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ADB:Zarncke, Friedrich

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Artikel „Zarncke, Friedrich“ von Eduard Sievers in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 44 (1898), S. 700–706, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Zarncke,_Friedrich&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 01:50 Uhr UTC)
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Zarncke: Friedrich Karl Theodor Z., deutscher Philolog. Er wurde am 7. Juli 1825 zu Zahrenstorf bei Brüel in Meklenburg geboren. Sein Vater war dort Landgeistlicher, ein Mann, der die trefflichsten Gaben des Geistes und Herzens mit einander vereinigte. In dem schönen Denkmal, das der Sohn dem Vater noch im letzten Jahre seines Lebens gesetzt hat (s. u.), rühmt er an ihm vor allem die Einheitlichkeit des Empfindens. „Er war von Jugend auf heimisch im classischen Alterthume und lebte und webte in der reinen, klaren Atmosphäre desselben. Die innigste christliche Frömmigkeit vereinigte sich damit aufs einfachste. Ihm war das Christenthum die schönste, edelste, empfindungsreichste Offenbarung des rein Menschlichen. Er dachte und fühlte wie Herder, er war wie dieser ein Apostel der Humanität … Er war ein Pädagog ersten Ranges. Ohne viel theoretischen Krimskram gab sein feiner Tact und die [701] Freude die ihm das Unterrichten gewährte, ihm die richtige Methode an die Hand … Der Zauber in seinem Wesen war die Anmuth seiner Darstellungsweise und die unergründliche und unerschöpfliche Liebe zu den ihm Anvertrauten“. Den Unterricht dieses Vaters genoß Z. bis er zum Eintritt in die Obersecunda des Rostocker Gymnasiums reif war; ihm verdankt er die tiefgehendsten und nachhaltigsten Einwirkungen auf sein ganzes Leben, Denken und Fühlen: „Wenn es mir später in einem langen Leben geglückt sein sollte, in wissenschaftlicher Thätigkeit Einiges zu leisten, so hat mich nie der Gedanke verlassen, daß ich dies Alles doch nur dem wunderbar klaren Unterrichte verdankte, durch den unser Vater die Grundlagen meines Denkens geschaffen hatte“, bekennt Z. selbst, und wer ihn als Menschen und Lehrer gekannt hat, wird in seiner Natur und der Art seines Wirkens vieles von dem wiederholt finden was Z. dankbaren Herzens an seinem Vater bewunderte.

Während der Rostocker Schulzeit fand Zarncke’s Verständniß und Begeisterung für die Alten vor allem durch den Rector Brummerstädt wirksame Förderung. Neben den classischen Sprachen aber wurde zugleich noch Deutsch, Geschichte, Aesthetik, Philosophie und selbst Mathematik getrieben, mit einem Eifer, der Z. oft weit über die Grenzen der Schulanforderungen hinausführte.

Nach glänzend bestandener Reifeprüfung bezog Z. zu Ostern 1844 die Universität Rostock. Die Absicht, neben Philologie, zu der Anlagen und Neigungen ihn in erster Linie hintrieben, auch Theologie zu studiren, gab er noch im ersten Semester wieder auf, da er in diesem Studium nicht den gehofften Gewinn für die Festigung seiner Lebens- und Weltanschauung zu finden vermochte. Um so eifriger widmete er sich philologischen und ästhetischen Studien, reiche Anregung namentlich aus den Vorlesungen von Chr. Wilbrandt über deutsche Litteratur wie über Aesthetik und griechische Tragödie schöpfend. Zu Ostern 1845 siedelte Z. nach Leipzig über, und dieser Schritt war ausschlaggebend für die Richtung seiner weiteren wissenschaftlichen Ausbildung, denn er führte ihn in die Schule von Gottfried Hermann und Moritz Haupt. Mit wachsender Wärme schildert Z. in Briefen an seinen Vater den bezaubernden Eindruck, den Hermann’s ehrwürdige Persönlichkeit auch auf ihn machte. Aber stärker und dauernder fühlte er sich doch durch die Lehrweise Haupt’s angezogen, an dem er gleich anfangs die Klarheit und ruhige Besonnenheit, den gründlichen Fleiß und hellen Verstand, die Fähigkeit, sich in ein Product der Litteratur hineinzuleben und den Eindruck schön zu reproduciren bewundert, und dem er auch später noch inbezug auf seine methodische Durchbildung den größten Einfluß auf sich einräumte. Haupt selbst kam seinerseits dem eifrigen Hörer mit sichtlichem Wohlwollen fördernd und berathend entgegen, und als Z. nach einem besonders aus Rücksicht auf das ihm unersetzliche Verhältniß zu Haupt bis auf drei Semester ausgedehnten Aufenthalt in Leipzig sich im Herbste 1846 nach Berlin wandte, da war es wiederum Haupt, der ihm durch warme Empfehlungen an die Brüder Grimm und an Lachmann dort die Wege ebnete. Wie weit Z. damals speciell bei letzterem Vorlesungen gehört oder sich an den Uebungen seines Seminars und seiner deutschen Gesellschaft betheiligt hat, läßt sich nicht mehr ermitteln: aber sicher ist damals bereits der Grund zu dem näheren Verhältniß gelegt worden, das wir später bestehen sehen, und das Z. nachmals, bei Gelegenheit seiner ersten Nibelungenschrift, das Recht gab, sich als Lachmann’s Schüler zu bezeichnen und zu bekennen, daß er sich ihm persönlich aufs innigste verpflichtet fühle.

Der Sommer 1847 führte Z., zum Abschluß seiner Studien, nach Rostock zurück. Am 20. October desselben Jahres wurde er dort, ohne Einreichung einer schriftlichen Arbeit, auf Grund einer summa cum laude bestandenen Prüfüng [702] im Deutschen, Englischen und Griechischen zum Doctor der Philosophie promovirt.

Von der classischen Philologie war Z. ausgegangen, und während seiner ganzen Studienzeit ist er – auch hierin Haupt’s Rathschlägen folgend – ihr nicht untreu geworden. Aber er hatte sich doch mehr und mehr dem Studium der deutschen Philologie als seinem eigentlichen Lebensberuf zugewandt. Eine Gelegenheit zur Erweiterung und Vertiefung dieser Studien bot ihm bald nach der Promotion der im Juni 1848 an ihn ergangene Auftrag, erst neben Julius Zacher, dann, nach dessen Rückkehr nach Halle, allein die reichen Bücherschätze der Bibliothek des Freiherrn Karl Hartwig Gregor v. Meusebach zu verzeichnen, deren Ankauf durch die preußische Regierung geplant war und, nach Vollendung von Zarncke’s Katalog im Herbste des Jahres 1850 auch wirklich erfolgte. In dieser Zeit wird bei Z. der Entschluß gereift sein, den früher gehegten Gedanken an eine Laufbahn als Gymnasiallehrer aufzugeben und sich ganz gelehrter Thätigkeit zu widmen. Dieser Entschluß führte ihn nach Beendigung seiner Katalogarbeiten nach Leipzig zurück, das nun bis zu seinem Tode seine Heimath blieb und damit zur Stätte einer mehr als vierzigjährigen rastlosen, nach den verschiedensten Seiten hin reich entfalteten und in ihrer Fülle kaum übersehbaren Thätigkeit wurde. Dabei ist Zarncke’s äußerer Lebensgang von dieser Zeit ab so einfach wie nur je der eines deutschen Gelehrten gewesen ist. Mit der Gründung des Literarischen Centralblatts für Deutschland, das mit dem 1. October 1850 zu erscheinen begann und bald unter seiner geschickten Leitung die hervorragendsten wissenschaftlichen Kräfte zu seinen Mitarbeitern zählte, führte sich der junge Gelehrte zuerst in die Wissenschaft ein. Bald begann dann auch die lange Reihe der selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten, mit denen Z. die deutsche Philologie bereichert hat. Am 30. Juli 1852 habilitirte er sich auf Grund seiner Geschichte der deutschen Uebersetzungen der sogen. Disticha Catonis und mit einer Probevorlesung über die Beziehungen der provenzalischen und französischen Poesie zur deutschen. Bereits zwei Jahre darauf ward Z., da Haupt’s Lehrstuhl seit dessen aus politischen Gründen erfolgter Amtsentsetzung im April 1851 verwaist war, zum außerordentlichen Professor der deutschen Sprache und Litteratur ernannt. Am 9. April 1855 vermählte er sich mit Anna Pauline Geitner aus Leipzig, die ihm in glücklichster Ehe neun Jahre lang zur Seite stand. Der October 1858 endlich brachte ihm die Beförderung zum Ordinarius. Zwar wurde bald danach durch eine im Sommer 1859 ausbrechende tuberkulöse Lungenerkrankung sein Leben auf das ernsteste bedroht, aber seine eiserne Natur überwand nach langem Ringen auch dies Leiden so vollständig, daß es für Jahrzehnte hinaus fast unglaublich erschien, daß er jemals überhaupt ermüden oder gar erkranken könne. Und so wurde er schließlich, allen unerwartet, mitten aus der Fülle der lebendigsten Kraft und der frischesten Thätigkeit heraus, vom Tode dahingerafft. Er starb nach vierwöchentlichem schweren Leiden, das er mit heldenmüthiger Geduld ertrug, am 15. October 1891 an einer durch entzündlichen Durchbruch von Gallensteinen verursachten Blutvergiftung.

Mit stark ausgeprägtem Trieb zu ästhetischen Studien hatte Z. die Universität bezogen, und auch in seiner Leipziger Zeit sehen wir ihn noch eifrig diesen Neigungen nachgehen. In seiner späteren wissenschaftlichen Thätigkeit hat er indessen ästhetischen Erwägungen thatsächlich keinen breiteren Raum mehr gegönnt. Die streng kritische Schule Hermann’s und Haupt’s mag ihn zuerst zur Selbstbeschränkung in dieser Hinsicht geführt haben. Um so stärkere Pflege fand dafür in eben dieser Schule eine andere Seite der ihm eigenthümlichen Neigung und Begabung. Schon Haupt’s Urtheile über die ersten Disputationen und [703] Arbeiten des Leipziger Studenten lassen Zarncke’s Begabung sowol wie seine Richtung auf exacte, zumal quellenmäßige Litteraturforschung deutlich erkennen: dieselbe Richtung die hernach von Anfang an Zarncke’s litterarischen Arbeiten ihren Stempel aufgedrückt hat und für ihn zeitlebens ein besonders hervortretendes Charakteristicum geblieben ist.

Die Arbeit an der Meusebach’schen Bibliothek, der reichsten Schatzkammer von Quellen der älteren deutschen Litteratur, führte Z. zunächst zu weitgreifenden und tiefgehenden Studien über die Litteratur und Cultur des ausgehenden Mittelalters, bei denen die Arbeiten über Sebastian Brant eine beherrschende centrale Stellung einnehmen. Als erste Ausbeute dieser Studien erschien Zarncke’s Ausgabe und Geschichte der deutschen Uebersetzungen der Disticha Catonis bis auf Brant (Leipzig 1852), ihren vollständigsten Ausdruck fanden sie in der auch heute noch mustergültigen Ausgabe des Narrenschiffs (Lpz. 1854), die den noch nicht Dreißigjährigen bereits auf der vollen Höhe des Könnens zeigt und gleich ausgezeichnet ist durch Allseitigkeit in der Beleuchtung der weitverzweigten mit Brant’s Werk irgend verwandten Litteratur wie durch den aus intimster Kenntniß von deutscher Sprache und Cultur im 15. und 16. Jahrhundert geflossenen Wort- und Sachcommentar. Daneben waren Studien der deutschen Universitätsgeschichte in weitem Umfang geplant und begonnen („Die deutschen Universitäten im Mittelalter“ 1, Lpz. 1857; „Die urkundl. Quellen zur Geschichte der Univ. Leipzig in den ersten 150 Jahren ihres Bestehens“, in den Abh. d. philol.-hist. Cl. d. K. Sächs. Ges. d. Wiss. 2, 1857; „Acta rectorum studii Lipsiensis“ 1859 [von 1524–1559]; „Die Statutenbücher der Univ. Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens“, 1861), aber der vollen Ausführung der gefaßten Pläne bereitete Zarncke’s schwere Erkrankung (oben S. 702) ebenso ein Ende wie sie in den Fortgang anderer in rastlosem Eifer gleichzeitig unternommener Arbeiten hemmend eingriff, vor allem in seine Studien über das Nibelungenlied und seine Arbeit am Mittelhochdeutschen Wörterbuch.

Untersuchungen über das Verhältniß des Nibelungentextes A zur sogen. Vulgatüberlieferung hatten Z. schon im J. 1854 zu dem Resultat geführt, daß die Hs. A im Gegensatz zu ihrer Bewerthung durch Lachmann (der sie zur alleinigen Grundlage aller weiteren Kritik erhoben hatte) für eine stark fehlerhafte Abschrift einer B an Werth übertreffenden (und damit auch der Recension C überlegenen) Vorlage zu betrachten sei. Da erschienen Adolf Holtzmann’s „Untersuchungen über das Nibelungenlied“ und rissen Z. durch ihre „scharfsinnige und geistvolle“, im Negativen ja auch oft treffende Kritik zu Gunsten einer (später auch von ihm selbst als solcher anerkannten) Ueberschätzung des Werthes von C mit fort. Seine eigenen Untersuchungen bescheiden unterdrückend, schloß er sich in der Rede „Zur Nibelungenfrage“, mit der er die neuverliehene Professur antrat, bezüglich der Handschriftenfrage ganz an Holtzmann an. Damit wurde denn auch Z., der, obwol in einer Einzelfrage anders urtheilend, sich doch innerlich nach wie vor mit seinen Lehrern Lachmann und Haupt wissenschaftlich eng verbunden fühlte, in den nun entbrennenden Nibelungenstreit hineingerissen, der auf lange Zeit hinaus die Scharen der deutschen Philologen in streng getrennte Lager spalten sollte. Daß dieser Kampf zu einem Theile Formen beklagenswerthester Heftigkeit annahm, geschah sicher ohne Zarncke’s Zuthun, und sehr gegen sein maß- und pietätvolles Empfinden.

Die unmittelbaren Früchte der neugewonnenen Ueberzeugungen waren für Z. die zuerst 1856 erschienene, dann oft wieder aufgelegte musterhafte Handausgabe des C-Textes, dann seine durch Gelehrsamkeit und Scharfsinn gleich ausgezeichneten „Beiträge zur Erklärung und Geschichte des Nibelungenliedes“ (1857), die im Verein mit einigen andern später erschienenen Aufsätzen ähnlicher Richtung [704] es aufs höchste beklagenswerth erscheinen lassen, daß Z. den lange gehegten Plan eines Sachcommentars zum Nibelungenliede nicht zur Ausführung gebracht hat. Von seiner (bez. Holtzmann’s) Beurtheilung des Handschriftenverhältnisses sind heutzutage auch Zarncke’s nähere Schüler wol größtentheils abgegangen, und auch in anderen Einzelfragen der Nibelungenkritik denkt man jetzt bei ruhigerem Blut abders als früher, zumal sich die ganze Problemstellung seit jenen Tagen wesentlich verschoben hat. Aber daran, daß dies überhaupt hat geschehen können, haben gerade Zarncke’s stets klare und präcise Einwände gegen die überkommenen Lehren und kritischen Regeln einen nicht unwesentlichen Antheil gehabt, und darin besteht das bleibende Verdienst seines Eingreifens in den Kampf.

Zur Bearbeitung des von G. F. Benecke gesammelten Materials zu einem mittelhochdeutschen Wörterbuch hatte sich Z. 1853 mit Wilhelm Müller in Göttingen verbunden. Schon 1855 konnte er eine erste Lieferung, mit dem Anfang des Buchstabens M, erscheinen lassen. Aber erst das Jahr 1863 brachte, nach Zarncke’s völliger Genesung, den Abschluß des bis R reichenden Bandes des „Mittelhochdeutschen Wörterbuchs“, des einzigen von Zarncke’s Hand, da W. Müller inzwischen für den ursprünglich von Z. mit übernommenen umfänglichen Buchstaben S wieder eingetreten war. Fülle des Inhalts und lichtvolle Klarheit in Anordnung und Erläuterung zeichnen auch hier wieder Zarncke’s Antheil aus.

Das folgende Jahrzehnt hat außer der grundlegenden Studie „Ueber den fünffüßigen Jambus mit besonderer Rücksicht auf seine Behandlung durch Lessing, Schiller und Goethe“ (1865) namentlich noch eine Reihe wichtiger Einzelabhandlungen gezeitigt (aus denen die über die sog. Praefatio zum Heliand, 1865, und über das Muspilli, 1866, hervorzuheben sind). Zudem fällt in jene Jahre eine durch das allgemeine Aufblühen der germanistischen Studien ebenso mit bedingte wie dieses Aufblühen ihrerseits fördernde starke Erweiterung und Vertiefung von Zarncke’s Lehrthätigkeit, und eine das Kriegsjahr 1870–71 mit umspannende denkwürdige zweijährige Amtsführung als Rector der Universität Leipzig. Mit dem Jahre 1874 setzen dann weit ausgedehnte sagen- und textgeschichtliche Studien über den Priester Johannes und den jüngeren Titurel ein, die mit ihren drei großen Schlußabhandlungen (Der Graltempel, 1876, und Der Priester Johannes, 1876 und 1879) zwar noch nicht ganz bis zu dem selbstgesteckten Endziel vordringen, aber doch Zarncke’s wissenschaftlichen Spürsinn und seine erstaunliche Fähigkeit zur Bezwingung gewaltiger und widerspenstiger Stoffmassen wiederum im hellsten Lichte zeigen.

Von nun ab zeigt sich Zarncke’s Interesse, in dem er an die litterarischen Bestrebungen seiner Jugendjahre wieder anknüpft, in steigendem Maaße auch der neueren deutschen Litteratur zugewendet, begleitet und unterstützt zugleich von einem gewissen Sammlertriebe, dessen Grund wol auch schon in den Jugendtagen gelegt sein mag, wo er in den Schätzen der Meusebach’schen Sammlung schwelgen durfte. Wie sehr ihm Lessing am Herzen gelegen, davon hat freilich nur die reichhaltige Sammlung Lessingischer Schriften Kunde gegeben, die eine Zierde seiner Bibliothek bildete. Seit der Mitte der siebziger Jahre schiebt sich dann Goethe mehr und mehr in den Vordergrund, den ja freilich auch vordem Z., wie er wol gelegentlich einmal verrieth, in seinem arbeitsreichen Leben kaum je einen Tag ganz aus den Augen verloren hatte. Von dem Umfang und der Intensität von Zarncke’s Goethestudien gibt jetzt der erste Band seiner gesammelten „Kleinen Schriften“ (Leipzig 1897) bequem eine deutliche Vorstellung. Ueber Faust und Faustsage pflegte Z., obwol er sonst nicht über neuere Litteratur las, in der letzten Zeit seines Lebens in regelmäßiger Wiederkehr eine große Vorlesung [705] zu halten. Daneben wandte er über zwei Jahrzehnte lang seinen unermüdlichen Sammeleifer der Begründung der in ihrer schließlichen Vollendung einzig dastehenden Sammlung von Reproductionen von Goethebildern zu (viele davon sind eigens und nur für ihn hergestellt worden), die nach seinem Tode in den Besitz der Leipziger Stadtbibliothek übergegangen ist und einen der werthvollsten Schätze dieser an Seltenheiten reichen Sammlung bildet. Daß bei einem Manne wie Z. kritische Forschung und Untersuchung mit der Sammlerthätigkeit untrennbar verknüpft war, versteht sich von selbst. Die Summe dieser Forschungen zog 1888 sein „Kurzgefaßtes Verzeichniß der Originalaufnahmen von Goethe’s Bildniß“, das ebenso inhaltlich für die Goethebiographie wichtig wie durch die auf 15 Tafeln beigegebenen Abbildungen für die Geschichte der Reproductionstechnik bedeutsam ist.

Neben den Goethearbeiten treten in jenen Jahren noch zwei größere Untersuchungen charakteristisch hervor: Die eine über Christian Reuter, den ein glücklicher, zu weiterer Verwerthung an Z. überlassener Actenfund des gelehrten Leipziger Antiquars Dr. A. Kirchhoff als Verfasser des „Schelmuffsky“ erwiesen hatte, und in der Z. noch einmal mit vollendeter Kunst und glänzendem Erfolg sein unvergleichliches Spür- und Findertalent aufbot, um das Leben und die Schriftstellerei eines bis dahin so gut wie unbekannten Mannes aufzuhellen („Christian Reuter, der Verfasser des Schelmuffsky“, 1884; dazu eine Anzahl kleinerer Aufsätze). Die andere, Zarncke’s letzte größere wissenschaftliche Publication, die „Causa Nicolai Winter“ (1890), die Geschichte des um die Mitte des 15. Jahrhunderts geführten Bagatellprocesses eines Leipziger Studenten, der schon bei Zarncke’s erster Beschäftigung mit den Leipziger Universitätsacten in den fünfziger Jahren seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und der ihm nun Gelegenheit gab, einer an sich geringfügigen und unbedeutenden Sache durch die weiten Ausblicke die er eröffnete ein reicheres rechts- und culturgeschichtliches Interesse zu entlocken.

Am Ende von Zarncke’s schriftstellerischer Thätigkeit steht wie zum Abschied das als Manuscript für die Familie gedruckte Buch „Aus dem Leben des Großvaters und dem Jugendleben des Vaters“ (1891), aus dem leider nur einzelne Abschnitte allgemeineren geschichtlichen oder culturgeschichtlichen Inhalts später im zweiten Bande der „Kleineren Schriften“ allgemein zugänglich gemacht werden konnten, obwol gerade die lebenswarme und von vollstem Verständniß getragene Schilderung dessen was der Vater ihm und den Seinigen gewesen ist, unter Zarncke’s Händen sich unbewußt zur treffendsten Selbstcharakteristik ausweitet, die wie keine andere Aeußerung Zarncke’s sein innerstes Wesen im Kern verstehen lehrt.

Zu allem diesem füge man eine Menge kleinerer Specialuntersuchungen verschiedenartigsten Inhaltes und die bis in die Tausende gehende Zahl der Referate und Recensionen mit denen Z. im Literarischen Centralblatt einundvierzig Jahre lang die wichtigeren Erscheinungen der deutschen Philologie begleitet hat: es ist mehr als genug, um ein langes und reiches Leben damit ausgefüllt zu denken. Und doch stellten Zarncke’s schriftstellerische Leistungen nur einen Bruchtheil von seiner vielverzweigten Wirksamkeit dar. Mit der Universität Leipzig war er durch eine fast vier Jahrzehnte umspannende akademische Wirksamkeit so verwachsen, daß bei seinem Tode vielfach der Gedanke laut wurde, es sei fast unmöglich, sie sich ohne ihn zu denken: hatte er doch auch an ihrem Emporblühen zu einer der ersten Hochschulen Deutschlands den thätigsten Antheil gehabt, und nicht nur als Forscher und Lehrer. In allen Angelegenheiten der Universität aufs gründlichste bewandert, klar und scharfblickend in allem Geschäftlichen, voll weltmännischen [706] Tacts, dabei stets bereit, in selbstloser Hingabe helfend und rathend einzutreten, hat er eine Reihe akademischer und anderer Aemter in geradezu glänzender Weise verwaltet. Nicht weniger als drei Mal hat er als Rector an der Spitze der Universität gestanden; als langjähriger Director actorum der philosophischen Facultät war er der lebendige Träger ihrer Traditionen. Der philologisch-historischen Classe der K. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften stand er seit 1888 als Vorsitzender vor. Lange Jahre hindurch war er zugleich Vorsitzender der wissenschaftlichen Prüfungscommission für Candidaten des höheren Schulamts, und auch zur Theilnahme an den Arbeiten des Leipziger Stadtverordnetencollegiums wie der ersten sächsischen Landessynode ward er zeitweise durch das Vertrauen seiner Mitbürger berufen.

Den eigentlichen Schwerpunkt von Zarncke’s gesammter Wirksamkeit wird man aber doch vielleicht in seiner akademischen Lehrthätigkeit finden dürfen, in der die glänzenden Eigenschaften des Gelehrten wie des Menschen ihren harmonischesten Ausdruck fanden. Die imponirende Beherrschung eines jeden Stoffes, die frische Natürlichkeit und Anmuth des Vortrags und die ruhige Klarheit des Urtheils und der Beweisführung mußten jeden strebsamen Geist ebenso fesseln wie die warme und reine Menschlichkeit seines Wesens, und die nie ermüdende Freundlichkeit mit der er jedem Rath und Hülfe suchenden entgegenkam, einen jeden an ihn kettete, der ihm nur einmal näher getreten war. Und wenn man es bedauern mag, daß er in absichtlicher Beschränkung von der auch ihm in hohem Maaße verliehenen Gabe constructiven Aufbaus in seinen litterarischen Arbeiten verhältnißmäßig nur wenig Gebrauch gemacht hat, so muß andrerseits betont werden, daß gerade in seiner Lehre die stets streng betonte Scheidung zwischen Erkennbarem und Speculativem nicht minder befreiend und kräftigend gewirkt hat, als der ihm angeborene Sinn für das Einfache und Natürliche positiv Richtung zu geben verstand: nicht als ob es ihm je darauf angekommen wäre, seine persönlichen Anschauungen und Ueberzeugungen zur Geltung zu bringen: als erstes Ziel seines Lebens hat er vielmehr jederzeit das betrachtet, jeden Einzelnen zu freiester und vollster Entwicklung seiner individuellen Gaben und Kräfte anzuleiten. Und so ist es nicht sein geringster Ruhm, daß er wol eine große Zahl dankbarer Schüler hinterlassen hat, die sich bestreben ein jeder nach seinem Theile im Sinne seiner hohen und freien Auffassung von philologischer Wissenschaft weiter zu arbeiten, aber nicht eine Schule, die nur der enge Glaube an eine Summe persönlicher Lehrsätze einigt.

Zur Erinnerung an den Heimgang von Dr. Friedrich Zarncke, Leipzig 1891, wiederholt in den Kleinen Schriften 2, 361 ff. (Abdruck der bei Zarncke’s Begräbnißfeier gehaltenen Ansprachen). – Fr. Vogt, in der Zeitschrift f. deutsche Philologie 25, 71 ff. (mit ausführlichem Schriftenverzeichniß). – Ed. Zarncke, im Biogr. Jahrbuch f. Alterthumswissenschaft 1895, und (berichtigt und ergänzt) in den Kleinen Schriften 2, 376 ff. (mit Nachträgen zur Bibliographie und Aufzählung der zahlreichen Nekrologe u. Nachrufe). – Von Zarncke’s Kleinen Schriften (gesammelt u. herausg. von Ed. Zarncke), sind bisher zwei Bände erschienen, Leipzig 1897 (Goetheschriften) und 1898 (Aufsätze und Reden zur Cultur- und Zeitgeschichte).