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ADB:Paulus, Heinrich

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Artikel „Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob“ von Julius August Wagenmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 25 (1887), S. 287–295, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Paulus,_Heinrich&oldid=- (Version vom 5. Dezember 2024, 18:30 Uhr UTC)
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Paulus: Heinrich Eberhard Gottlob P., der „Rationalist“, ist geboren am 1. September 1761 zu Leonberg im Herzogthum Würtemberg, † am 10. August 1851 zu Heidelberg, als Professor der Theologie und Geheimer Kirchenrath.

Sein Geburtshaus war dasselbe Leonberger „Helferhaus“, in welchem 14 Jahre später der Philosoph Schelling das Licht der Welt erblickte; sein Vater der damalige Helfer oder Diakonus Gottlob Christoph P. (geb. am 9. Februar 1727 zu Markgröningen, † am 20. Mai 1790 ebendas.), seine Mutter Marie Christine geb. Köstlin. Jener, ein Schüler des Tübinger Wolfianers J. G. Canz und des Theologen Chr. Matth. Pfaff, halb Skeptiker, halb Pietist, ein begabter und kenntnißreicher, aber schroffer und eigensinniger Mann, war durch den frühen Tod seiner Frau in einen Zustand nervöser Aufregung versetzt und zuletzt, theils weil er mit Geistererscheinungen und mystischem Conventikelwesen sich abgegeben, theils weil er durch ein politisches Pamphlet (Der württembergische Solon 1765) einflußreiche Persönlichkeiten sich zu Feinden gemacht hatte, vom Stuttgarter Consistorium „ob absurdas phantasmagoricas visiones“ 1771 seines Amtes entsetzt worden. Nachdem der junge P. von seinem Vater, zu dessen Phantastereien er freilich bald kritisch sich verhielt, den ersten Unterricht erhalten, durchlief er nach rühmlich bestandenen Landexamen die würtembergischen Klosterschulen Blaubeuren und Bebenhausen (1775–79) und widmete sich dann 1779–84 im Tübinger Stift dem Studium der Philosophie, Geschichte und Theologie. Der Philosoph G. Ploucquet, der Historiker Chr. Fr. Rösler, der Orientalist Chr. Fr. Schnurrer, der Theologe Chr. G. Storr übten auf ihn nach seinem eigenen Bekenntniß den größten Einfluß. Daneben aber waren es theils mathematische Studien, theils die Bekanntschaft mit den Schriften von Semler, J. D. Michaelis u. A., durch welche schon damals während seiner Tübinger Studienzeit die rationalistischen Anschauungen in ihm begründet wurden, denen er dann lebenslang mit unverrückter Consequenz treu geblieben ist. Schon damals fand er beim Studium der paulinischen Briefe, daß der Apostel unter der christlichen Glaubensgerechtigkeit nichts anderes verstehe als „Gott gefällige Rechtschaffenheit aus Ueberzeugungstreue“. „Denken und Wollen des Rechten“ erschien ihm schon jetzt als Kern und Stern des Christenthums, mathematische Präcisirung der Lehrsätze als Aufgabe aller, auch der theologischen Wissenschaft; denn „was nicht mit mathematischer Gewißheit sich beweisen läßt, ist auch religiös und sittlich unwahr“.

Nachdem er 1781 durch eine Dissertation über die Weissagungen des Jesaias Magister geworden war, 1784 sein theologisches Examen mit glänzendem Erfolg bestanden hatte, wurde ihm die Stelle eines Secretärs bei der Christenthumsgesellschaft in Basel angetragen. Er lehnte sie ab, weil er sich selbst nicht mehr für gläubig genug hielt, um den dort an ihn gestellten Anforderungen genügen zu können, übernahm vielmehr zunächst die Stelle eines Hauslehrers [288] bei seinem väterlichen Oheim, Oberamtmann Paulus in Schorndorf, 1786 aber das Vicariat an der dortigen lateinischen Stadtschule und beschäftigte sich daneben mit exegetischen und dogmenhistorischen Privatstudien. Einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben bildete eine wissenschaftliche Reise, die er 1787–88 mit Hülfe eines von dem Freiherrn von Palm in Kirchheim und eines von der herzoglichen Regierung verwilligten Reisestipendiums unternahm: sie führte ihn zuerst nach Norddeutschland. wo er insbesondere in Göttingen bei seinen schwäbischen Landsleuten Planck, Spittler und Reuß freundliche Aufnahme und Förderung fand, dann nach Holland, England, Frankreich, wo er theils mit theologischen und pädagogischen Studien, theils mit orientalischen Handschriften, überhaupt aber mit allem Wissenswerthen sich beschäftigte. Interessante Mittheilungen aus seinem handschriftlich noch vorhandenen Reisejournal s. bei Reichlin-Meldegg Bd. I, S. 81–150.

Während P. noch in England weilte, dachte Planck in Göttingen daran, ihn für die dortige Universitätspredigerstelle und ein theologisches Lehramt vorzuschlagen und ließ zu diesem Zweck einige Predigten von ihm über Einheit und Geistigkeit Gottes drucken (Lemgo 1788). Kaum war er aber in seine schwäbische Heimath zurückgekehrt und eben im Begriff, in das Tübinger Repetenten-Collegium einzutreten: da erhielt er im April 1789 einen Ruf nach Jena als Professor der orientalischen Sprachen, für den soeben nach Göttingen abgegangenen Johann Gottfried Eichhorn. Nachdem er zuvor noch, freilich gegen den Willen seines Vaters, mit seiner Cousine Karoline Paulus, Tochter des Oberamtmanns Gottlieb Friedrich Paulus in Schorndorf, am 2. Juni 1789 sich hatte trauen lassen, traf er am 12. Juni in Jena ein, um sofort seine Vorlesungen über hebräische Sprache und den Prediger Salomonis zu beginnen. Nachdem er zunächst 1789–93 als Mitglied der philosophischen Facultät vorzugsweise mit orientalischen und alttestamentischen Studien, Vorlesungen und litterarischen Publicationen (z. B. einer arabischen Grammatik, einer Clavis in Psalmos, mit Herausgabe eines neuen Repertoriums für biblische und morgenländische Litteratur 1790 ff., einer neuen Zeitschrift für Philosophie und Geschichte der Religion unter dem Titel „Memorabilien“ 1791 ff.) sich beschäftigt, aber auch in anregendem Verkehr mit Reinhold, E. Schmidt und anderen jungen Männern in das Studium der Kant’schen Philosophie sich vertieft hatte: wurde er 1793 nach Döderleins Tod zum ordentlichen Professor in der theologischen Facultät ernannt und hatte nun vorzugsweise über Exegese des neuen Testamentes, aber auch über Dogmatik und Ethik zu lesen, während er zugleich, wie er selbst einmal schreibt, „in alle Gebiete der heiligen Theologie hinein zu ravagiren sucht“. Mit den damaligen Notabilitäten Weimars und Jenas, insbesondere mit seinen Landsleuten Schiller, Wieland, Niethammer, aber auch mit Goethe, Herder, Reinhold, Fichte etc. steht er in freundschaftlicher Verbindung, entwickelt aber neben all diesem vielseitigen Freundesverkehr fortwährend einen enormen Fleiß in schriftstellerischen Publicationen, giebt orientalische Reisebeschreibungen mit Kupfern und Karten (Jena 1792–1804), eine Sammlung von J. D. Michaelis kleinen Schriften, die Werke Spinoza’s mit Anmerkungen und Lebensbeschreibung (Jena 1803) und Anderes heraus, liefert zahlreiche Beiträge zur Jenaischen, Halleschen und Leipziger Litteraturzeitung und legt seine Ansichten über biblische Geschichte und das Leben Jesu in einer Menge von Abhandlungen und Programmen nieder, insbesondere in seinem 1800–1802 erschienenen Evangeliencommentar, der durch die darin ausgeführte Methode der sog. natürlichen oder psychologisch-pragmatischen Wundererklärung großes Aufsehen macht. Heftige Angriffe gegen den freisinnigen Theologen blieben nicht aus. Das Eisenacher Consistorium, an seiner Spitze Generalsuperintendent [289] Schneider, verklagte ihn den 10. Januar 1794 bei den sächsischen Regierungen wegen seiner gegen die christliche Offenbarung gerichteten Lehrvorträge und verlangte seine Entfernung von seinem theologischen Lehrstuhl, weil er den Grund der christlichen Religion zu untergraben, die Geschichte Jesu und der Apostel lächerlich zu machen, mit einem Wort die christliche Religion abzuschaffen und die Träumereien einer Religion der Vernunft einzuführen suche. Das Meininger Consistorium schloß sich, wenn auch in milderen Ausdrücken, der Anklage an; ein von Herder verfaßtes Gutachten des Weimarer Oberconsistoriums dagegen nahm sich des Verklagten an und warnte vor Maßregeln, die viel mehr Schaden als Nutzen stiften würden. Der Herzog Karl August legte die Denunciation ad acta. Der auf die akademische Lehrfreiheit gemachte Angriff war gescheitert (März 1794). An litterarischen Anfechtungen des Jenenser Rationalisten und Wundererklärers fehlte es zwar auch ferner nicht (wie z. B. Lavater die von P. vorgetragene Umdeutung des Meerwandelns Jesu in ein Wandeln am Meere geradezu für „schief, dumm und frech“ erklärte); aber in seiner amtlichen Stellung und Wirksamkeit blieb P. fortan unangefochten, während er freilich die über seinen Collegen Fichte aus Anlaß des Forberg’schen Atheismusstreites 1799 hereinbrechende Katastrophe weder durch freundschaftlichen Rath noch durch seine amtliche Intercession als Prorector der Universität abzuwenden vermochte (vgl. Paulus, Skizzen S. 168 ff.; Reichlin-Meldegg I, 308 ff.; Karl Hase, Jenaisches Fichtebüchlein. Leipzig 1856. S. 37 ff.; J. G. Fichte’s Leben und Briefwechsel I, S. 292 ff.).

Aber auch seines Bleibens war nicht mehr lange in Jena. Seine Gesundheit wie die seiner „kleinen Frau“, die ihn 1791 mit einer Tochter Caroline Sophie, 1802 mit einem Sohne[WS 1] beschenkt hatte, schien unter den Einflüssen des Jenaer Klimas zu leiden; der Kreis der Freunde lichtete sich; die Universität drohte bei den ungünstigen Zeitverhältnissen zu veröden. Mit Freuden folgte er daher einem Ruf des Kurfürsten von Baiern nach Würzburg als ordentlicher Lehrer der Theologie an der Universität und als „protestantischer Landesdirectionsrath im kirchlichen Departement“. Seine Lehrthätigkeit an der Universität, welche der baierische Minister Graf Montgelas zu einer paritätischen und zu einem Centralpunkt der Aufklärung inmitten der überwiegend katholischen Bevölkerung des früheren Fürstbisthums zu machen gedachte, und wo P. in Ermangelung protestantischer Zuhörer den katholischen Seminaristen Vorlesungen über theologische Encyklopädie zu halten hatte, bis denselben vom Bischof der Besuch derselben verboten wurde, war keine befriedigende; die collegialischen Verhältnisse zu seinem Landsmann Schelling, der mit ihm unter einem Dach zusammen wohnte, gestalteten sich, wie es scheint durch Schuld der Frauen, Caroline Paulus und Caroline Schelling, die ihren schon von Jena her datierenden Damenkrieg in Würzburg fortsetzten, nicht aufs angenehmste (vgl. Aus Schelling’s Leben in Briefen, Bd. II, S. 1 ff.). Auch an giftigen Angriffen, Verleumdungen und Verdächtigungen gegen den ketzerischen Theologen, der seiner katholischen Umgebung von Anfang an ein Dorn im Auge war, fehlte es nicht; am verdrießlichsten aber waren ihm selbst die vielen Consistorialgeschäfte, die ihm die Zeit zu litterarischen Arbeiten wegnahmen, und von denen er vergeblich loszukommen suchte, da er, wie er sagte, „lieber Gerste essen wollte, als Consistorialrath sein“. Dennoch lehnte er Rufe zu theologischen Professuren in Dorpat und Erlangen ab, weil ihn die bairische Regierung festzuhalten suchte. Als aber Würzburg seit 1. Januar 1806 infolge des Preßburger Friedens die Hauptstadt eines Kurfürstenthums unter dem Großherzog von Toscana geworden war, so wurde P., nachdem seine beabsichtigte Berufung zu einer theologischen [290] Professur an der Universität Altorf sich zerschlagen hatte, im März 1807 als k. bairischer Kreis- und Schulrath nach Bamberg, 1808 in gleicher Eigenschaft nach Nürnberg, 1810 nach Ansbach versetzt, wo er besonders um Hebung des Volksschulwesens (z. B. durch Neubearbeitung eines allgemeinen Lesebuchs für Stadt- und Landschulen 1808, durch Abfassung einer populären Anthropologie oder Selbsterkenntnißlehre), aber auch um Erhaltung und Verbesserung des Nürnberger Gymnasiums, um die Vorbildung der evangelischen Theologen etc. sich verdient machte. Obgleich seine Stellung eine äußerlich befriedigende, insbesondere auch sein Verhältniß zu seinem Freund und Landsmann F. J. Niethammer in München, dem damaligen Ministerialrefenten in Kirchen- und Schulsachen, ein für Beide sehr angenehmes war: so sehnte sich P. dennoch fortwährend zurück aus der praktischen in eine akademische Wirksamkeit und ergriff daher mit Freuden den ehrenvollen und vortheilhaften Ruf, der 1810 nach langem Harren durch den badischen Minister von Reitzenstein an ihn gelangte, zu einer philosophischen und theologischen Doppelprofessur in Heidelberg. Als prof. ord. theol. et phil. mit dem Charakter eines Geheimen Kirchenrathes, als Nachfolger der beiden nach Berlin abgegangenen Professoren de Wette und Marheineke, als College von Daub, Schwarz und Abegg hatte P. hier nicht blos das Fach der Exegese und biblischen Theologie, sondern auch das ihm bisher noch fremde der Kirchengeschichte zu übernehmen. Mit eiserner Energie arbeitete er sich in die verschiedenen ihm obliegenden Disciplinen ein und auch das Verhältniß zu den Collegen, besonders zu dem „Mystiker“ Daub, gestaltete sich durch des Letzteren Liebenswürdigkeit freundlicher als P. erwartet hatte. Er selbst blieb freilich in seiner Auffassung der heiligen Schrift und des Christenthums, besonders in seiner Evangelienerklärung und seiner Behandlung des Lebens Jesu, über welches er wiederholte, auch von Nichttheologen besuchte Vorlesungen hielt, seinem schon in Tübingen und Jena gewonnenen Standpunkt der rationalistischen, oder, wie er sie selbst nannte, psychologisch-pragmatischen Betrachtung und der sog. natürlichen Wundererklärung unveränderlich treu, sodaß er als der hervorragendste, aber auch letzte Repräsentant dieser Richtung nach allen ihren Licht- und Schattenseiten angesehen werden kann. „Jesus ist ihm der reine Mensch, aber ein Mensch, der in der ganzen übrigen Menschengeschichte seines Gleichen nicht hat, der weise Lehrregent, der der Menschheit ein neues Gesetz und Vorbild der Geistesrechtschaffenheit und der Ueberzeugungstreue bis zum Tod gegeben und dadurch das Wohlergehen der Menschheit gefördert hat.“

33 Jahre lang, von 1811–44, wo er 83 Jahre alt nach einer mehr als 50jährigen Lehrthätigkeit in den Ruhestand getreten ist, hat P. in Heidelberg gelehrt und gewirkt, und stets mit der unwandelbaren „Ueberzeugungstreue“, unbeirtt durch die Veränderung des Zeitgeistes, aber auch durch die Fortentwicklung der philosophischen und theologischen Wissenschaft, denselben Standpunkt des „vulgären Rationalismus“ oder, wie er selbst ihn nennt, der „gotteswürdigen Denkgläubigkeit“ in der Wissenschaft wie im Leben vertreten. Während in den ersten Heidelberger Jahren seine Lehrthätigkeit ihn so sehr in Anspruch nahm, daß er zu größeren litterarischen Arbeiten keine Zeit fand, so ließ in späteren Jahren seine Docententhätigkeit mehr und mehr nach und beschränkte sich seit 1831 auf wenige Stunden, zuletzt seit 1833 auf bloße Ankündigung von zwei alternirenden Vorlesungen über „Biblische Theologie im Zusammenhang mit Vernunft und Erfahrung“ und über „Geschichte des Urchristenthums nach seiner Bildung durch äußere Schicksale, Lehre und Verfassung“. In demselben Maße aber, wie die akademische Lehrthätigkeit abnahm, wuchs seine litterarische Fruchtbarkeit, die sich keineswegs auf theologische Fragen beschränkte, [291] sondern mehr und mehr auch auf politische und allgemeine Tagesfragen sich ausdehnte. Mit besonderem Interesse verfolgte er insbesondere 1816 und in den folgenden Jahren die Verfassungskämpfe in seinem würtembergischen Vaterlande, sodaß sich damals sogar das Gerücht verbreitete, P. werde, wie dereinst sein Landsmann Spittler, in das würtembergische Ministerium berufen werden (vgl. Nippold, Rothe’s Leben I, 46). Er gab 1816 eine Sammlung der Haupturkunden der würtembergischen Landesgrundverfassung und verschiedene auf jene Fragen und Kämpfe bezüglichen Broschüren heraus (z. B. über „Vertretung der Kirchen in den Ständeversammlungen“; „Philosophische Beurtheilung der Wangenheim’schen Idee der Staatsverfassung“, Heidelberg 1817). In Stuttgart wurde aber diese Einmischung des Heidelberger Professors in die politischen Landesangelegenheiten so übel vermerkt, daß P. 1819, als er seinen todkranken Sohn in Stuttgart besuchte, aus Würtemberg ausgewiesen wurde, da man meinte, daß er nur zum Zweck politischer Umtriebe dort sich aufhalte (s. die von P. herausgegebenen Actenstücke u. d. T. „Zur Sicherung meiner Ehre“, Heidelberg 1819). In demselben Jahre gründete P. eine eigene kirchlichpolitische Zeitschrift u. d. T. „Sophronizon oder unparteiisch-freimüthige Beiträge zur neueren Geschichte, Statistik und Gesetzgebung der Staaten und Kirchen“, 1819–31 zu Frankfurt und Heidelberg in 13 Bänden erschienen, worin er alle Fragen der Tagesgeschichte, der Gesetzgebung und Politik erörterte oder durch Andere besprechen ließ. Einer seiner Hauptmitarbeiter war sein College Johann Heinrich Voß, dessen berüchtigter, gleich im ersten Jahrgang erschienener Aufsatz „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“ dem Herausgeber eine Verwarnung von Seiten des großherzoglichen Staatsministeriums zuzog, „bei Auswahl der Aufsätze für seine Zeitschrift behutsam zu sein“. Besonderes Aufsehen erregten sodann im J. 1823 die Aufsätze von P. über den bekannten Fonk’schen Proceß, die ihrem Verfasser den juristischen Doctortitel von Seiten der Freiburger Juristenfacultät eintrugen; ferner seine Artikel über die Städel’sche Stiftung in Frankfurt, über die Wessenbergische Sache u. A.

Von theologischen Arbeiten aus der Heidelberger Zeit sind noch zu nennen: eine „Gedächtnißrede am Säcularfest der Reformation 1817, über Luther’s Anwesenheit in Heidelberg“; sein „Theologisch-exegetisches Conservatorium“ 1822; „Ursprung der althebräischen Literatur“ 1823; „Beleuchtung des Jubelablasses“ 1825; „Der Denkgläubige“ 1825 und 1829; „Kirchenbeleuchtungen“ 1827; insbesondere aber sein theologisches Hauptwerk: „Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristenthums“ 1828 (über dieses Werk vgl. besonders D. F. Strauß, „Leben Jesu für das deutsche Volk“, Leipzig 1864, S. 13 ff.); ferner „Aufklärende Beispiele zur Dogmen-, Kirchen- und Religionsgeschichte“ 1830; „Exegetisches Handbuch über die 3 ersten Evangelien“ 3 Theile 1831–33; „Paulus’ Lehrbriefe an die Galater und Römer“ 1831; „Des Apostel Paulus Ermahnungsschreiben an die Hebräerchristen“ 1833. Weit zahlreicher aber sind die Streit- und Flugschriften über Tagesfragen. In den drei Decennien von 1816–46 ist in der That kaum ein Jahr vergangen, in dem P. nicht mit irgend einer Schrift oder Broschüre auf dem Büchermarkt oder auf dem Kampfplatz erschienen wäre: so schrieb er 1816 „Verschiedenes über die Württembergischen Verfassungskämpfe“ (s. o.), 1817 „über die Frankfurter Judenschaft“, 1818 „über das neueste Betragen des römischen Kirchenregiments“, 1819 „Zur Sicherung meiner Ehre“, 1823 „Historisch-politische Schilderungen, Warnung vor Justizmorden“, 1824 und 1825 „Rechtserforschungen“, 1826 „Lebens- und Todeskunde von J. H. Voß“, 1827 „Privatgutachten über die Frage, ob ein römisch-katholischer Regent oberster Bischof einer evangelischen [292] Kirche sein könne“, 1828 über „Duellvereine und akademische Freiheit“, 1831 über „die Judenfrage“, über „Preßfreiheit“, 1834 über „Homöopathie oder Reinarzneilehre“, 1835 über „Entdeckungen unserer neuesten Philosophen“ (gegen Schelling), 1836 über „Preßfreiheit aus Anlaß der Gutzkow’schen Wally“, 1837 „Conversationssaal und Geisterrevue“, 1838 und 1839 „Principienkampf zwischen römischer Hierokratie und deutscher Staatsrechtlichkeit“ (aus Anlaß des Kölner Streits), 1839 über „Theologische Lehrfreiheit und Lehrerwahl“ (aus Anlaß des Züricher Straußenputsches), 1839 „Votum über den Altenburgischen Rationalismusstreit“, 1840 über „die unirte Kirche der Pfalz“, 1841–44 „Neuer Sophronizon“, 1842 über „Kirchenzucht“, 1842 über „den Magdeburger Gebetstreit“, über „das anglikanische Bisthum in Jerusalem“, 1843 „Zur Berichtigung der Ehescheidungsgesetze“ etc. Einen Höhepunkt seines Lebens bildete im J. 1839 die Feier seines 50jährigen Docentenjubiläums, bei welcher Gelegenheit ihm von nah und fern zahlreiche Huldigungen und Ehrenbezeugungen zu Theil wurden: Die Heidelberger Facultät (Abegg, Umbreit, Ullmann, Lewald) ehrte ihn durch einen Jubelabdruck seiner Schrift über das Hohelied; die Stadt Heidelberg durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts; Deputationen aus Baden und der Pfalz begrüßten ihn als den unermüdlichen Kämpfer für Licht und Recht; fast alle theologischen Facultäten Deutschlands, mit Ausnahme von Berlin und Bonn, übersandten ihre Glückwünsche. Als Ausdruck seiner „gerührtesten Dankbarkeit für die vielen bei diesem Anlaß ihm zugekommenen, den Zeitgeist charakterisirenden Zuschriften, aber auch als Aufforderung zum Verbreiten des einfach-reinen christlichen Pflichtenglaubens und zur Auflösung alles Dogmenzwanges und Dogmenstreites“ veröffentlichte P. die „Skizzen aus seiner Bildungs- und Lebensgeschichte“, Heidelberg 1839, die eine Hauptquelle für seine Lebensgeschichte bilden. Desto unerquicklicher für ihn selbst wie für das Publicum war dann aber wenige Jahre nachher der von dem 82jährigen Greis muthwillig hervorgerufene Streit mit seinem speciellen Landsmann und ehemaligen Jenenser und Würzburger Collegen, dem Philosophen F. W. J. Schelling, dessen Philosophie P. schon früher in anonymen und offenen Schriften bekämpft und den er als „Charlatan, Taschenspieler, Speculanten und Obscuranten, Irrlehrer“ etc. titulirt hatte, während Schelling seinerseits P. als einen „Satan und Erbfeind seiner Philosophie“, ja als „Erbfeind alles Höheren und Besseren“, als einen „gottverlassenen Menschen“ bezeichnet. Der lang verhaltene Groll kam zum Ausbruch aus Anlaß von Schelling’s Berufung nach Berlin 1841. P., der sich berufen glaubte, „den philosophischen Humbug des alten Speculanten zu entlarven“ ließ die von Schelling im Winter 1841–42 gehaltenen Vorlesungen über Offenbarungsphilosophie wörtlich nachschreiben, um sie dann mit kritischen Anmerkungen herauszugeben unter dem Titel „Die endlich offenbar gewordene Philosophie der Offenbarung, der allgemeinen Prüfung vorgelegt durch Dr. H. E. G. Paulus.“ Darmstadt, Leske 1842. Schelling klagte bei Gericht wegen unbefugten Nachdrucks, da „gegen die vollkommene Ehr- und Schamlosigkeit des 82jährigen Sünders durch kein Mittel etwas zu gewinnen sei, als durch Geldstrafe und Geldentschädigung“. Das Buch wurde in Preußen mit Beschlag belegt. P. schrieb eine „Vorläufige Appellation an das wahrheitsliebende Publikum“: „Die Schelling’sche Philosophie erscheine ihm als Attentat auf die gesunde Vernunft, dessen Entlarvung mit allen Mitteln ein gemeinnütziges Werk, ja geradezu eine Pflicht sei“. Die Gerichte entschieden zu seinen Gunsten: Paulus wurde freigesprochen, die Beschlagnahme aufgehoben. Schelling verzichtete auf die ihm von der preußischen Regierung ertheilte venia legendi: „sei sie nicht im Stande, ihn gegen Nachdruck zu schützen, so sei er nicht im Stande zu lesen“. P. hatte seinen Zweck erreicht. – Zum letztenmal trat er auf den Kampfplatz der Tageslitteratur mit [293] einer Schutzschrift für den Deutschkatholicismus: „Zur Rechtfertigung der Deutsch-Katholiken. Eine historische und staatsrechtliche Beleuchtung.“ Karlsruhe 1846, 8°, worin er die staatliche Unterdrückung einer allerdings in sich selbst haltlosen Richtung aufs entschiedenste mißbilligt. Von da an ist er nicht mehr an die Oeffentlichkeit getreten, zeigte aber fortan ein lebendiges Interesse für alle wichtigen politischen, kirchlichen, wissenschaftlichen Erscheinungen, las und ließ sich vorlesen, correspondirte mit alten Freunden, wie Salat, v. Wessenberg, v. Reitzenstein u. A., beschäftigte sich mit Ausarbeitung einer Schrift über Goethe, in der er alte Erinnerungen aus der Jenaer Zeit niederlegte, die aber nicht mehr zur Vollendung kam. Ja noch in seinen letzten Lebenstagen dictirte er einen Aufsatz gegen die damals im J. 1851 in Heidelberg aufgetretenen Jesuitenmissionäre.

Sein zuvor so glückliches häusliches Leben hatte schmerzliche Störungen erlitten – zuerst durch die unglückliche Verheirathung seiner einzigen Tochter Sophie Caroline mit August Wilhelm von Schlegel (30. August 1818) und die bald auf die Hochzeit gefolgte Trennung beider Ehegatten, dann durch den Tod seines einzigen 17jährigen Sohnes (28. August 1819), zuletzt durch den Tod seiner innig geliebten, geistig begabten, 55 Jahre lang mit ihm in glücklicher Ehe verbundenen Gattin († 11. März 1844) und den bald darauf gefolgten Tod der Tochter (1847). Der körperlich von jeher schwächliche, aber geistes- und willensstarke Mann vereinsamte mehr und mehr; aber „die Rationalität hielt ihn aufrecht. Die Revolutionsstürme der Jahre 1848 und 1849 brausten an ihm vorüber: er verhielt sich ihnen gegenüber sehr nüchtern und zurückhaltend. Die alte Bundesacte fand er immer noch besser als die neue Frankfurter Reichsverfassung; er spottete über die alte Untugend der Deutschen, qui semper conveniunt et nunquam conveniunt, und über die Frankfurter Kaisermacher, „welche flackern und gaggern, ehe das Ei gelegt ist“. So lange es ihm seine geschwächte Sehkraft erlaubte, setzte er seine Aufzeichnungen fort in Prosa und Versen. Zuletzt erblindet, sieht er den Tod immer näher kommen und beschäftigt sich viel mit Gedanken über das Sterben und über die Fortdauer des Geistes nach dem Tode. Im Juli stellen 1851 sich die Symptome einer rasch verlaufenden Wassersucht ein. Endlich am 10. August 1851 schlägt dem 90jährigen seine letzte Stunde. Sein letztes Bekenntniß, das er noch wenige Stunden vor seinem Ende aussprach, war: „Ich stehe rechtschaffen vor Gott durch das Wollen des Rechten“, sein letztes Wort: „Es giebt eine andere Welt!“ Mit ihm starb einer der Väter, aber auch der letzte Epigone des theologischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts. Die Geschichte der neueren Theologie kennt keinen, in welchem die Theologie der Aufklärung oder der theologische Rationalismus einen so charaktervollen Ausdruck gefunden hätte, wie in P. Er glaubte an den Rationalismus und lebte wie er glaubte. Während Andere von ihrem fortgeschrittenen theologischen Standpunkte aus oder von den Höhen der philosophischen Speculation herab spotteten über den alten vulgären und ordinären Rationalismus mit seiner nüchternen und platten Verständigkeit und Geistesarmuth, über einen „Denkglauben, der zu denken glaubt und zu glauben denkt“, so war es ihm selbst ein heiliger Ernst mit seiner „Rationalität“, seiner „göttlichen Denkgläubigkeit, Geistesrechtschaffenheit und Ueberzeugungstreue“; denn ihm war der Rationalismus nicht blos eine theologische Ansicht, sondern seine Religion, seine Wissenschaft, sein Lebensideal. Als höchste Aufgabe des Theologen und Christen erschien es ihm: „durch Wissen, Wollen und Vollbringen des Rechten dieses Leben für sich und für andere zu machen zum Anfang eines ewigen seligen Lebens.“

[294] Hauptquellen für seine Lebensgeschichte sind theils seine eigenen Mittheilungen in einer kurzen, in Beyer’s Magazin VII, 3, 329 abgedruckten Selbstbiographie, und in den „Skizzen aus meiner Bildungs- und Lebensgeschichte zum Andenken an mein 50jähriges Jubiläum.“ Heidelberg und Leipzig 1839. 8°, theils die aus dem reichen litterarischen Nachlaß wie aus mündlichen Mittheilungen geschöpfte ausführliche Biographie unter dem Titel „Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und seine Zeit“, dargestellt von Karl Alexander Freiherrn von Reichlin-Meldegg. 2 Bde. Stuttgart 1853. 8°. Außerdem sind zu vergleichen Schenkel in der Protest. Realencykl. 1. Aufl. Bd. XI, S. 252 ff. – Kahnis, ebend. 2. Aufl. Bd. XI, S. 391 ff. – A. Hausrath, in den Badischen Biographien herausgegeb. von Fr. v. Weech. Heidelberg 1875. Bd. II, S. 119 ff. und in Hausrath’s religionsgeschichtlichen Schriften 1883. – H. Döring in Schmidt’s Nekrolog der Deutschen. 1851. I, 614 ff. – G. Frank, Geschichte der prot. Theologie, III, 345 ff. – Baur, Kirchengeschichte des XIX. Jahrh. S. 100 ff. – Ueber seine Stellung in der Geschichte der protest. Theologie vgl. Baur, Dogmengeschichte III, S. 400 ff. – Landerer, Neuere Dogmengesch. S. 59 ff. – Ueber seine Stellung in der Geschichte der Exegese s. E. Reuß, Geschichte der h. Schriften des N. T. 1874, S. 318 f. – Ein vollständiges Verzeichniß seiner Schriften bei Reichlin-Meldegg II, S. 465 ff.

Auch seiner Gattin, Elisabeth Friederike Caroline P. geb. Paulus, gebührt eine Stelle in der deutschen Litteraturgeschichte, theils wegen einiger poetischer Versuche, die sie pseudonym oder unter ihrem eigenen Namen herausgab, theils wegen der freundschaftlichen Beziehungen, in welchen sie zu Schiller, Goethe, Voß, Jean Paul und anderen Notabilitäten der classischen und romantischen Schule des 18. und 19. Jahrhunderts gestanden hat. Sie war geboren den 14. September 1767 zu Schorndorf in Würtemberg als Tochter des dortigen Oberamtmanns Gottlieb Friedrich Paulus und seiner Frau Friederike Elisabeth geb. Bilfinger. Ihr Vetter, der Theolog P., verlobte sich mit ihr während seines Schorndorfer Aufenthalts kurz vor dem Antritt seiner wissenschaftlichen Reise 1787, hielt aber die Verlobung anfangs geheim, weil er der entschiedenen Abneigung seines Vaters gegen diese Verbindung gewiß war. Trotz des väterlichen Widerspruchs aber, den er anfänglich zu überwinden suchte, verheirathete er sich mit ihr vor seinem Abgang nach Jena den 2. Juni 1789. In den Jenaer Kreisen wurde die kleine, niedliche, lebhafte und gescheute Frau, die nicht blos eine treffliche Hausfrau war, sondern auch durch ihr geselliges Talent, ihre ästhetische und musikalische Bildung sich auszeichnete, freundlich aufgenommen; insbesondere fand Goethe, der das Paulus’sche Haus in Jena gern besuchte, Gefallen an ihrem anmuthigen und „neckischen Wesen“, unterhielt sich gern mit ihr, erzählte ihr Märchen und Geschichten, theilte ihr manche seiner Gedichte handschriftlich mit, besuchte sie auch noch später in Heidelberg. Angeregt durch diesen schöngeistigen Verkehr beschäftigte sie sich auch selbst in ihren Nebenstunden mit schriftstellerischen Versuchen, gab unter dem Pseudonym Eleutheria Holberg einen Roman „Wilhelm Dumont“ (Lübeck 1805) heraus, der von Goethe in der Jenaischen Litteraturzeitung 1806, 167 günstig recensirt wurde; später in der Heidelberger Zeit folgte ein Roman „Adolph und Virginia oder Liebe und Kunst“ (Nürnberg 1811); „Natalie Percy“, eine Novelle nach dem Französischen (Nürnberg 1811), eine Uebersetzung von Voltaire’s Trauerspiel „Semiramis“ (ebenda 1811), und ein Bändchen „Erzählungen“, Heidelberg 1823. Am 2. Juni 1839 feierten beide Ehegatten ihre goldene Hochzeit, er 78, sie 72 Jahr alt. Nach längerem Kränkeln und nach manchen trüben Lebenserfahrungen, die ihr der frühe Tod ihres einzigen Sohnes († 1819) und die unglückliche Heirath [295] ihrer einzigen Tochter mit A. W. v. Schlegel (1818) bereitet hatte, starb sie den 11. März 1844 in Heidelberg, schmerzlich beklagt von ihrem 82jährigen Gatten, der ihre „denkkräftige Richtung und die thätig-gute Anwendung all ihrer vorzüglichen Anlagen“ rühmt und sie dem wohlwollenden Andenken der Freunde empfiehlt, „das sie verdiente und von Vielen genossen hatte“.

Vgl. über sie Goedeke, Grundriß II, 1129 fg. – Brümmer, Deutsches Dichterlexikon, Bd. II. – Waitz, Caroline II, 115. – Besonders aber K. A. Reichlin-Meldegg in seiner Biographie ihres Mannes, Bd. I, S. 77 ff., Bd. II, S. 1 ff.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. August Wilhelm Paulus (1802–1819). Der Junge war 1814 die Inspiration für die Figur des Schenken in Goethes „West-östlichem Divan“.