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ADB:Wieland, Christoph Martin

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Artikel „Wieland, Christoph Martin“ von Max Koch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 400–419, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wieland,_Christoph_Martin&oldid=- (Version vom 13. Oktober 2024, 11:40 Uhr UTC)
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Band 42 (1897), S. 400–419 (Quelle).
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Wieland: Christoph Martin W., geboren am 5. September 1733 zu Oberholzheim im Gebiete der schwäbischen Reichsstadt Biberach, die er selber irrthümlich wiederholt als seinen Geburtsort angegeben und im „Oberon“, Ges. IV, Str. 22 als solchen gefeiert hat, † zu Weimar am 20. Januar 1813.

Der Vater war schon 1736 einem Rufe als Prediger an die St. Maria Magdalenenkirche zu Biberach gefolgt, so daß W. die ersten Jugendeindrücke in Biberach empfing. Da sein Urgroßvater Bürgermeister der freien Reichsstadt gewesen war, gehörten die Wielands zu den angesehensten Familien des Städtchens. Seit ein paar Jahrhunderten rühmte W., der sich selber noch im Alter als „einen ehrlichen Schwaben“ bezeichnete, hätten seine Väter in der kleinen Vaterstadt den Ruhm der ehrlichsten und edelmüthigsten Leute behauptet (20. Februar 1759 an Zimmermann). Der Vater begann schon den dreijährigen frühreifen Knaben zu unterrichten, bei dem auch die Lust Verse zu machen bald und stark erwachte. Der eigenen pietistischen Richtung entsprechend gab der Pfarrer seinen Aeltesten 1747 zur weiteren Ausbildung in das pietistisch geleitete Kloster Bergen bei Magdeburg. Ein Schulheft Wieland’s aus dem Sommer 1748 hat sich erhalten (hsg. von R. Hoche, Leipzig 1865). Lateinische Aufsätze wechseln darin mit Uebersetzungen aus Livius, Horaz und – Lucrez [401] de rerum natura. Der letztere gehörte wol zu den Büchern, deren Lesung der wissensdurstige Knabe heimlich pflegte, wie die Lesung von Voltaire’s Schriften und Bayle’s Dictionnaire. Ein Aufsatz, in dem W. die Entstehung der Venus aus Schaum und die Möglichkeit einer Weltschöpfung ohne Gottes Zuthun erörterte, brachte ihn in den Ruf eines Materialisten. Nur seine tadellose Führung half ihm bei dem bösen Handel. Nach dem Austritte aus dem Stift brachte er ein Jahr in Erfurt bei seinem Verwandten, dem späteren Gießener Professor Joh. W. Baumer zu. Baumer, der das Studium der Medicin und Philosophie mit einander verband, führte W. in das Wolff’sche System und, was für den späteren Romandichter wichtiger war, in das Verständniß des Don Quixote ein, dieses „guten Specificum gegen das Seelenfieber der Schwärmerei“. In den nächsten Jahren blieb W. freilich trotz dieses Specificums der Schwärmerei verfallen. Im Sommer 1750, den er im Vaterhause verbrachte, entwickelte sich seine seraphische Liebe zu seiner Verwandten Sophie v. Gutermann, der späteren Frau von La Roche (s. A. D. B. XVII, 717). Unter dem Einflusse dieser Liebe und Seelenfreundschaft wie unter der übermächtigen Einwirkung der Klopstock’schen Poesie, der gegenüber Wieland’s noch völlig unentwickelte Eigenart nicht mehr Stand halten konnte, entstanden nun neben verhimmelnden Liebesoden die Lehrgedichte „Die Natur der Dinge“ (Halle 1752) und der „Antiovid oder die Kunst zu lieben“. Es ist höchst bezeichnend, daß beide Werke antike Dichtungen, die aus einer entgegengesetzten Lebensanschauung entsprungen waren, bekämpfen sollten. Die gereimten Uebersetzungen des Schulheftes aus Lucrez und Cicero legen im Verein mit dem Aufsatze über die Entstehung der Venus die Vermuthung sehr nahe, daß W. ursprünglich ein Lehrgedicht über die Natur mit ganz anderer Tendenz geplant habe. In der Zeit der Klopstock- und Liebesschwärmerei hätte W. für seine „Natur der Dinge“ nicht den Alexandriner gewählt; allein er wird eben 1750 ein zuerst unter Bayle’s und Lucrez’ Einwirkung entworfenes Gedicht nur in christlichem Sinne umgearbeitet haben. Lessing fand, daß sogar in der gedruckten Fassung ein Widerspruch zu der frommen Dichtung der Züricher Jahre zu entdecken sei. Die Natur für teleologische Beweise zu benutzen, dafür hatte W. schon in den Kinderjahren in den hochbewunderten Bänden von Brockes’ „Irdischem Vergnügen in Gott“ das Vorbild gefunden. Mit dem Versuche die von Gott angeordnete Natureinrichtung als „die vollkommenste Welt“ nachzuweisen, schließt er sich zwar einer philosophischen Richtung seiner Zeitgenossen an, er wendet sich aber ausdrücklich gegen Leibniz’ Monadenlehre. In der wiederholten Polemik gegen Bayle machte er sich selbst von dem aus Bayle’s Dictionnaire gesogenen Skepticismus frei, und das begeisterte Lob des göttlichen Platon kündet den neu erwählten Führer an. Erst anderthalb Jahrzehnte später wendet sich der Dichter des „Agathon“ gegen Plato wie jetzt der Verfasser der „Natur der Dinge“ gegen Bayle. Allein eben mit Rücksicht auf jene spätere Wendung ist es wichtig festzustellen, daß bereits ein erster Umschlag in Wieland’s Anschauungen dem Abschlusse der sechs Bücher seines Lehrgedichtes vorangegangen war.

„Die Natur der Dinge“ war ohne Nennung von Wieland’s Namen durch Prof. Gg. Fr. Meier in Halle, an den der junge zaghafte Autor seine Handschrift eingesandt hatte, herausgegeben worden. Obwol die eigentlichen philosophischen, die moralischen und satirischen Gedichte mehr als die heroischen, „worin die Dichtkunst herrschet“, nach dem Geschmacke des jungen W. waren, sandte er doch von Tübingen aus, wo er vom November 1750 bis Juni 1752 Jurisprudenz studiren sollte, die ersten vier Gesänge eines heroischen Gedichtes in Hexametern zur Prüfung an Bodmer ein. Der Klopstockianer W. hatte hiefür zufällig den gleichen Stoff erwählt, den zur selben Zeit im Gottsched’schen [402] Lager der Freiherr v. Schönaich als Heldengedicht bearbeitete: „Hermann“. W. selber war trotz Bodmer’s Beifall mit seinem Epos wenig zufrieden, und erst 1882 ist das Bruchstück veröffentlicht worden (von F. Muncker, Deutsche Litteraturdenkmale d. 18. Jahrh., 6. Heft). Die Anknüpfung mit Bodmer aber hatte zur Folge, daß der Züricher Kunstlehrer nun W. wie drei Jahre früher Klopstock zu sich einlud. Von October 1752 bis Juni 1754 wurde W. Bodmer’s Gast und Hausgenosse, dann erst nahm er eine Hauslehrerstelle in der Familie des Amtmanns v. Grebel an, so daß sein Züricher Aufenthalt fast volle neun Jahre währte (s. C. Mörikofer, Die schweiz. Lit. d. 18. Jahrh., Leipzig 1861, S. 191–206; J. Baechtold, Gesch. d. deutsch. Lit. in d. Schweiz, Frauenfeld 1892, S. 533 f.; Schnorr’s Archiv f. Litt.-Gesch. III, 131 u. VI, 92; XIII, 485; L. Hirzel, W. und Martin u. Regula Künzli. Ungedruckte Briefe und andere aufgefundene Aktenstücke. Leipzig 1891).

W. selber hat 1758 und 1762 eine je dreibändige Sammlung seiner prosaischen und poetischen Schriften herausgegeben, welche den größten Theil der Arbeiten aus den in Tübingen und in der Schweiz verbrachten Jahren enthält, freilich manches bereits dem ersten Drucke gegenüber in stark geänderter Form. Von den späteren Sammlungen hat er eine Reihe dieser Jugendarbeiten überhaupt ausgeschlossen. Bereits Ende 1758 war der „Cyrus“ das einzige Werk jener Jugendperiode, das seinen Ideen von der schönen Schreibart noch entsprach. Allein auch den „Cyrus“ brach er 1759 nach Ausgabe der ersten fünf Gesänge, die nur ein Viertel des Ganzen bilden sollten, ab. Alle Schriften Wieland’s aus den fünfziger Jahren haben nur als Documente zur Geschichte seiner Seele Bedeutung, irgend einen eignen dichterischen Werth kann man ihnen nicht zusprechen. Wenn aber der reifere W. auch selbst das Verfehlte aller dieser Jugendarbeiten klar erkannte und unter Verurtheilung jugendlich unduldsamer Thorheiten offen aussprach, so blickte er auf die in Zürich und Bern verlebten Jahre doch stets mit Rührung als auf seine glücklichste Lebenszeit zurück. Bodmer, der mit dem lebenslustigen Sänger des Messias soeben üble Erfahrungen gemacht hatte, fand den stillen fleißigen W. einen Jüngling nach seinem Herzen. Die persönliche Verehrung für das um den Geschmack Deutschlands und die sittliche Bildung ihrer Mitbürger so verdiente Freundespaar Bodmer und Breitinger übertrug der junge Enthusiast kritiklos auch auf Bodmer’s Patriarchaden. Er glaubte wirklich in Bodmer einen ebenbürtigen Genossen Milton’s und Klopstock’s feiern zu dürfen, als er 1753 seine „Abhandlung von den Schönheiten des epischen Gedichts der Noah“ erscheinen ließ. Die Vorrede zur Sammlung der Züricher Streitschriften von 1753 ist W. nur irrthümlicher Weise zugeschrieben worden, aber an dem noch fortwährenden Kampfe der Schweizer gegen Gottsched nahm er eifrigst Theil. Die von Bodmer verfaßte Streitschrift gegen Gottsched und Schönaich „Edward Grandisons Geschichte in Görlitz“ (Berlin 1755) hat W. nicht nur im Bunde mit S. Geßner herausgegeben, sie enthält auch Bruchstücke aus Wieland’s Gedichten und Gesprächen. Die „Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen nebst dem verbesserten Hermann“ (Frankfurt 1755) zeigt ihn als selbständigen Kämpfer gegen die Leipziger. Und unter ähnlichem Titel eines „Schreiben an den Verfasser der Dunciade für die Deutschen“ (Frankf. u. Lpz. 1757) lieferte er einen Anhang zu Waser’s Verurtheilung der von der Berliner Akademie gekrönten Preisschrift Ad. Fr. Reinhard’s. Es handelte sich dabei um die gleiche gegen Leibniz gerichtete Preisfrage der Akademie, die auch Lessing zur Beantwortung und Zurückweisung gereizt hatten (s. A. D. B. XIX, 763). W. war zu einer Kritik des akademischen Urtheils nicht nur aus Freundschaft zu dem unterlegenen Preisbewerber Martin Künzli in Winterthur bewogen; dem Verfasser des Lehrgedichts [403] von der „Natur der Dinge“ ging auch die ganze behandelte Frage über die beste der möglichen Welten besonders nahe.

Alle diese Streitigkeiten führte er ohne Namensnennung, nur gerade im unglücklichsten Falle trat er offen mit seiner Person hervor. Während Klopstock die anakreontische Poesie von Wein und Küssen, zu der er sich selber nicht geschaffen fühlte, doch in ihrer Art neben der seinen gelten ließ, spann sich Bodmer so völlig in seine tugendsam fromme Patriarchadendichtung ein, daß er der heiteren Anakreontik daneben kein Anrecht auf Existenz mehr zugestehen wollte. Der engherzig puritanische Geist der Schweizer Kantone, von dem W. einige Jahre nachher spottete, ein Ball in Zürich genüge um selbst aus dem Munde der Säuglinge Prophezeiungen über das durch solchen Sittenverderb angekündigte Weltende hervorzulocken, nahm an jeder noch so unschuldigen Sinnenlust Anstoß. Gottfried Keller hat in seinen „Züricher Novellen“ launig geschildert, wie weit die Sittenmandate von Rath und Geistlichkeit zur Unterdrückung eitler Weltfreude gingen. Man muß zu Wieland’s Entschuldigung an diese gedrückte Atmosphäre, in der er lebte und deren Tendenzen sein stets beweglicher Geist aufgriff, denken. Wenn er auch bereits 1752, als er noch in Tübingen weilte, der Dichtkunst die Aufgabe zuwies, die Sängerin Gottes, seiner Werke und der Tugend zu sein, so fand er damals doch noch an den natürlichen Ausdrückungen jugendlicher Freude, wie Gleim und Hagedorn sie besangen, Ergötzen. Zwar stammt aus der gleichen Zeit auch schon das „Schreiben an Herrn ** von der Würde und der Bestimmung eines schönen Geistes“, doch erschien hier der Tadel der Anakreontiker noch mehr zur Vertheidigung der verkannten Bodmer’schen Poesie bestimmt und darum weniger gehässig. Erst in Zürich neigte er sich zu fanatischer Unduldsamkeit. Nachdem er 1756 im sechsten Abschnitt der „Sympathien“ (geschrieben 1754) gegen den Mißbrauch der Poesie durch die Anakreontiker, „den Wein der Teufel, womit sie unbesonnene Seelen durch einen Zaubertrank in niedriges Vieh verwandeln“, geeifert hatte, stellte er 1757 den „Empfindungen eines Christen“ (schon einige Jahre früher als „Psalmen“ niedergeschrieben) die berüchtigte Zuschrift an den Berliner Hofprediger A. F. W. Sack voran. In denunciatorischer Weise sucht er hier die Geistlichkeit zum Einschreiten gegen die anakreontischen Wollustsänger, als deren Hauptvertreter Uz an den Pranger gezerrt wird, aufzureizen. Die einstimmige Mißbilligung, die diese unwürdige Thorheit in Deutschland fand, machte auf W. doch einen tiefen Eindruck, ja sie kann als eines der erziehenden Momente, die in W. allmählich eine Umwandlung herbeiführten, angesehen werden. Als er im Frühjahr 1758 eine neue Auflage der „Empfindungen“ zu besorgen hatte, wollte er ihr eine „Nachricht an den Leser“ beigeben, in der er das Urtheil über Uz’ muthwillige Oden förmlich zurücknahm und erklärte, die Ausschweifungen von Platonischer Liebe in seinen eigenen Poesien seien in ihrer Art vielleicht ebenso verwerflich als die sinnlichen Ausschweifungen der Anakreontiker. Er wünschte, den Fehler jener Zuschrift nicht gemacht zu haben. Seine Schweizer Freunde mußten ihren ganzen Einfluß aufbieten, um den Druck dieser Abbitte zu verhindern. (Vgl. Sauer’s Ausgabe von Uz’ Werken, Stuttg. 1890, S. XX f.)

Die Abfassung dieser „Nachricht“ mit ihrem Widerruf war in Wieland’s eigenem Bewußtsein der Bruch mit den Tendenzen seiner Züricher Dichtung und er klagte (20. März 1759 an Zimmermann) über die ihm widerfahrende Ungerechtigkeit, daß man ihn der insectenmäßigen Kleinheit fähig halten könne, der Waffenträger eines Chef de Secte oder irgend etwas dergleichen zu sein. „Weil ich die Ehre habe mit Herrn Bodmer in vertrauter Liaison zu stehen, so muß ich ein Bodmerianus und weil ich Hexameter gemacht habe, ein Hexametrist [404] heißen.“ Nach Wieland’s öffentlich vorliegenden theoretischen Schriften und Poesien wäre die deutsche Kritik zu solcher Annahme wohl berechtigt gewesen. Allein Fr. Nicolai hatte bereits 1755 im siebenten seiner „Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften“ scharfblickend den Unterschied erkannt zwischen der betagten weltvergessenen Muse Bodmer’s und der jungen des Herrn Wieland. Ja er hatte das Spektakel vorausgesagt, wann diese junge Frömmigkeitslehrerin, die nur der alten Wittwe zu Gefallen mit verständig erfahrener Miene die Betschwester spielen wolle, wieder zu einer muntern Modeschönheit würde. Und „jugendliche Unbedachtsamkeit“ leuchtete in der That aus dieser überfrommen Wieland’schen Jugenddichtung hervor.

Der Vorwurf der Benutzung fremder Vorbilder ist W. auch in seiner späteren schriftstellerischen Laufbahn nicht erspart geblieben. Auf die Anklage sachlicher Entlehnungen antwortete er bereits 1759: „Man hört und liest von Kindesbeinen soviel, daß man vieles weiß oder zu wissen glaubt, ohne eigentlich sagen zu können, woher man es hat“. Aber bei den Arbeiten jenes ersten Jahrzehnts handelt es sich nicht um die Herübernahme bereits dichterisch geformter Stoffe, denen Wieland’s Bearbeitung dann den Stempel der eigenen Persönlichkeit aufdrückte und sie so zu seinem rechtmäßigen geistigen Eigenthum machte. Er ahmt hier im Gegentheil gerade die fremde Art der Behandlung, ja manieristisch sogar die Empfindung seiner Vorbilder nach, die jedoch bei ihm meistens eben nicht Empfindung, sondern Erzeugniß überhitzter Schwärmerei ist. Nicht daß W. absichtlich geheuchelt hätte; von solchem Vorwurfe ist der junge wie der ältere W. durchaus freizusprechen. Er ließ sich aber wie ein Kind von den Eindrücken seiner Umgebung und Lectüre vollständig mit fortreißen. Seine übersinnlichen, überfrommen Dichtungen sind, wie er selbst sie später bezeichnete, Ausschweifungen der Einbildungskraft.

Bereits die „Natur der Dinge“ und die „moralischen Briefe“ geben Proben von Wieland’s Reimgewandtheit, von der seine ganze spätere Dichtung glänzendes Zeugniß ablegt. Von Hause aus war seine Natur dazu veranlagt. Aber unter der Einwirkung von Klopstock’s Poesie wendet er in den fünfziger Jahren seine ganze Vorliebe dem Hexameter und dem Horazisch-Klopstockischen Odenmaaße zu (E. Schmidt, W. als Nachahmer der Klopstockischen Jugendlyrik, Qu. F. 39. Heft). Der „Lobgesang auf die Liebe“, die Frucht einiger enthusiastischer Stunden des Maimonats 1751, ist ja dem wirklich vorhandenen Liebesverhältniß zu der als „Doris“ gefeierten Sophie entsprungen, aber alles charakteristische fehlt. „Die künftige Geliebte“ Klopstock’s, noch ins Seraphische gesteigert, ist an Stelle der wirklichen Geliebten, der Platonismus an Stelle der natürlichen Empfindung getreten. Das „Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen“ (1755) ist nur die Ausführung einer Scene aus dem V. Gesange von Klopstock’s Messiade. W. selbst hat diese Schilderung als „Episode aus einem nicht zu Stande gekommenen Werke“ bezeichnet, vielleicht das von Bodmer geheimnißvoll erwähnte Werk, das Klopstock’s Epos selbst in Schatten stellen sollte. Die Prosa für ein Epos zu wählen schien nach Fénelon’s Vorgang und dem von Geßner neu gegebenen Beispiele durchaus erlaubt. Wenn W. dann bei der Sammlung seiner Schriften auch die in gebundener und ungebundener Rede von einander sonderte, so ist doch zwischen der poetischen Prosa der „Psalmen“ („Empfindungen“) und „Sympathien“ einerseits, den Hexametern der „Briefe von Verstorbenen“ und des „Frühlings“ andererseits kein so wesentlicher Unterschied. Der „Frühling“ deutet schon im Namen auf das Vorbild von Kleist und Thomson hin, wie die „Hymnen“ (von denen Schubart seine Seele erweitert fühlte) und die beiden Gebete eines Deisten und Christen auf Klopstock, das hexametrische Epos „Der gepryfte Abraham“ (Zürich 1753) und die [405] „Fragmente in der erzählenden Dichtart“ (1755) auf Bodmer’s Patriarchaden nur allzudeutlich verweisen. Ebenfalls in Hexametern sind die neun „Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde“ (1753), eine keineswegs verbesserte Copie von Elisabeth Rowe’s Friendship in Death, wie die „zwölf moralischen Briefe“ in Alexandriner-Reimpaaren (1752) die Letters moral and entertaining der göttlichen Singer–Rowe nachahmen. Im August 1758 erklärte W., die Zeit seiner Begeisterung für Young sei vorbei, seine „Nachtgedanken“ seien ganz geeignet den Leuten den Kopf zu verdrehen und den Geschmack junger Autoren zu verderben. Aber die religiöse Schwärmerei mit ihrer Ueberspringung dieser Erde und Ausmalung der Ewigkeit, wie der Verfasser der „Sympathien“ und „Empfindungen“ sie in der „metaphorischen und blumenreichen Sprache“ Young’s ausdrückte, zeigt W. in vollständiger Abhängigkeit von dem „großen Geiste“ des Engländers. (Joh. Barnstorff, Young’s Nachtgedanken und ihr Einfluß auf die dtsch. Litt. Bamberg 1895, S. 58 f.) Ja noch gegen den Schluß seines Lebens gedachte er in den Gesprächen der „Euthanasia“ (1805) über das Leben nach dem Tode bei Ablehnung aller Schwärmerei doch wieder freundlich der erhabensten Ahnungen Eduard Young’s und der süßen Träumereien des Herzens und der Phantasie der liebenswürdigen Elisa Rowe. Beim „Cyrus“ gestand W. selbst Glover’s „Leonidas“ als Vorbild noch zu einer Zeit ein, da ihn Zimmermann’s Tadel der Klopstock’schen Wendungen in den Hexametern der fünf Gesänge bereits sehr peinlich berührte. Und ebenso erwähnte er selbst den Einfluß von Richardson’s „Clarissa“ auf „Araspes und Panthea“, die moralische Geschichte, die ursprünglich eine Episode des „Cyrus“ bilden sollte, nach Abbruch der Arbeit an dem Epos jedoch 1760 als selbständiger Dialog in Prosa erschien.

Das außergewöhnliche Talent Wieland’s verleugnete sich freilich in diesen Jugendwerken keineswegs. „Ohne Widerrede einer der schönsten Geister unter uns“, urtheilte Lessing gleich im 7. der Berliner Litteraturbriefe. Allein eben bei Anerkennung seiner außergewöhnlichen poetischen Fähigkeiten konnte Lessing sich über den Gebrauch, den W. von seinen Gaben machte, wahrlich nicht lobend aussprechen. Die unaufhörliche Anpreisung von Tugend und Religion konnte den Mangel an Selbständigkeit nicht ersetzen. Die Freunde in Zürich und Winterthur meinten es zweifellos sehr gut mit ihrem Schützlinge, aber sie wollten ihn ganz nach ihrer eigenen Façon denken und dichten sehen. Seine Beiträge zu Sulzer’s Wörterbuch der schönen Künste konnten nur Ausführungen von Breitinger’s und Bodmer’s Lehren sein. Die philosophischen Versuche wie das „Gespräch des Sokrates mit Timoklea von der scheinbaren und wahren Schönheit“ (1755 in einer Züricher Wochenschrift) oder die „Betrachtungen über den Menschen“ zeigten nicht mehr Selbständigkeit und Bestimmtheit als die Dichtungen. Für den schwärmenden Jüngling war es ein Gewinn als er beim Scheiden aus Bodmer’s Hause gezwungen wurde, sich wenigstens des äußeren Fortkommens halber, etwas mehr dem wirklichen Leben zuzuwenden. Die ersten Schritte fielen freilich auch hier nicht sehr ermuthigend aus. Die Ode zum Andenken eines verdienstvollen Züricher Staatsmannes sucht unbekümmert um die schweizerische Wirklichkeit die Züge für das Bild bei Cicero und Plato. Der „Plan einer Akademie zur Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute“ (1758) wurde von Lessing in den Litteraturbriefen einer vernichtenden Kritik unterzogen. Und doch lag dem „patriotischen Traum“, durch eine neue Jugenderziehung „die veraltete Eidgenossenschaft wieder zu verjüngen“, ein bedeutender fruchtbarer Gedanken zu Grunde, ein Plan, dessen Verwirklichung der schönste und segensreichste Theil von Bodmer’s Bemühungen gewidmet war. Die pädagogischen Pläne reichen bei W. bis ins Jahr 1752 zurück (Archiv f. Litt.-Gesch. XII, [406] 595 und XI, 378). Seinen 1754 gedruckten „Plan von einer neuen Art von Privatunterweisung“ sandte er im folgenden Jahre dem badischen Hofe ein. Zwischen die Abfassung des Plans einer Privatschule und des Plans einer Akademie fällt Wieland’s Thätigkeit als Hauslehrer in der Familie des Amtmanns v. Grebel. In dieser Stelle scheint er sowol die Zufriedenheit der Eltern wie seine eigene gefunden zu haben. Eine Probe aus den Unterrichtsstunden Wieland’s aus dem Jahre 1757, eine seinen Schülern dictirte „Geschichte der Gelehrtheit“ hat L. Hirzel 1891 veröffentlicht (Frauenfeld, Biblioth. ält. Schriftwerke d. dtsch. Schweiz, II. Serie, 3. Heft). Als W. vom Juni 1759 an seine erzieherische Thätigkeit in der Familie des Herrn v. Sinner zu Bern fortsetzen wollte, fand er die Kinder für seinen Unterricht zu wenig vorbereitet, sodaß er nach kurzer Zeit und viel Aerger aus dem Sinner’schen Hause schied (Archiv f. Litt.-Gesch. XIII, 220). Er fand dann in Bern Gelegenheit, in einer ihm zusagenderen Weise Unterricht zu ertheilen, indem er reiferen jungen Leuten philosophische Vorlesungen hielt. In späterer Zeit ward ihm die Aufgabe, den ihm anvertrauten jungen Laroche zu erziehen; das Ergebniß war, vielleicht durch Schuld des Zöglings, jedenfalls kein Beweis für besondere pädagogische Begabung des Erziehers.

Ueber die Gründe, die ihn im Frühjahre 1759 bestimmten, Zürich mit Bern zu vertauschen, hat W. selbst sich nicht offen ausgesprochen. Der Briefwechsel seiner Schweizer Freunde zeigt indessen zur Genüge, daß trotz aller wohlgemeinten Versuche sich in alter Weise ineinander zu finden, allmählich doch ein nicht zu überbrückender Gegensatz der Kunst- und Lebensanschauungen entstanden war. Eine bedeutende ernüchternde Einwirkung auf Wieland’s Schwärmerei übte jedenfalls der Arzt Joh. Gg. Zimmermann, mit dem er in eifrigen Briefwechsel gerathen war. Der Verfasser der Schriften über die Einsamkeit und den Nationalstolz war nicht nur ein Gegner der Schwärmerei, sondern auch der Klopstockisirenden Poesie. Nicht weniger wichtig wurde für Wieland’s weitere Entwicklung die Freundschaft und Liebe, die ihn in Bern bald mit Julie v. Bondeli, der geistigfreien Freundin J. J. Rousseau’s verband (Ed. Bodemann, J. von Bondeli u. ihr Freundeskreis, Hannover 1874; Ztschr. f. dtsch. Alterth. XX, 355 und Anz. I, 24 f.; vgl. aber auch Litt. Centralbl. 1875, Nr. 44). Julie, mit der W. sich förmlich verlobte, hat für ihn eine ungleich größere Bedeutung gehabt, als alle die Züricher Frauen und Mädchen, die Serena, Cyane, Euthanasia, die in seiner Phantasie und seinen Werken vielleicht eine größere Rolle spielten, als in seinem Leben. Zwar nicht alle waren über 40 Jahre alt, wie er selbst behauptete, allein es war trotz vorübergehend aufbrausender sinnlicher Anwandlungen doch eine platonische Schwärmerei, die ihn mit diesen verschiedenen schönen Seelen verband.

Die Verlobung mit Julie v. Bondeli machte Wieland’s alten Wunsch nach einer Stellung, die ihm Gründung eines eigenen Hausstandes ermöglichen sollte, um so dringender. Manche früheren Versuche waren ebenso fehlgeschlagen wie im Frühjahre 1760 der Einfall der Freunde, ihn als Verlagsbuchhändler in Zofingen festzusetzen, sich als unausführbar erwies, obwol W. mit Zimmermann und Tscharner schon über seine Verlagsartikel verhandelte. In der Form eines von den Buchhändlern unabhängigen Selbstverlages, einer bei den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts stark verbreiteten Lieblingsidee, tauchte der Plan später bei W. noch einmal auf und wurde in beschränkterem Maße bei Gründung seines Merkur sogar verwirklicht. Zunächst ging die Befreiung aus der auf die Dauer doch nicht befriedigenden Lage in Bern von der alten Heimath aus. Am 30. April 1760 wurde W. einstimmig zum Rathsherrn von Biberach erwählt [407] und entschloß sich besonders aus Rücksicht auf seine Eltern der Wahl zu folgen, obwol er zuerst nur jene des Stadtammanns annehmen wollte. Statt dessen wurde er nach seinem Eintritte in den Rath von der protestantischen Partei zum Kanzleidirector gewählt. Da die katholische Partei in dem mißtrauischen Streben nach Aufrechthaltung der Parität gegen seine Wahl in Wien Verwahrung einlegte, kam er erst nach einem verdrießlich langwierigen und für ihn selbst arbeitsreichen Rechtsstreite endgiltig in den Besitz der Stelle. Wieland’s eigene Urtheile über seine Biberacher Stellung, die in kleineren Verhältnissen etwa mit Gottfried Keller’s Amt als Züricher Staatsschreiber vergleichbar sein dürfte, lauten je nach den wechselnden persönlichen Beziehungen und Stimmungen sehr verschieden. Die kleinlichen eingerosteten Verhältnisse, in denen sich die Gegensätze und Intriguen nur um so fühlbarer machten, hätten auch einem weniger dazu gebornen Beobachter Anlaß zur Satire geboten. Wenn Ironie und Satire, die in der schweizerischen Periode nicht wahrnehmbar waren, von jetzt an in Wieland’s Schriften so stark hervortreten, so hat die Biberacher Bürgerschaft sich um die Entwickelung dieses Talentes ihres Kanzleidirectors ein unzweifelhaftes Verdienst erworben. Gewiß hat W. während der neun Jahre seiner bürgerlichen Amtsthätigkeit sich oft hinweggesehnt aus dem kleinen Neste, in dem kaum einer seine geistige Bedeutung voll zu schätzen verstanden haben wird. Und dauernd wäre der reichsstädtische Kleindienst selbst für Wieland’s Elasticität allzu drückend geworden. Allein meistentheils fand er sich doch ganz wohl in die gegebenen Verhältnisse hinein. Die große poetische Fruchtbarkeit jener Jahre beweist, auch wenn man seine leichte Schaffenskraft mit in Rechnung zieht, daß das Amt des Dichters Zeit nicht allzusehr in Anspruch nahm. Gerade für ihn, dem in seinen bisherigen Dichtungen der feste Boden der Wirklichkeit so völlig abhanden gekommen war, bildete der amtliche Verkehr, der ihm Einblick in die Triebfedern der menschlichen Handlungen, die Beurtheilung der wirklichen Lebensverhältnisse und selbst einen Einblick in die Schwierigkeiten der Regierung bot, einen unschätzbaren Lehrgang für den Poeten. Vieles wirkte zusammen, um W. von den seraphischen Gefilden auf den Boden zu leiten, auf dem seine Poesie in ihrer angebornen Eigenart gedeihen konnte. Um den Verfasser der „Sympathien“ und himmlischen Briefe zu dem scharfsichtigen spöttischen Psychologen zu bilden, als den er sich vom „Agathon“ an in einer langen Reihe von Werken bewährte, dazu bedurfte es der praktischen Thätigkeit in den Reibungen des täglichen Lebens, wie sein Biberacher Amt sie mit sich brachte.

Die Umwandlung Wieland’s, die Julie v. Bondeli’s Einfluß in Bern begonnen hatte, wurde fortgeführt und vollendet als der Biberacher Kanzleidirector 1762 Zutritt in den Kreis des Grafen Stadion fand. Nach einem thätigen Leben hatte sich der kurmainzische Minister Friedrich v. Stadion auf sein Schloß Warthausen bei Biberach zurückgezogen, und als Gattin des gräflichen Secretärs Frank La Roche traf W. seine Jugendgeliebte Sophie wieder. W. durfte nicht nur die reiche Bücherei des Schlosses benützen, sondern auch in der gräflichen Familie verkehren, während ihn mit dem Ehepaar La Roche herzlichste Freundschaft verband. Eine zeitlang wurden freilich nicht nur die Beziehungen zu Graf Stadion, sondern selbst das schöne Verhältniß zu La Roche gestört, da W. in einem Streite zwischen dem Schloßherrn und der Reichsstadt pflichtgemäß die Interessen und Ansprüche Biberach’s vertreten mußte. Ohne die in Warthausen empfangenen Anregungen schien ihm die geistige Vereinsamung in seiner Vaterstadt doch kaum erträglich. In Warthausen lernte W. die feine französische Bildung und durch den Grafen selbst die ihm bisher unbekannt gebliebenen Theile der französischen Litteratur kennen. In Zürich hatten die religiös angehauchten englischen Schriftsteller Alleinherrschaft geübt. Von Rousseau, zu dem seine [408] Freundin Julie die beste Führerin abgeben konnte, fühlte sich W. niemals stärker ergriffen, wenn er auch 1763 in einer „Theano“ ein Seitenstück zu Rousseau’s „Emil“ aufstellen wollte. Durch den Verkehr in Warthausen erwachte die alte, lange schlummernde Neigung für Voltaire, der sich nun eifriges Studium der französischen Schriftsteller überhaupt anschloß. Seinen eigenen Briefwechsel mit Frau v. La Roche führte er in Biberach französisch und erklärte noch 1785 in der französischen Litteratur sei alles besser vorhanden als er selbst es machen könne. Wenn aber Lessing Wieland’s Jugendschriften die starke Einmischung französischer Worte vorwarf, so suchte er in späterer Zeit in verdienstlicher Weise alte Ausdrücke aus seiner Lesung mittelhochdeutscher Werke der Litteratur wieder zurückzugewinnen. Wenn W. durch Graf Stadion zur französischen Litteratur geführt wurde, so unterzog er auch umgekehrt in dem kleinen Kreise sich mit Erfolg der geschichtlichen Aufgabe, die ihm gegenüber den ausschließlich französisch gebildeten höheren Ständen Deutschlands überhaupt zufiel. Schon im October 1764 hatte er durch seine „komischen Erzählungen“ seinen „ehrwürdigen Protector, den Grafen Stadion, von seinem wol hergebrachten Vorurtheile wider die deutsche Poesie bekehrt; er wunderte sich gar zu sehr, daß man das alles in deutscher Sprache sagen könne“. Es ist wahr, daß dieser Sieg der deutschen Poesie gegenüber der französischen Vorherrschaft beim deutschen Adel nur möglich wurde, indem W. mit der Gewandtheit und Grazie auch die Frivolität der französischen Vorbilder in seine leichtgebauten Reime mit herübernahm. Allein ein dauernder Vortheil ward unabhängig von dieser unerfreulichen Bedingung durch W. so der deutschen Sprache und Poesie errungen.

„Ich gestehe Ihnen gern“, schrieb W. im November 1763 seinem Verleger Geßner nach Zürich, „daß der Abstand, den der Geist und der Ton, der in diesem Dinge (Don Sylvio) herrscht, mit den feierlichen Schriften meiner jüngeren Jahre macht, einem beträchtlichen Theile des Publici anstößig sein würde“. W. war ehrlich genug, bei seinen „komischen Erzählungen“ und dem den Platonismus verspottenden Märchen vom Prinzen Biribinker in seinem „Don Sylvio“ (Seuffert’s Vierteljahrschr. V, 374, 497) selbst daran zu erinnern, daß er vor wenig Jahren Uzens unvergleichlich harmlosere Verse als sittenverderbend angegriffen hatte. Es war Vergeltung, wenn dann ein Jahrzehnt später die Jünglinge des Göttinger Hains Bilder und Schriften des Wollustsängers und Sittenverderbers W. feierlich verbrannten. Aber die sechs „komischen Erzählungen“ von 1765 (Seuffert’s Vierteljahrschr. IV, 281), die alle in Biberach entstanden waren, müssen eben als die Gegenwirkung der so lange gewaltsam unterdrückten sinnlichen Natur entschuldigt werden. Erst von W. selbst und dann von vielen Anderen ist der Gegensatz hervorgehoben worden, in dem sein musterhaftes Familienleben zu den erotischen Auswüchsen seiner Dichtungen stand. Im Jahrgang 1775 des „Merkur“ hat W. in seinen „Unterredungen mit dem Pfarrer von ***“ eine höchst geschickte Vertheidigung der sittlich anstößigen Partien in seinen Werken, vor allem der „komischen Erzählungen“ und des „Idris“ unternommen. Uns kann es ästhetisch und moralisch freilich keineswegs als Entschuldigung dienen, daß nicht wirkliche Leidenschaft und kraftvolle Sinnlichkeit, sondern eine erhitzte und überhitzte Einbildungskraft und litterarische Nachahmung diese erotischen Gemälde verschuldet haben. Nach einigen Jahren änderte und tilgte W. an diesen Ausschweifungen einer sinnlich überreizten Phantasie, wie er an den Züricher Erzeugnissen einer übersinnlich geistigen Ausschweifung geändert hatte. Aber eine so völlige Trennung von Leben und Dichtung, wie die „Unterredungen“ es uns glauben machen wollen, hat zur Zeit der Abfassung der „komischen Erzählungen“ keineswegs stattgefunden. In wirklich schamloser Weise erzählen Wieland’s Briefe aus dem [409] Jahre 1763, wie er sich ein junges Dienstmädchen Bibi in der Absicht, sie zu seiner Maitresse zu machen, ins Haus genommen habe und wie ihm die Verführung geglückt sei. Hier spricht der Verfasser von „Endymion“, „Aurora und Cephalus“, „Juno und Ganymed“. Die Verlobung mit Julie v. Bondeli löste er in keineswegs tadelfreier Weise auf und bei dem Versuche, eine katholische Sängerin gegen den Willen seiner Familie zu heirathen, erscheint sein Verhalten auch nicht eben in günstigem Lichte. Der so oft Verliebte behandelte die Heirath gut bürgerlich als eine Geschäftssache ohne Phantasie und ohne Liebe. Nachdem ihm selbst manches Heirathsproject gescheitert war und Eltern und Freunde lange nach einer vermöglichen Braut für ihn ausgeschaut hatten, ließ er sich von ihnen, er wußte selbst nicht recht wie, ein ganz artiges, liebenswürdiges Geschöpf beilegen. Am 21. October 1765 vermählte er sich mit Anna Dorothea v. Hillenbrand, der Tochter eines wohlhabenden und angesehenen Augsburger Kaufmanns. Die mit 13 Kindern (von denen 1787 noch 10 am Leben waren) gesegnete Ehe war eine äußerst glückliche und nicht erst nach dem Tode der treuen Gefährtin seines Lebens (9. Nov. 1801), die „36 Jahre lang nur für ihn und ihre Kinder lebte“, sondern jederzeit hat W. sie gepriesen als „eines der vortrefflichsten Geschöpfe Gottes in der Welt, ein Muster jeder weiblichen und häuslichen Tugend, frei von jedem Fehler ihres Geschlechts, mit einem Kopf ohne Vorurtheile und mit einem moralischen Charakter, der einer Heiligen Ehre machen würde“. Sie war nur Hausfrau und Mutter und hat nach Wieland’s Versicherung nicht einmal die Werke ihres Mannes gelesen. Ganz natürlich, daß sie den Kreisen der litterarischen Damen Weimars ferne blieb. Schiller fand sie „ein so nachgiebiges, gutmüthiges Geschöpf als W. braucht, um in der Ehe nicht ein unglücklicher Mensch zu sein“.

Die Verwendung der Gestalten der antiken Mythologie zu frivol übermüthigen Liebesgeschichten, wie sie in den „komischen Erzählungen“ vorliegt, ist einerseits in Nachahmung französischer Vorbilder zur Erheiterung der Gesellschaft in Warthausen, andererseits in natürlicher Gegenwirkung zu den vorangehenden seraphischen Werken erfolgt. Zwischen diesen beiden äußersten Enden fand W. nur allmählich eine harmonische Mitte, wie sie seiner Lieblingslehre „Nichts zu wenig, nichts zu viel“ entsprach. Lessing hatte im 63. Litt.-Briefe Wieland’s Trauerspiel „Lady Johanna Gray“ (1758) begrüßt als ein Zeichen, daß Herr W. die ätherischen Sphären verlassen habe und wieder unter den Menschenkindern wandle, wenn er ihm auch für seine allzu bequemen Entlehnungen aus Rowe’s Tragödie eine scharfe Rüge ertheilte. In der That hatte aber diese Märtyrertragödie Wieland’s noch zu wenig irdische Schwere. Der Nebentitel „Der Triumph der Religion“ zeigt nicht nur die Tendenz, sondern auch den Inhalt des Dramas, den allzu ätherischen Charakter der Heldin an. Auch das in Bern entstandene bürgerliche Drama „Clementine von Poretta“ (1760), das einen Vorgang aus Richardson’s Geschichte Sir Grandison’s dramatisirt (Zeitschrift für vergleichende Litt.-Gesch., N. F., IV, 434), vergißt über dem Bestreben moralische Schönheit und Frömmigkeit vorzuführen, die Aufgabe des Dramas: menschliche Leidenschaften in Handlung zu setzen. Trotz gelegentlicher Aufführungen und dem Gebrauch des Blankverses blieben beide Trauerspiele ohne Bedeutung für die Geschichte des deutschen Dramas. Um so größeren Einfluß gewann W. dagegen durch seine Verdeutschung von „Shakespear. Theatralische Werke“, deren erster Band mit „Pope’s Vorrede zu seiner Ausgabe des Shakespear’s“ 1762, der achte 1766 in Zürich erschien. W. hat im Ganzen 22 Stücke übersetzt, mit Ausnahme des St. Johannisnachtstraums (Midsummer-Night’s Dream) alle in Prosa (Archiv f. Litt.-Gesch. XIII, 229; A. Köllmann, W. u. Shakespeare. Remscheid 1896). Shakespear’s (Sasper’s) Dramen waren im Bodmer’schen [410] Kreise nicht unbekannt, W. ist indessen wahrscheinlich nicht durch Bodmer, sondern erst in Biberach durch die erneute Lesung von Voltaire’s englischen Briefen auf Shakespeare hingewiesen worden. Als Director des „Evangelischen Komödienwesens“ hatte er das Theater der Biberacher Handwerker zu leiten, für das er schon 1761 den Sommernachtstraum und Sturm in ein Stück verarbeitete (Jahrb. d. dtsch. Shakespearegesellschaft XVII, 83; Württemberg. Vierteljahrshefte 1883, S. 36 f.). Und das Bühnenbedürfniß mag ihm überhaupt zuerst den Gedanken eines Uebersetzungsversuches nahegelegt haben. Die ältere Generation (Nicolai) nahm die Arbeit sehr kühl auf, da sie es bedenklich fand, diese regelwidrigen Stücke auch den des Englischen unkundigen Lesern zugänglich zu machen, die jüngere Generation, in deren Namen Gerstenberg 1766 im 14. der schleswigischen Litteraturbriefe (Deutsche Litt.-Denkmale Nr. 29/30. Stuttgart 1890) das Wort führte, war mit Wieland’s Uebersetzung und mehr noch mit seinen Noten, von denen Goethe meinte, W. sollte sie mit seinem Blute ungeschehen zu machen wünschen, äußerst unzufrieden. Von ihrer stürmischen Shakespearebegeisterung war und blieb W. beinahe gänzlich unberührt. Er war genug Dichter, um Shakespeare’s Schönheiten zu bewundern, seine Größe zu fühlen, er war aber viel zu sehr Schüler der französischen Litteratur, um die Regellosigkeit des Genies widerspruchslos hinzunehmen. Einem Shakespearefeinde, wie dem Wiener Dramatiker v. Ayrenhoff gegenüber, war er in den „Briefen an einen jungen Dichter“ (1782/4) wol geneigt, Shakespeare zu vertheidigen; ihn mit Voltaire’scher Ueberlegenheit zu tadeln, konnte er sich als Uebersetzer nicht versagen. So rief er den Unwillen der Stürmer und Dränger gegen sich wach gerade durch die Arbeit, für die sie ihm zu Dank verpflichtet waren, denn erst durch Wieland’s Uebersetzung wurde Shakespeare der deutschen Leserwelt bekannt. Sie bildete nicht nur für Wilhelm Meister, sondern auch für die Theaterbearbeitungen der Wirklichkeit die Grundlage. Wie viel W. auch seinen Nachfolgern Eschenburg (1775, Archiv f. Litt.-Gesch. XIII, 498) und Schlegel zu thun übrig ließ, der Muth und die Geschicklichkeit, mit denen er, nur mit kümmerlichen Hilfsmitteln ausgestattet, die erste Gesammtübersetzung wagte, sind deshalb um nichts weniger verdienstvoll. Und von den Zeitgenossen hat wenigstens Lessing im 15. Stück der Hamburgischen Dramaturgie das Verdienstliche und Tüchtige der Wieland’schen Shakespeareübersetzung freudig anerkannt. Und mit ihrem Lobe verband Lessing auch den Ausdruck seiner Bewunderung für Wieland’s „Agathon“, den „ersten und einzigen (deutschen) Roman für den denkenden Kopf von klassischem Geschmacke“.

Die „Geschichte des Agathon“ ist ohne Autornennung in zwei Bänden (Zürich 1766/67), umgearbeitet in vier Bänden als „Agathon“ (Leipzig 1773) erschienen (Gustav Wilhelm, Die zwei ersten Ausgaben von W.s Agathon. Graz 1896). Seinem Verleger Geßner schrieb W. im April 1769, Agathon sei das erste Buch, das er für die Welt schreibe, „alles vorige war nur für mich und etliche gute Freunde oder Freundinnen geschrieben“. Aber zweifellos sind die beiden Romane aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre, Agathon und Don Sylvio, wenn nicht als Selbstbekenntnisse entstanden, so doch aus Selbstbetrachtung hervorgegangen. „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva“ (Ulm 1764), der in einer Pause der Arbeit am „Agathon“ geschriebene Roman, zeigt schon im Titel seine Tendenz, die beim Ausblick auf Wieland’s übersinnliche Jugenddichtungen und die komischen Erzählungen deutlich genug autobiographische Färbung annimmt. Welche Anregungen er auch aus Cervantes, Fielding und Sterne für den „Don Sylvio“ entnommen hat, er würde das Werk nicht geschrieben oder doch nicht so geschrieben haben, wenn er nicht auf die eigene Schwärmerei der Züricher Jahre [411] als auf eine abgethane Thorheit ironisch zurückgeblickt hätte. Zum mindesten glaubte er selber alle Schwärmerei damit los zu werden. Aber auffallend ist es schon, daß die psychologische Beobachtung des Schwärmers, die philosophische Zergliederung schwärmerischer Lehrgebäude in den hervorragendsten folgenden Romanen Wieland’s, „Agathon“, „Peregrinus“, „Agathodämon“, „Aristipp“, wiederkehrt, die Frage nach dem Ursprung, nach den schädlichen und heilsamen Einwirkungen der Schwärmerei auf den einzelnen Menschen und die Menschheit ihn immer aufs neue beschäftigt.

Eine Kindernatur wie W. war, hat er seinen Hang zur Schwärmerei niemals völlig überwinden können. Er, der als Satiriker so gut zu beobachten verstand, ließ sich von seiner Begeisterung doch immer wieder verführen, Menschen und Dinge anders zu sehen, als sie thatsächlich waren. Der Briefwechsel zeigt, wie sehr W. stets zu Ueberschwänglichkeiten geneigt war, wie leicht er aufbrauste und sich begeisterte. Seine überaus große Gutmüthigkeit leistete dieser Täuschung noch Vorschub. Indem er die Schwärmerei bald spöttisch durch die Natur ad absurdum führte (Don Sylvio), bald psychologisch ihre unbegreiflichen Erscheinungen zu erklären suchte (Peregrinus), bald die Schriften Plato’s, in denen er das System der Schwärmerei zu erkennen glaubte, wissenschaftlich zu widerlegen unternahm (Aristipp), kämpfte er zugleich doch immer gegen eine Schwäche seiner eigenen Natur. Er konnte es, je skeptischer er Göttliches und Menschliches zu betrachten lernte, um so weniger vergessen, welch böse Streiche die Schwärmerei dem Verfasser der „Sympathien“ und „Empfindungen eines Christen“ gespielt hatte. Der Aerger über die platonische Seelenliebe seiner Züricher Verhältnisse wirkt bei seiner Abneigung gegen Plato, wie sie von 1763 bis 1800 so oft hervorbricht, ganz wesentlich mit. Aber bereits der Dichter des „Agathon“ hat seine Kenntniß Plato’s und der griechischen Philosophie überhaupt in anerkennenswerther Gründlichkeit aus den Quellen geschöpft.

Der griechische Unterricht im Kloster Bergen hatte viel zu wünschen übrig gelassen. Noch in Tübingen war W. nicht im Stande gewesen, Homer im Urtexte zu lesen, er äußerte jedoch bereits den Entschluß, sich die nöthige Kenntniß zu erwerben, und von den deutschen Dichtern des vorigen Jahrhunderts konnte keiner sich mit Wieland’s späterer Belesenheit der griechischen Autoren in der Originalsprache messen (M. Döll, W. und die Antike. München 1896). Xenophon war bereits in Bergen sein Lieblingsautor gewesen, und die ersten Versuche, seine Anschauungen in antiker Einkleidung vorzutragen, haben im „Cyrus“, wie in „Araspes und Panthea“ sich an Xenophon angelehnt (H. Herchner, Die Cyropädie in Wieland’s Werken. Berlin 1892 u. 96; N. Jahrb. f. Phil. u. Pädag. 1896 S. 199 f.). Beide Dichtungen sind Vorläufer der mit dem „Agathon“ voll einsetzenden Dichtungsart Wieland’s, die in Prosa, wie in Verserzählungen („Musarion“) uns in die Welt des Alterthums zu versetzen strebt. W. hat sich in seinen Uebersetzungen und ihren Noten später stets als einen äußerst wohl unterrichteten Kenner des Alterthums gezeigt, und es waren nicht die Urtheilslosen unter seinen Zeitgenossen, die in Werken wie „Musarion“ mit dem jungen Goethe „das Antike lebendig und wieder neu zu sehen glaubten“. Dankbar erzählt J. G. Rist in seinen „Lebenserinnerungen“, Wieland’s „Agathon“ habe ihm eine neue Welt voll heiterer idealer Bilder eröffnet. Wenn wir vom heutigen Standpunkte der Alterthumsforschung aus Wieland’s „Agathon“ und „Grazienpoesie“ nicht recht antik finden können, so mindert diese jetzt sehr leicht erworbene Einsicht doch nicht den Werth der antikisirenden Dichtungen Wieland’s für ihre Zeitgenossen und ihre Bedeutung für unsere Litteratur- und Culturgeschichte. Gewiß hat W. das Griechenthum sehr stark durch französische Brillen gesehen. Allein das entsprach der ganzen deutschen Bildung seiner Zeit. Jede [412] Generation sieht die Vergangenheit durch mehr oder minder, gewöhnlich aber durch ziemlich stark gefärbte Gläser. W. wählte griechisches Kostüm, schöpfte durch französische Vermittlung manches aus griechischen Romanen und mehr unmittelbar aus den attischen Rednern und Dichtern, aus Xenophon und Plato. Allein er wollte im „Agathon“ Anschauungen und einen Helden aus seiner eigenen Zeit behandeln, in allen seinen Romanen Probleme von dauernd menschlichem Interesse aus dem zufälligen antiken Hintergrunde herausarbeiten. Auf den „Agathon“ hat Plato kaum mehr eingewirkt als die modernen französischen Philosophen (der Sophist Hippias) und Wieland’s am meisten verehrter Lehrer: Shaftesbury. Kein anderer Schriftsteller hat in Bern und Biberach so bestimmend auf Wieland’s ganze Lebensanschauung Einfluß geübt wie der englische Moralist. Gesammtübersetzungen von Shaftesbury’s und Xenophon’s Werken der deutschen Litteratur zu schenken, war schon 1760 eine Lieblingsidee Wieland’s. Für den „Agathon“, wie für die „Grazien“ (Leipzig 1775), die W. selber für sein Lieblingsstück erklärte, war Shaftesbury’s Lehre maßgebend.

Während die Beziehungen zu den alten schweizer Freunden sich allmählich auf den geschäftlichen Briefwechsel mit Geßner als Vertreter der Verlagsfirma Orell & Geßner beschränkten, begannen seit dem „Agathon“ Wieland’s Verbindungen in Deutschland zuzunehmen. Wie früher Zimmermann, so nahm nun der Klotzianer Riedel die erste Rolle unter Wieland’s Correspondenten ein, und an ihn richtete er (19. Juni 1768) die Anfrage, ob denn an der Universität Erfurt, der Riedel selbst angehörte, nicht auch für ihn ein Platz als Professor sei. Im Frühjahre 1769 konnte er bereits einem ehrenvollen Rufe des Kurfürsten von Mainz als Professor der Philosophie nach Erfurt folgen (R. Boxberger, Wieland’s Beziehungen zu Erfurt. Erfurt 1870).

Dem Wunsche des neuen Professors, sich wissenschaftlich zu legitimiren, ist das populär-philosophische Werk „Beyträge zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“ (1770) zu verdanken, während in den gleichzeitigen „Dialogen des Diogenes von Sinope“ wieder die W. eigene Mischung des Studiums griechischer Philosophie mit eigener Lebensweisheit und Dichtung waltet. Im „Goldnen Spiegel“ (1772) und seiner Fortführung in der „Geschichte des Philosophen Danischmende“ (1775 u. 95), dessen Namen W. selbst bei seinen Freunden führte, fügte er der Gattung der Staatsromane, wie sie Albrecht v. Haller in seinem „Usong“ soeben wieder hatte aufleben lassen, ein neues Glied ein. Der jugendlich unreife epische Versuch, im „Cyrus“ das Musterbild eines Herrschers zu zeichnen, ist von W. in den „Königen von Scheschian“ mit größerer Welt- und Menschenkenntniß in pädagogischer Absicht aufs neue in Angriff genommen worden. Wie Haller wählte auch W. für die Einkleidung orientalisches Kostüm, das er dann auch in der Folge für Erzählungen mit politischer Spitze, wie z. B. „Schach Lolo oder das göttliche Recht der Gewalthaber“ (1778) beibehielt. Die Hoffnung, durch den „Goldnen Spiegel“ die Aufmerksamkeit Kaiser Josef’s und damit eine Berufung nach Wien zu erhalten, schlug fehl (Preuß. Jahrbücher, Augustheft 1888). Aber das Buch bestimmte die Herzogin Anna Amalia, den Verfasser als Erzieher ihres Sohnes Karl August in Weimar anzustellen (Seuffert’s Vierteljahrschr. I, 455, II, 579). Im September 1772 traf der Hofrath W. in dem kleinen thüringischen Residenzstädtchen ein, nicht ahnend, daß damit eine litterarische Glanzzeit für Weimar beginnen sollte. Der geistreich bewegliche und dabei so gründlich gebildete W. war ganz gewiß der geeignete Mann, um einem begabten lebhaften jungen Prinzen eine Fülle lebendig nützlichen Wissens beizubringen. Karl August hat seinem Lehrer, der klug genug war niemals eine Rolle im Staat und bei Hof spielen zu wollen, stets eine freundliche Gesinnung bewahrt. Inniger, ja wirklich freundschaftlicher Natur gestalteten sich die Beziehungen zur Herzogin-Mutter. [413] Ungetrübt dauerten sie bis zum Lebensende Anna Amalia’s, während Wieland’s Lehramt bereits 1775 mit der Großjährigkeit des jungen Herzogs endete. Er trat damit in den Genuß der bei der Berufung nach Weimar ausbedungenen lebenslänglichen Pension. Einen Antrag des Coadjutors Dalberg (Augsb. allg. Ztg. 1878 Nr. 211 f.) nach Erfurt zurückzukehren, lehnte er ab. Nach dem ungünstigen Urtheil, das Mozart, der W. in Mannheim kennen lernte, über seine Redeweise fällt (Brief vom 27. Dec. 1777), mag W. zum Docenten auch wenig geeignet gewesen sein. An seiner Zugehörigkeit zum weimarischen Kreise änderte es nichts, daß er von 1797 bis 1809 seinen Wohnsitz von Weimar auf das von ihm gekaufte Landgut zu Osmannstädt verlegte, um einen alten und liebsten seiner wachenden Träume, den Besitz eines Horazischen Sabinum endlich zu realisiren. Kleinere Reisen zu Freund Gleim (Archiv f. Litt.-Gesch. IV, 16 u. 324; V, 191) nach Halberstadt, je eine größere 1777 an den Rhein, nach Frankfurt und Mannheim, 1796 nach Zürich unterbrachen nur wenig das stille Familien- und arbeitsame Schriftstellerleben.

In den siebziger und achtziger Jahren concentrirte sich Wieland’s mannigfaltige schriftstellerische Thätigkeit in einem großen journalistischen Unternehmen, der Gründung und Leitung des „teutschen Merkur“, 1773–89. Beim „Neuen deutschen Merkur“, 1790–1810, fiel in den letzten 15 Jahren die eigentliche Leitung Böttiger zu, der 1800, als die Zeitschrift aus Wieland’s Selbstverlag in den der Gädike’schen Buchhandlung überging, auch formell die Redaction übernahm. Einem im Kampfe gegen den Nachdruck 1773 gegebenen Versprechen gemäß erschien bis 1796 mit Ausnahme der Uebersetzungen alles was W. schrieb zuerst im Merkur, so daß er für diese 23 Jahre sein ganzes dichterisches Schaffen in sich schließt. Doch nicht nur sein eigenes. Goethe rühmte von dem Merkur, man könne durch mehrere Jahre hin sich seiner als Leitfadens in unserer Litteraturgeschichte bedienen (C. A. H. Burkhard, Repertorium zu Wieland’s d. M. Jena 1879). Goethe und Herder wie Schiller, den W. in einer eigenen Ankündigung als ständigen Mitarbeiter einführte, lieferten Beiträge. Joh. H. Merck hat sein bestes für Gevatter Wieland’s blaue Hefte beigesteuert. Ob die Mitarbeit des Graziendichters Joh. Gg. Jacobi, der im Anfange Wieland’s hauptsächlichster Gehülfe war, dem Unternehmen sehr zum Vortheile gereichte, kann man bezweifeln. Nicht selten verletzte W. Mitarbeiter durch redactionelle Noten zu ihren Arbeiten. Er wußte aber nicht nur hervorragende Vertreter für die einzelnen Fächer zu gewinnen, wie Joh. v. Müller für Geschichte, seinen Schwiegersohn Reinhold für Philosophie, sondern in den besseren Jahrgängen dem Merkur auch eine persönliche Färbung zu geben, die Verbindung zwischen Herausgeber und Lesern herzustellen. Nicht die großen bekannten Dichtungen, sondern die vielen kleinen Aufsätze, in denen er über alle möglichen Dinge seine meist wohlerwogene Meinung zwanglos vorplauderte, verliehen dem Merkur das charakteristisch intime Gepräge. Diese nur zum Theil in die Werke aufgenommenen Beiträge geben erst ein richtiges Bild von Wieland’s großer journalistischer Befähigung (Herm. Böhnke, Wieland’s publicistische Thätigkeit. Oldenburg 1883). W. gründete den Merkur gerade zu der Zeit, als die in die Litteratur eintretende Jugend ihn wegen der Schlüpfrigkeit seiner Erzählungen und seines Anschlusses an die französische Sitte aufs heftigste anfeindete. In Boie’s „Deutschem Museum“ erstand ein gefährliches Concurrenzunternehmen. Trotzdem hatte der Merkur, der ja selbst wieder als die Nachahmung eines französischen Werkes, des Mercure de France erschien, von Anfang an den größten Erfolg. Wieland’s ehrliche Liebenswürdigkeit entwaffnete seine jungen Gegner, sogar der grimme Voß trat in die Schar von Wieland’s Mitarbeitern ein. W. selber blieb der neuen Litteraturentwickelung innerlich abhold. Nicht nur während der Gährung der Geniezeit, auch in den Tagen der Xenien- und [414] Wallensteindichtung klagte er seinen Vertrauten über den Verfall der deutschen Litteratur, als deren goldenes Zeitalter ihm die fünfziger und sechziger Jahre erschienen. Aber neidlos erkannte und pries er vom ersten Tage der persönlichen Bekanntschaft an Goethe’s und Herder’s Größe. Ja er gerieth eine Zeitlang so sehr unter Goethe’s Einfluß, daß er selbst die Geniesprache in manchen Briefen (z. B. III, 255) annahm. Und wenn das Verhältniß auch nicht immer die Wärme der ersten Jahre bewahrte, so gelang es doch nicht einmal Böttiger’s Intriguen, das alte Band zwischen W. und Goethe zu lockern (Goethe-Jahrbuch VI, 13 f.). Nirgends erscheint der liebenswürdige Graziendichter liebenswürdiger als in seinen enthusiastischen Briefen an Goethe’s Mutter. Herder aber (13. Jan. 1777 an Hamann) hatte schon bei der ersten Unterredung mit W. den Eindruck gewonnen, daß man dem schwachen, guten Märchenträumer, der in manchen Dingen überlegenen bon-sens habe, auf der Welt nichts übel nehmen dürfe.

Goethe’s Verspottung der Wieland’schen Verfeinerung antiker Natürlichkeit in der „Alkeste“ durch die Farce „Götter, Helden und Wieland“ (1774) ist allbekannt. Allein Goethe selbst mußte bekennen, daß W. durch die Art, mit der er selber im Merkur die Turlupinade den Lesern empfahl, seine überlegene Urbanität bewiesen habe. Aber auch in Wieland’s „Briefen über die Alkeste“ steht manches, das mehr Beachtung als Spott verdiente. Als Dramatiker (Zeitschrift für vergleichende Litt.-Gesch. N. F. X, 299 f.) hat sich W. freilich weder in seinen beiden Singspielen „Alkeste“ (1773) und „Rosamund“ (1778), die beide von Anton Schweitzer für Mannheim componirt wurden, noch in den dramatischen Kleinigkeiten für den weimarischen Hof erwiesen. W. ist weder Dramatiker noch Lyriker, wenn ihm auch ausnahmsweise in dem Gelegenheitsgedicht „An Psyche“ (1774) einige lyrische Stellen glücken. Er ist Epiker und weiß als solcher in Versen und Prosa gewandt und graziös wie kein anderer deutscher Dichter des 18. Jahrhunderts zu erzählen.

Bereits in der Biberacher Zeit waren den antiken Stoffen der unter Crébillon’s Einwirkung geschriebenen komischen Erzählungen und der Musarion, die von Prior’s Alma beeinflußt ist (Wukadinović, Prior in Deutschland. Graz 1895. S. 50 f.), romantische zur Seite getreten. Durch Meinhard ward Wieland’s Leselust der italienischen Litteratur, von der ihm in Zürich nur Tasso’s religiöses Epos bekannt geworden war, zugewendet. Mächtig wirkte auf ihn Ariosto’s Kunst zu fabuliren. Er machte sich daran, selber eine ähnliche poetische Welt an Extravaganzen auszuspinnen, ein Gedicht, das etwa 1200 Strophen enthalten sollte, in einer Art von Ottaverime. Er selber staunte bei dem in deutscher Sprache (wie er meinte) unerhörten Versuche über sein seltenes Talent für die Reimerei. Allein für „Idris und Zenide“ (1768) war „der ernsthafte, philosophische, theologische, ökonomische und politische Geist unserer Nation“ doch nicht geeignet, und W. setzte seine Lieblingsarbeit, die bei den Lesern mehr moralische Bedenken als Würdigung der heiteren Form fand, nicht fort. An die Stelle des „Idris“ traten die 18 Gesänge des „Neuen Amadis“ (1771), auch sie in freien Stanzen. Neben Ariost ward Spenser’s „Feenkönigin“ dafür zu Rathe gezogen. In der Folge trieb das Bedürfniß des „Merkur“ W. zu kleineren Erzählungen an, für die ihm locale Sagen („Der Mönch und die Nonne auf dem Mittelstein“ 1775) und Legenden („Clelia und Sinibald“ 1783), Tausend und Eine Nacht („Das Wintermärchen“ 1776). wie andere orientalische und italienische Märchen („Die Wünsche oder Pervonte“ 1778; Die „Wasserkufe“ 1795; „Hanne und Gulpenhee“ 1778, vgl. Archiv f. Litt.-Gesch. III, 416) und endlich mittelalterliche Geschichten aus dem Kreise der Tafelrunde („Geron der Adelich“ und das „Sommermärchen“ 1777) als Quellen dienten. Alle diese ironisch gehaltenen Erzählungen, die Goethe 1822 als wohlgeschliffene Edelsteine in der Krone deutscher Litteratur rühmte, sind in gereimten freien Versen, nur der ernste „Geron“ ist in Blankversen [415] abgefaßt (L. Singer, Grammatisches zu Wieland’s Geron. Wien 1895). Der Beifall, den diese kleineren Erzählungen fanden, und das Gefühl gereiften Könnens weckten in W. den Wunsch, nun einmal seine Kraft zu einem großen Werke zusammenzufassen. Der „Merkur“ des Jahres 1780 brachte die 14 (später 12) Gesänge des „Oberon“ (Ausgabe von Reinhold Köhler, Leipzig 1868), für den wie schon vorher öfters des Grafen Tressan Romanbibliothek den Rohstoff liefern mußte. Das altfranzösische Epos wie der alte Roman waren noch unbekannt (Düntzer, Wieland’s Oberon erläutert. 2. Aufl. Leipz. 1880; M. Koch, Das Quellenverhältniß von Wieland’s Oberon. Marburg i. H. 1880; Ztschr. f. vergl. Litt.-Gesch. III, 124 f.). „So lang Poesie Poesie, Gold Gold und Krystall Krystall bleiben wird“, schrieb Goethe unter dem ersten Eindrucke am 3. Juli 1780 an Lavater, „werde Wieland’s Oberon als ein Meisterstück poetischer Kunst geliebt und bewundert werden“. Der Tadel, den er später mit Unrecht gegen Wieland’s Verschmelzung der verschiedenen Sagentheile erhob, kann den Ruhm dieses erst ertheilten Lobes nicht viel schmälern. Müßig erscheint der Tadel über die komischen Elemente der Oberondichtung, denn diese Mischung von Ernst und Ironie gehört so Wieland’s eigenster Eigenart an, daß das Werk ohne sie ihm gar nicht möglich gewesen wäre. Erst im Zusammenhang mit der Pflege des komischen Epos im 18. Jahrhundert und mit Wieland’s vorangehenden komischen Erzählungen, mit Musarion, Idris und Amadis u. a. m. erscheint der Oberon als Höhepunkt seiner ganzen Versdichtung in seiner vollen Bedeutung.

1774 ließ W. im Merkur die beliebteste seiner Prosaschriften, die sehr wahrscheinliche Geschichte der „Abderiten“ erscheinen, die er 1781 nach den Erfahrungen seiner Mannheimer Reise stark umarbeitete (B. Seuffert, Wieland’s Abderiten. Berlin 1878). Die Verlegung der Schildbürgerstreiche auf antiken Boden entsprach Wieland’s gesammter Romandichtung, doch ist das griechische Kostüm hier, wo es sich um Verspottung in Biberach und Mannheim, in der Schweiz und Weimar beobachteter Thorheiten handelte, noch weniger streng als sonst festgehalten. Wieland’s nächster Roman, die „geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus“ (1791) ist eine Frucht seiner jahrelangen Beschäftigung mit Lucian. Er gestand jedoch selber, daß er durch die Beobachtung der Widersprüche in Lavater’s Persönlichkeit veranlaßt wurde, das räthselhafte Wesen und den Entwickelungsgang des von Lucian so hart angegriffenen Kynikers sich klar zu machen. Die Erinnerung an seine eigenen Wandlungen mußte W. eine neugierige Theilnahme an dem von einer Lehre zur anderen übergehenden Peregrinus wecken. Auch im „Agathodämon“ (1799 zuerst im „Attischen Museum“) sucht er Gestalten aus der Zeit des Zusammenbruchs der antiken Welt (Apollonius von Tyana) psychologisch zu begreifen, zugleich den Kampf zwischen Heidenthum und Christenthum, die Entwickelung und Verweltlichung des letzteren von erhöhtem freien Standpunkte aus zu betrachten. Dagegen führen die vier Bände „Aristipp und seine Zeitgenossen“ (1800/2) in die Blüthezeit der hellenischen Philosophie. Die Geschichte der Hetäre Lais bildet nur den losen Einschlag zu ausführlichen kritischen Schilderungen der verschiedenen philosophischen Richtungen, die aus der sokratischen Schule sich entwickeln. Man muß die hohe geistige Bildung eines Publicums bewundern, das diesen Ausschnitt aus der Geschichte der alten Philosophie als Roman aufzunehmen vermochte, nicht minder aber die Art, wie W. schwierigste philosophische Dinge in gefälliger Weise vorzutragen verstand. Seine Gesinnung gegen die Platonische Lehre ist seit dem „Agathon“ nicht freundlicher geworden, aber seine Kritik hat sich so vertieft, daß die Fachwissenschaft in ihrer Ignorirung des Wieland’schen „Aristipp“ der Arbeit des ehemaligen Erfurter Philosophieprofessors doch Unrecht zufügt. Als eine Art Nachträge zu der im „Aristipp“ gegebenen großen Schilderung hellenischen Geistes- und Sinnenlebens erscheinen die beiden Taschenbuchserzählungen [416] für 1804 und 1805: „Menander und Glykerion“ – „Krates und Hipparchia“. Proben aus einer größeren Rahmenerzählung „Das Hexameron von Rosenhayn“ (1805) brachte das Taschenbuch für 1803 und das mit dem alten Freunde Goethe herausgegebene auf das Jahr 1804. Doch ist im „Hexameron“ ein Nachlassen und Altern des Erzählers nicht zu verkennen.

Wenn der „Aristipp“ als die reifste Frucht der Wieland’schen Alterthumsdichtungen erscheint, so hat er als Uebersetzer vom Beginn der achtziger Jahre bis in seine letzten Lebenstage sich abgemüht, weiteren deutschen Leserkreisen die Theilnahme an der antiken Litteratur und Bildung zu ermöglichen. In fünffüßigen reimlosen Jamben übersetzte er 1782 Horazens Briefe, 1786 Horazens Satiren und stattete diese wie die folgenden Uebertragungen mit einer reichen Fülle von Erläuterungen aus, die jedenfalls viel Charakteristisches für W. selbst enthalten, aber auch manches für die sachliche Erklärung Beachtungswerthes bieten. Den leichten, gefälligen Plauderton Horazens wußte er so vorzüglich zu treffen, wie den Reiz der Vortragsweise Lucian’s in der sechsbändigen Uebersetzung der sämmtlichen Werke des Spötters von Samosata (1788/89). Neben Shaftesbury hat wol kein anderer Schriftsteller auf Wieland’s ganze Denkart so bestimmenden Einfluß geübt wie Lucian, auf den er schon in der Schweiz (H. Waser’s Lukianübersetzung, Zürich 1769) aufmerksam geworden war. In den „Dialogen“ im Elysium (1780), den „Neuen Göttergesprächen“ (1790) und „Totengesprächen“ (1793 zwischen Brutus und Charlotte Corday) hat er das Beste geleistet, was seit Hutten in der Nachahmung der Lucianischen Dialoge in Deutschland ans Tageslicht gekommen ist (Joh. Rentsch, Lukianstudien. Plauen 1895). „Briefe über die Vossische Homerübersetzung“ leiteten 1795 die letzte und fruchtbarste Periode von Wieland’s Uebersetzerthätigkeit aus den classischen Sprachen ein. Mit Ausnahme der Uebersetzung von „Cicero’s sämmtliche Briefe“ (1808–21; nach Wieland’s Tod von Gräser[WS 1] zu Ende geführt) fanden alle diese Arbeiten Aufnahme in den beiden von W. herausgegebenen Zeitschriften: „Attisches Museum“ (4 Bde. Zürich 1796–1809) und „Neues attisches Museum“ (3 Bde. 1805–1809 mit Unterstützung von Hottinger und Jacobs). Das wichtigste unter diesen Uebersetzungen, die Euripides’ „Jon“ und „Helena“, Xenophon, Plato, Isokrates gewidmet sind, bilden die Verdeutschungen von Aristophanes „Rittern“, „Wolken“ und „Vögel“, da an eine wirkliche Erschließung des „ungezogenen Lieblings der Grazien“ sich bisher niemand – Goethe’s Umdichtung der „Vögel“ kam nicht über den ersten Anlauf hinaus – gewagt hatte. Wieland’s Plan, ein eigenes „Theater der Griechen“ dem attischen Museum folgen zu lassen, kam nicht zur Ausführung.

Die fortdauernd liebevolle Beschäftigung mit dem Alterthum hinderte indessen W. keineswegs, aufmerksam den Bewegungen seiner Zeit zu folgen und als ruhiger, überlegener Zuschauer ihre Erscheinungen zu beurtheilen. Durch seinen Schwiegersohn Reinhold (Rob. Keil, W. und Reinhold, Original-Mittheilungen als Beiträge zur Gesch. d. deutschen Geisteslebens. Leipzig 1885) ward seine Theilnahme für die mit den achtziger Jahren beginnende neue philosophische Bewegung wach gehalten. Verharrte er auch für seine Person auf dem Standpunkte der englischen Popularphilosophie, so blieb ihm durch seine leichte Empfänglichkeit doch ein trauriges Verkennen der kritischen Philosophie erspart, wie es Herder’s letzte Jahre verdüsterte. Und Kant seinerseits übermittelte Reinhold’s Schwiegervater seinen innigsten Dank für das mannichfaltige Vergnügen, das ihm Wieland’s „unnachahmlichen Schriften gemacht haben“. Seinen Widerspruch gegen die Goethe-Schiller’sche Kunstrichtung ließ W. kluger Weise nicht öffentlich laut werden, und die verbundenen Freunde wußten selbst in den Xenien die „Launen der Grazie“ von Weimar zu schonen. Die Angriffe der Romantiker, [417] die in der citatio edictalis des Athenäums gegen W. gipfelten, berührten ihn wenig, wogegen er dem scheuen Heinrich v. Kleist Vertrauen einzuflößen wußte und enthusiastisch das dramatische Talent seines jungen Freundes, der in Osmannstädt längere Zeit seine Gastfreundschaft genoß, anerkannte. Die gefährliche Freundschaft Böttiger’s war ihm bei seinen Alterthumsstudien wirklich nützlich, ohne daß er sein Urtheil von ihm bestimmen ließ. So zugänglich W. auch den Einflüssen seiner Umgebung gegenüber sich oft zeigte, allmählich hatte er sich seine eigene feste Lebensrichtung ausgefunden. Nirgends zeigt sich diese Selbständigkeit vielleicht mehr als in seinen politischen Aufsätzen. Der Dichter W. gilt uns heute für veraltet, vielleicht nicht ganz mit Recht. Von dem Schriftsteller W. aber hat v. Treitschke gerühmt, er sei unter den deutschen Schöngeistern des 18. Jahrhunderts der einzige gewesen, der wirklichen Sinn für die Politik besessen habe. W. hat weder gleich den meisten anderen sich von den Anfängen der französischen Freiheitsbewegung zu maßloser Begeisterung hinreißen, noch von den revolutionären Greueln zur Verkennung der geschichtlichen Größe der Hauptereignisse verleiten lassen. Mit lebhafter Theilnahme und oft überraschendem Scharfblicke begleitete er in seinem „Merkur“ die Entwickelung des gewaltigen Dramas, dessen Lösung durch das Schwert des Cäsars er früh voraussagte. Um so höhere Bedeutung mochte es für ihn haben, 1809 gleich Goethe von Napoleon in wiederholten Unterredungen ausgezeichnet und mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückt zu werden (Goethejahrbuch XV, 21). Einige Jahre vor Napoleon hatte Frau v. Staël bei ihren Besuchen Weimars die Begeisterung Wieland’s geweckt. Ihm, dem Schüler und Bewunderer der französischen Litteratur, mußte es die höchste Genugthuung gewähren, seine Leistungen von den Vertretern französischen Geistes anerkannt zu sehen. Der früh gehegte Wunsch, seine Werke ins Französische übersetzt zu sehen, wurde ihm in reichem Maße erfüllt. Ein heiteres, geistig bis zuletzt ungetrübt frisches Greisenalter krönte sein arbeitsreiches Leben. Noch einige Tage vor seinem Tode besuchte Charlotte von Schiller den Achtzigjährigen: „Da war er so heiter, geistreich, liebenswürdig wie ein junger Mann und erzählte viel. So gegenwärtig, wie ihm alle Gegenstände waren, und er in allen Wissenschaften bewandert war, giebt es selten wieder jemand; man mochte ihn fragen, wie man wollte, so belehrte er und theilte sich mit“. Seinem Wunsche gemäß fand er seine letzte Ruhestätte auf seinem ehemaligen Gute zu Osmannstädt, an der Seite der ihm besonders nahestehenden Sofie Brentano, einer Enkelin seiner Jugendgeliebten Sofie Laroche (Deutsche Rundschau LII, 199 f.).

Die unerreichbar beste Schilderung von Wieland’s Eigenart entwarf Goethe in der Rede, die er am 18. Februar 1813 in der Weimarer Loge „zum Gedenken des edlen Dichters, Bruders und Freundes“ hielt und in den charakterisirenden Versen, die er im Maskenzuge von 1818 dem Dichter der „Musarion“ und des „Oberon“ widmete. Das ganze obere Deutschland, äußerte er noch 1825 zu Eckermann, verdanke Wielanden seinen Stil. Es habe viel von ihm gelernt, und die Fähigkeit, sich gehörig auszudrücken, sei nicht das geringste. Wieland’s Wirkung ging nicht so tief wie die unserer anderen Classiker, aber mit der Masse seiner so verschiedenartigen Schriften wirkte er ganz außerordentlich in die Breite und Weite. Er bahnte der deutschen Dichtung Zugang in Kreise, die bis dahin nur die französische Litteratur kannten. Die heitere Sinnenlust seiner Poesie verschaffte ihr vor allem in Oesterreich Freunde und Nachahmer. Mit seinen komischen Erzählungen und Epen machte er Schule. Aber nichts bereitete ihm größeren Aerger, als wenn die Verfasser lüsterner Schilderungen sich auf sein Beispiel beriefen, wie es z. B. sein Erfurter Schüler Heinse (Seuffert’s Vierteljahrschr. VI, 212, 320) that. In seiner eigenen Dichtung [418] glaubte er auch bei den ausgelassensten Scherzen die sittliche Grazie nicht verletzt zu haben. Und auf die Redlichkeit seines Herzens wenigstens durfte er sich mit Recht berufen. Die seelenerschütternde Leidenschaft eines Werther und Karl Moor hat er nie gefühlt, verstandesmäßig glaubte er alles ordnen und erklären zu können. Aber dem Verfasser des „Oberon“ darf man wirkliche Poesie nicht absprechen, und die Didaxis der „Musarion“ galt seinen Zeitgenossen für volle Dichtung. Graziös und gewandt, geistvoll und beweglich, Vertreter einer sinnenheiteren Lebensauffassung, die trotz mancher Ausschreitungen doch zuletzt immer wieder der sittlichen Grenzen eingedenk wird, so steht der hochgebildete und seine Leser eifrig bildende fruchtbare Schriftsteller vor uns. Unter unsern Classikern ist er die am schwersten zu fassende Erscheinung, und doch ist in allen seinen Wandlungen die folgerichtige Entwicklung einer einheitlichen Persönlichkeit, der reichstbegabten Natur nicht zu verkennen. Schon Goethe meinte, das vergleichende Studium der einschneidenden Aenderungen, die W. in den verschiedenen Ausgaben seiner Werke vorgenommen habe, würde nicht nur für die Kenntniß seiner Entwicklung, sondern auch für die Entwicklung der ganzen deutschen Litteratur in dem langen Zeitraum von Wieland’s Wirken äußerst lehrreich sein. Allein wir besitzen für eine kritische Betrachtung der Wieland’schen Werke nicht einmal Vorstudien, weder eine wirklich vollständige Ausgabe seiner Schriften, noch zuverlässige Sammlungen seines Briefwechsels.

W. selbst hat nach der bereits erwähnten ersten Sammlung seiner prosaischen und poetischen Schriften von 1758 und 62 zunächst wiederholte Ausgaben seiner neuesten und auserlesenen Gedichte (1770 u. 1784) herausgegeben, denen 1785 (Lpz.) die zweibändige Duodezausgabe der kleineren prosaischen Schriften folgte. W. hatte seine Schriften bis zum Agathon bei Geßner und Orell in Zürich verlegt (Archiv f. Litt.-Gesch. VII, 489; XI, 520), dann trat er mit Reich in Leipzig in geschäftliche und persönliche Verbindung (K. Buchner, W. und die Weidmann’sche Buchhandlg. Berlin 1871; Zeitschr. f. vergl. Litt.-Gesch. X, 446), bis er endlich in Göschen den ihm zusagendsten Verleger fand (K. Buchner, W. und Gg. Joachim Göschen. Stuttgart 1874). In Göschen’s Verlag zu Leipzig kamen dann die Ausgaben der sämmtlichen Werke heraus, zwischen 1794 und 1802, die Octavausgabe in 39 und die berühmte Prachtausgabe in 4° in 36 Bänden, deren jeder noch 6 Supplementbände beigegeben wurden. Nach Wieland’s Tod besorgte J. G. Gruber zwischen 1818 und 28 eine Ausgabe der sämmtlichen Werke in 53 Bänden. Neben Gruber’s Ausgabe ist dann nur noch die Hempel’sche, 1879 von Düntzer mit einer Biographie eingeleitet, wichtig. Eine Auswahl aus den Werken mit biographischer Einleitung gaben Heinr. Kurz (1870), Heinr. Pröhle in Kürschner’s Nationallitteratur (1887) und F. Muncker (1889) heraus. Für den Briefwechsel kommen außer den bereits angeführten Werken vor allem in Betracht die von Ludwig Wieland, dem Sohne des Dichters und Freunde Heinrich v. Kleist’s, herausgegebene zweibändige „Auswahl denkwürdiger Briefe“, Wien 1815, und die von Wieland’s Schwiegersohn Geßner besorgte vierbändige Sammlung „Ausgewählte Briefe“ (Zürich 1815/16). Die von F. Horn 1820 ganz unzuverlässig herausgegebenen Briefe an Sophie v. La Roche sind 1894 durch Hassenkamp’s Ausgabe der „Neuen Briefe Wieland’s“ (Stuttgart) zum Theil ergänzt und berichtigt. Besonders wichtig sind die in den drei K. Wagner’schen Sammlungen der Merck’schen Correspondenz enthaltenen Briefe Wieland’s, ferner Wieland’s Briefe an Lavater und Iselin (Archiv f. Litt.-Gesch. IV, 300 und XIII, 188) und H. Funk’s „Beiträge zur W.-Biographie“ (Tübingen 1882). Ein Verzeichniß der ganzen Brieflitteratur bei Goedeke IV², 188. Hierzu kommen Gespräche Wieland’s in den Aufzeichnungen K. Aug. Böttiger’s (Literar. Zustände u. Zeitgenossen. Leipzig 1838. I, 139–264 und histor. Taschenbuch X, 361–464).

[419] Eine genügende Darstellung von Wieland’s Leben und Wirken besitzen wir noch nicht. Gruber hat in den vier letzten Bänden seiner Ausgabe eine ausführliche Darstellung von „Wieland’s Leben mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe“ gegeben, nachdem er schon 1815 eine zweibändige Schilderung „Chr. M. W.“ unternommen hatte. Die noch immer beste Gesammtdarstellung bietet der 2. Band von Joh. W. Loebell’s Vorlesungen („Die Entwickelung der deutschen Poesie von Klopstock’s erstem Auftreten“. Braunschweig 1858). „Wieland’s Leben und Wirken in Schwaben und in der Schweiz“ hat L. F. Ofterdinger quellenmäßig skizzirt (Heilbronn 1877); aus dem Gleim’schen Archiv schöpfte H. Pröhle in dem Buche Lessing-Wieland-Heinse (Berlin 1879). Für französische Leser schrieb L. E. Hallberg seine Étude littéraire mit Analysen und ausgewählten Uebersetzungen aus Wieland’s Werken (Paris 1869). F. Bobertag’s Studie über „Wieland’s Romane“ (Breslau 1871) wird ergänzt und erweitert durch Ernst Ranke’s gehaltvollen kritischen Versuch „Zur Beurtheilung Wieland’s“ (Marburg 1885). Eine mit 13 Abbildungen ausgestattete Studie über „Die Bildnisse Wieland’s“ hat P. Weizsäcker (Stuttgart 1893) veröffentlicht.

Anmerkungen (Wikisource)