Zum Inhalt springen

ADB:Gottsched, Johann Christoph

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Gottsched, Johann Christoph“ von Michael Bernays in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 497–508, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gottsched,_Johann_Christoph&oldid=- (Version vom 2. Dezember 2024, 07:07 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Gottschalk der Sachse
Band 9 (1879), S. 497–508 (Quelle).
Johann Christoph Gottsched bei Wikisource
Johann Christoph Gottsched in der Wikipedia
Johann Christoph Gottsched in Wikidata
GND-Nummer 118541013
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|9|497|508|Gottsched, Johann Christoph|Michael Bernays|ADB:Gottsched, Johann Christoph}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118541013}}    

Gottsched: Johann Christoph G. – Fast ein Jahrhundert hindurch grausam verkannt, hat G. erst während der jüngsten Jahrzehnte späte Gerechtigkeit erfahren. Als Th. W. Danzel aus der sorgfältig durchforschten Gottsched’schen Correspondenz das Buch „Gottsched und seine Zeit“ (Leipzig 1848) hervorgehen ließ, mußte er es sich zur Aufgabe machen, einer mißachteten Persönlichkeit, deren Name kaum ohne Beimischung von Spott genannt ward, ihre geschichtliche Bedeutung wiederzugeben. Erst seitdem ist G. in seiner wahren Gestalt für die Litteraturgeschichte zurückgewonnen worden. Deutlich erkennen wir die seiner Geistesart gezogenen Schranken, über welche er auch mit der angestrengtesten Thätigkeit nicht hinauszureichen vermochte; wir begreifen, daß sein Thun der jüngeren Generation seiner Zeitgenossen als werthlos oder gar verderblich erschien, daß er von ihr verächtlich bei Seite geschoben ward, und daß auch in den nächstfolgenden Geschlechtern keine Neigung sich regte, ihn wieder zu verdienten Ehren zu bringen; wir sehen ein, daß diese Verkennung aus geschichtlicher Nothwendigkeit entsprang. Aber wir sehen auch, daß er die Arbeit, zu der er berufen war, gründlich vollführte; wir sehen, wie er mit allen verwendbaren Mitteln und Kräften innerhalb der seiner Natur gebotenen Beschränkung auf seine Zeit eindringlich wirkte, wie er deren Bedürfnisse richtig erfaßte und ihnen im richtigen Augenblicke genug zu thun verstand. Vielleicht ist man noch immer nicht zu einer völlig unbefangenen Betrachtung seines Wollens und Vollbringens vorgedrungen. Wir wissen aber wenigstens jetzt zu bestimmen, inwiefern seine Leistungen dazu beigetragen, die Begründung unserer großen Litteratur vorzubereiten.

Zu Judithenkirch bei Königsberg in Preußen ist G. am 2. Februar 1700 als Sohn des dortigen Predigers geboren. Auch er also, gleich dem gewaltigsten seiner Gegner, entstammt einem protestantischen Pfarrhause. Der Vater, ein nach dem Maße jener Zeit gebildeter Geistlicher, ließ sich den Unterricht des Sohnes selbst angelegen sein. Dieser, lernbegierig, gewandt und empfänglich, kam in den ernsten Wissenschaften rasch vorwärts; im vierzehnten Jahre schien er reif zum Besuch der Universität. Aufgemuntert von seinem väterlichen Lehrer, der selbst der Dichtkunst nicht abgeneigt war, ließ er sich auch schon frühzeitig aufs Gebiet der freien Künste verlocken; er kann später von sich rühmen, daß er „von Jugend auf allezeit ein großes Vergnügen an Versen gehabt“.

An der Königsberger Universität ward er am 19. März 1714 immatriculirt. Theologie und Philosophie beschäftigten ihn vornehmlich. Mit der Gottesgelahrtheit konnte jedoch sein nüchterner Geist sich nur oberflächlich befreunden, obgleich er einen Mann wie den älteren Lilienthal unter seinen Lehrern fand. Der Weltweisheit hingegen widmete er sich mit wachsendem Eifer. Rührig und rüstig, wie er war, nahm er die verschiedenen Systeme hinter einander durch. Er will die aristotelische und cartesianische Philosophie kennen gelernt haben; er studirte des Thomasius Sittenlehre und Naturrecht; Locke las er fleißig; um Leibnizen’s Theodicee zu verstehen, machte er sich mit dem Französischen bekannt. Auch Experimentalphysik trieb er und konnte 1717 de mutationibus barometri in tempestatibus pluviis disputiren. Aber, so reich sein Kopf auch mit philosophischen Meinungen ausstaffirt war, die eigentliche Erleuchtung kam ihm erst, als er durch seinen Lehrer Rast – es mag um das J. 1720 gewesen sein – [498] zu den neuesten Wolffischen Schriften hingeführt ward. In der Leibniz-Wolffischen Philosophie fand er nun die Erkenntnißquelle, aus welcher er hinfort seine Ansichten über „Ordnung und Wahrheit in der Welt“ getrosten Muthes schöpfte. Zweifel über das Unergründliche und Unentwirrbare im Weltlauf und Menschendasein, die ihn früher wol angefochten hatten, konnten ihn nun nicht länger quälen. Alles ward ihm klar und durchsichtig. An jener Philosophie hat sich sein Verstand formal geschult. In der Wolffischen Logik glaubte er die Handhabe zu besitzen, mit welcher sich jede wissenschaftliche Disciplin erfassen ließ. Auf dem Boden jener Philosophie wähnte er hinreichende Kräfte gesammelt zu haben, um nach den verschiedensten Geistes- und Kunstgebieten mit Sicherheit vorzudringen und sich auf jedem beliebig anzusiedeln.

Die Poesie ward auch während der akademischen Lehrjahre nicht mit dem Rücken angesehen. Gleich im Beginne derselben konnte er sich an einem Collegium poeticum erbauen, das der Professor Rohde veranstaltete. Der Mann stand im Rufe, seinen artigen Vers zu schreiben. Hören wir aber, daß Menantes’ „allerneuste Art zur galanten Poesie zu gelangen“ das Lehrbuch war, auf das er seine Anweisungen gründete, so werden wir kaum hoffen dürfen, daß seine dichterische Praxis oder Theorie der Ausbildung des Schülers in höherem Sinne förderlich gewesen. Etwas mehr ließ sich erwarten von dem Sänger Eugen’s, dem späteren Hofrath und Leibmedicus Joh. Val. Pietsch, dem 1717 das ordentliche Lehramt der Dichtkunst übertragen ward. Er erhielt es gewissermaßen als Lohn für seinen von ganz Deutschland mit Begeisterung vernommenen, aus 34 achtzeiligen Strophen bestehenden und in heroischen Versen rein und eben dahinfließenden Lob- und Heldengesang auf des siegreichen Prinzen Feldzug in Ungarn 1716. Pietsch, der zuerst in Simon Dach und Neukirch seine Muster gefunden, hatte dann in der höfischen Schule der Canitz und Besser sich alles das angeeignet, was damals zum Apparate einer vornehmen Poesie gerechnet ward. Er galt als Meister des glatten Verses, dem nichts von Lohenstein’s verpönten Ueberschwenglichkeiten anhaftete und in den von Hofmannswaldau’s spielendem oder schlüpfrigem Witze nur so viel überging, als zur Auszierung einer ernsten Materie unumgänglich nöthig schien. Noch im Anfange der vierziger Jahre, als Haller und Hagedorn schon aufgetreten, konnte G., ohne gerade energischen Widerspruch zu befürchten, den Hofrath Pietsch als Denjenigen preisen, der „unter allen Dichtern, die dieses Jahrhundert Deutschland hervorgebracht, fast mit einhälligen Stimmen den obersten Platz verdienet habe.“ Und in der That, wer damals, in Gottsched’s Jugendzeit, den feineren Geschmack befriedigen und der strengeren Kritik genügen wollte, dem waren die Musterstücke jenes Mannes zur unbedingten Nachahmung zu empfehlen. An diesen Gedichten, die weder des Autors noch des Lesers Einbildungskraft in Bewegung setzten, an ihnen konnte man bewundern, wie weit sich die Kunst treiben ließ, aus der Ansammlung wohlgeordneter, tönender Wörter einen gut gegliederten Vers zu bilden, der etwas zu enthalten schien; hier schimmerte der Prunk einer anspruchsvollen Schulrhetorik, welcher die Beredsamkeit der wahren Empfindung fremd blieb; nichtssagende Antithesen wechselten mit kahlen Gemeinsprüchen; gehörigen Ortes waren die altüberlieferten Gleichnisse und die längst farblos gewordenen Bilder künstlich eingefügt; über das Ganze aber breitete sich eine matte Eleganz, neben der wenigstens jene grellen Fehler nicht aufkommen durften, um derentwillen der Bann über die Häupter der zweiten schlesischen Schule verhängt worden.

Pietsch, im J. 1690 geboren, hatte noch seine volle Jugendfrische, als er in Königsberg die Professur der Poesie antrat. Er war bereit, sein künstlerisches Wissen mitzutheilen, sein poetisches Können auf andere zu übertragen; und durch einen solchen Lehrer, mit dem sich alsbald ein näherer Verkehr entspann, ward [499] nun G. zu allen Handgriffen jener höfischen Technik gründlich angeleitet. Pietsch unterzog die poetischen Ausarbeitungen, die ihm der Lehrling fleißig einreichte, seiner gewissenhaften Censur. Bei solchen Anlässen mochte er wol, zur Bestärkung seiner Lehren, ihm seine eigenen Uebersetzungen kostbarer Stellen aus dem Horaz vortragen oder ihm Kernsprüche aus Canitzens Satire von der Poesie zu Gemüthe führen; der Schüler erfuhr alsdann, was es heiße, solche Muster „mit Verstand zu lesen“. Dem Professor der Dichtkunst lag natürlich der Gedanke nicht fern, sich in seinem Fache auch durch ein Lehrbuch nützlich zu machen; wie er gegen seinen Jünger verlauten ließ, sollte dasselbe so eingerichtet sein, „daß darinnen der innere Charakter und das wahre Wesen eines jeden Gedichtes gewiesen würde“. Diese Anweisung blieb ungeschrieben; aus seinen Aeußerungen aber bildete sich G. den ersten Begriff einer „Critischen Dichtkunst“. –

G. lernte in dieser Schule, was sich lernen ließ. Ihr hatte er’s zu danken, wenn er sich hernach in Leipzig bald als fertigen Poeten ausweisen konnte, und er übte nur eine Pflicht der Erkenntlichkeit, wenn er (Leipzig 1725) des Meisters Werke gesammelt an’s Licht treten ließ. Wie viel er auch später an Kenntnissen und kritischen Einsichten gewonnen, als Poet ist er über den Punkt, auf welchen Pietsch ihn gestellt, niemals hinausgegangen. Und wäre es ihm auch möglich gewesen denselben zu überschreiten, was hätte ein solcher Fortschritt ihm, der auf den Nutzen zu sehen gewöhnt war, was hätte er ihm genützt? Indem er auf jenem Punkte beharrte, that er den Zeitgenossen für’s erste vollauf Genüge. Nicht nur die Anhänger ehrten ihn als einen Poeten, dem Phöbus selbst die Saiten gestimmt; auch diejenigen, die sich seinem kunstrichterlichen Ansehen niemals unbedingt fügen wollten, ließen ihn lange genug als Dichter gelten. Bodmer gab ihm in dem kritischen Lobgedichte, welches die deutschen Autoren in geschichtlicher Folge vorführt, nachträglich (1738) einen würdigen Platz neben Heräus und Pietsch (Charakter der deutschen Gedichte V. 581); er lobt an ihm Fleiß und Biegsamkeit; man wäre nicht befugt, hier Ironie zu wittern. Selbst Breitinger trug kein Bedenken in dem Werke, das bestimmt war die Unzulänglichkeit der kritischen Dichtkunst Gottsched’s darzuthun, ihn neben König und den anderen poetischen Größen der Zeit zu nennen und seinen Gedichten erläuternde Beispiele zu entlehnen (Critische Dichtkunst I, 325. 330). So hatte man denn auch zuerst kein arges daran, daß G. die Hauptstücke im zweiten „besonderen“ Theil seiner Dichtkunst mit Exempeln von seiner Arbeit ausstattete und die vorgetragenen Lehren durch die eigene Praxis bekräftigte. Er besaß einen hinlänglichen Vorrath von Oden und Cantaten, von Idyllen, Klagliedern und verliebten Gedichten, von poetischen Sendschreiben, Straf-, Sinn- und Scherzgedichten, von dogmatischen und heroischen Poesien; er durfte glauben, daß man aus seinen Versen eben so gut wie aus denen der übrigen Meister und Gesellen lernen könnte, welcher Stil einer jeden Dichtungsart angemessen sei. Den höfisch gearteten Poeten, die im ersten Viertel des Jahrhunderts in die Oeffentlichkeit traten, war er ein ebenbürtiger Genosse. Denn was verschlug es viel, daß seine Dichterrede hie und da noch etwas matter klang als die der anderen, oder daß bei ihm die Mischung des Hochtrabenden und des Platten sich manchmal noch widerwärtiger ausnahm als bei dem Troß der namhafteren Gelegenheitsdichter? Nur dann sinkt er tiefer unter das Durchschnittsmaß der damaligen Poesie, wenn er sich selbst und seine persönlichen Verhältnisse zum Gegenstande seiner Dichtung macht. Beginnt er als sehnsuchtsvoller Freier seine Kulmus zu besingen, so steigt die komische Wirkung bis zu einem unerlaubten Grade.

Wie eifrig nun auch der Königsberger Student – denn auf diesen müssen wir zurückblicken – der Poesie oblag, so konnten ihn doch die Lockungen der [500] Musen nicht von fruchtbringenderen Beschäftigungen abziehen. In ihm lebte nichts von dem verzehrenden Dichterdrang, nichts auch von der sorglosen Lebensfreude und Sinnenlust eines Günther. Sein Sinn war auf das Praktische und Brauchbare gerichtet; gewiß hatte sich ihm schon damals die Einsicht aufgedrängt, die er hernach als 30jähriger Mann öffentlich, und zwar seltsam genug, in der Vorrede zur Critischen Dichtkunst aussprach, die Einsicht, daß die Poesie für eine brotlose Kunst zu halten sei, daß man sie nur als ein Nebenwerk treiben und nicht mehr Zeit darauf wenden müsse, „als man von anderen ernsthafftern Verrichtungen erübern könne“. Mit Wohlbedacht schickte er sich an, seinen Platz in der gelehrten Welt einzunehmen. Schon hatte er nach siebenjährigem Besuch der Hochschule 1721 unter Langhansens Präsidium eine Abhandlung über die Leibnizischen Monaden vertheidigt; im folgenden Jahre konnten seine Freunde den eben creirten Magister mit den herkömmlichen poetischen Glückwünschen angehen; endlich am 12. Mai 1723 disputirte er abermals über eine Schrift philosophischen Inhalts, die von dem Begriff der göttlichen Allgegenwart handelte (Genuinam omnipraesentiae divinae notionem distincte explicatam et observationibus illustratam defendet – J. C. G. 20 S. 4°); er ward zum „Lehrer der Weltweisheit“ erhoben und ließ sich hierauf am 27. September reimmatriculiren. So schien sein Leben in eine ebene Bahn geleitet; da ward er gewaltsam aus derselben herausgeschleudert. Ihm drohte die Gefahr, zum Kriegshandwerk gepreßt zu werden. Seine aufragende Goliathstatur ward das Merkziel der Werber. Diese erblickten schon in ihrer begehrlichen Phantasie den mächtigen Mann, wie er im Waffenschmucke unter riesenhaften Kriegerschaaren als der höchste hervorstrahlte. Aber der Königsberger Magister der Weltweisheit war nicht lüstern nach solchen Ehren. Auf welche Art er sich ihnen entzog, lehrt uns die noch jetzt unter den Acten der Königsberger Universität erhaltene „Specificatio derjenigen Studiosorum, die aus Furcht vor der großen Werbung 1724 von der hiesigen Akademie weggezogen.“ Als der sechste unter diesen Entwichenen wird hier unser G. genannt; er „hat sich wegen der Werbung, da Ihm Ihre Fürstliche Durchlaucht der Prinz von Holstein nachstellen lassen, wovor er aber von andern gewarnet worden, nach Leipzig begeben müssen.“ Da diese kostbare Beute den Werbern entgangen war, fahndeten sie auf des Magisters Bruder Ludwig; aber auch diesem gelang es sich heimlich davon zu machen.

So hatte sich denn G. vor den rücksichtslosen Uebergriffen der Militärgewalt in Sicherheit gebracht. (Die nach seinem Tode publicirte amtliche Gedächtnißschrift wagte die Ursache der Entweichung nur schonend mit den verhüllenden Worten anzudeuten: periculo aliquo territus concessit in hanc urbem.) Das Mißgeschick, das ihn aus dem preußischen Vaterlande getrieben, sollte ihm zum Heil ausschlagen. In Leipzig, das ihm die Zufluchtsstätte bot, hatte der Buchhandel seinen Hauptsitz; dort fand die Litteratur die ausgedehnteste und vielseitigste Pflege. Schon um jene Zeit verdiente die Stadt das Lob, das ein Vierteljahrhundert später Lessing ihr zollte: man konnte dort die Welt im Kleinen sehen. Dort schien denn auch G. erst in den Vollbesitz seiner Kräfte zu kommen; er gelangte dort zur Erkenntniß seiner Bestimmung und gab nun seiner Thätigkeit die entschiedene Richtung, von der er nicht mehr abzuweichen vermochte.

Schnell und gewandt wußte er sich in die litterarische Atmosphäre Leipzigs einzuleben. Im Januar 1724 hatte er noch in einer kläglichen Elegie über seine gezwungene Flucht aus dem Vaterlande geseufzt – (er tröstete sich am Schluß: „Voritzo bin ich zwar aus Königsberg gezogen; doch wer aus Preußen zieht, der zieht nicht aus der Welt“) – und schon im Frühling desselben Jahres ließ er in Leipzig unter dem Namen des deutschen Persius eine Satire ausgehen, [501] die sich gegen das Unwesen der wöchentlichen poetischen Zettel richtete, welche damals die Stadt überschwemmten.

Seine klüglich abgemessenen ersten Schritte auf dem Leipziger Boden wurden vom Glück begünstigt. An Joh. Burch. Mencke, der ihn als Hauslehrer zu sich nahm, fand er einen gewichtigen Patron. Drei Jahre hindurch konnte er sich die Bibliothek des hochangesehenen Polyhistors unbeschränkt zu Nutze machen. Hier lag ihm alles zur Hand, was seine litterarische Bildung fördern mochte; allen ausländischen Poeten, den Kunstlehrern und Kritikern alter und neuer Zeiten durfte er sich hier nähern. Von Aristoteles und Horaz bis zu Fontenelle und Furetiere entging ihm keiner. Neben den Franzosen wurden auch die Engländer beachtet, zumeist freilich nur solche, deren Bildung stark mit französischen Elementen versetzt war; auch Italiener, wie Castelvetro, schlossen sich an. Kurz, er sammelte hier das Material, das er später zum historischen Unterbau seiner kritischen Dichtkunst verwenden sollte. Als ihm die schweizerischen „Discourse der Mahler“ zu Händen kamen und er in ihnen so manchem freimüthigen Urtheile über anerkannte deutsche Poeten begegnete, ward seine Begier nur noch mehr geschärft, in Sachen der Poesie auf einen gewissen Grund zu kommen und von ihrem Wesen einen „regelmäßigen Begriff“ zu erlangen.

Da kam es ihm denn trefflich zu Statten, daß Leipzig eine Gesellschaft besaß, welcher die gewissenhafteste Behandlung der Fragen, über die er vornehmlich Aufschluß wünschen mußte, zur Pflicht gemacht war. Dieser litterarische Verein, der seit 1697 unter Mencke’s wirksamem Schutze bestanden, hatte sich 1717 beträchtlich erweitert und den ursprünglichen bescheidenen Namen einer Görlitzischen mit dem ansehnlicheren einer deutschübenden poetischen Gesellschaft vertauscht. Schon seit dem 1. März 1724 gehörte G. zu ihren Mitgliedern, und zwar erwies er sich als eines der eifrigsten. Die Verhandlungen der dichtenden und urtheilenden Genossen eröffneten ihm die Geheimnisse der damaligen Kritik; er lernte, nach welchem Maßstab Werth und Unwerth eines Gedichtes zu bestimmen sei; der praktischen Fertigkeit, die er unter Pietschens Leitung erworben, schloß sich nun die theoretische Bildung an. Nicht lange brauchte er in der Rolle des Lernenden zu verharren. Bald war er zu Amt und Ansehen eines Führers gelangt. Indem er sich der Absicht, die deutsche Litteratur zu einem regelrecht geordneten Ganzen zu gestalten, immer entschiedener bewußt ward, wollte er sich in dieser Gesellschaft eine ergebene Bundesgenossin heranziehen, über deren Kräfte und Mittel er stets verfügen konnte. Sie erhielt daher den vielumfassenden Namen einer deutschen, der allein ihrer hohen Bestimmung noch zu entsprechen schien. G. ward durch die Gesellschaft, die Gesellschaft ward durch ihn gehoben. Bereits im J. 1727 gab er als ihr Senior öffentlichen Bericht über den erneuerten Zustand derselben. Mit Recht durfte Mosheim später behaupten, erst durch diesen ihren Senior sei sie zu der Verfassung und zu der Ehre gebracht worden, deren sie genieße.

Seine Vielthätigkeit hatte inzwischen einen tüchtigen Schwung genommen. Energisch betheiligte er sich an der Litteratur des Tages durch die moralisch-kritische Wochenschrift „Die vernünftigen Tadlerinnen“ (1725–26), denen „Der Biedermann“ (Mai 1727 bis April 1729) auf dem Fuße folgte. Nicht umsonst hatte er die Schweizer studirt; er geht ihrem Muster nach; spricht er ihnen auch das Vermögen ab, „sich in einer reinen Hochteutschen Schreib-Art auszudrücken“, so erkennt er doch willig an, was sie zur Begründung einer gesunderen Kritik geleistet (Tadlerinnen 2, St. 14). Gleich ihnen weist er auf Opitz als auf den „Großvater und Fürsten aller unserer Poeten“; nach ihrem Beispiel gestattet er sich reimlose Verse (Biedermann 1, St. 42). Die Schweizer jedoch waren nicht geneigt, ihm einen Platz an ihrer Seite einzuräumen; sie durchschauten die [502] Schwäche seines kritischen Raisonnements; er mußte sich gegen ihre Angriffe schon zur Wehre setzen (Biedermann 2, St. 56). In diesem leichten Vorspiel späterer Kämpfe, dem sich für’s erste noch keine tiefere Bedeutung beimessen ließ, wurden doch schon die Gegensätze merkbar, die endlich zu feindseliger Scheidung führen mußten.

Der Senior der deutschen Gesellschaft, der allezeit fertige Gelegenheitsdichter und Schriftsteller suchte sich aber auch zugleich im akademischen Lehramte hervorzuthun. Am 18. November 1724 hatte seine Habilitation stattgefunden; die zum Behufe derselben verfaßte Abhandlung über den Ursprung des Bösen (Hamartigenia) zeigte ihn als echten Leibnizianer. Seitdem hatte er mit allen Mitteln gestrebt, an der Universität Fuß zu fassen. Es entsprach seinem praktischen Sinne, sich durch Lehrbücher größeren und geringeren Umfangs in den verschiedenen Disciplinen festzusetzen. Aus dem „Grundriß zu einer vernunftmäßigen Redekunst“ (1728) ging die „Ausführliche Redekunst“ hervor, die es 1759 bis zur fünften Auflage gebracht hatte. Einen entscheidenden Wurf that er mit dem „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ (Leipzig 1730; die Widmung ist vom 6. October 1729 datirt). Zu einem solchen Werke war er von Mascou schon im J. 1727 ermuntert worden; als er dann 1728 einigen Freunden auf deren Wunsch ein poetisches Collegium las, suchte er alles, was er jemals über Dichtkunst gedacht, gelesen und gesammelt, in eine systematische Verbindung zu bringen: so entstand dieser Versuch, von dem er wahrheitsgemäß rühmen konnte, „er habe ihn nicht aus seinem Gehirne angesponnen“. Was er hier mit vernünftiger Wahl vorlegte, hatte der umsichtige Mann der von ihm durchmusterten theoretisch-kritischen Litteratur und nicht zum geringsten Theile den Poetiken entlehnt, die seit dem Haupt- und Grundwerke J. C. Scaliger’s in allen Litteraturen Europa’s schaarenweis einander gefolgt waren. Die erste Hälfte des Buches enthielt die ins Allgemeine gehenden Betrachtungen; der Lehrmeister handelte hier nach den hergebrachten Begriffen von dem Charakter und dem guten Geschmack eines Poeten, von der Nachahmung, dem Wunderbaren und der Wahrscheinlichkeit, von verblümten Redensarten, von poetischen Perioden, von den Figuren und vom Wohlklange. Im zweiten Theil ward das herkömmliche poetische Fachwerk errichtet; die einzelnen Gattungen und Formen wurden gehörigen Ortes untergebracht; es fehlte nicht an historischen Notizen und Nachweisungen; am Schluß eines jeden Capitels ward die Lehre durch umfangreiche Beispiele anschaulich gemacht. Die Anleitung zu „Tragödien oder Trauerspielen“ hatte G. mit besonders liebevollem Fleiß ausgearbeitet; diese „Art großer Gedichte“ empfahl er nachdrücklich. Mit Acht und Bann aber wurden „Opern oder Singspiele“ belegt, weil der Grundsatz von der Nachahmung der Natur auf sie keine Anwendung finden kann. Und auf diesen Grundsatz hatte G. seine ganze Lehre gebaut. Schon das Titelblatt seiner Dichtkunst enthielt das Versprechen, er wolle zeigen, „daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe“. Natürlich mußten die Griechen und Römer von ihm als Meister und Muster anerkannt werden. Da er sich aber in einem gar zu weiten Abstande von ihnen fühlte, hielt er sich an die bequemeren und näher liegenden Muster der Franzosen, die er als Vertreter der Alten gelten läßt. In den Anmerkungen zu der von ihm übersetzten Epistola ad Pisones, welche seiner Dichtkunst zur Einleitung dient, spricht er unbewunden aus, wie er sich das Verhältniß der Franzosen zu seinen Landsleuten denkt. Wenn der Römer auf der Griechen Schriften hinweist, denen man Tag und Nacht sich widmen müsse, so bemerkt dazu der Deutsche: „Was bey den Römern die Griechen waren, das sind vor uns itzo die Franzosen. Diese haben uns in allen großen Gattungen der Poesie die schönsten Muster gegeben, und sehr viel Discurse, Censuren, [503] Critiken und andere Anleitungen mehr geschrieben, daraus wir uns manche Regel nehmen können. Ich schäme mich nicht, unsern Nachbarn in diesen Stücken den Vorzug zu geben, ob ich gleich meine Landsleute in anderen Stücken ihnen vorziehe. Aber“, fügt er bedächtig hinzu, „die alten Griechen und Römer sind uns deswegen nicht verboten, denn ohne sie hätte uns Opitz nimmermehr eine so gute Bahn zu brechen vermocht. Aus Lesung der Alten ist er ein Poet geworden, und wer ihm nicht folget, wird es nimmermehr werden.“ – In den drei späteren Ausgaben der Dichtkunst (1737, 42, 51), die sonst so vielfach von der ersten wie untereinander, aber allerdings nur in Einzelheiten, abweichen, sind diese Sätze unverändert beibehalten. Die fortschreitende Entfaltung des deutschen Geistes, das Werden einer neuen Litteratur konnte ihn nicht zu erneuter Prüfung seiner Grundsätze bestimmen. Was er 1729 gedacht und geschrieben, das dachte und schrieb er 1751 und bis zum Schlusse seines Lebens. Diese in Steifheit ausartende Beharrlichkeit gereichte ihm selbst zum Verderben; es ist aber die Frage, ob er bei größerer Beweglichkeit des Geistes noch eben so tauglich geblieben wäre, sein einseitiges Reformationswerk erfolgreich zu betreiben. Er ward, in gewissem Sinne, das Opfer des Berufs, der ihm von der geschichtlichen Nothwendigkeit auferlegt war.

Kein Zweifel, daß er mit seiner Dichtkunst den Zeitgenossen gab, was sie damals verlangten und bedurften. Er begründete auf dem Gebiete der Poesie die Herrschaft der vernunftgemäßen Regel, welche sich auf die Autorität der anerkannten Muster stützte. Für uns aber bleibt dies Buch ein Denkmal von historischer Bedeutung. Es schließt die Reihe der Poetiken ab, in welchen seit den Tagen der Renaissance die altüberlieferte Kunstlehre dogmatisch vorgetragen worden. Etwas mehr als ein Jahrhundert liegt zwischen Opitzen’s Büchlein von der deutschen Poeterei und Gottsched’s kritischer Dichtkunst. Unter allen derartigen Lehrbüchern in deutscher Sprache ist dies das letzte, welches in das Leben der Litteratur unmittelbar bestimmend eingegriffen.

Der erhoffte Lohn für diese Leistung blieb ihm nicht vorenthalten. Am 4. December 1729 empfing er durch Bünau Kunde von seiner (am 30. November erfolgten) Beförderung zur außerordentlichen Professur der Poesie. Somit war seine Stellung an der Universität gesichert. Aber leider warf ihm das Lehramt der Dichtkunst keine Besoldung ab. Aus eigener schmerzlicher Erfahrung schrieb er später an Bodmer, der gewünscht hatte, ihn der Poesie erhalten zu sehen: „ein Poet und weiter nichts zu seyn nährt bey uns seinen Mann nicht.“ Demgemäß griff er wieder ernstlicher zur Weltweisheit; er bereitete ein Lehrbuch vor, „in dem alle philosophischen Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zween Theilen abgehandelt wurden.“ Er gedachte sich damit am Hofe in Gunst zu setzen, „wo man auf solche Proben sieht“; und er verfehlte seines Zweckes nicht: am 3. Juni 1734 konnte er mit Selbstzufriedenheit an Bodmer berichten, nicht vergeblich habe er sein philosophisches Buch herausgegeben, da es bei Hofe seine Wirkung gethan. Nachdem er nämlich am 8. Mai 1733 eine Supplik um Gehalt eingereicht und die Facultät den verlangten Bericht über ihn erstattet hatte, war er im December von den sächsischen Herzögen Christian und Heinrich zum ordentlichen Professor der Logik und Metaphysik ernannt und am 15. Januar 1734 als solcher von dem Könige bestätigt worden. Doch ließ er den Titel eines Professor Poeseos nicht fahren, da ihm, seinen eigenen Worten nach, die freien Künste allezeit sehr nahe am Herzen lagen. Von jetzt an glänzte er weithin als eine der bekanntesten Leuchten der Universität. Fünfmal hat ihn (zwischen 1738 und 1756) der akademische Purpur geschmückt, so daß der Ehrentitel Magnificenz fast wie eine ständige Benennung an ihm haften blieb. Im Dienste der Hochschule, die er bei feierlichen Anlässen mit etwas gespreizter Würde [504] vertrat, schrieb er eine sehr beträchtliche Anzahl von Programmen, für welche er den Stoff nicht selten der Geschichte der älteren vaterländischen Litteratur entnahm. Wie als Schriftsteller, so auch als akademisches Schulhaupt zeigte er neben allseitiger Rührigkeit viel praktisches Geschick, und bewährte die Gabe einer schnellen, wenn auch nicht tiefen Auffassung.

Nachdem er zu der ersehnten Würde der ordentlichen Professur emporgestiegen war, schloß er am 19. April 1735 die gleichfalls ersehnte Verbindung mit Luise Adelgunde Victorie Kulmus (11. April 1713 bis 26. Juni 1762). In ihrer Vaterstadt Danzig hatte er 1729 diese „so geschickte Person“, die Tochter eines angesehenen Arztes, kennen gelernt und seitdem einen „unschuldig zärtlichen Briefwechsel“ mit ihr unterhalten. Zur Ausbildung ihrer bedeutenden Anlagen, die sie auf das Feld litterarischer Thätigkeit hinwiesen, war er ihr nach Kräften behülflich; ihre ersten Arbeiten hatte er an’s Licht gestellt; sie sah dankbar auf ihn als ihren Lehrer und Führer; ja sie ward im eigentlichen Sinne seine Schülerin. Wenn der Professor seine Vorlesungen über alle Theile der Weltweisheit, über die Redekunst und Dichtkunst hielt, oder die Redeübungen seiner reiferen Lehrlinge leitete, so saß die Ehegattin, begierig horchend, an der Thür ihres dem Hörsaal benachbarten Zimmers und eignete sich alles an, was von den Lippen des Meisters und der Schüler floß. Denke man sich als Gegenbild Meta Klopstock, wie sie, etwa 20 Jahre später, ehrfurchtsvoll auf das in heiliger Begeisterung erglänzende Antlitz ihres am Messias arbeitenden Gemahles blickt! Wir gewahren hier gleichsam die beiden äußersten Endpunkte, zwischen denen sich damals das Leben der geistig angeregten Frauenwelt Deutschlands bewegte.

G. erkannte, was er an seiner Kulmus besaß. Da sie auf Mutterglück verzichten mußte, so stellte sie sich dem Gatten mit ihrem Fleiß und ihren mannigfachen Gaben selbstlos zur Verfügung. Sie übertraf ihn an Feinheit des Geistes; ihr inneres Leben war reicher und vielseitiger entwickelt als er selbst vielleicht geahnt hat; in ihren Schriften wußte sie sogar mit einiger Gewandtheit sich des Witzes und der scherzhaften Einkleidungen zu bedienen, während er sich jedesmal auf das plumpste geberdete, sobald ihm der unselige Gedanke kam, sich auf Scherz und Witz zu verlegen. Sie ließ ihn unter ihren Vorzügen nicht leiden; ja vielleicht hegte sie kaum ein ganz deutliches Bewußtsein derselben. Obgleich er oft wohl daran gethan hätte, sich ihrer Führung zu überlassen, so war sie doch zufrieden, als bescheidene Gehülfin an seiner Seite unter dem Schatten seines Ruhmes zu weilen. Seine Beschäftigungen wie seine Zwecke wurden die ihrigen; es genügte ihrem Ehrgeiz, an Vielthätigkeit mit ihm zu wetteifern. Nach seiner Vorschrift und aus eigener Neigung übersetzte sie französische und englische Werke, die bald der Poesie, bald den schönen oder strengen Wissenschaften angehörten. Sie arbeitete am Spectator, am Guardian, an Bayle’s Dictionnaire; sie half ihrem Manne bei seiner deutschen Sprachkunst (1748) und bei seinem Handlexicon der schönen Wissenschaften (1760); sie übertrug die große Geschichte der Pariser Akademie, Pope’s Lockenraub wie Addison’s Cato und die Cenie der Frau v. Graffigny; sie war, gleich ihrem Gemahl, unter dem Schutze des Grafen v. Manteuffel für Geistesfreiheit und religiöse Aufklärung thätig; sie lieferte zahlreiche Uebersetzungen und Originalstücke für die von ihrem Manne gereinigte Bühne; ja, sie hatte eine „Geschichte der lyrischen Dichtkunst von Otfried’s Zeiten an“ fertig ausgearbeitet, die sie in einem Anfalle schmerzlichen Mißmuthes dem Feuer überantwortete. In ihren letzten Jahren litt sie peinlich unter dem Jammer des Krieges und gewiß nicht minder unter dem kläglichen Mißgeschick, das ihren Mann betroffen, ein Mißgeschick, dem auch sie nicht ausweichen konnte und von dem sie in ihrer zarteren Natur schmerzlicher als er selbst verwundet ward. Damals, da Trauer und Kummer auf ihr lasteten und [505] sie „unzählige Thränen sonder Zeugen“ weinte, damals geschah es auch, daß sie ihm, wie er selbst bekennen muß, „etwas von ihrer alten Liebe und Vertraulichkeit entzog“. Einem so edlen Leben möchte man ein tröstlicheres Ende gewünscht haben. Gottsched’s geschickte Freundin wartet noch auf das Denkmal, das ihr gebührt. Für jetzt mag man wenigstens die Umrisse ihres Wesens aus den Briefen entnehmen, die Frau v. Runckel in drei Bänden (Dresden 1771–72) gesammelt hat.

In dem Jahrzehnt von 1730–40 erscheint G. auf dem Gipfel seines Thuns und Wirkens. Hervorleuchtend unter seinen damaligen Arbeiten zeigen sich die „Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ (Leipzig 1732–44, acht Bände in 32 Stücken). Aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts besitzen wir keine Zeitschrift, die sich in Bezug auf lehrreichen Gehalt, auf zweckmäßige Wahl der Stoffe mit dieser messen könnte. Sie gibt wirklich Antrieb und Anleitung zum ernsten Studium der deutschen Litteratur. Wenn irgendwo, so hat G. hier seine Umsicht, seinen auf das wahrhaft Förderliche gerichteten Fleiß bewährt. Nie verliert er hier die Bedürfnisse der Zeit aus den Augen; die Fragen, die sich als die wichtigsten damals dem Kritiker und Theoretiker aufzudrängen schienen, werden erörtert; das Neue, das er in seine Geisteswelt nicht aufnehmen kann, wie z. B. den Bodmer’schen Milton, beurtheilt er, wenn auch nach beschränkten Ansichten, so doch mit billiger Unbefangenheit. Mit unverkennbarer Vorliebe jedoch wendet er sich, von vaterländischer Gesinnung angeregt, rückwärts in die älteren Zeiten unserer Litteratur. Seltene oder seltsam auffällige Werke, von denen gewisse Perioden der Sprache und Litteratur ein überraschendes Licht empfangen, werden hervorgezogen und nach ihrem Inhalt gründlich beurtheilt; das Andenken der älteren und ältesten Bemühungen um deutsche Grammatik wird erneuert; den früheren Uebersetzungen der Bibel und der klassischen Autoren wird eingehende Aufmerksamkeit geschenkt; Luther’s sprachschöpferische Thätigkeit findet überall gerechte Würdigung. Dem Herausgeber gewährt es ein besonderes Behagen, köstliche Schriften, die zu allen Zeiten die Kraft besitzen, an das Gute und Echte zu mahnen, wie Luther’s Sendbrief vom Dolmetschen oder Leibniz’ Unvorgreifliche Gedanken, seinen Lesern vollständig mitzutheilen. Diese Zeitschrift gehört ganz der fortschreitenden Litteratur an. Noch ist G. frei genug, vor dem Neuen nicht zurückzuschrecken, weil es neu ist. Wie er seine Dichtkunst mit ganz wohl gelungenen Proben des Hexameters schmückte, so gab er in den Beyträgen (2, 160) reimlose Uebersetzungen anakreontischer Oden, und äußerte gelegentlich (1, 99) den Wunsch, in den theatralischen Gedichten das „verdrüßliche Reimen“ abgeschafft zu sehen.

Als G. die „Beyträge“ begann, hatte er schon seit einigen Jahren auf das Theater sein Augenmerk gerichtet. Dies geschah keineswegs aus innerem Drange. Er war ohne Kenntniß der Bühne aufgewachsen; ja, die theatralische Poesie blieb ihm lange gleichgültig. Erst in Leipzig konnte er etwas tiefer in die dramatische Litteratur eindringen; und dort, wo zur Meßzeit die privilegirten dresdnischen Hofkomödianten spielten, fand er denn auch Gelegenheit, sich von der Entartung der deutschen Bühne zu überzeugen. Was ihm hier vor Augen kam, mußte ihn schmerzen und empören; zugleich aber reifte der Entschluß, hier verbessernd einzugreifen. Das Princip einer aus den Vernunftgesetzen abgeleiteten formalen Zucht, nach dem er die gesammte Litteratur regeln wollte, es mußte vor Allem in der dramatischen Dichtung, die von den Brettern herab am sichersten und eindringlichsten auf die Geister wirkt, zur unbedingten Herrschaft erhoben werden. Die Erkenntniß dieser Nothwendigkeit trieb ihn, das Werk der Reinigung kräftig anzufassen und „die deutsche Schaubühne auf den Fuß der alten Griechischen [506] und neuen Frantzösischen zu setzen.“ Dies Unternehmen reihte sich naturgemäß seinen übrigen Bestrebungen an, die auf gleichartige Regelung der Litteratur abzielten, und gab ihnen erst die krönende Vollendung. Ein Blick auf die früheren Zustände des Theaters genügt, um Gottsched’s Verfahren gegen den Vorwurf der Einseitigkeit, der kurzsichtigen Strenge zu rechtfertigen. Wer den hier angehäuften Wust und Unrath beseitigen wollte, der mußte mit eisernem Besen kehren. Es wäre eine übel angebrachte Toleranz gewesen, auf der „klugen und wohleingerichteten Schaubühne“, die G. herstellen wollte und mußte, einen Harlekin und Skaramuz länger zu dulden; ihre in der Folgezeit bald beklagte, bald bespöttelte Verbannung bezeichnete einen nothwendigen Sieg desjenigen Princips, in dessen unerbittlich strenger Durchführung er damals mit Recht allein das Heil erblickte. Sollte nun aber die gesäuberte Bühne die schickliche Einrichtung erhalten, so bot ihm die Verfassung des französischen Theaters das einzige für seine Zwecke passende Muster. Wenn er auf gewissenhafte Nachahmung dieses Musters drang, so war es nicht sein Wille, daß die Deutschen, mit Verleugnung ihres vaterländischen Sinnes, sich für immer unter die Botmäßigkeit der Franzosen begeben sollten. Niemand war eifersüchtiger als er auf die Selbständigkeit und Ehre des „deutschen Witzes“; den Hohnreden der Ausländer setzte er, wie Klopstock, ein gesteigertes patriotisches Selbstbewußtsein entgegen. Er empfahl den Deutschen die Schule der Franzosen, weil sie hier lernen konnten, was ihnen noth that. Hatten sie diese Schule fleißig durchgemacht, so mußten sie, wie er erwartete, glorreich offenbaren, was der regelrecht dichtende Geist der Deutschen zu schaffen vermöge. Und hat sich das, was er zu erhoffen wagte, im Verlaufe der Entwicklungen nicht wirklich vollzogen? Freilich vollzog es sich in einer Weise, wie er es nicht erhoffen konnte. Auch hier gilt das tiefsinnige Dichterwort, daß die Wünsche uns selbst das Gewünschte verhüllen und daß die Gaben von oben herab in ihren eigenen Gestalten kommen. Auf dem von G. gesäuberten Boden, und nur auf diesem, konnte Lessing sein positives Reformationswerk beginnen und dem inzwischen erstarkten deutschen Geiste die Selbständigkeit zurückerobern.

Um die regelmäßige Form des Dramas auf der Bühne wie in der Litteratur einzubürgern, bedurfte G. der doppelten Unterstützung von Seiten der Schauspieler wie der Schriftsteller. Bei jenen fand er sie schon gegen Ende der zwanziger Jahre. Der Theaterprincipal Johann Neuber und seine Frau, die sich das Privilegium der Dresdener Hofkomödianten verschafft hatten, erwiesen sich den Lehren und Mahnungen Gottsched’s zugänglich. Sie wurden die Mittelspersonen, durch welche er auf die vor dem Schauplatz versammelte Menge wirkte. Als Sendboten, die er mit seinem Geiste belehnt und ausgerüstet, zogen sie durch die Städte Deutschlands und entledigten sich der schwierigen Aufgabe, den gereinigten theatralischen Geschmack durch ihre Leistungen den Hohen und Niederen zu empfehlen. Den Schriftstellern aber, die den erforderlichen Vorrath regelrechter Dramen beschaffen sollten, ging G. selbst mit seinem weithin wirkenden Beispiele voran. Nachdem man sich einige Zeit mit älteren, neu aufgestutzten Uebersetzungen französischer Tragödien begnügt hatte, verfertigte er 1730 seinen „Sterbenden Cato“, der im folgenden Jahre auf der Bühne, 1732 im Drucke erschien, und bis zum J. 1757 in zehn Auflagen über ganz Deutschland verbreitet ward. Aus der englischen Tragödie des Addison (1713), die, in würdevoller Declamation einherschreitend, jedes wahrhaft dramatischen Nervs entbehrt, und dem unbedeutenden Stücke des Franzosen Deschamps (1715) war der deutsche Cato peinvoll zusammengeschweißt. Der Vorzug steifster Regelmäßigkeit ließ sich ihm nicht streitig machen. Das Muster war gegeben, nach welchem G. selbst noch einige Trauerspiele, wie die parisische Bluthochzeit und [507] den Agis ausarbeitete, und welches er den Schülern und Satelliten, die er zur Nacheiferung anspornte, getrost vorhalten konnte. Man zögerte denn auch nicht, das bisher verödete Fach der dramatischen Litteratur zu Ehren des Vaterlandes auszufüllen. Die französirte Tragödie stand bald in unerwarteter Blüthe; auch die Pflege des Lustspiels ward nicht verabsäumt; unter Moliere’s und Holberg’s Aegide konnte es sich etwas freier und frischer entfalten. Den Ertrag der gemeinsamen Bemühungen sammelte G. in der sechsbändigen „Deutschen Schaubühne, nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet“ (Leipzig 1741–45, zweite Ausgabe 1746–50). Die ersten drei Bände waren meist mit Uebersetzungen gefüllt; die letzten drei enthielten nur solche Arbeiten, die deutschen Köpfen ihren Ursprung verdankten. Hier zeigte sich auch J. El. Schlegel mit seinem Hermann, dem geschäftigen Müßiggänger und der Dido. Man wird es dem Reiniger der deutschen Bühne nicht verdenken, wenn er mit unverhohlenem Stolze auf die Fülle dieser dramatischen Production hinwies, die er selbst hervorgelockt hatte.

Als G. sich seinem 40. Jahre näherte, fand er sich im Besitze einer dictatorischen Gewalt, wie sie seitdem kein deutsches Schulhaupt wieder ausgeübt hat. In der litterarischen wie theatralischen Welt schien sein Ansehen unerschütterlich befestigt.

Er konnte nicht ahnen, wie bald „hinter den großen Höhen der tiefe, der donnernde Fall folgen sollte.“ Schon ließen sich einige üble Vorzeichen erspähen. Im Sommer 1738 hatte er nach einem Zerwürfnisse mit der deutschen Gesellschaft das Seniorat derselben, halb freiwillig, halb gezwungen, niedergelegt. Im Beginne der vierziger Jahre ward die Neuberin abtrünnig und lohnte ihm mit schnödem Undanke. Entscheidend aber war das selbständige Hervortreten der Schweizer, mit denen während der dreißiger Jahre ein ganz leidliches Verhältniß sich hergestellt hatte; Gottsched’s letzter Brief an Bodmer ist am 30. October 1739 geschrieben. Im folgenden Jahre war jede Verbindung gelöst und der unversöhnbare Gegensatz zwischen Schweizern und Leipzigern ausgesprochen. In einer Reihe wohlvorbereiteter Werke, in deren Mitte Breitinger’s „Critische Dichtkunst“ drohte, hatten die beiden Schweizer sich nicht nur unabhängig neben den Alleinherrscher G. gestellt; sie hatten es gewagt, sich seinen Principien und seinen Bestrebungen zu widersetzen, indem sie über dieselben hinausgingen. G. konnte, nach der Beschaffenheit seines Geistes, nicht einsehen, daß der Zeitraum, der für sein heilsames Wirken abgesteckt war, schon hinter ihm lag. Was vor 15 Jahren der Litteratur gefrommt hatte, das mußte ihr, seinem unbeweglichen Princip zufolge, auch noch jetzt und in alle Zukunft frommen. Weil die Schweizer, ohne sich lediglich dem Ansehen überlieferter Autoritäten zu unterwerfen, nach einer tieferen Begründung der Regel suchten und das innere Wesen des Schönen zu ergründen trachteten, so argwöhnte G., sie wollten alle Autorität und Regel vernichten; weil sie, auf Milton gestützt, der Einbildungskraft zum gebührenden Rechte verhelfen wollten, so fühlte sich G. verpflichtet, in ihnen die gefährlichsten Feinde einer vernünftigen Poesie zu verfolgen. Mit erbarmungsloser Leidenschaft, mit Anwendung der verwerflichsten Waffen ward auf beiden Seiten gekämpft. G. aber ward immer entschiedener zur Rolle des starrsinnigen Pedanten verurtheilt, der nichts ahnt von der freien und dennoch gesetzmäßigen Bewegung des in der Wissenschaft und Kunst waltenden Geistes, und der die Litteratur in längst durchlaufene Bahnen zurückdrängen will. Die nachwachsende Generation überlud ihn mit Spott und Verachtung; die Aelteren wagten nicht mehr bei ihm auszuhalten; die ehemaligen Schüler verleugneten ihn. Selbst nach dem Tode des Geschmähten durfte ein Kästner nur mit schüchterner Vorsicht an dessen Verdienste mahnen.

[508] In Gottsched’s späterem Leben lassen sich drei Epochen eines immer schnelleren Verfalls unterscheiden. 1740 bricht der Krieg mit den Schweizern los, in welchem der Sieg für’s erste unentschieden bleibt; 1748 erscheinen die ersten drei Gesänge des Messias und in den nächsten Jahren die ersten Proben der Lessing’schen Kritik; 1759 aber führt Lessing in den Litteraturbriefen die letzten entscheidenden und unbarmherzigsten Streiche.

Auch in dieser lang sich hinziehenden Periode des Verfalls läßt G. seine Thätigkeit, die selbst im Auslande Beachtung findet, keinen Augenblick erlahmen. Er leitet zwei große Zeitschriften, den „Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften“ (1745–50, 10 Bände) und das „Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“ (1751–62, 12 Bände); sie stehen freilich an Werth hinter den „Beyträgen“ weit zurück; ihre Bedeutung für das Gesammtleben der Litteratur wird mit jedem Jahre geringer; aber als litterarisches Haus- und Schularchiv Gottsched’s gewähren sie noch immer mancherlei ergötzliche Belehrung. Er schreibt eine „Deutsche Sprachkunst“, die zwischen 1748 und 1762 fünf Auflagen erlebt; seine Arbeit am „Reinecke Fuchs“ (1752), aus der Goethe späterhin seinen Nutzen zog, übertrifft alles, was damals außerhalb der Schweiz für die Wiederauffrischung der älteren Denkmäler unserer Litteratur geleistet ward; und endlich lieferte er in dem „Nöthigen Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst“ (1757 und 1765) ein mit gewissenhaftem Ernst ausgeführtes Werk des redlichsten Fleißes. Ein Jahrhundert hindurch hat dies Buch dem deutschen Literator als unentbehrliches Hilfsmittel gedient, dies Buch, dessen Werth von Lessing so grausam mißkannt ward.

Was G. auch begann, er konnte der Lächerlichkeit nicht mehr entrinnen, seitdem er Klopstock verhöhnt und Schönaich gekrönt hatte. Für jeden anderen Schriftsteller war es ein Ehrentitel, wenn Friedrich der Große ihn seiner Unterhaltung würdigte; für G. schlug diese Ehre in ihr Gegentheil um, und ein Lachen ging durch das litterarische Deutschland, als am 16. October 1757 der große König den großen Duns allen Ernstes als cygne saxon angesungen hatte. Auch sein häusliches Leben war dem herbsten Spotte ausgesetzt. Als seine Kulmus ihm geraubt worden, sang er ihr, seiner Eurydice, als ein zweiter Orpheus, nach: „Du hast mein ganzes Herz besessen; hinfort besitzt es keine mehr!“ – und doch nahm er am 1. August 1765 eine zweite Frau, Ernestine Susanne Katharine Neueneß, „eine Jgfr. Obristleutnantin“, wie Goethe, der Student, höhnend schreibt. Nicht viel länger als ein Jahr sollte er sich dieser ehelichen Gemeinschaft erfreuen; von der Wassersucht ergriffen, starb er sanft am 12. Decbr. 1766. Etwa sieben Monate vorher war der „Laokoon“ erschienen; vier Monate hernach begann die Dramaturgie. Längst war die fortstrebende Zeit über ihn hinweggeschritten. Das Gesetz geschichtlicher Entwickelung hatte sich an ihm unerbittlich vollzogen. Gerade diejenigen, denen die Früchte seines Thuns am unmittelbarsten zugute kamen, mußten am verächtlichsten auf ihn zurückblicken. Wir aber wissen jetzt, daß sein Thun ein historisch bedingtes, ein nothwendiges war: unserer werdenden großen Litteratur hat er freie, reine Bahn geschafft.

Die Vorreden zu Gottsched’s bedeutenderen Schriften. – Sein Leben der Gottschedinn, Leipzig 1763. – Ungedruckte Briefe Gottsched’s an Bodmer. – Mittheilungen aus den Acten der Königsberger und Leipziger Universität, durch die Güte der Herren Professoren Friedländer, Braune und Zarncke.