ADB:Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu
Christian Günther, geboren zu Stolberg 1714, war Gutsbesitzer im holsteinischen Bramstedt (wo später F. L. W. Meyer hauste), ein stiller, ernster, gläubiger und humaner Edelmann, der in seinem engeren Bezirk und im ganzen seeländischen Amte Hirschholm (vgl. Werke II, 104; Janssen I, 390) die Leibeigenschaft brechen half. Seit 1756 Hofmarschall der Königin-Wittwe Sophie Magdalene, verbrachte er mit den Seinen die Winter in Kopenhagen, die Sommer auf dem Lande. Er hatte 1745 die fränkische Gräfin Friederike Christiane v. Castell-Remlingen geheirathet und die beiden „sehr reizbaren“ Menschen, er in sich gekehrt, sie überaus lebhaft und aufgeschlossen, lebten in gesegneter glücklichster Ehe. Die Gräfin, vom Pietismus angeweht, war eine getroste Beterin, sie glaubte an Ahnungen und Visionen, däumelte im Schatzkästlein und vererbte eine Fülle von Empfindung und Phantasie auf ihre Kinder, die ihr auch die schöne Gabe, so leicht Freunde herauszufinden, danken. Von elf Kindern war F. L. das dritte: er ist am 7. November 1750 in Bramstedt geboren. Vor ihm stehen Henriette („Puletchen“, seit 1763 Gräfin Bernstorff) und Christian. 1751 folgte Katharina, die unvermählt blieb und im Alter einen absonderlichen Lebensbund mit Schönborn pflegte (s. A. D. B. XXXII, 280); 1753 Auguste, Goethe’s nie gesehene Jugendcorrespondentin, seit 1783 Bernstorff’s zweite Gemahlin. Sie wuchsen zwanglos auf „in Gegenden, welche einen Charakter von Größe und Freiheit durch Meer, Wald, Seen, hügligen Boden haben und so schön sind, wie man sie in nordischen Gegenden selten findet“. Da war das herrliche Königsschloß, dann das „Haus am Meer“ mit dem freien großen Garten, dem „Hain Mamre“. Sie genossen eine „schöne frohe Jugend“, allen Segen des Landlebens, und mit der ritterlichen Geistes- und Körperbildung des Adels verband sich herzliche Hausfrömmigkeit. Das Gesinde erzählte Märchen vom Däumling, Robinson wurde gelesen, Lichtwer’s Fabeln, Gleim’s Kriegslieder in Verbindung mit soldatisch-preußischen Spielen (W. IX, 465). Geßner’s Idyllen nicht ohne Nachwirkung auf eigene Jugendprosa. Die Mutter versenkte sich mit „Lebbäus“ Christian und „Purrhahn“ F. L. in die Bibel, in den verdeutschten Milton, in Fénelon’s Mentorweisheit, – aber einen französischen Cicero beseitigte Klopstock. Vor diesem Abgott verschwand auch J. A. Cramer, und vornehmlich als Genosse Klopstock’s wurde später Ebert besucht, geliebt und im Austausch von Episteln besungen. Für den „ewigen Jüngling, den heiligen Sänger, den Göttlichen“, den Messiasdichter wie den reisigen Reiter hegte F. L. eine grenzenlose Bewunderung bis ans Grab, die sich selten einen schüchternen Zweifel über Schweres und Dunkles erlaubte; während Lessing als Sohn der Aufklärung nur flüchtig wirkte und von Katharina nach dem Nathan ein „böser“ Mensch gescholten ward. Dieser norddeutsch-protestantische Adel hatte zwar empfindliche Grenzen in seiner Bildung, aber kein anderer kam ihr von fern gleich. Es war ein reiches schwungvolles Leben. Früh erkennt F. L., ein feuriger Knabe, in der Poesie die erhabenste Leidenschaft, im Dichter ein heiliges Wesen: „Ich habe von Kindheit an die Poesie mit Leidenschaft geliebt, denn lebhaft empfinden schien mir immer der süßeste Genuß, dessen ein Mensch sich erfreuen kann“. Früh auch schied er stolz Verehrung und Nachahmung eines Großen; ein Sohn der Natur, mochte er nicht copirend auf Klopstock’s Spur gehen. Als er des eigenen Könnens sicher war, schalt er den Recensenten einen „Esel“, der ihn „Klopstock’s Zögling“ genannt hatte. Natur und Freiheit waren die Losungsworte dieser ländlichen Jugend, nicht Arbeit und Zucht; ein Segen, aber auch eine Gefahr. – Eines der ersten erhaltenen Gedichte [351] gilt dem Tode des Vaters: fromme Reimverse, worin der „Taumelbecher buhlender Lust“ und die „linde Mondnacht“ doch schon den späteren Göttinger verkünden. Der Vater war am 22. Juni 1765 in Aachen einem Schlaganfall erlegen. Stille Jahre in Rungsted folgten. Dann geleitete der brave Hauslehrer Clauswitz die beiden Grafen auf die Universität.
Stolberg-Stolberg: Friedrich Leopold, Graf zu St.-St., Dichter, stammte aus der alten reichsgräflichen Linie Stolberg-Stolberg. Sein Vater,Von den Studien in Halle 1770–1772 ist wenig bekannt. F. L. hatte keinen Beruf zur Wissenschaft. Der hitzige Dilettant und Klopstockschüler verachtet die „fühllosen Gelehrten“, denn „ohne den warmen Antheil des Herzens sind die Wissenschaften fast nichts“, aber er liest Milton und Goldsmith begeistert, während er Wieland „Buße“ wünscht. Seine Lyrik regt sich, greift auch zu antiken Maaßen und feiert schon 1770 die „Freiheit“ (umgearbeitet im Alm. 1775, S. 221). Sie umfängt die Lieben daheim (z. B. ungedruckt „An eine meiner Schwestern, welche Lavaters Kriegslieder las“).
In Göttingen Mitte October 1772 eingetroffen, wurden die Brüder am 20. immatriculirt und verblieben bis zum 12. September 1773. Sie fanden rasch adelige Genossen wie Haugwitz und die Reventlows, wurden in den ersten Professorenhäusern gern gesehen und verkehrten mit Engländern. Die Brücke zu den jungen Dichtern half C. F. Cramer schlagen. Ende November lernten sie Bürger kennen, den „ganzen Biedermann“, den sie öfters aufsuchten und namentlich Christian in forcirten Briefen voller „Krähkräh“ als großen Condor begrüßte. Am 5. December führte Boie sie im Bund ein. Die Weihe Klopstock’s ruhte verheißungsvoll auf ihnen, und wenn besonders des Jüngeren Schönheit, Liebenswürdigkeit, lyrische Begabung ohne weiteres herzgewinnend wirkte, so imponirte den Pastoren-, Beamten-, Bauernsöhnen trotz allem Rousseauthum auch die Kameradschaft mit Reichsgrafen, obgleich diese neuen Hainbrüder nie unter die heilige Eiche traten, im Duzcomment zurückhaltend blieben und ihre Zimmer für keine Bundestage öffneten. Schon am 12. December wurde Fritzens Ode „Mein Vaterland“ vorgelesen, rasch folgte die Mittheilung von Neuem und Altem (auch eine Prosaidylle „Meine Ruhe“), 1773 brachte F. L. 17 Gedichte dar, die, obgleich „An die Fürsten“ verworfen wurde, solchen Erfolg ernteten, daß Boie prophezeite: „Nächst Klopstock wird er unser größter lyrischer Dichter.“ In seinem Kreise kann ihm kein, damals so überschätzter, Miller den Preis bestreiten; ihm und Hölty stand F. L. im Grunde doch näher als den Polterern Hahn und Voß. Natur, Freundschaft, Tugend, Vaterland waren auch seine sanften oder stürmischen Accorde, der Freiheit auch er zugeschworen mit dem Kriegsruf In tyrannos; aber was bei den Andern demokratische Wurzeln hatte, entsprang hier aristokratischem Vollgefühl und dem edlen Stolz auf die „Väter“ des altberühmten Geschlechts. Welch ein Triumph, daß Klopstock ihren Namen in seiner „Weissagung“ (Alm. 1774, S. 231) verewigte. F. L. trat mit Voß in lyrischen Austausch und besang Miller. Er bewunderte den grimmen dumpfen Hahn, den er einmal mit hundert Thalern unterstützte, wie er sich später für Bürger bemühte, erfolgreich für Voß, und pietätvoll als Herausgeber Hölty’s mit vor die Welt trat. Er nahm von den Sangesbrüdern manche innern und äußern Motive an, ohne sich zu verlieren und bloße Moden mitzumachen. Seine reiche Lectüre wurde ganz intensiv betrieben: Milton und Klopstock von neuem, täglich das „Buch der Bücher“, die „sanfte Melancholie“ Ossian’s, Percy’s Reliques, der „bezaubernde“ Shakespeare, die Griechen, voran die „moralischen Colosse“ Plutarch’s – freilich nur im verhaßten Französisch – und Homer. Er konnte kein B sehen, ohne an Brutus, kein H, ohne an Homer zu denken. Seine entzückenden Briefe nach Hause sind voll davon. Und bis dahin selbst des Alphabets so unkundig, daß F. L. den geliebten Namen in Majuskeln OMPOC gelesen zu haben scheint (vgl. auch Cramer’s „Parodie“, Strodtmann I, 83), warfen sich die Grafen im Januar eifrig aufs Griechische. [352] Die juristischen und historischen Vorlesungen, Pütter’s Colleg und die „Pandektenwüsten“ einer unfreien, undeutschen Themis wurden nun völlig gemieden. Starke dichterische Eindrücke bewegten die letzten Göttinger Tage: am 11. September ist der gemeinsame Lenorenbrief an Bürger geschrieben, am 12. verklärten elegische Freundesklänge den berühmten thränenreichen Abschiedsabend, den uns Vossens Briefe vergegenwärtigen. Die Grafen zogen in ihr „sklavisches Land“.
In Hamburg empfing sie Klopstock. Claudius, Gerstenberg, Schönborn traten ihnen näher. Durch Toby Mumssen ließ sich auch F. L. in die Loge ziehen, doch blieb ihm das Freimaurerthum ein „eitler Name“ und nur conventionsmäßig steuerte er einige Verse bei.
Die Mutter war zu Bernstorffs nach Kopenhagen gezogen, starb aber schon am 22. December 1773 (Cramer’s Elegie, Alm. 1775, S. 69). Alle Geschwister hielten in treuer Herzlichkeit zusammen, die über ihre poesievollen Briefe eine so anheimelnde Wärme spreitet. F. L. hat eine seltene Gabe unmittelbarer Mittheilung bis an sein Ende behalten, schwärmerisch, häuslich, launig. Von jungen Liebesleiden ist nichts Näheres bekannt. Eine erste Neigung blieb stumm, in peinlichen Erinnerungen zu wühlen hatte er keine Lust (W. X, 363), 1775 jedoch sagt er: „Meine erste Liebe war stark, aber nur ein Schatten von dieser“. Mumssen wol hatte ihn im Hause Hanbury zu Hamburg eingeführt. Er warb um Sophie, die „Selinde“ seiner Gedichte, nicht abgekühlt durch verständige Mahnungen Henriettens. Diese Leidenschaft begleitete ihn auf die berühmte Schweizer Reise. Im April 1775 ging’s über Hamburg und Göttingen nach Frankfurt, wo die Brüder etwa am 9. Mai den Gefährten Haugwitz trafen und mit Goethe, dem „Genie voll Geist und Flamme“, sogleich Herzensfreunde wurden. Der Almanach hatte eine Verbindung zwischen Nord und Süd angebahnt, der „Werther“ F. L. und Augusten entzückt. Beim „Tyrannenblut“ aus „Frau Ajas“ Keller wurde der Bund besiegelt, am 11. in Mainz auch Klinger freudig begrüßt, wie dann in Straßburg Lenz; von Darmstadt aus, wo der Badesport ihnen Ungelegenheiten schuf, gab der „brave“ Merck das Geleit, den „Dichtung und Wahrheit“ vielleicht zu scharf als Gegner der improvisirten Theilnahme Goethe’s an dem Geniezug bezeichnet. Uebrigens war es noch im Elsaß unsicher, ob Goethe nicht bloß bis Basel mitgehn, dann aber allein nach Italien oder zurück nach Frankfurt, zu Lili fahren sollte. Am Karlsruher Hofe, wo Luise weilte und Carl August eben eintraf, wurden die „Reichsgrafen“ sehr „fetirt“. Sie blieben mehr als eine Woche in Straßburg, bekümmert über das fremde Regiment („Das Herz im Leibe thut mir weh,“ sagt F. L. mit einer seiner Lyrik gemäßen Wendung, „beim Anblick des bezwungenen, nun französischen Ufers), F. L. (25. Mai) erschüttert durch eine Absage Mumssen’s: Sophie fühle für ihn nur Freundschaft. Sie hat sich 1777 verheirathet. Ihn tröstete nun die wechselreiche Fahrt, der Genuß der Natur, die Poesie, der Segen bedeutender Menschen. Goethe war über Emmendingen nach Zürich vorausgereist; Cornelien sahen sie nicht, knüpften aber mit Schlosser eine nachhaltige Verbindung. „Sei versichert, daß die Schweiz auf mich wirken wird. So lange ich lebe, werde ich die Natur fühlen“, hatte F. L. angekündigt. Am 7. Juni stand er am Rheinfall, am 10. trafen sie in Zürich ein, fanden Goethe und wurden hingerissen von Lavater, ihrem „Malegys“, gegen den die Pfenninger, Heß, der flüchtig begrüßte Geßner in Schatten traten, während Bodmer halb geschmeichelt, halb mißtrauisch später eine Ode empfing (W. I, 120; Goethe-Jahrbuch V, 196). Von Lavater heißt es: „Es ist Schande der Menschheit, daß der Mann Feinde hat.“ Im Juli wurden ihm Verse geweiht, einen verzückten Brief an Claudius zu seinem Preise brachte das Deutsche Museum 1776 I, 41. Lavater schilderte enthusiastisch in der „Physiognomik“ (wiederholt in „Dichtung und Wahrheit“) die „unbeschreiblichen Menschen“, deren größte [353] Herzenseinfalt, deren gänzliches Nichtgefühl des äußeren Adels unerschöpflich sei. Sie führten im Sihlwald bei einem Landmann ein patriarchalisches Dasein am Busen der Natur und versenkt in die Bibel, in Ossian, in den „alten, kindlichen, süßschwatzenden Homer“. Goethe brachte „viele Manuscripte, die alle würdige Brüder des Götz v. B. sind“, scheint aber den Faust erst in Weimar (Janssen I, 63) mitgetheilt zu haben. Am 15. Juni fuhren sie mit ihm und Passavant in voller Jugendlust über den See und blieben nach seiner Gotthardtour noch einige Tage vereint, um am 3. Juli die Reise in die „unumschränkt freien“ katholischen Kantone anzutreten. Diesen Schwärmern war Helvetia die ideale Heimath heldenhafter Freiheit und reiner Sitte. Ihre Tagsatzungen wie ihre Spiele, ihre Greise wie ihre Jugend, ihre Hütten und Berge und Seen fanden überschwängliche Bewunderung, am ergiebigsten in zwei großen Berichten an Gerstenberg gebucht. Wie der Rheinfall an den Seelenschwung der Lyrik gemahnt hatte, so rauschten die Felsenströme Dithyramben, Burgruinen vom Wind umsaust weckten ossianische Klänge, auf Schlachtfeldern gedachte man der Ilias, am Tische der Sennen der Odyssee. Die eine Tour führte nach Zug, Luzern, Altdorf, Gotthard, Unterwalden. Die große zweite ins Appenzell, Glarus, Graubünden, von Marschlins aus mit Salis an den Comer See, dann nach Lugano, Locarno, den Borromeischen Inseln (die sie kalt lassen), ins „Despotenland“ Savoyen, nach Genf. Ja sie treten mit hessischen Herrschaften vor Voltaire und vergessen beinahe über die Liebenswürdigkeit des Greises ihren Göttingischen Haß gegen den „alten Sünder“ und seine „verfluchte Profanation“. Idyllische Rast und Gletscherbesteigungen – „das Felsenklimmen ist uns Harzern doch angeboren“ – wechselten. Tiefen Eindruck machte das Rüsthaus in Bern. Ueber Basel und Bern ging’s nach Freiburg, Lausanne, Vevay, wo die Weinlese genossen wurde, und am 2. November waren die Grafen wieder in Zürich. Der Musikus Kayser und J. M. Miller, der dann im „Burgheim“ diese Tage beschrieb und F. L. „jämmerlich vorritt“, kamen herbei und der Siegwartdichter machte auf der Rückreise den Freunden mit Schubart, dem rasch erglühenden, die Honneurs seiner Vaterstadt Ulm. Sie besuchten Franken, das mütterliche Land, und gingen nach all der Schweizer Freiheit als vornehme Reisende an die kleinen Höfe, ließen sich aber in Gotha lieber von Ekhof Scenen aus der „Emilia Galotti“ vortragen. Von Erfurt (Dalberg) kamen sie am 26. November nach Weimar, das nun unter dem Sterne Goethe’s stand. Sie wurden auch mit Wieland sofort versöhnt. Harmlos lustige Hoffeste und Ritterspiele fanden statt. Karl August gewann ihr Herz. Erst im folgenden Jahr, als Klopstock dem Geträtsch sein Ohr und seine Feder lieh, schlug das Urtheil seiner gehorsamen Jünger um (vgl. auch Redlich, Im neuen Reich 1874 II, 837), F. L. sprach ein bisher leises Grauen vor Goethe’s vermeintem starrköpfigen Titanismus wider Gott empört aus (Janssen I, 70) und lehnte die angetragene Stelle als weimarischer Kammerherr ab. 1775 zogen die Grafen über Dessau (begeistert für Basedow, mehr noch durch eine „überherrliche Schweinsjagd“) in die leidige Soldatenstadt Potsdam und das „Sodom und Gomorrha“ Berlin, die Residenz des trockenen Rationalismus, des „zum Ausspeien fatalen“ Nicolai. Ein Aufenthalt in Hamburg und Besuche bei schleswig-holsteinischen Freunden schlossen im Januar 1776 die Geniereise ab.
Im August wurde F. L., dem beschränkte Finanzen ein ganz ungebundenes Leben versagten, dänischer Kammerjunker, 1777 fürstbischöflich-oldenburgisch-lübischer Oberschenk und Gesandter in Kopenhagen. Für die „Kloaken der Stadt“ mußte ihn häufige Flucht zur Natur, für die „klirrende Fessel“ und die Langeweile der rege Verkehr mit den Verwandten, mit adeligen und dichterischen [354] Freunden entschädigen (Klopstock, Claudius, Schönborn, Gerstenberg, Sturz). Er blieb bis 1780 in dieser Stellung. Dann kamen äußere und innere Krisen. 1780–82 wirkte der Tod Emiliens v. Schimmelmann, das tödtliche Duell des jüngsten Bruders Magnus, das Abscheiden Henriettens tief auf seine Seele. Er sah something rotten in the state of Denmark. 1780 stürzte das Ministerium A. P. Bernstorff. Stolberg forderte seinen Abschied und erhielt von dem ausgezeichneten Holmer einen langen Urlaub, der in Kopenhagen, Tremsbüttel, Borstel, Eutin u. s. w. verbracht wurde. Erst im November 1781 erfolgte die formelle Entlassung als Gesandter. Er blieb Oberschenk und Vicehofmarschall in Eutin. Ein neues Leben war ihm inzwischen aufgegangen durch die Verlobung mit der alle Welt durch ihre körperliche und geistige Anmuth entzückenden Agnes v. Witzleben, die sein Mädchenideal erfüllte (über die schleierhafte Neigung zu einer „Lyda“ 1779–81 vgl. Keiper, S. 50) und ihm keine äußern Glücksgüter, aber einen reichen Schatz natürlichster Lieb’ und Güte, Frische und Frömmigkeit, sonniger Kindlichkeit und schmiegsamer Poesiefreude zubrachte, durch keinen „Schneiderscherz“ an Leib und Seele verdorben und als junge Hofdame in nichts verkünstelt. Sie ist am 9. October 1761 geboren (über die Familie vgl. auch die als Mscr. gedruckten Mittheilungen von Lotte Hegewisch: „Caroline Hegewisch“, Kiel 1892). Unter vielen verwaisten Geschwistern war das blonde, blauäugige Mädchen auf dem oldenburgischen Landgute Hude aufgewachsen. In Briefen und Gedichten preist St. seiner Agnes Kindersinn und Taubeneinfalt, und auch ihre sichere Klugheit darf er rühmen. Vor ihrer „anmuthigsten Gegenwart“ und ihrem „frei-heitern persönlich-harmonischen Uebergewicht“ – wie Goethe auf Grund der einzigen Begegnung im Mai 1784 später sagt – schwiegen alle Mißklänge. Einstimmig wird ihr Lob von Alt und Jung, Männern und Frauen gesungen. Die Verlobung fand Anfang November 1781, die Hochzeit am 11. Juni 1782 auf dem Eutiner Schlosse statt. Aus Otterndorf schickte Voß einen Hymenäus. Seine Bewunderung für die Gräfin blieb sich immer gleich, „sie war ein Engel“ betheuerte noch der Greis, in den Anblick ihres Bildes versunken. Sie vermochte alles über ihn, schlichtete als lieblicher „Engel-Grazioso“ (Goethe) jeden Streit der Männer und bewirkte, daß kein „fürchterliches Schreiben“ eine friedenbringende Aussprache hinzögerte, mochten die Griechen oder Religion und Politik die ungleichen Freunde entzweit haben. An der Spitze seines Aufsatzes „Ueber die Fülle des Herzens“ hatte St. vorweg die ersten Vatergefühle geschildert – am 31. Juli 1783 jubelte er: „Victoria, der Bub’ ist da!“ Agnes sang mit süßer Stimme Wiegenlieder für den kleinen Christian Ernst und stimmte selbst dichtend ein in die Hauspoesie des Gatten, von der ihre bescheidene Lyrik (Weinhold, Schnorr’s Archiv VII, 204) ein Echo ist. 1784 reiste das Paar über Weimar (Hellinghaus S. 106), wo St. den Frieden des Goethe’schen Gartenhauses schön empfand, nach Karlsbad. Während eines längeren Ferienaufenthaltes in Kopenhagen ward am 4. Mai 1785 eine Tochter Maria (Mariagnes) geboren. Im Herbst 1785 mußte St. den Tod des Herzogs in Petersburg melden und wurde dort sehr ausgezeichnet, aber die Bekanntschaft mit Hamann, auch mit Hippel unterwegs war ihm werthvoller als das „übertünchte Hofgepränge“. Liebreiche Sehnsucht athmet aus seinen Briefen nach Neuenburg, das der feste Wohnsitz der Familie geworden war und wo nun St. – schon im Sommer 1783 ernannt – vier Jahre lang das „Gerichtsjoch“ trug. Sein Eheglück, die fortströmende Poesie, neuerdings auch die enthusiastische Beschäftigung mit Platon spülten den Actenstaub rasch hinweg. Am 6. November 1786 gebar Agnes einen Sohn (Andreas), am 20. Februar 1788 eine Tochter (Henriette), aber sie erholte sich sehr langsam und erlag, scheinbar wieder „wie eine Rose blühend“, am 15. November einer plötzlichen [355] Krankheit. Zahlreiche Briefe schildern den Schmerz Stolberg’s und der Seinen. Er konnte, damals auch eines hülfreichen Collegen in der „schweren Civiljurisprudenz“ beraubt, ohne die Wonne seines Lebens nicht freundlos und freudenarm in Neuenburg fortleben und erbat seine Entlassung (an den Herzog, 2. März, Hennes S. 388). Bernstorff hatte ihn schon vor einigen Wochen bestimmen wollen, als dänischer Gesandter nach Berlin zu gehen.
Der Tod seiner Agnes schneidet tiefer in Stolberg’s Leben ein als der durch so manches Jahr vorbereitete Uebertritt zur katholischen Kirche, der ihn zwar aus Norddeutschland entrückte und auf seine persönlichen Beziehungen mächtig einwirkte, aber sammt allen Folgen längst vorauszusehen ist. Jener plötzliche Schlag dagegen theilt Stolberg’s Mannesjahre in zwei scharf geschiedene Perioden, deren erste menschlich und dichterisch einen Abschluß bildet, höchstes Liebesglück und letzte umfassende Poesie darbietend, deren zweite von der neuen Ehe und der Verbindung mit dem katholischen Adel an auf die Conversion unaufhaltsam hinsteuert.
Nur in rascher Skizze soll hier der Dichter gewürdigt werden. Die Werke der Brüder, Eignes und Angeeignetes, Poesie und Prosa, füllen ohne die Hauptarbeit der letzten Epoche zwanzig Bände. Lebendig geblieben sind nur manche Lyrica der Jugend, aber auch viele andre der Nation nie vertraut gewordene Blätter wecken über ein historisches Interesse hinaus unsere warme persönliche Antheilnahme gleich den Briefen. St. hat als Schriftsteller[WS 1] stets seine Individualität abgedrückt. Einem in Empfindung und Phantasie webenden, im besten und im üblen Sinne dilettantischen Naturell, das für mühsame Arbeit verloren war, die Kunstform des Dramas nicht von fern bewältigte und überhaupt keinem größern Kaliber genügte, entspringt Stolberg’s Poetik des freien Genius. „Der Geist des Herrn den Dichter zeugt, Die Erde mütterlich ihn säugt, Auf deiner Wogen blauem Schoß Wiegt seine Phantasie sich groß“ ruft er dem Meer zu (vgl. auch X, 342), und am Gängelbande der süßen heiligen Natur will er sich kindlich leiten lassen. Der Dichter ist Liebhaber und Liebling der Natur. Es dichtet in uns: est deus in nobis. Das ϰυεῖν, wie er es dann in seinem Platon geschildert fand, ist alles, das stimmungsvolle wogende Empfangen die Hauptsache, nicht das Gebären, Darstellen und Fortbilden; Sätze, die Gervinus überscharf gegen St. gewandt hat. Des Gottes voll, ein echter Enthusiast verachtet er als Frommer den Rationalismus, als Poet „mit empfangender, schwangerer, gebärender Seele“ (III, 104) Regel und Feile (vgl. II, 54). Nicht diese schleife, sondern der Strom der Begeisterung runde die Kiesel der Sprache. Er verachtet prosodische „Theoreteleyen“ und den „Pedanten“ Ramler, mag nicht mit Voß corrigiren und collaboriren, nicht „putzen, schneidern, leimen“ (XVII, 168). Immer wieder verkündet er das Genieevangelium vom „ersten Wurf“, besonders in Briefen an den langsam hämmernden Freund. Lange Mühe schaffe nur mittelmäßige Redner oder gar Dichter (XVII, 167); „Edle Schriften entwickeln sich von innen aus, aus dem lebendigen Genie in der Seele des Verfassers,“ und das Herz berge immer mehr als die unausgiebige Schrift. Nur die heißen ihm Dichter, deren Werke weniger die Frucht des Nachsinnens als der Begeisterung sind (XVII, 318), im Unterschied von den reflectirenden „Tichtern“. „Die Begeisterung mißleitet nie“ (IX, 363), denn sie ist Geschenk von oben. Das höchste Beiwort für einen Dichter, Seher, vates ist „göttlich“. Dichterische Stimmung ist Rausch. Man muß sich trunken hingeben und „gängeln“ – sein Lieblingswort – lassen. Der Dichter weiß selbst nicht, was die Kraft der Inspiration in ihm sei und schaffe. Verhaßt ist ihm das Geschwätz von „Mustern“ und „Lesung der Dichter“ (III, 245). Mit Gerstenberg und Herder ist ihm Lyrik Sang (Janssen I, 82), mit Hamann [356] „Prose in jedem Volke die jüngere Schwester der Poesie“ (X, 245) und die Prosa – anders als Klopstock es meinte und übte – den freiesten Inversionen, z. B. eines Ossian, offen. Er erkennt auch nur die Philosophie an, wo die Flügel der Poesie nahe rauschen und will mit Platon’s Ion und Phädrus schwärmen, nicht mit Kant kritisiren, will ahnend fühlen, nicht scharf schauen. Noch als Greis predigt er von den Urdichtungen, Hiob und den Psalmen, und sucht den Ursprung der Poesie da, wo seine Jugend sie gefunden: in der Sehnsucht, ist doch Μοῦσα die Verlangende; „ein Schrei der Sehnsucht, dem die Leidenschaft Rhythmus gab, war die erste Poesie“ (XX, 342). Er verwirft als Jünger der vagen und gesetzlosen Begeisterung „regelfeste Verse“ (XVII, 305) und feiert über alles die freieste Form dieser Begeisterung: „Keine Versart scheinet mir der höchsten Begeisterung würdiger, als die dithyrambische“ (XVII, 143). Die schönsten Empfindungen sind ihm der schwellende Enthusiasmus und die „Ruhe nach dem Genuß“, die er in einem besonderen Aufsatz (XX, 382) wie in einem Brief an Katharina (Janssen I, 154) überschwänglich malt. Seine zügellose Genielehre, deren Verbindungsfäden mit Young und Wood, Hamann und Herder, Gerstenberg und Goethe, St. selbst wol unbewußt, leicht zu finden sind, hat sich nie geändert, zum Zeichen der unreifen Jugendlichkeit dieses Propheten, ihren reinsten Ausdruck aber gefunden: in dem Museumsaufsatz von 1777 „Ueber die Fülle des Herzens (W. X, 355), einer Predigt gleichsam über das vielberufene Wort des Götzischen Franz, die auch an Shaftesbury’s Naturhymnen anklingt und Stolberg’s eigene Gesänge an die Natur, die Schweiz, das große, hehre, unermeßliche Meer andächtig umschreibt. Ferner in dem Aufsatz „Vom Dichten und Darstellen“ 1780 (X, 375), einem Commentar zu den Verszeilen über den Idealzustand des Dichters, der bezeichnend genug, kein Beschwörer Faust, sondern ein beglückter Endymion sein möchte: „Wenn schon die Seelen werdender Lieder mir Das Haupt umschweben, eh das nachahmende Gewand der Sprache sie umfasset.“ Dann in der Rhapsodie „Ueber die Begeisterung“ 1782 (X, 397), ein paar Blättern zu ihrer Verherrlichung und zum Preise Homer’s, Shakespeare’s, Klopstock’s, mit einem Ausfall gegen forcirte Kraftgenialität und einem ganz jugendlichen Schlußtrumpf gegen akademische Schriften in Folio. St. schwört auf die Ueberzeugung, die unser weimarischer Classiker so fein in dem Pentameter ausdrückte: „Spricht die Seele, so spricht ach schon die Seele nicht mehr.“ Das Original liegt ihm im Herzen, das Papier gibt nur eine schwache Uebersetzung. Er selbst würde nach seinem Leben, seinen Worten, seinen Briefen als ein „Begeisterter“ fortleben auch ohne gedruckte Gedichte. Ein Programm der Lyrik gibt die Ode W. II, 103.
Uebersieht man die 1779 von Boie – zur Eifersucht des schon die Feile wetzenden und neue Almanachsredactordienste anbietenden Voß – herausgegebene Sammlung der Gedichte, so verklingen die antikisirenden Oden am meisten im hallenden Chor Klopstock’s und der Göttinger, weicher als Vossens Gebilde trotz manchem teutonischem Trutz- und Hohnwort, formloser als die kunstvollen Perioden des Meisters, nur durch einen glücklichen Instinct geregelt. „Gesetzlos, Pindar’s Gesängen gleich“ hatte Klopstock Dithyramben beschert. Die Jüngeren überboten das: Schönborn, allen voran Goethe, von den Göttingern St., der seiner ganzen Anschauung nach die einfachste Strophe und die ungebundensten Systeme bevorzugen mußte. Nicht ohne Einwirkung Goethe’s gipfelt seine Dithyrambik in der Schweiz: an „Mahomet’s Gesang“ erinnert der „Felsenstrom“, der in hohen Wogen der Begeisterung geht, aber an Bildern und Gedanken zurückbleibt; eigentlich 1774 als Glied eines Cyclus gedacht (Hellinghaus S. 17), Klopstock’s und Vossens Kriegswort „Tyrannenblut“ aufnehmend (Hellinghaus S. 29) wird der „Freiheitsgesang aus dem 20. Jahrhundert“ in [357] Zürich vollendet (Janssen I, 46), das theils erhabene, theils fast unwillkürlich-komische, von Klopstock’s „Hermann“ inspirirte Gemälde einer zukünftigen Männerschlacht, mit ungeheuren Worthäufungen und Blutströmen, aber versöhnlichem Ende. Als Hs. gedruckt machte diese gräfliche Prophezeiung großen Effect bei den Freunden. Auch Boie und Bürger waren begeistert; einen „Göttergesang“ nannte es Klinger; „päanisch lallen“ sagt später St. selbst von diesem Taumel des „Lieblings meiner Kinder“, der harmlos genug auch am Weimarer Hofe vorgelegt, dort in Knittelversen Amaliens Oheim, Friedrich dem Großen, auf Karl August’s parodistischen Vorschlag gewidmet wurde (Janssen I, 64) und ausgesprochener Maßen nicht die Fürsten der Gegenwart treffen sollte. Unendlich reiner als dieses noch dazu als Rückblick eingekleidete Kriegsorakel für die Enkeljahre wirkt Stolberg’s Versenkung in die Vorzeit, die Zeit der „Väter“, die ihm nach Goethe’s Wort heilig war wie eine zweite Natur. Er betont, daß sein Geschlecht (vgl. „Mansfeld’s Trümmer“ W. II, 260) schon vor Karl dem Großen ruhmvoll lebte. „Unser Familiendämon raunt mir manche Namen ins Ohr, deren das Alterthum sich nicht schämen sollte“ (4. März 1773). Stets erscheint ihm „etwas Poetisches, die Empfindung Ansprechendes im Adel“, dem „sichtbaren Repräsentanten edelmüthiger Gesinnung“ (1819), der, wie St. halb liberal, halb feudal begründet, keinen Handel treiben dürfe (1791). Vgl. besonders Janssen II, 354, 358 über Wesen und Pflichten des modernen Adels. Er feiert das „werthe Cheruskerland“ des Harzers Hermann. Stolze Liebe erfüllt „Mein Vaterland, an Klopstock“. Aber wenn seine Oden eine Menge von Motiven, Wendungen und rhetorischen Figuren des Meisters fortführten, so mied St. die bardische Mummenschanz und den spielerigen Minnesang, obgleich auch er das deutsche „Frauenlob“ Walther’s anschlug, und wußte nicht bloß gegen Lutetia zu donnern, sondern durch einfache Strophen zu zeigen, daß ihm die abschätzige Unterscheidung zwischen der Chansonette und dem herzlichen deutschen Lied mehr als Phrase sei. Im adeligen Hochgefühl wetterte er gegen die Tyrannen, und tauchte „in den Born der Vorzeit, der so oft in sein stärkendes Bad mich genommen“, romantisch anhebend „In der Väter Hallen ruhte Ritter Rudolf’s Heldenarm“, ließ den deutschen Knaben bitten „Mein Arm wird stark und groß mein Muth, Gieb Vater mir ein Schwert“ und den schwäbischen Ritter des 12. Jahrhunderts antworten „Sohn, da hast du meinen Speer, Meinem Arm wird er zu schwer“. So trat er ins Rüsthaus zu Bern (vgl. W. XII, 438): „Das Herz im Leibe thut mir weh, Wenn ich der Väter Rüstung seh“. Er sang das „Lied eines Soldaten in der Ferne“. Schlichte Weisen ohne jedes Bramarbasiren. Wie den trauernden Liebhaber in der Schweiz das Liedchen „Es ist nit lang, daß g’regnet hat“ entzückte, so gelang es ihm eine ehrwürdige Aufschrift zum Ruhme Tell’s alterthümlich, nicht alterthümelnd nach- und fortzudichten, worin ihm noch W. Schlegel folgte. Archaismen blieb er stets geneigt (W. XVII, 157). „Ich hab ein Bächlein funden“ setzt wie ein Volkslied ein und schlägt seine anakreontischen Tändeleien. Die Liebeslyrik der Jugend bleibt anfangs in ziemlich conventionellen Spielen, Klagen über Flattersinn, elegischer Resignation befangen. Sein weiches „Lied in der Abwesenheit“ (Ach, mir ist das Herz so schwer) möchte Scherer ein männliches, aber gewiß nicht mannhaftes Pendant zu Gretchen’s Monolog „Meine Ruh ist hin“ nennen. Wahrhaft fordert er 1775 vom Liebeslied das Erlebte, die besondere Situation. Aus der Fülle des Herzens kommen manche Familiengedichte, deren eines, den „Traum“ (W. I, 376) auch Goethe ein „recht himmlisch Familienstück“ nannte, und dann die Verse an Agnes, die ihm gab, was seine reine Sinnlichkeit in den Liebesarmen eines deutschen Weibchens auf dem Lande zu genießen gehofft und eine sehnsüchtige Lyrik vorher ausgemalt [358] hatte. Liebe und Natur gehen Hand in Hand; „Er sei mein Freund nicht, welcher die göttliche Natur nicht liebet.“ „O die Natur! Alles hab’ ich von ihr, alles weihe ich ihr!“ „Aus deiner Fülle möcht’ ich nun schöpfen, o du, die ich als Mutter ehre, die ich liebe als Braut; Natur! Natur! … Dir dank’ ich, Natur, die seligsten Augenblicke meines Lebens!“ (W. X, 364 f.) … Am brausenden Rheinfall hatte er keinen Dithyrambus wie den „Felsenstrom“ hingewühlt, sondern das Blümchen „Süße, heilige Natur, Laß mich gehn auf deiner Spur“ gepflückt. Mit vollen Athemzügen sog er, nirgends Stubenpoet, ihre Erquickungen, des jungen Tages froh und im Mondschein andächtig, doch ohne Miller’sche Empfmdsamkeit wallend (vgl. Janssen I, 49), im wiegenden Kahn auf dem Wasser, dessen Wellentakt er melodisch einem Schubert zu überliefern weiß, kühn auf Atalante’s Rücken über die Ebene fliegend, ausschauend und Homer’s, Ossian’s gedenkend „am Ufer des wogenrauschenden Meeres“: „Die Meere“, „Hellebeck“ (Janssen I, 93, 100), eines seiner schönsten Gedichte und mit feierlichen Hymnen an die Sonne, die Erde, die Schönheit zu vergleichen, wilder „Kain am Ufer des Meeres“. Die freien Systeme, des Rheins „felsenwälzenden Wellen“ gemäß, weichen in Seeland (vgl. Janssen I, 102) dem wogenhaften Hexameter. St. ist der erste neuere Deutsche, der das Meer poetisch entdeckt hat, und zwar die ruhigere Ostsee; der Nordsee widmete dann Heine seine bewegten Rhythmen. Das Meer ist die große Stimme in der vollbesaiteten und vollstimmigen Natursymphonie (1779). „Du heiliges und weites Meer, Wie ist dein Anblick mir so hehr“ betet er, ein „Oceanist“, kein „Pfützenbewohner“, und sein Ruf verhallt ihm nicht im Leben: „Natur, du wirst mir nimmer alt In deiner wechselnden Gestalt! Natur, so groß und wunderbar! Und doch so traut! und doch so wahr!“ Solche Klänge sind das Eigenste der Stolberg’schen Poesie, wie das Homergedicht an Bodmer nicht Stand hält der aus innigster Jugendliebe entsprungenen Werbung um den Gruß des „guten, alten, blinden Mannes“, des „Halbgottes“, dem der Schenke Kapwein kredenzt („Bei Homer’s Bild“; vgl. auch Janssen I, 82).
Ein Werk der rasch zufahrenden Begeisterung ist seine 1778 erschienene „Ilias“, sportsmäßig hingeworfen, klangvoll, aber ohne sichere metrische Grundsätze, manchmal mit Klopstock’schen oder Ossianischen Wendungen behaftet, keineswegs nach der Reihe verdeutscht, sondern beim 20. Gesang angepackt, ein paar Anmerkungen beigefügt, deren eine den burschikosen Rath gibt, der liebe Leser möge Griechisch lernen und die Uebersetzung in die Ecke werfen. Für Homerforschung (vgl. VII, 386) und für die in Vossens erster Odyssee so wohlbelohnte, dann freilich ausgeartete Sisyphosarbeit eines dienenden Dolmetsch hatte dieser Liebhaber keinen Sinn. Von neueren Kritikern hat M. Bernays billig abwägend gesprochen, A. Schröter hitzig für St. gegen Voß geeifert. Bürger wollte zu Gunsten seiner Jamben 1776 den Freund zurückhalten, der öffentlich herausgeforderte „Fritz“ erwiderte die Bravade mit herzlichen Hexametern: wir wollen den gleich geliebten Göttlichen beide übersetzen. Auch eine Vereinigung dieser Ilias, deren Ertrag Voß zufiel, mit der Vossischen Odyssee wurde bedacht, Revision des Werkes unter Vossens raspelnder Hülfe später abgelehnt, da St. derlei nie vermochte, neidlos, wie immer, dem Genossen das ganze homerische Reich überließ und fortan die Ilias, während Christian beim Deutsch des Bruders blieb, nach Voß citirte.
Die eigene Poesie war 1779 vorläufig abgeschlossen. Chodowieckische Kupfer schmückten den Band und eine Vignette stellte die Brüder dar ceu duo nubigenae … Centauri. Die Gedichte, siebzig von F. L., sind nach Klopstock’s Muster chronologisch geordnet, manche Göttingische schon von Voß gefeilt, dem St. willig oder unwillig nur für den Almanach freie Hand ließ, einiges vom [359] Herausgeber Boie etwas geglättet. Die Sammlung ist unvollständig, und der Ausfall von Nummern, wie „An die Natur“, kann nur unabsichtlich sein. Sie war in Pyrmont rasch veranstaltet worden, um drohendem Nachdruck zuvorzukommen. Ueber diesen Band hinaus greifen Stolberg’s Balladen (s. F. L. V. Schmidt 1827, Keiper S. 53 ff.), die, sichtlich von Bürger angeregt, dessen Klingklang und Rohheiten vermeiden, aber auch seine Fülle und Wucht nicht erreichen und in unepischen Strophen wallend, zu keiner straffen Handlung dringen, gern lyrisch ausschwärmen, ohne Zudringlichkeit eine sittliche Tendenz verfolgen und, fern vom Ungeschmack der ältern Romanze, trotz den Mängeln die Gattung in Deutschland vor den Weimaranern und Schwaben bereichern. Nach schwachen ritterlichen Anfängen behandelt St. den crassen Stoff der ungetreuen „Büßenden“ (Heptameron der Königin von Navarra), vor Bürger’s satirischem „Lied von der Treue“ erweichend „Schön Clärchen“ (Tressan), idealisirend den „Bayard“ (Histoire de Bayard 1772), friedlich den „Grafen von Gleichen“. Auch von den Romanzen gilt sein Wort: „O es ist doch Gottes Gabe, daß unsere Herzen so aufwallend, unsere Seelen stürmend und dann wieder so sanft sind“.
Den Stürmer und Streiter fand Deutschland 1784 in den „Jamben“, Göttinger Nachklängen, die mit Ausdrücken wie „fauler Bauchpfaff“ an die Manier Vossens, der schwerlich Eigenes interpolirt hat (Hellinghaus S. 403), streifen und den verhaßten Hauptpastor Goeze persönlich treffen. St. will dem Archilochos nachgehen. „Der strengen Jamben schneller Geißelschwung“ fällt auf Despoten und das Ungeziefer der Schranzen, auf Dichterlinge, Empfindler, Schulweise, Pfaffen, Neologen, ohne daß ein eigener fester Standpunkt des auch auf schwärmerische Pfade abschwenkenden Satirikers klar würde und die Rügedichtung die rechte Zielsicherheit, Prägnanz und Schärfe gewänne. – Ein großes Gedicht „Die Zukunft“ in Hexametern und voll Klopstockscher Reminiscenzen gedieh 1779–81 (vgl. Hellinghaus S. 73 f.) auf vier Gesänge, ein fünfter kam im Juni 1782 hinzu, dann blieb das planlos taumelnde Werk liegen, das letzte des „freien“ Stolberg, der hier unverkennbar manche Fäden der anfangs einheitlich, dann cyklisch gedachten „Freiheitsgesänge“ wieder aufnahm. An Christian Jan. 1781: „zu wallen auf dem Zauber der Phantasey oder am Strom der Vorzeit oder auf den Höhen der Zukunft, bald geleitet an der Erinnerung und bald an der Hoffnung Hand“. Aus einer Abschrift theilte der Archäolog L. Roß 1832 und 1850 Stücke mit, das ganze Fragment druckte erst 1885 O. Hartwig (Archiv XIII). „Mich entflammen Bilder der Zukunft“ ruft St. und feuert seine Siona refrainmäßig an: „Fleug von Gipfel zu Gipfel, Gesang“, aber diese, auch apokalyptisch eingekleideten, vagen Gesichte der Vergangenheit und des Künftigen, diese Allegorien, diese trunkne Geschichtsphilosophie, diese rhetorischen Gleichnisse, diese Bilder von Meer und Mond und Wolken gleiten gestaltlos hin und her. Der 2. Gesang überfliegt den Orient, die Antike, Germanien, die doppelte Götterdämmerung, das Christenthum, den Islam, die römische Kirchenentartung und verherrlicht Luther, Friedrich den Großen, Klopstock, endlich Tell’s Land der nervigen Tugend. Der dritte malt, einzelne Adelsnamen auszeichnend, „gekrönte Verräther“ brandmarkend, einen künftigen Freiheitskrieg und einen Idealstaat, worin die Religion blüht ohne „heuchelnde Priester“, die Künste gedeihen und der Eid der Freiheit über alles gilt. Der vierte schildert alttestamentlich das Ländergericht der himmlischen Wage, die Ernte des Todesengels in Spanien; der fünfte springt von Maria Theresia zur Befreiung Amerikas, aber im Eingang flötet die Nachtigall am Eutiner See und „meine Agnes mit Taubenaugen und goldenen Locken“ erscheint. St. war nicht gereift. Müde, den Strom des Gesangs durch ferner Zukunft Gefilde zu rollen [360] „bis ihm der Ewigkeit Thore sich öffnen“, nahm er nur ein paar Verse in ein utopistisches Sammel- und Mischwerk, „Die Insel“, auf (1788), das in blühender Prosa, mit manchen persönlichen Zügen ausgestattet, als „Träume eines Wachenden“ ungemein jugendlich, halb hellenisch-platonisch, halb schwäbisch-modern irgendwo an der Donau Idealzustände entfaltet, wie man einst von einem Bundeseiland fabulirt und eben erst der verachtete Heinse rein sinnlich die glückfeligen Inseln gemalt hatte. Auch die „Gelehrtenrepublik“ blickt gelegentlich noch durch. Die Dialoge sind einem ausgewachsenen Manne kaum zuzutrauen. Platonische Motive fließen mit Felsenburger Patriarchaden und Rousseauscher Culturfeindschaft zusammen. Das dichterische zweite Buch bietet Liebesidyllen: Agnes waltet darin als Psyche, und ihr eigner, gewiß von St. überarbeiteter Beitrag „Aura“ ist die sanfteste, unkörperlichste Erzählung eines weiblichen Dilettantismus. Feierliche religiöse Chöre machen den Schluß. Auch dieser Tragelaph meidet noch confessionelle Kämpfe.
Die studentische Freiheitsschwärmerei treibt endlich in einigen als Kunstwerke unqualificirbaren Dramen; eine „Laura“ (W. I, 315) ist nicht auf uns gekommen. Klopstock’s Undramatik wird mit einer namentlich in langen Chören antikisirenden Weise aufgemischt, Architektonik, Handlung, Motivirung, Consequenz nie gesucht. Die Schöpfung dieser Declamationen geschah aus dem Handgelenk, so daß schon Voß mit Recht über solche cavaliermäßige Hast murrte. „Der Säugling“ gibt nur die Götter- und Musenweihe des kleinen Homeros, den aber Ate blendet. Politischen Inhalt haben „Theseus“ und „Timoleon“ (vgl. W. IX, 182), maßvoll antityrannisch nach Plutarch, und nach Livius und Dionys der „Servius Tullius“ mit dem Lobe des göttlichen Brutus. Was den Dramatiker herausfordert, wird nur erzählt. Bequeme Prologtechnik, Mangel an sichtbarem Stoß und Gegenstoß, lange Reden und Gesänge laufen durch diese hie und da an die griechischen Tragiker, V, 124 leis an Shakespeare’s Richard anklingenden Rhetorstücke. „Apollons Hain“ ist eine Art Satyrspiel zum Preise des Musenlieblings Ion gegen den Gecken Theopomp; die humoristischen Reden eines alten und eines jungen Faun können zwar keinen Vergleich mit Aristophanes, mit Goethe oder Müller aushalten, aber dithyrambisch schwungvoll klingen die Weiheverse V, 100 ff. F. L. war, doppelt bemüht mit Christian „das wahre alte Trauerspiel wieder aufleben zu machen“, getrost an den Aischylos herangetreten. Im Sommer 1780 stärkte er sich jeden Morgen mit solchem griechischen Wein (Janssen I, 115). 1783 waren vier Stücke fertig (gedruckt erst 1802), im Fluge genommen, denn der titanische Grieche trieb ihn heiß von Gipfel zu Gipfel und er fuhr mit schnaubenden Rossen, wenn aller Ausleger Ochsen am Berge standen (Janssen I, 135). Manchmal half Voß beim Prometheus, den Sieben, den Persern, den Eumeniden. Dann verflog der Paroxysmus, denn mit dem Agamemnon des alten Marathonkämpfers zu ringen, schien gar zu schwer. Die Uebersetzung (in fünffüßigen Jamben und freien Chorsystemen) ist Dilettantenarbeit, immerhin vornehmer und stilvoller als was sonst griechisch-deutsch zu Markte kam, klarer als Vossens späteres Cyclopenwerk, auch Schillern willkommen. Gegen diesen erhob St., Liebhaber der Griechen und Anbeter Christi zugleich, im Deutschen Museum 1788 Protest: „Gedanken über Herrn Schiller’s Gedicht: Die Götter Griechenlands“ (W. X, 424): das sei Mißbrauch der Poesie, denn echte Begeisterung führe zu Gott, der verirrte Sänger des rührenden Rundgesangs an die Freude erinnere nun mit einer schrecklichen Alternative geradezu an Blumauer; daran fügt St. – und es ist die erste Regung einer Umkehr – die Ablehnung freimüthig sein sollender Ausfälle von Wienern gegen den Papst. Er wurde im Laufe der achtziger Jahre religiös immer positiver. Vorgreifend müssen wir seiner Uebersetzung Platonischer Gespräche [361] (1796 f., W. XVII–XIX) gedenken, die Hand in Hand mit Schlosser’s platonischer Gefühlsphilosophie gegen Kant’s Kritiken den „vornehmen Ton“ der Ahnung und Empfindung anschlug und in Einleitung wie Noten allerdings das furchtbar höhnische Prädicat der Xenien „Graf und Poet und Christ“ herausforderte. Auch bei Goethe, der im „Neuesten aus Plundersweilern“ der brüderlichen Harfenisten lustig gedenkt, hatte der Jugendfreund ausgespielt. Er wetterte über das gräfliche Gesalbader. Der Almanach auf 1797 überschüttete die bekehrten Centauren, die sterblichen Dioskuren, den Teleologen, den christlichen Archäologen, den Platondolmetsch rücksichtslos mit einem Pfeilregen (vgl. auch Hennes² S. 490). F. L. stand im Zeitalter Kant’s, Goethe’s, Schiller’s fremd und fremder da. Nach Agnes’ Tod war noch herzlicher Zuspruch aus Weimar gekommen; auch sollte das Band zwischen den alten Gefährten trotz allen Trennungen nicht ganz zerreißen (Goethe-Jahrbuch III, 300). 1822 endlich machte Auguste Bernstorff einen Versuch zu Goethe’s Bekehrung, den dieser ernst und würdig beantwortete. –
Am 19. April 1789 traf St. als dänischer Gesandter in Berlin ein, wo ihm Katharina Haus hielt. Aber wie die gebeugtesten Wittwer am schnellsten zu einer neuen Ehe schreiten, so konnte auch St. nicht ohne Gattin leben. Er lernte die Gräfin Sophie Charlotte Eleonore v. Redern (geb. am 4. November 1765) bei ihrer Schwester Fontana kennen und entschloß sich, ihrer tiefen Neigung sicher, um sie anzuhalten, als im Herbst 1789 die Abreise der jüngst Verwaisten nach Spanien in Frage stand, nicht ohne heftige Conflicte im Gedanken an die todte, über Alles geliebte Agnes, in Briefen bemüht sich und Andere zu überreden, daß die Sorge für die Erziehung der Agneskinder diesen Schritt gebiete. Seine erste strahlende Leidenschaft und sein erstes idyllisches Glück konnten nicht wiederkehren. Die Lyrik schwieg. Sophie war auch ganz anderer Art als Agnes: eine strengere, selbständigere und vornehmer zurückhaltende Natur, nach freudloser Jugend ernst gestimmt, religiös hartnäckiger, ohne anmuthigen poetischen Schwung und Kunstsinn, aber innerlich warm, fest im Thun. Ihre Briefe an die Schwägerinnen zeigen, daß sie Stolberg’s Liebe verdiente. Sie ist eine treue Gattin und Mutter geworden. Die Hochzeit erfolgte in Berlin am 15. Februar 1790. Man bezog ein Landhaus in Martiniken und gewann in Nicolovius einen trefflichen, bald befreundeten Hauslehrer. Sophie hatte ein für jene Zeit ansehnliches Vermögen in die Ehe gebracht. Berlin aber bot in keiner Weise eine bleibende Stätte, so daß St. im Juni 1791, auf den neapolitanischen Gesandtenposten verzichtend, freudig eine Berufung als Lübischer Kammerpräsident in Eutin mit bedeutendem Einkommen und Urlaub bis zum Herbst 1792 annahm (Hennes² S. 433). Die Freiheit wurde zu einer großen italienischen Reise benutzt, der Urlaub unterwegs verlängert. In Münster nahm die Fürstin Galyczin die Reisenden auf. Sophie duzte sich sogleich mit der „engelreinen Adeodata“ und verabredete eine Gevatterschaft; ein folgenschwerer Lebensbund wurde geknüpft. In Pempelfort schloß sich Jacobi’s zweiter Sohn, Georg, an, der 1796 seine primanerhaften Briefe nach Hause in zwei Bänden herausgab, während Nicolovius mit seinen Schilderungen nicht vor das Publicum trat. St. correspondirte eifrig mit den Lieben daheim und schickte rasche Skizzen, Homerisches, Virgilisches, Theokritsches sammt Abbildungen alter Pflüge an Voß. Seine Reisebeschreibung erschien in vier Bänden 1794. Unbegreiflich, wie Graf Schack sie dem Monument Goethe’s vorziehen kann. Noch betrachtet der Mann die Schweiz mit Jünglingsaugen und läßt den Kunstwerken gegenüber eine gründliche Vorbereitung und Verarbeitung vermissen. Was ihn nicht sofort ergreift, bleibt liegen. Vieles in Kunst und Natur, Geschichte und Gegenwart ist begeistert aufgefaßt, aber die [362] allmähliche Eroberung des classischen Bodens und die ernste Schulung Goethe’s fehlt. Mehr als Rom fesselt die Landschaft Neapels. Der breiteste Raum mit vielen historischen Excerpten ist Sicilien gewidmet, das die Männer besuchten, während Sophie auf Ischia blieb, wo ein in Neapel geborenes Töchterchen starb. St., naiv den Spuren Homer’s folgend, gibt sich keineswegs als Gegner der Antike, der er nie werden konnte, aber sein Christenthum tritt im rechten Widerspiel zu Goethe’s Heidenthum stark hervor, er sieht die Häupter der Olympier mit dem traurigen Stempel der Vergänglichkeit bezeichnet und beginnt sacht eine antiprotestantische Ansicht der römischen Kirche zu nähren. Nicht umsonst waren zwei Droste-Vischering lang seine Begleiter. In Wien wurde Haugwitz noch einmal vor politischer und menschlicher Trennung begrüßt. Am 28. Januar 1793 erschien St. wieder in Eutin, machte aber noch die Runde bei Verwandten und trat sein Amt, „nie ein starker Jurist und in Kameralsachen unerfahren“, erst am 1. März an. Er verließ es häufig und empfing viele Besuche. In Eutin lebte Gerstenberg verschuldet und verbittert. Schlosser, Jacobi schlugen hier in den Kriegswirren eine Zeit lang ihren Sitz auf. Das Verhältniß zu Voß, das der hitzig auflodernde, aber nachgiebige St. trotz allen Reibungen zu wahren suchte, war auf die Dauer unrettbar (Goethe, Annalen 1820, „Voß und Stolberg“ XXXVI, 283). Der schwärmerische Christ und der klotzige Rationalist und Pfaffenfeind, der stolze Adelige und der bäurische Aristokratenfresser, der einen „Junker Kord“ dichtete, die Edelleute als Bastarde von Hund und Wolf carikirte und solchen Schelmen den höchsten Galgen wünschte („nicht fein genug“, so lautet Stolberg’s sanfter Tadel dieses Gepolters), konnten den Bund der Jugend nicht halten. Voß jubelte über die Zertretung des Adels durch die Revolution; St. ging aus flüchtiger Begeisterung für die Sache der Menschheit zum Haß gegen die Stürme aus Frankreich über. Oden, wie „Die Westhunnen“ – den Namen Neufranken verbot St. naiv den Umstürzlern, den „Teufeln“, mit Berufung auf seine fränkische Mutter – und „Kassandra“ las Voß als reactionäre Proteste gegen seine eigene Weltansicht. Ueber Lavater waren sie schon längst an einander gerathen, als Anfang 1787 St. und Schlosser den Zürcher Gottesmann im Deutschen Museum vertheidigten, so wie ihm Jung-Stilling ans Herz wuchs. Nun rief keine Agnes mehr ihr beschwichtigendes „Vossi“. Zwar schlug Gräfin Sophie gegen Ernestine einen freundschaftlichen Ton an, aber die rechte Vertraulichkeit fehlte, im Hause herrschte ein den einfachen Agnestagen mit ihren Eierkuchenschmäusen fremder Glanz und neue Gäste schienen den knorrigen Rector zu verdrängen, den St. so viele Jahre durch begrüßt: ϰρῖε πέπον. Vornehme Emigranten, besonders Frauen, kamen als Intime. Daß St. ohne adeligen Dünkel sei, hätte Voß nie verkennen dürfen; die Beziehung zu Münster hat er äußerlich richtig, innerlich grob als eine planmäßige Machination der Galyczin und ihres Anhangs zum Fang des widerstandslosen St. beurtheilt. 1793 machte die Fürstin ihren Gegenbesuch und im Herbst folgten die Brüder Droste-Vischering, deren einer im nächsten Frühjahr den hochbegabten Geistlichen Katerkamp mitbrachte; 1797 erschien die Fürstin wieder; Stolbergs verweilten den ganzen November 1794 in Münster, auch von Fürstenberg mächtig angezogen. Immer stärker ergriff der Katholicismus, keineswegs bloß durch die Wirkung bedeutender und geliebter Menschen, diese Seelen. Ein „Erzmystiker“, möchte St. 1794 die augustinische Wahrheit Tu fecisti nos ad te, et cor nostrum inquietum est, donec requiescat in te in einem Herzensroman darstellen, wie er ihn selbst anfangs ohne klares Bewußtsein, dann lang und ernst mit sich ringend erlebte. In derselben Zeit fleht er die Gesegnete des Herrn lyrisch an, ihn auf Schwingen zur ewigen Sonne emporzuheben. Eine schwere Krankheit 1797 in Petersburg, der Tod Bernstorff’s, [363] der Verlust mehrerer Kinder und andere Erlebnisse, das politische Elend drückten ihn. Er entzog seine Söhne dem irreligiösen Unterricht Vossens und berief einen Abbé Pierrard ins Haus. Der „elende Zustand des Lutherthums“, das zum Deismus und Atheismus führe, der krebsartig um sich fressende, alle mystischen Wurzeln zerstörende neologische Rationalismus, die Kantische Philosophie (über einen Besuch bei Kant 1797 vgl. Janssen I, 403), die ganze Aufklärung stießen ihn ab. Schon 1781 hatte er sich lieber „mit unsern Brüdern, den Katholiken, verbinden, als mit diesen Kirchenräubern eine Gemeinde ausmachen“ wollen, 1783 eine Gährung verkündet. Er betrieb eine ausgedehnte katholische Lectüre und kehrte von dem „Chamäleon“ Herder und den andern Modernen sehnsüchtig zu den frommen Vätern zurück. 1800 (Menge II, 537) sagt er brieflich vom Protestantismus, dessen streitbarer Name schon ihm leidig wurde: Il s’écroulait sans choc en suivant sa propre pente; il se corrompait par un germe de corruption qui lui était propre – dagegen erschien die römische Kirche seit 1800 Jahren inébranlable, inaltérable und so voll von praktischer Tugend. Das alte Bedürfniß „Führe mich an deiner Hand wie das Kind am Gängelband“ schwoll in ihm. Seine Gemahlin war 1797 oder früher schon ganz mit sich fertig; St. glaubte noch alle Controversen wägen, das „Heimweh“ dämmen zu können, ja, er nahm noch Anstoß an manchen katholischen Dogmen und prüfte sich 1798 in Herrnhut, da er doch innerlich der „Mutterkirche“ gehörte („um unter dem Schatten der Flügel jener großen Gluckhenne Ruhe für mich und die Meinigen zu finden“). Aber wie Goethe einmal sagt: Abfall bleibt verhaßt; so wurde der letzte Schritt, obgleich das Bedürfniß einer unfehlbaren Kirche ihn unwiderstehlich fortriß, peinlich aufgeschoben. Münster brachte die nothwendige Lösung, ohne welche St. zu Grunde gegangen wäre. An einem Tage heftiger Reaction gegen den Uebertritt wenden die Fürstin und Overberg ein äußerstes Kraftmittel an, indem sie communicirende Kinder für St. beten lassen – das überwältigt den Gefühlsmenschen, die nur gewähnte Prüfung ist beendet, am 1. Juni 1800, im Todesjahr des Jahrhunderts der Aufklärung, tritt das gräfliche Paar, von Overberg geweiht, in der Galyczin’schen Capelle zum Katholicismus über, bald alle Kinder nachziehend, von denen der ersten Ehe nur Mariagnes nicht, die Braut des Grafen Stolberg-Wernigerode. Zunächst blieb der Uebertritt auch ihnen tiefes Geheimniß, die Wernigeröder Eltern wurden mündlich eingeweiht, dann gingen einige vertraute Briefe zu den nächsten Angehörigen und Freunden. Aus Karlsbad am 17. Juli reichte St., da er nicht „Präsident eines lutherischen Consistorii“ bleiben könne, sein Entlassungsgesuch ein, das nach ernsten Briefen hin und her vom Herzog am 21. August genehmigt wurde. Sehr scharf spricht sich der Herzog der Kaiserin von Rußland gegenüber aus (Hennes S. 524). Stolberg’s Uebertritt erregte ungeheures Aufsehen und erschien, von den Katholiken jubelnd begrüßt und bis heute tendenziös ausgebeutet, vielen Protestanten nicht als ein individuell zu behandelnder Fall, sondern als ein Zeichen allgemeiner Verfinsterung. Ruhig und billig äußerte sich Herder; Goethe sagte, er habe St. längst für katholisch gehalten; Claudius und andere Stillen im Lande wurden an ihrem St. nicht irre; F. H. Jacobi kündigte ihm tief erschüttert auf, gab aber, als seine Briefe 1802 widerrechtlich gedruckt worden waren, einer besonderen Schrift sehr freundschaftliche Worte an den Menschen mit. Man begreift Vossens Ingrimm und wird ihm nach all den Eutiner Conflicten mit dem immer noch geliebten Freund selbst die furchtbar plumpe „Warnung. An Stolberg“ (am 8. August geschmiedet) nicht zu streng vorhalten – aber auch wer in dem ganzen Handel mit dem Kopf auf Seiten des Protestirenden ist, muß sich mit dem Herzen empören, daß Voß 1819 im Sophronizon des Erzrationalisten Paulus den [364] Fehdebrief „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier“ erließ, dadurch andere Leute links und rechts ins Gewehr rief, 1820 eine große „Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe“ vorlegte und bitterbös alles ausschüttete, was von kleinen Verstimmungen früherer Jahre an bis in die Eutiner Krisen hinein sich gegen den Jugendfreund angestaut hatte, der doch den Sohn Heinrich Voß aufs schönste von allem Hader ausschloß und nie ein schnödes Wort über den alten Isegrim verlauten ließ. Goethe empfand den Streit wie „ein Capitolo aus Dante’s grauser Hölle“.
Der protestantische Norden konnte nicht länger Heimath bleiben. Es war natürlich, daß St. Münster wählte, das ihm vertraut war und wo man den Geretteten liebte. Die Sommer wurden seit 1803 in Lütjenbeck verbracht, mit der alten Lust am Reiten und Baden. In der Nähe residirte die Diotima Galyczin, aber vielbeweint starb sie schon 1806. 1812 bezogen Stolbergs das Gut Tatenhausen bei Bielefeld, 1816 die Osnabrücker Domäne Sondermühlen. Das glückliche Stillleben unterbrachen manche Reisen: 1806 nach Holstein und Hamburg, 1808 nach Stolberg, 1812 nach Karlsbad und in Sophiens lausitzische Heimath, 1816 wieder zu Christian und Reventlows. 1815 wurden die Brüder gleich Gerstenberg und Schönborn Ehrendoctoren der Universität Kiel. Zwanzig Jahre verkehrte St. intim mit dem streng katholischen Adel Westfalens, den Droste-Vischering und Meerveldt, den Haxthausen u. s. w., und über die Erziehung der Annette Droste-Hülshoff hat er sein Votum abgegeben (Janssen II, 147). Seine eigenen Kinder, deren Schar – die drei ersten zweiter Ehe waren rasch gestorben – von 1796–1810, als St. schon auf Enkel schauen konnte, sich mehrte und blühte, hatten in dem spätern Bischof Kellermann einen frommen Lehrer und Hausgeistlichen. Der Vater selbst leitete einen Theil des Unterrichts und gönnte der antiken Welt, dem „göttlichen Homer“ und anderen Lieblingen den gebührenden Raum, sowie alle ländlichen Freuden und gymnastischen Spiele der eigenen Jugend nun, unter frischer Theilnahme des schönen, reisigen Mannes, das neue Geschlecht stärkten. Das Theater aber und was mit diesem Pfuhl zusammenhing, blieb verschlossen, von den Schätzen unserer classischen Dichter drang wenig in den frommen Weltwinkel. St. hat schon am „Tasso“ kein Gefallen gefunden, aus dem verhaßten „Wilhelm Meister“ nur das religiöse Buch der schönen Seele herausgeschnitten, 1812 in Karlsbad mit Goethe bloß die Erinnerung lang verflossener Zeit überströmen lassen (Janssen II, 208), zwar „Dichtung und Wahrheit“ lebhaft interessirt gelesen, doch mit heftigen Einwürfen gegen den „Einzigen“ (S. 224), die „Wahlverwandtschaften“ als der Erschlaffung des vornehmen Lesepublicums dienend verworfen und eifrig bedacht, ob nicht dem „durch Goethe und Wieland fast heidnisch gewordenen Weimar“ ein katholischer Geistlicher frommen könne. Schiller hatte ihm anfangs als Historiker imponirt, als Dichter bald den Werth eingebüßt. Ob die Pfeile der höhnischen Xenien wirklich Stolberg’s Haut nicht ritzten (Niebuhr), bleibe dahingestellt. Neben seinen Klagen um das Abscheiden Gleim’s, des „größten Dichters“ Klopstock, später dem schlichten Nachruf auf Claudius (W. II, 326) oder der für St. wol begreiflichen Ueberschätzung des zum Freunde gewonnenen Ritterdichters Fouqué, der ihm den „Thiodolf“ widmete, der Andacht für Chateaubriand nimmt sich das Briefwort häßlich aus: „Schiller ist also todt! Gott habe ihn selig. Für die Philosophie, Religion und den Geschmack des Wahren und Schönen ist sein Tod Gewinn. Er hatte Talent zum glänzenden Falschen, nicht genug fürs Wahre“ (Janssen II, 111). Aber solche lieblose Aeußerungen stehen bei St. sehr vereinzelt. Er beklagte den Protestantismus, doch er beschimpfte ihn nicht und wollte 1809 aus dem Lutherthum wenigstens für die katholisch Gebliebenen Vortheile folgern: „Wider die Person Luther’s, in welchem [365] ich nicht nur einen der größten Geister, so je gelebt haben, sondern auch große Religiosität, die ihn nie verließ, ehre, werde ich nie einen Stein aufheben“. In seiner ausgedehnten Correspondenz als Gewissensrath besonders für höhere Conversionsbegierige waltet keinerlei jesuitische Proselytenwerbung, doch sehen wir ihn lieber mit dem edlen Sailer, Chr. Schlosser, Windischmann in Verbindung, als mit Adam Müller und seinem Recensenten F. Schlegel, bei dessen Stiefsohn Ph. Veit er Pathenstelle vertrat; und Graf St. 1813 betend und dichtend am Bette des wunderbar stigmatisirten „Nönnchens“ Kath. Emmerich macht eine üblere Figur, als in angeregten Gesprächen mit ihrem Herold, dem Pilger Clemens Brentano, der 1815 seines Freundes Christian Stolberg Soldatentod schön besang (vgl. Diel-Kreiten II, 7, Görres-Briefe II, 468 und Brentano’s anschauliche, wichtige Schilderung Sondermühlens 1818, Ges. Schr. VIII, 266, auch S. 285 an die von ihm treffend charakterisirte Gräfin). Stolberg’s Briefe werden oft Jeremiaden über den Baalsgeist der Zeit, wie unter den späten Aufsätzen neben Wiederholungen seiner Jugendevangelien von Poesie und Sprache eine in A. Müller’s Staatsanzeigen 1818 gedruckte Anklage gegen diesen „Zeitgeist“ steht. Ihn freute das Auftreten von Harms, aber die Union war ihm als „Holter und Polter geschehende Vereinigung“ ein Aergerniß. Unversehrt war in den Napoleonischen Kriegen sein Nationalgefühl geblieben und auch gegen die „empörende Felonie“ des Rheinbundes aufgelodert. In den Freiheitskriegen hielt er brieflich und lyrisch Gericht über die Westhunnen und die neue Babel und sah 1815 außer zwei Eidamen vier Söhne, deren einer bei Ligny fiel (vgl. noch Janssen II, 328), zu Felde ziehen. Dann galt ihm freilich „Gottlosigkeit“ als Wurzel aller politischen Mißstände.
Seine Altersschriftstellerei steht, von kleineren Abhandlungen, Gedichten (ohne specifisch katholisirende Art), dem Ossian (1806), dem „Alfred“ abgesehen, im Dienste christlich-apologetischer Erbauung, ein wortreiches Maranatha. Er übersetzt aus dem Augustin. Er verherrlicht die Heiligen Franciscus und Vincenz. Aus einem Vermächtniß für die Kinder erwächst auf Droste-Vischering’s Zureden der Plan, in der katholischen Weltgeschichte den Gang der leitenden, offenbarenden Vorsehung darzulegen und erst die alttestamentliche Erwartung des Heilandes, dann das Wirken des Erlösers und seiner Kirche zu beleuchten. So förderte er mit Gehülfen und Revisoren 1806–1819 im Verlag des protestantischen Freundes Perthes seine fünfzehnbändige, durch reichen Absatz nicht bloß bei Katholiken und den lauten Beifall der F. Schlegel, J. v. Müller, de Maistre ausgezeichnete „Geschichte der Religion Jesu Christi“ zu Tage, das Werk eines strenggläubigen Schwärmers, eine beredte Urkunde für den Verfasser und seine Zeit, voll herzlicher Stellen in dem eintönigen, ungeschickten Ganzen, ohne dreuendes Zelotenthum und directe Polemik, kritisch gemessen aber der bare Dilettantismus, wie von vornherein Plan und Absicht zeigt. St. war ein unwissenschaftlicher, durchaus kritikloser Kopf; freie Forschung heißt ihm wilder Hypothesengeist, Sophistik. Er liebte die Historiker, welche die sinnvollen Fabeln des Alterthums gelten ließen und keine Mauer zwischen dem Wald der Geschichte und dem Hain der Poesie aufrichteten (W. VIII, 203, 438), weshalb er zu Freund Niebuhr’s Hauptwerk ziemlich scheel sah (Janssen II, 200). Schon 1796 hatte ihn Prideaux’ Buch auf die Bahn der göttlichen Kirchengeschichte gebracht. Jetzt sammelte er ohne zu sichten, schrieb mit fliegender Feder ohne planvoll zu componiren (vgl. III, 4). „Nicht nur docendo, auch scribendo discimus. Man kann nicht leicht unwissender sein, als ich es über einen großen Theil des Inhalts meiner Religionsgeschichte war“ (Janssen II, 342). Die vier ersten Bände geben nur eine Paraphrase des Alten Testaments, buchstabengläubig von der Schlange und der Sündfluth an, mit ein bischen compilatorischer Weisheit, gehobener [366] bei den Psalmen und anderer althebräischer Poesie, nur halbmystisch für das Hohelied. Große Beilagen – zwei hat ein französischer Freund, Jarry, geliefert – ergehen sich gern, wie man früher überall Elemente der „natürlichen“ Religion gefunden hatte, in wirrer Mythenvergleichung bis Indien und China, um die Sehnsucht der Creatur nach dem Heil, die frühe Andeutung christlicher Religionsgeheimnisse bei anderen Völkern, die heilige Dreizahl, die Gesetzgebung von oben, die kindliche Pietät der Chinesen, die Identität Noah-Menu-Fohi, aber auch Greuel des Götzendienstes im Orient und in der Antike zu beleuchten. St. citirt oft genug unbefangen seine Griechen und Römer, doch verdammt er den „Mißbrauch“ (III, 562) und steigert (III, 565) sein italienisches Urtheil über den Todesausdruck der Götterbilder. Der fünfte Band führt in die „Fülle der Zeit“: eine „Harmonie der Evangelien“, gottselig, aber so unkritisch wie möglich (s. besonders die Auferstehung und den Excurs über die Geschlechtsregister). „Aber wer bin ich, um etwas über den Inhalt dieser Worte zu lallen“, ruft der alte Klopstockschüler, als er den Anfang Johannis citirt. Persönlich spricht er über das Sacrament der Ehe und die Revolution (III, 370). Der Fürstin Galyczin wird in der Geschichte Jesu ein Denkmal errichtet. Dann winden sich zehn Bände bis zum Tod Augustin’s im J. 430. St. selbst gesteht, das Zeitalter der wachsenden Kirche umfänglich darzustellen sei zu schwere Mühe für seinen grauen Kopf. Er kann nicht prüfen, nicht in größerem Stil darstellen. Seine Charakteristik eines Tertullian, Origenes, Clemens, Augustin ist unbedeutend; man vergleiche das Gemälde der Antonine mit Gibbon! Ein „Dem sei wie ihm wolle“ schneidet Controversen ab, die Musterung urchristlicher Secten ist mit dem bequemen Wort erledigt: „Es bedarf nicht, daß man Schild und Speer gegen unlautre Schatten der Vorzeit erhebe“. So kommt dem Leser immer wieder das alte Xenion „Zur Erbauung andächtiger Seelen“ … in den Sinn. Wissenschaftlich hebt sich Katerkamp hoch über St.; diesen ziert ein milder Geist, eine starke Empfindung. St. war darin kein ganz sicherer Katholik, daß er rückhaltlos dem freien Bibellesen das Wort redete und auch das vertraute Deutsch Luther’s nicht fahren ließ. 1819 f. erschienen noch, ebenfalls seinen Kindern gewidmet, Stolberg’s „Betrachtungen und Beherzigungen der heiligen Schrift“ (vgl. die Analyse in F. Schlegel’s Concordia S. 231–295).
Der politisch-religiösen Geschichte vornehmlich gilt, den Söhnen zugeeignet und dichterisch eingeleitet, sein schlicht, aber reizlos geschriebenes, von ältern und neuen englischen Quellen sehr abhängiges „Leben Alfred des Großen, Königes in England“ (1815), das Bild eines vielseitigen Musterfürsten, ohne Haller’sche Umbildung zum Roman (W. X, 226), mit kleinen Winken des „alten Landsmannes an seine Deutschen und einer letzten Abschweifung über den Dithyrambus im 17. Capitel. Endlich gab er sein an Bibelsprüchen reiches, friedenvolles „Schwanenlied“: „Ein Büchlein von der Liebe“ (1819); einer Liebe, die Timoleon und Achill, Porcia und Andromache wie vormals umfängt, weil diese Helden und Frauen schön und gut sind. Die Gläubigen „führt die Liebe an der Hand“; XX, 344 „Sehnsucht der Liebe soll uns gängeln zur Urliebe“. Ein Büchlein von dem Hasse, nämlich den maßlosen Angriffen Vossens, mußte leider Stolberg’s letzte Arbeit sein; Bruder Christian hat „Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg kurze Abfertigung der langen Schmähschrift des Herrn Hofraths Voß wider ihn“ zornig vollendet. Längeres Siechthum blieb St. erspart. Glaube und Familienliebe verklärten seine letzten Stunden und auch protestantische Choralverse trösteten ihn. Der Bericht seiner Tochter Julie erschien als Zugabe zum Neudruck des „Büchleins von der Liebe“. Am Abend des 5. December 1819 ist er entschlafen, überlebt von seiner Gattin Sophie und zwölf Kindern.
- [367] Die Litteratur von und über St. verzeichnet Redlich in Goedeke’s Grundriß, 2. Aufl., IV, 393. Die Eutiner Zeit und alle Beziehungen zu Voß hat Herbst eingehend behandelt, die Briefe an Voß Hellinghaus herausgegeben (Münster 1891). Tendenziös sind die Werke von Menge, Hennes, Janssen, aber reich an Briefen, deren Abdruck von Hennes mit einer unerhörten Büchermacherei betrieben worden ist. Ein einheitliches Corpus ausgewählter Briefe wäre willkommener gewesen, als die Wiederholung, Umrahmung, Verzettelung (vgl. Werner, Anzeiger zur Zeitschr. für deutsches Alterthum IV, 374). Eine Monographie bleibt zu wünschen. Nach Winken Scherer’s (s. jetzt Kleine Schriften II, 348) hat soeben Dr. W. Keiper „F. L. Stolberg’s Jugendpoesie“ gewürdigt (Berlin, Mayer u. Müller, 1893). Eine Auswahl der Gedichte von A. Sauer soll demnächst erscheinen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Schrifsteller