom gelang es ihm bald nach seiner Ankunft, noch einige Blätter von Cicero und Sallust aufzufinden; aber die Hoffnung, eine Periode der Entdeckung verlorner alter Schriftwerke möge sich erneuern wie einst in der Renaissance, wurde nicht erfüllt. Von Verona reiste er über Venedig, Bologna, Florenz, Perugia, Terni und langte am 7. October in Rom an. – Abgesehen von Meldorf seiner Heimath, hatte er bisher an keinem Orte so lange Zeit zugebracht. Mehr als sechs Jahre blieb er auf Rom und ein paar in der Nähe gelegene Herbstfrischen (Frascati, Genzano, Tivoli) beschränkt. Die Unsicherheit der Straßen, mehr noch Niebuhr’s Abneigung sich von den Seinen zu trennen verwehrte eine gründliche Durchforschung des Landes. Auch würde er das was er suchte, die Erinnerungen der alten Republik vergebens gesucht haben. Die Kaiserzeit der die meisten Ruinen angehören, stieß ihn ab. So freundlich er auch den jungen Nibby aufnahm, so redlich er sich für die Hinterlassenschaft Marini’s bemühte, gewann er doch zu den in Italien mit glänzendem Erfolg [656] betriebenen monumentalen Studien Epigraphik, Numismatik, Topographie kein persönliches Verhältniß. Am Meisten zur Topographie: die große von Bunsen und Platner ausgeführte Beschreibung Roms wurde von ihm durch Rathschläge und Beiträge unterstützt. – Jedes ernste Streben war seiner Hülfe und Zuneigung sicher: mit der ganzen Leidenschaft seines Herzens verwandte er sich für den genialen Leopardi, verehrte er den Papst Pius VII., den Staatsseeretär Consalvi und würdige Geistliche jedes Rangs. Aber es wurde ihm unendlich sauer, sich den südlichen Lebensformen anzugewöhnen. Klima, Natur, Menschen, alles meint er sei schlechter geworden seit jenen Tagen der Fabier und Scipionen die seine Seele erfüllten. Von dem künstlerischen Entzücken das Goethe auf Schritt und Tritt begleitete, wußte N. nichts. So sehr er die Kunst schätzte, genügte sie ihm zum täglichen Unterhalt so wenig wie Confect den Hungrigen sättigt. Land und Leute als bloße Staffage für ästhetischen Genuß zu betrachten widersprach seinem tiefernsten Sinn. Das ganze Elend des öffentlichen Lebens trat ihm grell vor die Augen. Der gewaltsame Umsturz, der allein Besserung schaffen konnte, war ihm ein Greuel: als die Oesterreicher 1821 gegen den neapolitanischen Aufstand zogen und die Erschöpfung ihrer Kriegscasse den Angriff zu verzögern drohte, trug N. kein Bedenken, seinen persönlichen Credit und auf eigene Verantwortung den Credit seines Staates einzusetzen, um die sofortige Aufnahme der Operationen zu ermöglichen. Er sah für die unglückliche Nation, über deren Zukunft er in Deutschland viel unbefangener geurtheilt, keine Rettung. Unter solchen Umständen blieb die römische Geschichte liegen: „kein Mensch – schreibt er an Jacobi – ist weniger ein sich aus sich selbst spinnendes Wesen wie ich, ohne Sonnenschein und milden Regen kommt aus mir nichts.“ Ja er denkt im Frühjahr 1818 daran „die eigentliche moralische und intellectuelle Geschichte der Deutschen seit dem 30jährigen Kriege darzustellen, das Räthselwort des Chaos worin wir jetzt versunken sind.“ – Seit dem Juni 1817 bewohnte N. den Palazzo Savelli, der in das Theater des Marcellus hineingebaut, auf den Schuttmassen hoch über dem Getümmel der Stadt emporragt. Hier lebte er am liebsten im Kreise der aufblühenden Kinder und weniger gleichgesinnter Freunde. Das inhaltsleere Treiben der großen Gesellschaft der er angehörte, wurde mit keiner besseren Laune ertragen als einstens im Schimmelmann’schen Hause. Den Namen Diplomat pflegte er scherzend a non legendo diplomata abzuleiten. Ein glänzendes Fest, das er zu Ehren der Anwesenheit Hardenbergs veranstaltete, ließ er durch die feierlichen Gesänge der sixtinischen Capelle verherrlichen. Die zur Verzweiflung bringende Dauer römischer Besuche entlockte ihm den Witz: „man sagt mit Unrecht von den Römern, es ginge ihnen kein wahres Wort aus dem Munde; sie sagen bei jedem Besuche immer wenigstens Eine Wahrheit, ihre Abschiedsformel adesso Le leverò l’incommodo.“ Es ist nicht zu verwundern, wenn die Standesgenossen über den Emporkömmling, die auf Unterhaltung bedachten Touristen über die Knauserei des Gesandten die Nase rümpften. Sie ahnten nicht wie offen diese Hand, wie mild und zart sie verschämter Not ihre Wohlthaten spendete: einen in Geldsachen feiner fühlenden Mann hat es nicht leicht gegeben. Der Ernst und die Sorgfalt mit der er die Geschäfte betrieb, nöthigten Achtung ab und flößten Vertrauen ein. Der alte Papst bezeugte ihm beim Abschied, nie ein unwahres Wort aus seinem Munde vernommen zu haben. In dieser Wahrhaftigkeit ruhte das Geheimniß seiner Erfolge. Der Proselytenmacherei unter den in Rom weilenden deutschen Protestanten wirkte er aus allen Kräften entgegen: ihm wird die Berufung eines deutschen Gesandtschaftspredigers und die Errichtung einer evangelischen Seelsorge (1818), ihm die Erhaltung des protestantischen Friedhofs an der Cestiuspyramide (1822) verdankt. In großem Sinne hat er den deutschen Künstlern seine Unterstützung zugewandt: Cornelius [657] dem er die erste Stelle unter ihnen anwies, bewahrte ihm Zeitlebens die innigste Dankbarkeit, der er durch die Widmung seiner Zeichnungen zu den Nibelungen öffentlichen Ausdruck lieh. – Die wichtigste Leistung der römischen Jahre betraf die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse. N., durch seine persönlichen Eindrücke getäuscht, unterschätzte die Stärke der Curie und drängte zum Abschluß. Die Regierung wollte den Ausgang der mit anderen Staaten schwebenden Verhandlungen abwarten, Hardenberg hielt die im Mai 1818 ausgearbeiteten Instructionen noch volle zwei Jahre zurück. Der lange Aufschub gereichte dem Gesandten zum Verdruß, der Sache zum Vortheil. Als die Instructionen endlich eintrafen, hat N. die Verhandlungen mit unübertrefflicher Festigkeit und Geschick geführt. Die Bulle de salute animarum (16. Juli 1821), welche den Umfang der preußischen Bisthümer und ihre Besetzung regelt, gab einer äußerst schwierigen Frage eine würdige, Staat und Kirche befriedigende Lösung. Dies ist wesentlich Niebuhr’s Verdienst. Der Staatskanzler ließ es sich freilich nicht nehmen, von Laibach aus unerwartet nach Rom zu reisen, um die Uebereinkunft formell abschließen (25. März) und den Ruhm des gelungenen Werkes allein in Anspruch nehmen zu können.

Im Lauf der Jahre hatte sich N. mit dem Aufenthalt in Rom ausgesöhnt. Der Verkehr mit seinen gelehrten Secretären, zuerst Brandis, später Bunsen, die Besuche von Reisenden wie Stein, dem er sehr nahe trat (1821), von Forschern wie I. Bekker, Pertz, Bluhme boten vielerlei Anregung. Der französische Gesandte in Neapel und frühere Minister Graf de Serre kam 1822 und beide Männer schlossen einen Freundschaftsbund, dessen Wärme an Jugendzeiten gemahnt. Nach de Serre’s Tode (1824) hegte N. die unerfüllt gebliebene Absicht, ihm ein litterarisches Denkmal zu stiften. Bei seiner Entfremdung von den deutschen Verhältnissen war N. geneigt nach Abschluß der Verhandlung auf dem römischen Posten zu verbleiben. Aber das Heimweh der Frau und die Rücksicht auf die Erziehung der Kinder bestimmten ihn, zunächst einen längeren Urlaub einzuholen. Nach einem einmonatlichen Besuch in Neapel bei de Serre wurde Mitte Mai 1823 bewegter Abschied von Rom genommen. Auf der Rückreise durchstöberte N. wiederum Bibliotheken und fand in St. Gallen acht rescribirte Blätter mit Fragmenten des Merobaudes, die er sofort drucken ließ. Dann ging es über Heidelberg, wo Voß und Thibaut besucht wurden, und Frankfurt nach Bonn, das wegen der neu gegründeten Universität, an der Brandis angestellt war, als vorläufiger Ruhesitz passend schien. – Der Rücktritt von den Geschäften ist N. recht schwer gefallen. Die innerhalb der Gelehrtenrepublik herrschende Gleichheit bereitete seinem empfindlichen Gemüth Kränkungen, die ein anderer nicht beachtet hätte. Aber Widerspruch gegen seine Sätze konnte er nicht vertragen und verwickelte sich dadurch in unnöthige litterarische Fehden. Erst im Juni 1824 erwirkte er persönlich in Berlin seine Enthebung von der römischen Gesandtschaft. Den Winter 1824–25 verbrachte er als Mitglied des Staatsrathes abermals dort. Vor allem bemühte sich der Kronprinz, ihn dauernd in der Hauptstadt oder Potsdam zu fesseln. Jedoch N. entschied sich für Bonn: die kleine Stadt und die Anmuth rheinischen Lebens hatten es ihm rasch angethan. – Im Sommer 1825 begann er in freier Verbindung mit der Universität – als Privatdocent wie er sich gelegentlich nannte – Vorlesungen, die von Studirenden aller Facultäten starken Zuspruch fanden. Wie Niebuhr’s Geist und sittlicher Ernst die Eröffnung der Universität Berlin geadelt, so hat derselbe auf die rheinische Gründung Friedrich Wilhelm’s III. noch nachhaltiger eingewirkt. Die Vorlesungen betrafen griechische Geschichte seit der Schlacht bei Chaeronea, römische Alterthümer, alte Geschichte, römische Geschichte, alte Länder- und Völkerkunde, Geschichte der Revolutionszeit. Der völlig freie Vortrag zog die [658] Jugend durch seine Unmittelbarkeit an, manche Zuhörer denken in hohem Alter dankerfüllt an die sittliche Kraft und Hoheit, die demselben entströmte, zurück. N. stiftete mit Brandis zusammen das „Rheinische Museum“ (1827), eine noch blühende philologische Zeitschrift; stiftete ferner die große Sammlung der Byzantinischen Geschichtschreiber, welche er selbst mit der Ausgabe des Agathias (1828) eröffnete. Seine Hauptthätigkeit war der Umarbeitung der römischen Geschichte zugewandt, von der kurz nacheinander zwei neue Auflagen sowie englische und französische Uebersetzungen erschienen. – N. stand auf der Höhe europäischen Ruhms. Schon die Zeitgenossen erkannten deutlich, daß mit ihm eine neue Epoche der Geschichtschreibung anhebe. Die von ihm mit genialer Sicherheit geübte Kritik der Ueberlieferung wurde alsbald für Mittelalter und Neuzeit fruchtbar gemacht. Die reiche Forschung, welche an die von Stein begründete Sammlung von Deutschlands Geschichtsquellen anschließt, bewegt sich in der Ausführung Niebuhr’scher Ideen. Das Haupt dieser Schule, Ranke, bekannte als Greis, neben Thucydides und Fichte habe N. seine Bildung am stärksten beeinflußt, Lord Macaulay nennt in der Einleitung zu den altrömischen Balladen N. a man who would have been the first writer of this time, if his talent for communicating truths had borne any proportion to his talent for investigating them. Die Einschränkung, welche der unübertroffene Meister historischer Darstellung beifügt, ist wol begründet. Niebuhr’s Sprache ist wuchtig, auf nachdenkende Leser berechnet, von der spiegelhellen Klarheit englischer und französischer Muster entfernt. Erzählung und Forschung sind nicht geschieden, jene wird vielfach von dieser überwuchert. Es hat eben lange gedauert, bis die deutschen Gelehrten lernten die Ergebnisse ihrer Forschung in gemeinverständlicher geschmackvoller Form vorzutragen. Immerhin möchte man die Eigenart und den Adel von Niebuhr’s Stil mit moderner Glätte nicht vertauschen. – Seine Römische Geschichte rief auf dem Gebiet der Alterthumsforschung eine noch immer nachwirkende Bewegung hervor. Früher hatte man die Ueberlieferung der älteren Zeit, die Livius wiedergibt, im Wesentlichen als glaubwürdig angenommen. Dann war die Skepsis des 18. Jahrhunderts gekommen und hatte den Glauben zerstört. Die positive Ergänzung dieser Richtung wurde durch N. gegeben, der die Kritik an die Stelle der Skepsis setzte: er wollte nicht zerstören, sondern die Tünche, mit welcher ein altes Bild verdeckt war, sorgsam abheben, damit von neuem Herz und Sinn an seiner Schönheit sich erfreuen möchte. N. war von der Wahrhaftigkeit seiner Darstellung aufs Innerste überzeugt: er wollte sein Leben darauf verwetten und meint, wenn die alten Römer aus ihren Gräbern auferstehen könnten, würden sie als seine Eideshelfer Zeugniß ablegen, daß er ihre Geschichte wahr aufgefaßt, richtiger als Livius und Cicero. Die verschiedensten Angriffe sind gegen diese neue Autorität gerichtet worden: von Seiten der Buchstabengläubigen, welche in N. einen Unheilstifter erblickten, von Seiten der Skepsis im Sinne des vorigen Jahrhunderts, endlich die erfolgreichsten auf dem Felde der Verfassungsgeschichte. Jedoch ist seine Lehre ein Menschenalter hindurch in allgemein anerkannter Geltung geblieben: das vortreffliche 1853 erschienene Geschichtswerk von Schwegler schließt sich ihr in allen Hauptpunkten an. In den nachfolgenden Jahrzehnten wandte sich die Forschung vorzugsweise den von N. vernachlässigten späteren Epochen Roms zu. Der nationale Charakter der Freiheitskriege findet in Niebuhr’s Abneigung gegen Alexander und die Cäsaren seinen Ausdruck. Während N. genetisch die Institutionen Roms von Anfang an zu entwickeln sucht, führt der sichere Weg umgekehrt von den beglaubigten Zeiten zu der Vorzeit hinauf. Durch rastlose Arbeit und glückliche Entdeckungen hat sich seitdem der Bestand des Materials vermehrt. Im Großen und Ganzen ist Niebuhr’s Darstellung heutigen Tages überholt, in vielen Einzelheiten, namentlich in der Geschichte der älteren Republik, noch immer mustergültig. Der innere [659] Werth des Buches hängt nicht von der Richtigkeit seiner einzelnen Sätze ab: als Denkmal einer großen Zeit und eines großen Mannes zählt es zu den classischen Werken unserer Litteratur.

In Bonn verlebte N. glückliche Jahre: unter den Professoren der Universität stand er mit Brandis, Näke, Hollweg, Nitzsch, Bleek, Arndt, Welcker in anregendem Verkehr; Freunde wie Stein, Twesten, Pertz, Dahlmann kamen zum Besuch; kleinere Reisen erfrischten ihn. Im Sommer 1828 sah er die Stätten seiner Jugendjahre Kiel und Kopenhagen wieder. Er kaufte Garten und Weinberg sowie ein stattliches Haus am Kölnthor. Freilich war seine Natur zum Genuß des Augenblicks, zur heiteren Muße nicht veranlagt. Der geistreiche Kronprinz, der von Niebuhr’s Gedanken- und Wissensfülle bezaubert war, drängte zur Uebersiedlung nach Berlin: noch 1830 wurden langwierige Verhandlungen hierüber gepflogen. Sein rücksichtsloser Freimuth, sein offenes Eintreten für Arndt und andere Patrioten hatten ihm viele Widersacher verschafft. Die reactionäre Partei sah in ihm einen Jacobiner, den Liberalen galt er als Reactionär. „Der Gegenstand seiner unwandelbaren Treue – schrieb Dahlmann in einem schönen Nachruf der Hannoverschen Zeitung 1832 – war das Vaterland seiner Wahl, aber er litt mehr mit ihm, als daß er seiner Rettung und der Vorboten seiner Größe sich freute. Er dachte groß von der Menschheit, aber er glaubte nicht, daß die bessere Zeit darum komme, weil wir sie herbei wünschen; er sah die Menschen an und fand sie mittleren Maßes, die besten ermüdet, sehr geneigt sich zur Ruhe zu setzen, ohne Sorge dafür, woher denn die keuchende Zeit einen Ruheplatz nähme; er hörte näher und näher die gemeine Stimme des Tages, verglich die Idole des Tages mit den Götterbildern, die er in den Staub tritt. Darum graute ihn vor der nachbarlichen Umwälzung, weil er auf Umbildung unter uns nicht hoffte.“ N. hatte 1829 in seinen Vorlesungen über neueste Geschichte die Wiederkehr einer ähnlichen Bewegung auf absehbare Zeit für undenkbar erklärt. Die Julirevolution strafte ihn Lügen. Der Abfall von Belgien und Polen, die Bewegung in Deutschland versetzten ihn in eine fieberhafte Aufregung, sein vorahnender Geist erblickte den socialen Umsturz vor der Thür. Daß dem zärtlichen Familienvater, der die Jahre 1789–1815 denkend und handelnd durchlebt hatte, die Gefahr am Rhein riesengroß entgegentrat, ist verständlich genug. Aehnliche Kämpfe zu durchleben fühlte er nicht mehr die Kraft in sich. Sie ging auf die Neige: er litt in Bonn an einem Flechtenübel und der Brand seines Hauses in der Nacht des 6. Februar 1830 hatte den überarbeiteten Mann mit der Last, das zerstörte Manuscript der neuen Bearbeitung des zweiten Bandes wieder herzustellen, überbürdet. Den dritten Band der Römischen Geschichte zu vollenden war ihm nicht beschieden: die Herausgabe wird der Pietät Classen’s (vier Jahre hindurch Niebuhr’s Hausgenosse und Lehrer des Sohns Marcus N.) verdankt. N. starb an einer Lungenentzündung am 2. Januar 1831, seine Frau gebrochenen Herzens neun Tage darauf. – Ein römisches Grabrelief im Vatican, das Mann und Frau Hand in Hand darstellt, hatte N. einstens durch seine einfache, menschlich rührende Sprache vor anderen berühmten Bildwerken angezogen. Der Kronprinz ließ das Bildniß mit den Zügen Niebuhr’s und seiner Gattin durch Rauch’s Hand an dem Denkmal wiederholen, das er auf dem Kirchhof zu Bonn dem Andenken des Lehrers und Freundes stiftete. An dem großen Denkmal zu Köln, welches die Rheinlande zur Erinnerung ihrer fünfzigjährigen Vereinigung mit Preußen Friedrich Wilhelm III. errichteten, sind am Sockel die Männer dargestellt, welche um die Erhebung Preußens und die Gewinnung der Rheinlande besondere Verdienste erworben haben. Die Mitte der einen Langseite nimmt Gneisenau ein, ihm zur Linken Arndt und Motz, zur Rechten Niebuhr und A. v. Humboldt. In diese Umgebung gehört N., ein Polyhistor auf [660] dem Gebiet der historischen Wissenschaften, an Reinheit der Gesinnung ein leuchtendes Vorbild. Er war von kleiner Gestalt, mager, mit scharfen Gesichtszügen, durchdringenden Augen, feiner Stimme.

Seine wichtigsten Schriften sind:

A. „Römische Geschichte“. 1. Bd. Königszeit, Berlin 1811, 26² (Friedrich Wilhelm III. gewidmet), 28³. 2. Bd. bis zu den Licinischen Gesetzen 1812, 30². 3. Bd. bis 241 v. Chr., 1832. – Berichtigte Ausgabe in einem Bande (I5, II4, III3), 1853. Neue Ausgabe von Isler, 3 Bde., Berlin 1873/74. Französische Uebersetzung von P. de Golbéry, englische von Hare und Thirlwall. Die zahlreiche durch sie hervorgerufene Litteratur führt Schwegler, Römische Geschichte I. 150 ff. auf; vgl. Nitzsch, Annalistik 1 ff.; Treitschke, Deutsche Geschichte II. 63 ff. – „The history of Rome from the first Punic war to the death of Constantine by B. G. N. In a series of lectures including an introductory course of the sources and study of Roman history edited by Leonhard Schmitz“, 2 vol., London 1844. Ins Deutsche zurück übersetzt von Gustav Zeiß, Jena 1844/45. „Vorträge über Römische Geschichte, an der Universität Bonn gehalten“, herausgegeben von M. Isler, 2 Bde, Berlin 1846–1848. „Vorträge über Römische Alterthümer“, herausgegeben von Isler, Berlin 1858.

B. Alte Geschichte. Abhandlungen in den Schriften der Berliner Akademie: „Ueber das Alter des Küstenbeschreibers Skylax“, 1810; „Die Geographie Herodot’s, 1812; „Der historische Gewinn aus der armenischen Uebersetzung der Chronik des Eusebius“, 1819 u. a., wieder abgedruckt in „Kleine historische und philologische Schriften“, erste Sammlung, Bonn 1828, zweite Sammlung 1843. „Vorträge über Alte Geschichte“, herausgegeben von M. Niebuhr, 3 Bde., Berlin 1847–51. „Vorträge über Alte Länder- und Völkerkunde“, herausgegeben von Isler, Berlin 1851.

C. Philologie. „M. Cornelii Frontonis reliquiae“, Berol. 1816 (Jäger gewidmet). „Ciceronis orationum pro Fonteio et pro Rabirio fragmenta“, Rom 1820 (Pius VII. gewidmet). „Lettre au rédacteur de la biblioteca Italiana“, Rom 1820. „Inscriptiones Nubienses“, Rom 1820. „Merobaudes“, St. Gallen 1823, Bonn 1824. „Ueber die Nachricht von den Comitien der Centurien im 2. Buch Cicero’s de rep.“, Bonn 1823. „Duplik gegen Herrn Steinacker“, Bonn 1823. „Rheinisches Museum für Philologie, Geschichte und griechische Philosophie“, 1827 ff. „Corpus scriptorum historiae byzantinae, editio consilio Niebuhrii instituta: Agathias“, Bonn 1828. „Dexippi Eunapii etc. frgm.“ (mit I. Bekker), 1829. „Beschreibung der Stadt Rom von Platner, Bunsen, Gerhard und Röstell; mit Beiträgen von Niebuhr“, Stuttgart 1830. „Niebuhr’s Brief an einen jungen Philologen, mit einer Abhandlung über Niebuhr’s philologische Wirksamkeit von Jacob“, Leipzig 1839.

D. Neueste Geschichte. „Nachgelassene Schriften nicht philologischen Inhalts“, Hamburg 1842, darin Circularbriefe aus Holland, 1808, Aufsätze aus dem Preußischen Correspondenten (Nachträge gibt Franz Eyssenhardt, B. G. N., ein biographischer Versuch, Gotha 1886) und vermischte Aufsätze. – „Demosthenis’ erste Philippische Rede“, Hamburg 1805 (im November geschrieben und Kaiser Alexander gewidmet), neuer Abdruck 1831. „Grundzüge für eine Verfassung Niederlands“, 1813 geschrieben, Berlin 1852. „Preußens Recht gegen den Sächsischen Hof“, Berlin 1814, 2. Aufl. mit Zusätzen 1815. „Ueber geheime Verbindungen im Preußischen Staat und deren Denunciation“, Berlin 1815. „Geschichte des Zeitalters der Revolution, Vorlesungen an der Universität Bonn im Sommer 1829 gehalten“, 2 Bde., Hamburg 1845.

E. Vermischtes. „Carsten Niebuhr’s Leben“, Kiel 1817, wiederholt Kl. Schr. I. „Griechische Heroengeschichten, an seinen Sohn erzählt“, Hamburg [661] 1842. „El Wakedi’s Geschichte“, übersetzt von N., herausgegeben von Mordtmann, Hamburg 1846.

Lebensnachrichten über B. G. N. aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde, 3 Bde., Hamburg 1838/9 (Verfasserin Dora Hensler, dazu Mittheilungen von Classen, Bunsen, Brandis, Savigny). – Golbéry, Notice historique sur la vie et les ouvrages de B. G. N. (Strasbourg 1831 (Nekrolog in Nouvelle Revue germanique t. VII. Febr. 1831). – Francis Lieber, Reminiscences of an intercourse with N., London 1835 (deutsch übersetzt von Thibaut, Heidelberg 1837). – Münch, Erinnerungen an N. in Bülau’s Jahrb. d. Gesch. u. Politik, Januar 1839. – Thibaut, Archiv f. civilist. Praxis XXI, 404. – Classen, B. G. N., eine Gedächtnißschrift zu seinem hundertjährigen Geburtstage, Gotha 1876. – O. Mejer, Eine Erinnerung an B. G. N., Rostock 1867. – E. Nasse, Die preuß. Finanz- und Ministerkrisis 1810 und Hardenberg’s Finanzplan, Sybel’s Histor. Zeitschr. 1871, XXVI, 282 ff. – O. Mejer, Schön und N., Preuß. Jahrb. 1873, XXXI, 503 ff. Dazu: Aus den Papieren des Ministers v. Schön, Hardenberg’s Denkwürdigkeiten und sehr reichhaltig Pertz, Leben Stein’s. – O. Mejer, Zur Geschichte der römisch-deutschen Frage, Rostock 1871–74. – R. Schöne, N. über Cornelius, im Neuen Reich 1872, S. 513 ff. – Cornelius, Briefe an N., Lützow’s Zeitschr. f. bildende Kunst 1875, S. 337 ff. – Springer, Leben Dahlmann’s für die letzten Jahre. – Außerdem Herbst, J. H. Voß; Weinhold, Boie; Perthes’ Leben; Denkschrift auf Nicolovius; Erinnerungen des General v. Röder; Arndt, Erinnerungen sowie Wanderungen und Wandlungen mit Frh. v. Stein; Uhde, Erinnerungen aus dem Leben der Malerin Louise Seidler u. a.