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ADB:Lessing, Gotthold Ephraim

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Artikel „Lessing, Gotthold Ephraim“ von Carl Christian Redlich in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 756–802, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lessing,_Gotthold_Ephraim&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 11:01 Uhr UTC)
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Lessing *): Gotthold Ephraim L., geb. am 22. Januar 1729 in Kamenz, der ärmsten der oberlausitzischen Sechsstädte, † am 15. Februar 1781 zu Braunschweig, war das dritte Kind und der zweite Sohn des Archidiaconus, später Pastor primarius, Johann Gottfried L. (s. d.) und der Justine Salome, geb. Feller. Von seinen 11 Geschwistern sind der erstgeborene nach dem Vater genannte Sohn des Hauses, drei jüngere Brüder und eine jüngere Schwester in zarter Kindheit gestorben. Seine ältere Schwester, Dorothea Salome, geb. im Februar 1727, starb unvermählt am 9. September 1803. Von den jüngeren Brüdern studirte der ihm an Alter nächststehende Johann Theophilus, geb. am 12. November 1732, Theologie, bemühte sich aber nach mehrjähriger Hauslehrerthätigkeit lange vergeblich um ein geistliches Amt, ward 1768 Conrector in Pirna, zehn Jahre später Conrector in Chemnitz und endlich noch als Greis 1805 Rector daselbst; als solcher ist er am 6. October 1808 gestorben, aus seiner erst nach dem Tode des großen Bruders geschlossenen Ehe zwei Söhne und eine Tochter hinterlassend. (Ueber ihn und seine nicht bedeutende theologische und poetische Schriftstellerei berichtet ausführlich C. Kirchner’s Aufsatz: Johann Theophilus Lessing und das Chemnitzer Lyceum zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts. Chemnitz 1882.) Der folgende Bruder, Gottfried Benjamin, geb. 1736 (?), studirte Jurisprudenz und arbeitete dann bei seinem unverheiratheten Oheim, dem Generalacciseinspector und Oberamtsadvokaten Johann Traugott L. zu Kamenz, starb aber schon 1764. Dieselbe Carriere schlug der nächste Bruder, Gottlob Samuel, geb. am 23. Januar 1739, ein, aber anfangs erfolglos. Ohne rechte Stetigkeit plante und versuchte er allerlei andere Beschäftigungen, bis er am Ende doch sich zu seiner Jurisprudenz zurückwandte, eine Zeit lang als Justitiarius eines schlesischen Adligen amtirte, als Advokat in Brieg heirathete und schließlich königlich preußischer Domänenamtsjustitiarius in Namslau ward, wo er nach mehr als 25jähriger Amtsführung 1803 gestorben ist. Sein Sohn Friedrich, der als württembergischer Hofrath und preußischer Justizcommissar bis 1824 in Breslau gelebt hat, war der Gatte der als Schriftstellerin in Almanachen und Zeitschriften begegnenden Karoline L., geb. Meitzen, geb. am 28. Juni 1779 zu Breslau, † am 2. October 1834 zu Altona, einer Stieftochter des Kriegsrathes Hempel in Berlin; ihr Kind war der Rechtsanwalt C. F. Gotthold L., der Vater des frühverstorbenen Max Eduard L. († am 20. December 1864 zu Berlin). Am bekanntesten ist der vorjüngste Bruder, Karl Gotthelf, geb. am 10. Juli 1740, geworden; da er 16 Jahre lang in dem engsten Verkehr mit seinem Bruder Gotthold gestanden und für dessen Wirken von allen Geschwistern das meiste, bewundernde Verständniß bewiesen hat. Der Abstand zwischen dem gründlich und vielseitig gebildeten scharfen Denker und dem oberflächlichen, in seinen jungen Jahren ziemlich naseweisen Litteraten ist allerdings groß: der Mangel einer soliden Schulbildung, die Planlosigkeit seiner [757] von einer Facultät zur anderen schweifenden und am Ende vorschnell abgebrochenen Universitätsstudien, der unordentliche Drang zur Schriftstellerei als Lebensberuf ohne rechtes Urtheil über die dazu nöthigen Vorbedingungen haben es dem jüngeren Bruder unmöglich gemacht, dem Vorbild des älteren mit Erfolg nachzueifern. Aber in seinen Tugenden wie in seinen Fehlern, in seinen Neigungen wie in seinen Bestrebungen ist er demselben doch ähnlicher als die anderen Geschwister. Sein theatralisches Interesse hat ihn früh dazu gebracht, ohne Selbstkritik seine ersten Gedanken in dramatische Form zu bringen und eine Reihe von leichtfertig hingeworfenen Lustspielen drucken zu lassen, die sich fast alle an englische Muster anlehnen, aber nicht mehr bedeuten als seine ums Brot verfertigten Uebersetzungen und seine oft recht vorschnell aburtheilenden Recensionen. Mit seiner Uebersiedelung von Berlin, wo er 1770 als Assistent beim Generalmünzdirectorium eine Anstellung und im December 1776 an der Tochter des Buchhändler Voß eine Frau gefunden hatte, nach Breslau, wo er nach Gentz’ Abgange selbst Münzdirector wurde, hört seine selbständige litterarische Thätigkeit auf. Nachdem er 1778–1780 eine zweibändige Sammlung seiner Schauspiele herausgegeben hatte – sie enthält: „Die Physiognomistin ohne es zu wissen“ (vorher unter dem Titel „Ohne Harlekin“ gedruckt), „Der stumme Plauderer“, „Der Wildfang“, „Der Bankrot“, „Die Maitresse“ und „Die reiche Frau“, und übergeht „Den Lotteriespieler oder die fünf glücklichen Nummern“ wie die Bühnenbearbeitung der Wagner’schen „Kindermörderin“ – widmete er alle seine Mußestunden der Herausgabe von seines Bruders Schriften, Briefwechsel und Nachlaß und dem ersten Versuch einer Biographie desselben. Seine Ruschelei verleugnet sich auch in diesen Arbeiten nicht, und doch hat er Anspruch auf den Dank der Nachwelt, weil er vieles gerettet hat, wovon wir ohne ihn nichts wissen würden, und am wenigsten verdient er den Spott des Xenions über den lieblosen Bruder, der Gottholds schlummerndes Gebein nicht ruhen lassen könne.[1] Aus seiner Ehe stammen nur drei Kinder, zwei Söhne und eine an den Breslauer Münzdirector Müller verheirathete Tocher; der zweite Sohn ist ohne Nachkommen gestorben, der ältere aber, Karl Friedrich L., Gerichtskanzler zu Polnisch-Wartenberg, hat aus zwei Ehen 21 Kinder gehabt, darunter den Maler und Galleriedirector Karl Friedrich L., den Arzt und Naturforscher Christian Friedrich L. und den noch lebenden Miteigenthümer der Vossischen Zeitung, Landgerichtsdirector Karl Robert L. in Berlin. Der jüngste Sohn endlich des alten Pastors Joh. Gottfried L., Erdmann Salomo Traugott, geb. October 1741, ist ganz aus der Art geschlagen; er wollte zuletzt Soldat werden und ist voll Reue über den Kummer, den er seinen Eltern gemacht, im April 1760 zu Warschau gestorben.

Es ist ein ziemlich trübes Bild, das wir aus den Schicksalen der jüngeren Geschwister Lessing’s von dem Kamenzer Pfarrhause gewinnen. Die erhaltenen Familienbriefe gewähren keine erfreulichere Anschauung. Zur Erziehung der zahlreichen Kinder reichen bei aller Tüchtigkeit und Sparsamkeit der Hausmutter die beschränkten und durch die schlesischen Kriege noch mehr beknappten Mittel des Vaters nicht aus. Früh verliert dieser die Freudigkeit zu gelehrter Schriftstellerei, wenn er auch aus alter Gewohnheit Bücherschätze aufzuhäufen fortfährt und sich gern vor den Sorgen des Tages in sein Studirzimmer flüchtet, der Gattin überlassend, wie sie mit jenen fertig werden will. Im Verwandtenkreise müssen Anleihen über Anleihen gemacht werden; von Jahr zu Jahr wächst die Schuldenlast, mehren sich die Verlegenheiten und damit die Anforderungen an den zu kluger Wirthlichkeit selber durchaus nicht beanlagten ältesten Sohn. Die pecuniäre Bedrängniß, die sich immer weniger verbergen ließ, gab manchem unfreundlich gesinnten Kamenzer Veranlassung, den Oberpfarrer auch in seiner amtlichen [758] Wirksamkeit zu hemmen, dem reizbaren Mann das Leben durch allerlei kleinliche Chikanen und unverdiente Kränkungen zu erschweren und seine Hinterbliebenen geradezu dem Kampfe mit dem äußersten Mangel zu überlassen. Gotthold hat als der älteste noch nicht eine so verkümmerte Kindheit verlebt als seine Brüder. Waren die Verhältnisse des Hauses auch schon so eng, daß die Schwester vor der Zeit dem Schulunterricht entzogen wurde, um der Mutter im Häuslichen an die Hand zu gehen und die für seine gelehrte Vorbildung erforderlichen Mittel zu Rathe zu halten, so waren doch noch nicht Grämlichkeit und Verbitterung bei den Eltern eingezogen, und der Sohn nahm von dem Vater noch das Bild eines ausdauernd fleißigen Gelehrten von nicht gewöhnlicher Bildung, nach dessen Muster er weiter streben konnte, in die Welt hinaus. Er hatte selbst den ersten Unterricht vom Vater erhalten, der seine Unterweisung in der Religion beibehielt, als er seinen Schwestersohn Christlieb Mylius, den nachherigen Schulrector in Königsbrück, oder nach anderen Nachrichten einen Candidaten Martini zum Lehrer seines Gottholds bestellte; der väterliche Religionsunterricht dauerte auch noch fort, als der achtjährige Knabe in die von Heinitz geleitete lateinische Schule zu Kamenz eintrat, und hat das lebhafte Interesse an theologischen Fragen geweckt, das in allen Perioden seines Lebens zu Tage getreten ist. Der Eltern Wunsch war natürlich, aus dem aufgeweckten und rastlos fleißigen Sohn einen Theologen zu erziehen; darum bewarb sich der Vater zeitig bei seinem Kurfürsten um eine sogenannte Koststelle auf der berühmten Fürstenschule St. Afra zu Meißen, und schickte seinen Gotthold, als ihm eine solche für Johannis 1741 zugesichert war, noch für ein Vierteljahr zu seinem Schwager, dem Pastor J. G. Lindner zu Putzkau bei Bischofswerda, welcher als ehemaliger Alumne von St. Afra ein sichereres Urtheil über das Maß der für die Aufnahme erforderlichen Kenntnisse zu besitzen schien und über die Sittlichkeit der Schaubühne orthodoxere Anschauungen hegte als der jugendliche Kamenzer Rector, der nicht allein in einem Schulprogramm sie als Schule der Beredtsamkeit gepriesen, sondern sogar seine Zöglinge Schauspiele hatte aufführen lassen.

L. wurde am 21. Juni 1741 von seinem Vater nach Meißen gebracht und bestand die Aufnahmeprüfung so gut, daß er gleich in die mittlere Decurie der vierten Klasse gesetzt ward und schon nach einem Vierteljahr in die erste aufrückte. Im Herbst 1742 erhielt er vom Oberstlieutenant Karl Leonhard v. Carlowitz die von dessen Familie gestiftete Freistelle; ein Jahr später trat er in die sogenannte Oberlection ein und erreichte die erste Decurie Ostern 1746, so daß der Vater auf sein dringendes Bitten beim Consistorium darum einkommen konnte, ihm das letzte der sechs üblichen Schuljahre zu schenken. Zuerst abschläglich beschieden, erneuerte er das von den Lehrern selbst unterstützte Gesuch, die den hochbegabten Zögling als ein Pferd, das doppeltes Futter haben müsse, bezeichneten und erklärten, sie könnten ihn fast nicht mehr brauchen, weil ihm die schwierigsten Lectionen federleicht würden. Am 30. Juni 1746 hielt L. seine Abschiedsrede de mathematica barbarorum und ruhte bis zum Herbst im Elternhause von den wohlbeendeten Schulstudien aus. Glückliche Jahre waren seine Schuljahre gewesen. Er hatte solide Kenntnisse in den alten Sprachen gesammelt und in den zahlreichen durch die Schulordnung festgesetzten Arbeitstunden auch solche Schriftsteller gelesen, die der Lehrplan unberücksichtigt ließ. Theophrast, Plautus und Terenz waren seine Welt gewesen; dem Anakreon hatte er schon deutsch nachzusingen versucht. Die Pedanterie seiner philologischen Lehrer hatte ihn nicht viel angefochten, denn mit seinem gesunden Mutterwitz hatte er sich dagegen zu wehren verstanden. Durch den feingebildeten Mathematiker Klimm hatte er Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften gewonnen und mit den Dichtungen Haller’s, Hagedorn’s und des Hallischen Kreises Bekanntschaft [759] gemacht, die ihm bei seinen ersten eigenen poetischen Arbeiten[2] als Muster gedient hatten. Von der aus dem Vaterhause mitgebrachten und durch die Schule genährten Neigung zu unfruchtbarer Gelehrsamkeit hatte er sich schon durch den Entwurf seines ersten, die eigene Schwäche verspottenden Lustspiels „der junge Gelehrte“ befreit. Intime Jugendfreundschaften hatte er nicht geschlossen, aber bei jedem lustigen und übermüthigen Streich der Fürstenschüler war er betheiligt gewesen.

Am 20. Sept. 1746 ward L. als stusiosus theologiae in Leipzig immatriculirt, die theologischen Vorlesungen vermochten ihn aber ebensowenig zu fesseln als Gottsched’s über die Poetik. Mehr Gefallen fand er an den philologischen Vorträgen Christ’s und Ernesti’s, aber dauernd mochte er auch diesen nicht folgen, weil er lieber ihre Schriften und die Quellen für sich studirte, als sich stundenweise die Wissenschaft in kleinen Portionen zumessen ließ. Das einzige Colleg, dem er treu blieb, war Kästner’s philosophisches Disputatorium. Desto eifriger saß er zu Hause über den Büchern, Gott und die Welt vergessend, bis er nach einigen Monaten ganz eingezogenen Lebens einsehen lernte, die Bücher würden ihn zwar gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen, und sich unter die jugendlichen Genossen wagte. Um die Schüchternheit des Fürstenschülers und die Ungewandtheit im geselligen Verkehr abzulegen, lernte er tanzen, fechten, voltigiren und legte die ernsthaften Bücher eine Zeit lang auf die Seite, um sich in denjenigen umzusehen, die weit angenehmer und vielleicht ebenso nützlich sind. Es waren englische und französische Theaterstücke so wie Holberg’s Komödien, die er mit dem gleichfalls in Leipzig studirenden Christian Felix Weiße las, einem Bekannten seines Schulcollegen Joh. Heinr. Schlegel und bald seinem vertrautesten Freunde. Mit diesem besuchte er nicht allein eifrig das Theater der Neuberin, die an Koch, Heydrich, Bruck und den Damen Kleefelder und Lorenz tüchtige Gehülfen hatte, sondern er suchte auch den persönlichen Umgang dieser Künstler, um die Schauspielkunst aus unmittelbarer Anschauung kennen zu lernen, und übersetzte für ihre Bühne, um freien Zutritt zu den Vorstellungen zu erlangen. Als er in diesem Kreise ein mit Beifall aufgeführtes Gottsched’sches Lustspiel kahl und mager nannte und aufgefordert ward ein besseres zu schreiben, nahm er seinen Meißner Lustspielentwurf wieder vor, arbeitete denselben mit Benutzung einer jüngst in Leipzig vorgefallenen und in akademischen Kreisen vielbesprochenen Geschichte schnell um und fand mit seinem Stücke die volle Bewunderung der Neuber, die es unverzüglich im Januar 1748 auf die Bühne brachte. Befestigte ihn das Urtheil der Künstler und der Beifall des Publikums in der Ueberzeugung von seinem dramatischen Beruf, so geschah von Seiten der Eltern Alles, um den verlorenen Sohn dem zeitlichen und ewigen Verderben zu entreißen, dem er in ihren Augen verfallen war. Den heftigsten brieflichen Vorwürfen des Vaters folgte unmittelbar die Weisung, sofort nach Hause zu kommen, unter dem fälschlichen Vorgeben, die todkranke Mutter wolle ihren Sohn vor ihrem Ende noch einmal sehen. Der Verkehr eines angehenden Theologen mit Schauspielern, die den von der Mutter gebackenen Weihnachtstollen hatten verzehren helfen, war der frommen Frau unerträglich; noch furchtbarer erschien ihr aber des Sohnes intimer Umgang mit Christlob Mylius, den er sowol bei Kästner als auch im Theater immer traf. Dieser Mylius, reichlich sechs Jahre älter als L., war ein halber Verwandter seiner Familie, denn sein Vater hatte in erster Ehe eine Schwester des Pastor L. zur Frau gehabt, aber er galt schon seit seiner Schülerzeit in Kamenz dem Lessing’schen Hause für einen Ausbund von Bosheit und Gottlosigkeit. Hatte er doch schon 1743 als Student der Medicin in einem gedruckten Abschiedsgedicht an den auf Veranlassung des alten L. von Kamenz scheidenden Rector Heinitz den Pastor und verschiedene Mitglieder [760] des Rathes arg verspottet, bald darauf eine Zeitschrift „Der Freigeist“ begonnen, mit deren Titel er selber in seinem Kreise bezeichnet zu werden pflegte, und führte in Leipzig mit seinen Freunden Naumann und Ossenfelder ein nichts weniger als exemplarisches Leben. Seit 1747 hatte er zwei neue Zeitschriften ins Leben gerufen, die „Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüthes“ und den „Naturforscher“, und für beide zahlreiche kleine poetische Stücke von L. erhalten, der den Verkehr mit dem Klopstockischen Kreise der Bremer Beiträger vermied. Grund genug für die besorgte Mutter, um selbst durch eine Unwahrheit das bedrohte Seelenheil ihres Sohnes zu sichern. Gehorsam folgte dieser dem väterlichen Ruf, obwol er den frommen Betrug ahnte, trotz der strengen Januarkälte, erhielt Verzeihung, Geld zur Bezahlung seiner Schulden und, was ihm das Liebste war, Erlaubniß das theologische Studium mit dem der Medicin und der Philologie zu vertauschen. Ostern 1748 kehrte er nach Leipzig zurück und ließ sich wirklich als studiosus medicinae einschreiben, ohne indeß ernstlich dieses Studium aufzunehmen. Vielmehr sehen wir ihn sofort wieder in engster Verbindung mit den alten Freunden und mit neuen dramatischen Entwürfen beschäftigt, darunter schon am 17. April mit einem Trauerspiel in Alexandrinern („Giangir oder der verschmähte Thron“). Der plötzlich eintretende Verfall der Neuber’schen Bühne und der Abgang ihrer besten Schauspieler nach Wien, für deren Schulden L. unvorsichtig Bürgschaft geleistet hatte, brachten ihn in die größte Noth. Als gleichzeitig Mylius zur Beobachtung der Sonnenfinsterniß des 25. Juli nach Berlin berufen wurde, entschloß er sich ihm zu folgen, ohne einem seiner Leipziger Freunde ein Wort zu sagen. Aber unterwegs erkrankte er schwer in Wittenberg. Inzwischen ging Mylius vorläufig nach Leipzig zurück und übernahm erst Anfang November die Stelle eines Redacteurs der in Rüdiger’s, später in Vossens Verlage erscheinenden „Berlinischen privilegirten Staats- und gelehrten Zeitung“. L., dem seine Mittellosigkeit ebensowol die Rückkehr nach Leipzig als die Uebersiedelung nach Berlin ohne irgend einen Anhalt in der Königsstadt verbot, blieb zunächst in Wittenberg und ließ sich dort wieder als studiosus medicinae am 13. August inscribiren, aber schon nach wenigen Monaten verzweifelte er an der Möglichkeit, durch Sparsamkeit seine Finanzen zu ordnen und flüchtete sich unter Zurücklassung seiner Habe, selbst seiner Bücher, den früheren Plan aufnehmend, nach Berlin, oder ließ sich von dem durchreisenden Mylius dahin mitnehmen. Er war entschlossen weder eine neue Universität zu beziehen, noch um ein Lehramt sich zu bewerben, sondern als ein freier Schriftsteller sein Heil zu versuchen. Daß sein Verhältniß zum Vaterhause zunächst ein recht unerquickliches wurde, ist begreiflich. Die Eltern setzten alle Hebel an, um den Sohn vom unchristlichen Komödienschreiben, von dem intimen Verkehr mit dem liederlichen Freigeist Mylius und dem ungesicherten Litteratendasein im gottlosen Berlin in irgend eine solide bürgerliche Carriere zu ziehen. Der Vater dachte an eine Anstellung beim philologischen Seminar in Göttingen, und ihm zu Gefallen beschäftigte L. sich eine Zeit lang für diesen Zweck mit einer Abhandlung über die Pantomimen der Alten, ließ die Sache aber bald wieder liegen, die ihn ebensowenig lockte als eine ihm später angetragene Professur in Moskau. Das einzige Zugeständniß, das er den väterlichen Wünschen machte, war, daß er Ende 1751 noch einmal auf 10 Monate nach Wittenberg ging, wo sein Bruder Theophilus studirte, und dort am 29. April 1752 mit einer Arbeit über Huarte, dessen Examen de ingenios para las sciencias er eben übersetzt hatte, die Magisterwürde erlangte: ein formeller Abschluß seiner Studienzeit, der ihm selber erwünscht sein mußte, weil der Name eines Candidaten der Medicin mit seiner ausgebreiteten schriftstellerischen Thätigkeit seltsam contrastirte.

[761] L. hat, abgesehen von dieser Wittenberger Episode, bis Mitte October 1755 in Berlin geweilt. Ein unbekannter, völlig mittelloser Jüngling war er wie ein Schiffbrüchiger auf märkischem Sande gestrandet; als ein berühmter Schriftsteller, gefürchtet als Kritiker, bewundert als Dichter, schied er sieben Jahre später aus der preußischen Hauptstadt, die er selbst zu einem neuen Mittelpunkt litterarischen Lebens, gleich unabhängig von Leipzig wie von Zürich, gemacht hatte. Als er in den letzten drei Jahren seines Berliner Aufenthalts, das Beste auswählend, eine Sammlung seiner Schriften in sechs Bändchen zusammenstellte (Lieder, Oden, Fabeln, deutsche und lateinische Sinngedichte, didaktische Fragmente im ersten, kritische Briefe im zweiten, Rettungen im dritten, je zwei Dramen „Der junge Gelehrte“ und „Die Juden“, „Der Freigeist“ und „Der Schatz“, „Miß Sara Sampson“ und „Der Misogyne“ in den drei übrigen), war in dem bunten Allerlei von Poesie und Gelehrsamkeit nichts, was hinter den besten Versuchen der Zeitgenossen zurückstand, vieles was sie bereits übertraf. Seine Lehrjahre lagen hinter ihm. Er war nicht mit einem fertigen Programm für seine dichterische Thätigkeit von der Schule ins Leben eingetreten; er hatte nicht die Welt durch ein neues unerhörtes Werk des Genies überrascht; tastend hatte er seinen dichterischen Beruf auf allen Gebieten geprüft, um die Sphäre zu finden, die ihm eigentlich zukäme, und in angestrengter Arbeit allmählich erst gelernt, was die anderen konnten, ehe er sie zu überfliegen anfing. Und diese gewissenhafte Arbeit verdient um so größere Bewunderung, je mehr die widrigen Verhältnisse des äußeren Lebens den Jüngling in Berlin von der Vertiefung seiner Studien abziehen zu wollen gedroht hatten. Um seinen Mittagstisch zu verdienen hatte er in den ersten beiden Jahren die Bibliothek des alten Rüdiger geordnet, einem Baron von der Goltz bei der Abwickelung eines Rechtsstreites geholfen, zu Mylius’ Zeitung gelegentlich gelehrte Beiträge geliefert, Rollins römische Geschichte übersetzt, eine Lafontaine’sche Schnurre („Der Eremit“) nachgedichtet und einen derben dramatischen Schwank („Die alte Jungfer“) herausgegeben, den er wie sein erstes Schülerdrama („Damon“) aus der Sammlung der Schriften ausschloß, endlich mit Mylius gemeinsam eine zu viel versprechende und eben deshalb zu frühzeitigem Untergang bestimmte Theaterzeitschrift, die „Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters“, unternommen. Und in den nächsten Jahren schien er in Journalisten- und Uebersetzerarbeit ganz unterzugehen. Vom Februar 1751 bis zu Ende des Jahres besorgte er allein den gelehrten Artikel der Berlinischen Zeitung, von der Mylius sich zurückgezogen hatte, redigirte ein monatliches Beiblatt zu derselben, „Das Neueste aus dem Reiche des Witzes“, spendete daneben Mylius kleine Aufsätze für seine „Kritischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit“ und übersetzte Voltaire’s kleinere historische Schriften und den schon erwähnten Huarte. Gleich nach seiner Rückkehr von Wittenberg wurde die Recensententhätigkeit wieder aufgenommen und bis zum October 1755 fortgeführt, dabei Friedrichs politische Flugblätter an das Publikum und Marigny’s Geschichte der Araber übersetzt und eine neue Theaterzeitschrift, die „Theatralische Bibliothek“ angefangen. Wer nichts als diese lange Reihe von Büchernamen, oder gar die noch längere der Titel aller vom jungen L. recensirten Bücher ansieht, bekommt unwillkürlich den Eindruck bloßer Lohnschreiberei, die mit oberflächlicher Leichtigkeit für den einen Tag hinwirft, was am anderen vergessen sein kann. Etwas davon ist auch unstreitig in den zahllosen Recensionen der Berliner Zeitung zu finden, wenn der jugendliche Kritikus wegen des ihm fernliegenden Inhalts oder der nicht einmal einen ordentlichen Tadel verlangenden Unbedeutendheit der anzuzeigenden Werke aus der Noth eine Tugend machte und sich mit einer flüchtigen Inhaltsgabe loskaufte. Im großen Ganzen ist ihm aber selbst diese kurze Tageskritik eine ernste Arbeit, zu der ihn sein schneller [762] Blick und seine umfassende Gelehrsamkeit in besonderer Weise befähigten, und die wieder in der Läuterung seines Geschmacks, in dem Wachsen seiner Stilgewandtheit und in der stetigen Erweiterung seines Wissensgebietes Frucht brachte. Die Arbeit, welche nur klingenden Lohn versprach, ohne ihn in seinen Studien zu fördern, hat er auch in der Zeit größter Bedrängniß abgelehnt; die Umschmelzung einer schlechten lateinischen Uebersetzung des Herbelot konnte ihn ebensowenig anziehen als die Redaction einer politischen Zeitung. Seine angeborene und anerzogene Gründlichkeit war durch das eifrige Studium Bayle’s gefördert; die Art, wie er seinen journalistischen Pflichten gerecht wird, zeigt ihn als gelehrigen Schüler Voltaire’s. Es ist natürlich, daß die Briefe an den Vater von dem einen wie von dem anderen schweigen, um nicht dessen ohnehin so lebhafte und sehr begründete Besorgniß um die Rechtgläubigkeit des Sohnes zu mehren. Nichtsdestoweniger ist außer dem längst erkannten und in den litterarhistorischen Arbeiten Lessing’s überall zu Tage tretenden Einflusse Bayle’s der erst neuerdings ins Auge gefaßte Voltaire’s auf die ganze schriftstellerische Entwickelung Lessing’s gar nicht zu bezweifeln. Es wäre ja auch seltsam, wenn der junge Kritiker, dessen Schriftstellerideal in Voltaire’s Leben bereits verwirklicht schien, nicht den Wunsch gehegt hätte, zu dem anerkannten Meister in Beziehung zu treten, als er ihn in nächster Nähe hatte. Ein glücklicher Zufall machte ihn schneller, als zu hoffen gewesen, für längere Zeit zum täglichen Tischgenossen desselben. L. war befreundet mit dem Sprachlehrer Richier de Louvain, den Voltaire sich bald nach seiner Ankunft bei seinem königlichen Gönner zum Secretär wählte. Als Voltaire nun zur Uebersetzung der Akten seines berüchtigten Processes gegen den Juden Hirsch einer Hilfe bedurfte, ließ L. sich gern von Richier zu dieser Arbeit empfehlen, um vom persönlichen Verkehr mit dem ersten Litteraten seiner Zeit zu lernen, vielleicht auch um durch den Mächtigen dem König empfohlen zu werden, und die Folge dieser Verbindung war natürlich eine eingehende Beschäftigung mit Voltaire’s Werken, die ihn für die nächsten Jahre zum öffentlichen Lobredner desselben machte, auch nachdem das persönliche Verhältniß über Jahr und Tag in unfreundlichster Weise gelöst war. L. hatte sich im Herbst 1751 Aushängebogen des noch nicht ausgegebenen Siècle de Louis XIV von Richier geliehen, sie unvorsichtigerweise im Hause der Gräfin Schulenburg sehen lassen und dann sogar, um die letzten Seiten in Ruhe zu lesen, nach Wittenberg mitgenommen. Der mißtrauische Franzose witterte hinter dem jugendlichen Leichtsinn unehrliche Absichten, reclamirte sein Eigenthum unter verletzenden Drohungen und jagte den armen Richier trotz des ihn entlastenden Zeugnisses Lessing’s aus seinem Dienste. Die üble Angelegenheit, von der in Berlin viel gesprochen wurde, haftete nach der gehässigen Darstellung Voltaire’s im Gedächtniß des Königs, und L. hat es noch 13 Jahre nach der Entfernung Voltaire’s empfinden müssen, daß seine Beziehung zu demselben ihm an höchster Stelle statt der gehofften Empfehlung entschiedene Abneigung eingetragen hatte.

Während seines Wittenberger Aufenthalts hatte L. bei fleißiger Benutzung der unter der Aufsicht eines Meißner Schulkameraden stehenden Bibliothek sich mit Reformationsgeschichte und Gelehrtenhistorie beschäftigt, von seinen geliebten Alten besonders Horaz und Martial, neben diesen die besten Neulateiner gelesen. Die Sinngedichte im ersten Bande der Schriften, deren Stoff großentheils entlehnt, aber originell umgeprägt ist, die Briefe im zweiten, von denen nur wenige älteren Datums sind, und die „Rettungen“ lauter verstorbener Männer, die es ihm nicht danken konnten, fast gegen lauter Lebendige, die ihm vielleicht ein sauer Gesicht machen würden, sind Früchte dieser Studien. Einer der Briefe, in welchem die mit großem Pomp angekündigte und dem König von Preußen dedicirte, aber mehr als schülerhaft gerathene Horazübersetzung Sam. Gotth. Lange’s [763] (s. d.) nach Verdienst gestriegelt worden war, fand in Folge der gehässigen Entgegnung des Autors noch eine besondere Fortsetzung im „Vademecum“. Die grausame Lust, mit welcher in diesem Büchlein die morsche Gelehrsamkeit und der erschlichene Dichterruhm des Laublinger Pastors zerfetzt wurde, erklärt sich aus der Nothwendigkeit, den eigenen moralischen Charakter gegen die leichtfertige Beschuldigung eines litterarischen Freibeuterthums zu vertheidigen, die durch den im Mund der Leute entstellten Handel mit Voltaire und eine noch gröbere Entstellung seines Verhältnisses zu Jöcher (s. d.) und dessen Gelehrtenlexikon dem jungen Schriftsteller hätte verhängnißvoll werden müssen.

Wenige Monate nach Lessing’s Rückkehr von Wittenberg verließ Mylius Berlin, um im Auftrage einer unter Haller’s Präsidium stehenden Gesellschaft zur Beförderung naturhistorischer Reisen nach Surinam zu gehen. Der leichtsinnige Mann trieb sich aber müßig in Deutschland und Holland umher, amusirte sich dann in London und starb daselbst nach Jahresfrist am 6. März 1754. L., der seinem Einfluß längst entwachsen war, errichtete ihm in der die leichte Briefform beibehaltenden Vorrede zu einer Sammlung seiner vermischten Schriften ein étrange monument, wahr, aber dem Inhalte nach bei aller Maßhaltung im Ausdruck fast ebenso grausam als das Strafgericht über Lange. Bessere Freunde boten sich ihm, der sogenannte Montagsclub, in welchem er den wenig älteren Ramler fand, vornehmlich aber Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai. Beide, der ihm gleichaltrige jüdische Jüngling aus Dessau, der eben Buchhalter in einer großen Berliner Seidenhandlung geworden war, und der vier Jahre jüngere Berliner Buchhändlerssohn, gewährten ihm damals den anregendsten Verkehr. Jener imponirte durch einen unersättlichen Bildungstrieb und seine durch das Studium Locke’s, Leibnizens und selbst Spinoza’s gewonnene philosophische Schulung; dieser war eben mit „Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland“ als Schriftsteller hervorgetreten, die L. einen tüchtigeren Bundesgenossen zu versprechen schienen, als seine immer bedenklicher zu Tage kommende selbstbewußte Halbbildung ihm zu werden erlaubte. Eine herzliche Freundschaft verband sie schnell; in regelmäßigen Zusammenkünften disputirten sie mit einander, L. und Moses in ernster Gedankenarbeit, Nicolai nach Kräften mithinkend, aber dafür in den praktischen Fragen des Geschäfts die beiden Büchermenschen bei ihren litterarischen Projecten geschickt berathend. An die Oeffentlichkeit trat zunächst nur das gemeinsam verfaßte Schriftchen „Pope ein Metaphysiker!“, in welchem Moses etwas trocken und lehrhaft, L. mit frischem Humor die Thorheit einer von Maupertuis gestellten Preisaufgabe der Berliner Akademie verspotteten, während der geistreiche Plan einer Sammlung „Das Beste aus schlechten Büchern“ nicht über die Vorbereitung des ersten Theil hinaus gedieh. Desto fruchtbarer gestalteten sich die mündlichen Verhandlungen über das Drama, ein Gebiet, auf welchem der Praktiker L. für seine beiden Freunde gleich unerreichbar war, der Theoretiker aber auf ihre lebhafte und fördernde Theilnahme rechnen konnte. Er selbst legte damals die letzte Hand an seine für den Abdruck ausgewählten älteren Komödien und dichtete für den letzten Band der Sammlung Februar und März 1755, verschlossen in ein Gartenhaus zu Potsdam, das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel, „Miß Sara Sampson“. Von dem klassischen Theater der Franzosen und von dem deutschen Herold desselben, Gottsched, wandte er sich damit entschieden ab, während seine älteren Lustspiele sich noch ganz in dem Rahmen der französischen Muster gehalten hatten. Wie er prophetisch schon 1749 in der Vorrede zu seinen Beiträgen verkündet hatte, die deutsche Schaubühne würde, wenn der Deutsche in der dramatischen Poesie seinem eigenen Naturelle folgen wolle, mehr der englischen als der französischen gleichen: so verschmähte er von den jüngsten dramatischen Neuerungen die comédie larmoyante [764] der modernen Franzosen und wählte die bürgerliche Tragödie der Engländer, deren größten Dramatiker er noch kaum mehr als dem Namen nach kannte. Von Corneille’s Medea auf Euripides und Seneca geführt, machte er mit kühnem Entschluß unter dem Einfluß von Lillo’s Kaufmann von London und Richardson’s Clarissa aus der kolchischen Heroine eine Marwood, aus dem Jason einen Mellefont, aus der Kreusa eine Sara, aus dem Kreon einen Sampson: und die unnatürlichen Schranken zwischen der dramatischen Dichtung und dem wirklichen Leben waren weggeräumt, die Fürsten- und Heldentragödie der französischen Klassiker für Deutschland beseitigt und zugleich der Bann des Alexandriners und der drei Einheiten gebrochen. L. war selbst nicht blind gegen die indeklamabeln Stellen seiner Sara, zum größeren Theil ein Erbstück aus Richardson’s redseligem Roman; er gestand ein, daß sein Kind bucklicht sei, aber er fand, daß es sich sonst ganz gut befände. Daß er das Bewußtsein hatte, mit der Sara eine dramatische That gethan zu haben, ist schon daraus zu ersehen, daß er nach Frankfurt a. O. reiste, um sie dort am 10. Juli 1755 von der Ackermann’schen Gesellschaft aufführen zu sehen: eine Zärtlichkeit, die er nicht einmal seinen späteren Meisterwerken gegenüber bewiesen hat. Die lebhafteste Anerkennung fand das Stück bei Diderot, der es sogar mit Lillo’s Kaufmann und Moore’s Spieler zusammen in französischer Uebersetzung herausgeben wollte. Ebenso herzlich freute sich L. des geistesverwandten Bundesgenossen im Kampf gegen die Alexandrinertragödie, dessen Theater er 1760 übersetzte, mit der Erklärung, seit Aristoteles habe sich kein philosophischerer Geist mit dem Theater abgegeben als Diderot, und von dem er noch kurz vor seinem Tode übertreibend bekannte, sein Geschmack würde ohne Diderot’s Muster und Lehre eine ganz andere Richtung genommen haben, vielleicht eine eignere, aber doch schwerlich eine, mit der am Ende sein Verstand zufriedener gewesen wäre. Zunächst sah er sich vor der Aufgabe, nach dem Trauerspiel, welches seine englischen Vorbilder so wenig verleugnete, daß es manchem Zeitgenossen für eine bloße Uebersetzung galt, ein wirklich nationales Drama zu schaffen.

L. trennte sich von seinen Berliner Freunden schon Mitte October 1755 und ging wieder nach Leipzig. Daß es dabei auf eine erneute engere Verbindung mit der Bühne abgesehen gewesen sei, ist oft ausgesprochen, aber gar nicht wahrscheinlich, denn eine solche hätte doch schwerlich dem Fortgang seiner Theatralischen Bibliothek hinderlich werden können, was die Vossische Zeitung von dieser Veränderung seines Aufenthalts fürchtete. Die Reise scheint vielmehr einzig durch den Wunsch bedingt zu sein, die bloße Schriftstellerei für eine Zeit durch eine sorgenlosere Beschäftigung zu unterbrechen, wozu die durch Sulzer’s Empfehlung zu erlangende Stellung eines Hofmeisters und Reisebegleiters bei einem jungen Schweizer die beste Gelegenheit bot. Der Plan wurde nicht weiter verfolgt, denn eine ähnliche, aber anziehendere Versorgung gewährte der in Leipzig von Weiße oder vom Buchhändler Reich ihm gemachte Vorschlag, mit dem jungen Winkler, einem reichen Leipziger Patriziersohne (geb. 1731), dritthalb oder drei Jahre auf Reisen zu gehen. Da dieser aber nicht vor Ostern 1756 aufbrechen wollte, so hatte L. noch den ganzen Winter für sich, und er hätte nicht L. sein müssen, wenn er nicht in dieser freien Zeit sich nach langer Entbehrung wieder an den Vorstellungen in Koch’s Theater, am Verkehr mit Schauspielern, an der Lectüre des Goldoni, an der Ausführung alter und der Skizzirung neuer dramatischer Entwürfe ergötzt hätte. Das Vorhaben, zur Ostermesse noch ein Bändchen von sechs Stücken nach Goldoni fertig zu stellen, das übrigens nur bis zum Abdruck von zwei Bogen der „Glücklichen Erbin“ gezeitigt wurde, erklärt sich in diesem Zusammenhang vollkommen, ohne daß man L. aus Berlin mit der Absicht, sofort neue Triumphe auf der Bühne zu suchen, sich entfernen läßt. Die anfangs [765] freudig begrüßte Verbindung mit Winkler erwies sich freilich bald als minder angenehm. Wenigstens erfüllte sich nichts von der ausgesprochenen Hoffnung, alle Einrichtung der Reise würde ihm überlassen bleiben, und am Ende würde Winkler mehr mit ihm als er mit Winkler gereist sein. Der Gefährte war entschieden eigensinnig, wollte weder von Dresden noch von Berlin etwas wissen und ließ L. noch im März 1756 eine Tour nach Dresden, wo derselbe Heyne’s Bekanntschaft in der Brühl’schen Bibliothek machte, und nach Kamenz zu den Eltern allein machen, auch mit dem alten Freund Weiße auf 14 Tage nach Altenburg und Gera gehen. Endlich brachen sie am 10. Mai 1756 zusammen auf, besuchten Halberstadt, wo Gleim begrüßt wurde, dann Braunschweig und Wolfenbüttel, dann Hamburg, wo L. zuerst Ekhof spielen sah, und gingen über Bremen nach Holland. Am 29. Juli waren sie in Amsterdam angekommen und standen schon im Begriff sich nach England einzuschiffen, als die Nachricht von Friedrichs Einfall in Sachsen sie erreichte. Ueber Hals und Kopf eilten sie auf Winkler’s Drängen nach Hause, die Fortsetzung der Reise bis zum nächsten Frühjahr verschiebend, aber die Einquartierung des preußischen Commandanten in Winkler’s Hause und die Kriegscontributionen verlangten so große Geldopfer, daß der ganze Reiseplan im Mai 1757 aufgegeben ward, und weil L. nicht den Preußenhaß der Leipziger theilte, vielmehr an offener Wirthstafel für den großen König Partei nahm und freundschaftlich mit preußischen Offizieren verkehrte, wurde er ohne Rücksicht auf seinen Contrakt aus dem Winkler’schen Hause vertrieben und mit seinen Ansprüchen auf den Rechtsweg verwiesen. Die Möglichkeit eines gütlichen Vergleichs wurde dadurch abgeschnitten, daß Winkler sich wenige Wochen später von Leipzig entfernte, und der langweilige Proceß, den L. in erster Instanz verlor, endigte erst am 13. October 1764 damit, daß Winkler zur Zahlung einer Entschädigung von ungefähr 600 Thalern verurtheilt wurde, von welchen aber die Kosten bereits mehr als die Hälfte verschlungen hatten. Anfangs hatte L. die Hoffnung, den Ausgang dieses Handels in Leipzig abwarten zu können, und blieb daselbst bis Mai 1758, seinen Unterhalt durch Uebersetzerarbeit bestreitend (Hutcheson’s Sittenlehre der Vernunft, Law’s Ermunterung an alle Christen zu einem frommen und heiligen Leben, Richardson’s Sittenlehre für die Jugend in den auserlesensten Aesopischen Fabeln). Nach den ersten sorgenvollen, verworrenen Wochen ward ihm ein schöner Trost zu theil durch die Freundschaft des Majors Ewald Christian v. Kleist (s. Bd. XVI S. 116), der März 1757 bis Mai 1758 zum Hausen’schen Regiment nach Leipzig commandirt war, um sächsische Rekruten zu drillen und ein großes Lazareth zu leiten. Ingrimmig hatte der melancholische Frühlingssänger, der sich nach dem Tode für’s Vaterland sehnte, seine Verbannung aus dem Felde hinter die Mauern aufgenommen, und gerade sie gab ihm in L. einen Vertrauten, wie er ihn noch nicht gehabt hatte, und in ihm L. einen Freund, wie weder vorher noch nachher einer ihm nahe getreten ist. Ihr täglicher Verkehr machte aus Kleist einen gehaltreicheren Dichter, aus L. einen immer aufrichtigeren Bewunderer des großen Königs, dessen Großthaten ihn zu prosaischen Odengerippen begeisterten und zu lebhafter Theilnahme an der Verbesserung und Verbreitung der Grenadierlieder ihres gemeinsamen guten Freundes Gleim veranlaßten. Kleist wurde nicht müde alle seine Bekannten in Bewegung zu setzen, um L. eine Stellung zu verschaffen und ihn dadurch ganz für Preußen zu erobern. Gleim ging er an wegen einer Kriegsrathstelle, Sack und Sulzer wegen einer Adjunktur an der Berliner Bibliothek, den Stallmeister des Prinzen Heinrich wegen einer Secretärstelle beim englischen Gesandten, oder bei einem Prinzen, oder sonst einer Civilbedienung; wäre es nach ihm ergangen, so wäre L. schließlich Erzieher des Prinzen Friedrich Wilhelm geworden. Als all sein Werben vergeblich blieb, griff er in die eigne, [766] nicht allzu reichlich gefüllte Kasse und beauftragte kurz vor seinem Wiederausrücken seinen Schatzmeister Gleim, von seinem Guthaben dem braven L. hundert Thaler zu schicken. L. selbst arbeitete, während Kleist Dienst hatte, unablässig, ohne von seiner Arbeit etwas zu verrathen, aber Kleist erwartete, er würde demnächst mit drei oder vier Bänden von Lustspielen und Tragödien auf einmal hervortreten. Diese Erwartung sollte sich nicht erfüllen. Nur Weniges von den Leipziger Studien und Entwürfen reifte sofort aus, und auch dieses Wenige kam erst nach seiner Rückkehr nach Berlin ans Tageslicht; bei weitem das Meiste blieb als Skizze liegen und ist zum Theil in seinen nachgelassenen Papieren wieder aufgefunden worden. Desto größer war der Gewinn dieser Studien für die Klärung und Vertiefung von Lessing’s eigenen ästhetischen Grundsätzen, wie sie nachher in den Litteraturbriefen, im Laokoon und in der Dramaturgie theoretisch zur Aussprache gelangten, in der Minna und der Emilia praktisch verwirklicht wurden. „Lassen Sie uns bei den Alten in die Schule gehen. Was können wir nach der Natur für bessere Lehrer wählen?“ schreibt er Ende November 1756 an Mendelssohn, und er macht mit diesem Programm in viel umfassenderer Weise Ernst als in seiner Jugendperiode. Die wahren Begriffe der Aristotelischen Poetik von der Tragödie versucht er aus dem Originaltext mit Zuhülfenahme der Rhetorik und der Nikomachischen Ethik zu ergründen; Sophokles wird der Gegenstand eingehenden Studiums. Daneben tritt Shakespeare in seinen Gesichtskreis und die ältere deutsche Litteratur, welche in Gottsched’schen und Bodmer’schen Neudrucken eben wieder zugänglich zu werden anfing. Durch scharfe Definitionen sucht er die Grenzen der Dichtungsgattungen zu bestimmen, für jede ihr besonderes Kunstgesetz aufzustellen, seinen neuen poetischen Versuchen die einfachste und reinste Form zu geben. Ueber seine eigene Schriftensammlung, die ihn schon berühmt gemacht hat und die sein Verleger wieder und wieder drucken lassen muß, ist er selbst bereits hinausgewachsen und trägt sich mit dem Plan, sie zu verbessern und so viel Gutes nunmehr wirklich in dieselben so glücklich hineinzulegen, daß die freundschaftlichen Leser es im Voraus darin bemerkt zu haben scheinen können. Dem kriegerischen Sinn der Zeit entsprechend strebt er nach schmuckloser Kürze; die Redseligkeit seiner Jugendschriften macht einem präcisen Lakonismus Platz; sein körnichter Ausdruck bereichert sich glücklich aus dem Sprachschatz früherer Jahrhunderte; in seinen tragischen Entwürfen erscheinen die ersten erfolgreichen Versuche im Gebrauch des Blankverses, anfänglich mit Verschmähung aller klingenden Ausgänge, straff und knapp wie die Kriegslieder des Grenadiers. Unerschöpflich ist er in seinen dramatischen Experimenten, zu denen ein von den Berliner Freunden geplantes und durch seine Vermittelung zur Ausführung gebrachtes Unternehmen den äußeren Anstoß gab. Nicolai wollte ohne seinen Namen und in fremdem Verlage mit Mendelssohn’s Hülfe eine neue kritische Zeitschrift herausgeben, die „Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste“, die L. bei Dyck in Leipzig unterbrachte. Im Prospect hatte er einen Preis für die beste Tragödie ausgesetzt und das erste Stück mit einer orientirenden Abhandlung vom Trauerspiele eröffnet. An diese Abhandlung und an Mendelssohn’s Briefe über die Empfindungen knüpfte sich ein ausführlicher Briefwechsel Lessing’s mit beiden Berliner Freunden, vornehmlich mit Mendelssohn, der sich fast ausschließlich um die Bestimmung des Wesens der Tragödie drehte, und die Preisausschreibung vermehrte die mit Lessing’s Kritik ohnehin immer Hand in Hand gehende Produktionslust. Er regte nicht nur Kleist, Weiße und einen jüngeren Genossen ihrer Tischgesellschaft, v. Brawe, an zu concurriren und ließ sich durch die einlaufenden Preisstücke zur Entwerfung besserer Pläne für die darin gewählten Stoffe treiben, sondern er gedachte auch selbst mit einer dreiaktigen Virginia, die sich schnell in eine bürgerliche Emilia Galotti verwandelte, [767] als Bewerber aufzutreten. Jedenfalls ist die Beschäftigung mit diesem Plane, der erst anderthalb Jahrzehnte später zur Ausführung gelangte, die Veranlassung gewesen, daß ein anderer, den er von Berlin mitgebracht hatte, vorläufig liegen blieb, nämlich einen Faust zu dichten, der nicht wie der Held des Volksdramas zu Grunde geht, weil die Gottheit dem Menschen nicht den edelsten der Triebe, den unauslöschlichen Durst nach Erkenntniß, gegeben hat, um ihn ewig unglücklich zu machen. Zwei verschiedene Entwürfe, einer mit dem ganzen höllischen Apparat des alten Spiels, und einer ohne alle Teufelei, wo ein Erzbösewicht gegen einen Unschuldigen die Rolle des schwarzen Verführers vertritt, laufen nebeneinander her und tauchen in Berlin, Breslau und Hamburg wieder auf, um 20 Jahre nach der ersten Erwähnung bis auf ein paar dürftige Ueberreste spurlos zu verschwinden, sei es daß die Vorarbeiten in einer Bücherkiste gesteckt haben, die 1775 verloren gegangen ist, sei es daß L. sie gegen seine sonstige Gewohnheit vernichtet hat. Wie er auf dem einen und dem anderen Wege sein Ziel hat erreichen wollen, läßt sich nach den schwankenden und bisweilen einander widersprechenden Berichten der verschiedenen Bekannten, die etwas vom Faust gesehen oder gehört haben, nicht mehr mit Sicherheit ermitteln; über das Fallenlassen beider Pläne hat sich eine förmliche Legende gebildet; vielleicht ist es gerade Emilia Galotti, die nicht allein mit ihren ersten Keimen die Arbeit an Faust gestört, sondern auch in ihrer Vollendung mit der Ausführung von Marinelli’s Charakter dem Verführer im teufellosen Schauspiel das Interesse des Dichters entzogen hat. Für die Leipziger Zeit Lessing’s ist eine derartige Verdrängung eines tragischen Plans durch einen verwandten zweifellos erwiesen. Der vielversprechende „Kleonnis“ ist unvollendet geblieben, um sich in den „Philotas“ zu verwandeln, jenes kleine Kriegsdrama von epigrammatischer Kürze, das den Einfluß des sophokleischen Aias so wenig verleugnet, als das Entwurf gebliebene „Horoskop“ den des König Oedipus. In einem Briefe an Gleim über dessen unglückliche Versifikation des mit gutem Vorbedacht wieder in Prosa geschriebenen Stücks, den der brave Empfänger schwerlich ganz verstanden hat, deutet L., wenn er die Sprache des Versifikators äschyleisch nennt, unter der Rose an, von wem er selber tragische Einfalt gelernt hat. Philotas wurde im Frühling 1759 in Berlin gedruckt, im Herbste desselben Jahres folgten die „Fabeln“, wie das Drama eine Leipziger Arbeit, und zwischen beiden erschien die mit Ramler’s Hülfe besorgte Ausgabe der Logau’schen Sinngedichte, die gleichfalls in Leipziger Studien wurzelt. Die simplificirende Tendenz nach dem Canon der Antike theilen die „Fabeln“ mit dem Philotas. L. hatte sich, sagt er selber, oft gewundert, daß die gerade auf die Wahrheit führende Bahn des Aesopus von den Neueren für die blumenreicheren Abwege der schwatzhaften Gabe zu erzählen so sehr verlassen werde. Seine eigenen Jugendversuche auf dem gemeinsamen Raine der Poesie und Moral, welche die anmuthigen Zieraten der Lafontaine’schen Fabel nicht verschmäht hatten, verurtheilt er damit. Er ist so eigensinnig geworden, nur noch den Nutzen der Fabel im Sinne zu haben, der seinem Wesen nach schon anmuthig genug sei, um aller fremden Annehmlichkeiten entbehren zu können. Er scheint sogar geneigt, die Fabel wieder ganz aus dem Reiche der Poesie zu verbannen, um sie als ein sicheres Mittel zur lebendigen Ueberzeugung in die Rhetorik zu verweisen; in der Praxis unterscheiden sich aber doch seine Fabelepigramme wesentlich von den dürren Fabelgerippen der Aesop’s Namen tragenden byzantinischen Apologensammlungen und behaupten durch den Reichthum der Erfindung, durch die Mannigfaltigkeit des Tones und ein ausgeprägtes lyrisches Element, das sich nicht blos an das Erkenntnißvermögen wendet, ihren Platz auf poetischem Gebiet. Wenn L. die knappe Prosafabel, in welcher nicht das Gewürze gewürzt ist, als ausschließlich mustergültige Art angesehen wissen will, so ist das [768] eine einseitige Uebertreibung, vor der ihn eine vollkommenere Kenntniß von der Entwickelung der Fabel bewahrt haben würde, aber ebenso einseitig ist das Urtheil J. Grimm’s, daß die Kürze der Tod der Fabel sei und ihren sinnlichen Gehalt vernichte, und daß das Thun der Thiere bei L. nicht mehr an sich, sondern nur durch die Spannung auf die erwartete Moral interessire. Die Fabeln selbst bleiben der Mehrzahl nach kleine Cabinetstücke von hoher stilistischer Vollendung, wie unter den fünf angehängten Abhandlungen wenigstens die beiden ersten als Muster sokratischer Lehrart gelten dürfen, wenn auch die Richtigkeit der auf solchem Wege gefundenen Definition der Gattung nur mit gewissen Einschränkungen zugegeben werden kann.

Der Reformator der deutschen Litteratur bedurfte eines kritischen Organs, um durch Vernichtung der lauten Menge des parnassischen Geschmeißes für die natürlichschönen Werke des Genies freie Bahn zu schaffen. Nicolai’s Bibliothek der schönen Wissenschaften war ihm für solchen Feldzug zu zahm. Bei der Drucklegung derselben hatte er hülfreiche Hand geleistet, aber beigesteuert hatte er außer wenigen Lückenbüßern und verbessernden Zusätzen zu den Kritiken der Herausgeber nur eine scharfe Recension von Lieberkühn’s elender Theokritübersetzung. Es traf sich gut, daß wenige Monate nach Lessing’s Wiedervereinigung mit seinen alten Berliner Freunden Nicolai durch den Tod seines Bruders gezwungen wurde die Leitung der Buchhandlung zu übernehmen und die Redaction seiner Leipziger Zeitschrift Weiße zu überlassen. Begierig faßte er nun Lessing’s Idee auf, ein bogenweise wöchentlich erscheinendes kritisches Journal zu verlegen, in welchem die neueste Litteratur einer strengen und unparteiischen Prüfung unterzogen werden sollte. Von L., dem Erfinder des Plans, rührt auch die Einkleidung her. Im Gedanken an seinen Kleist, welcher wieder im Felde lag, wählte er die Form von Briefen an einen verwundeten Offizier, der die vom Kriege zerrissene Lücke in seiner Kenntniß der neuesten Litteratur von einigen Freunden in B** ausgefüllt zu sehen wünschte. Ihm fiel zunächst auch die Hauptarbeit zu; denn Mendelssohn versprach nur die philosophischen Briefe und Nicolai einen gelegentlichen Beitrag zur Ausfüllung, wenn es einmal an Manuscript mangeln sollte; und dieser Verabredung entsprechend kündigte die kurze Einleitung des am 4. Januar 1759 ausgegebenen ersten Bogens der „Briefe, die neueste Litteratur betreffend“ den Herrn Fll. als denjenigen an, der sich der Ausführung vornehmlich unterziehen würde. Die Briefe sollten alle anonym erscheinen, nur mit willkürlich gewählten Chiffren unterzeichnet; selbst dem guten Gleim gegenüber wurde nur eingeräumt, daß einige Bolzen von L. darin seien. L. hat sich der Zeichen A., E., Fll., G., L. und O. bedient; seine Hauptchiffre Fll., die vielleicht an den Jungfernamen seiner Mutter erinnern sollte, wie er noch 1774 seine „Gelehrte Kretze“ unter dem Namen eines Thomas Traugott Feller herauszugeben gedachte, wurde von Hamann als Fabullus, von den beiden in den ersten Briefen gezüchtigten Uebersetzern Popes und Bolingbrokes als Flegel gedeutet. Gleich der erste Brief sagte Fehde an: gegen hundert Namen, die alle erst in diesem Kriege als Namen verdienstvoller Helden bekannt geworden, gegen tausend kühne Thaten, die vor den Augen des Freundes geschehen, könne man ihm auch nicht ein einziges neues Genie nennen und nur sehr wenige Werke schon bekannter Verfasser anführen, die mit jenen Thaten der Nachwelt aufbewahrt zu werden verdienten. Und ihm folgten bis zum September 1760 über 50 Briefe Lessing’s, fast die Hälfte der bis dahin ausgegebenen, in denen mit unnachsichtiger Strenge aufgeräumt und der mit gleicher Gemächlichkeit von den Schriftstellern betriebenen, vom Publikum gelittenen Bücherfabrikation gesteuert wurde. Wer immer die Feder gerührt hatte, der armselige Tagelöhner des Parnasses wie das poetische Genie, mußte ihm Rede stehen. Mit unverkennbarem Behagen [769] schwang er sein Schwert gegen die elenden Uebersetzer, die in ihrer unglaublichen Unwissenheit eigentlich unter der Kritik waren, zu denen aber die Kritik dann und wann sich herablassen mußte, weil sie unbeschreiblichen Schaden stifteten; gegen die unnatürliche Schwärmerei, Schönrednerei und Sprachverderberei des jugendlichen Wieland, wie gegen die moralisch guten, aber poetisch bösen Charaktere seiner lieben frommen, aber etwas unehrlich entlehnten Johanna Gray; gegen die Polygraphie des Halbphilosophen und Halbdichters Dusch; gegen den Wortschwall und die Gedankentheuerung Cramer’s gegen die seichte Salbung der moralischen Wochenschriften; gegen die Verschwommenheit der Charaktere in Klopstock’s Epos und gegen seine Lieder so voller Empfindung, daß man oft gar nichts dabei empfindet; gegen Gottsched, den großen Duns, dem grausam und ungerecht nicht allein jegliches Verdienst um das deutsche Theater, sondern überhaupt die Möglichkeit, daß er auch nur in der unbedeutendsten Kleinigkeit Recht haben könnte, abgestritten wird, und gegen den alten Bodmer, der für seine abgeschmackten Lessingischen unäsopischen Fabeln einem verdienten Strafgerichte verfallen mußte. Zerstört waren auf einmal die alten Cliquen von Leipzig und Zürich, die so lange um die Herrschaft gerungen hatten, aufs Haupt geschlagen die neue, die aus den expatriirten schönen Geistern Deutschlands in Kopenhagen sich gebildet hatte. Kaum war dieser letzte Streich geführt, so legte L. sein siegreiches Schwert aus der Hand und überließ die fernere Sorge für sein Journal den Genossen, die es mühselig über Wasser hielten, bis Abbt’s Hülfe wieder etwas mehr Schwung hineinbrachte, während die langweiligen Beiträge von Resewitz und Grillo die letzten Bände nur verdarben. Die Lösung der von L. gestellten Aufgabe, die Litteratur der Kriegsjahre kritisch zu mustern, schleppte sich bis zum Sommer 1765 hin; wie er schon zwei Jahre vorher versprochen hatte, hielt er den Briefen dann mit einer Anzeige von Meinhard’s Versuchen die Parentation. Was ihm das Unternehmen verleidet hatte, war weniger der Wunsch eigene Arbeiten zu fördern, wie das „Leben des Sophokles“ und eine verbesserte Auflage der „Fabeln“, von denen die erste nur bis zum siebenten Bogen gedruckt, die zweite nicht einmal begonnen wurde, als vielmehr die Erkenntniß, daß die Briefe an die Stelle der beseitigten Cliquen eine neue zu setzen drohten, welche von den Gegnern schon mit dem Namen der Berliner oder der Nicolaiten bezeichnet ward. Nicolai’s gelegentliche Versuche, sich in seine Arbeiten einzumischen und Briefe zu unterdrücken, die seinen Beifall nicht hatten, und Ramler’s naive Zumuthungen, aus Rücksicht auf gute Freunde mit den eignen abweichenden Meinungen zurückzuhalten, hatten ihm gezeigt, daß es hohe Zeit sei sich zurückzuziehen, wenn er es nicht zum offenen Bruch kommen lassen wollte.

In denselben Septembertagen, in welchen L. seine Recensententhätigkeit einstellte, schrieb er dem Vater ziemlich geheimnißvoll von Vorfällen, die sich hätten ereignen können und die ihn vielleicht genöthigt hätten von Berlin wegzugehen. Am 7. November 1760, wenige Tage nach seiner Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie, verschwand er plötzlich, ohne von seinen Freunden Abschied zu nehmen, ohne sein Quartier zu kündigen, und begab sich über Frankfurt, wo er das Grab seines bei Kunersdorf auf den Tod verwundeten Kleist besuchte, nach Breslau. Vier Wochen später war er Gouvernementssecretär bei dem tapferen Vertheidiger Breslaus, dem Generallieutenant Bogislaw Friedrich v. Tauentzien. Ob dieser alte Freund Kleist’s, der L. schon 1758 in Leipzig gesehen hatte, sich seiner erinnert und, seine zeitliche Versorgung als eine von Kleist ererbte Pflicht übernehmend, ihm Anerbietungen gemacht hat, oder ob er nur einer Bewerbung des von anderer Seite über die Vakanz unterrichteten L. freundlich entgegengekommen ist, darüber fehlen die näheren Nachrichten ebenso [770] wie über Lessing’s letzte Erlebnisse in Berlin während der Besetzung der Stadt durch Russen und Oesterreicher. Dem Berliner Freundeskreise, der dem Ausreißer im ersten Unbehagen über die ungewohnten Geschäfte und die gänzlich veränderte Lebensweise täglich fehlte, wurde Anfang December nur mitgetheilt, daß es wieder einmal Zeit gewesen sei, mehr unter Menschen als unter Büchern zu leben, daß man nicht blos den Kopf, sondern nach dem 30. Jahre auch den Beutel zu füllen bedacht sein müsse, und daß er Berlin nur in der Absicht verlassen habe, sein sogenanntes Glück zu machen. Unter seinen Nachlaßpapieren hat sich das sinnige Wort gefunden: „Ich will mich eine Zeit lang als ein häßlicher Wurm einspinnen, um wieder als ein glänzender Vogel an das Licht kommen zu können“, und mit seinem Verständniß von Lessing’s Natur sagt Goethe über seine Breslauer Zeit: „L., der im Gegensatze zu Klopstock und Gleim die persönliche Würde gern wegwarf, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können, gefiel sich in einem zerstreuten Wirthshaus- und Weltleben, da er gegen sein mächtig arbeitendes Innere stets ein gewaltiges Gegengewicht brauchte.“ Nach dem angestrengten Arbeiten in der Studirstube, unter dem Lessing’s Gesundheit gelitten hatte, war das Leben mitten unter der Armee des großen Königs als Tischgenosse eines seiner gefeiertsten Helden eine heilsame Erfrischung. Der Zwang des Dienstes, der mit allen möglichen kleinen Nichtswürdigkeiten seine Zeit in Anspruch nahm, preßte ihm zwar anfangs die bittersten Klagen aus, aber solche düstere Stimmungen gingen bald vorüber. Die Correspondenz über militärische Angelegenheiten und mit den Münzjuden, deren bedenkliche Thätigkeit Tauentzien als Münzdirector ebenfalls zu überwachen hatte, war in ein paar Vormittagstunden besorgt, und es blieb Muße genug zum Durchmustern der Breslauer Bibliotheken, zu eigenen wissenschaftlichen und poetischen Arbeiten, zu gemüthlichem Verkehr mit den Gelehrten und den angesehensten Bürgern der Stadt, zum Besuch von Schuch’s Theater, zu lustigen Zechgelagen und leidenschaftlichem Glücksspiel mit Offizieren und zu ausgedehntem Morgenschlaf, wenn er den Pfefferküchler, bei dem er wohnte, durch spätes Nachhausekommen geärgert hatte. Verstand er auch nicht wie andere die Gelegenheit zu benutzen, um sich bei den Münzoperationen der Ephraim’s und Itzig’s mühelos zu bereichern, so lebte er doch sorgenfrei genug, um seiner Neigung ein schlechter Wirth zu sein behaglich sich überlassen zu dürfen. Seine Einnahmen reichten, um zu leben und leben zu lassen: er konnte einmal nach Herzenslust das schlechte Geld des Königs unter die Leute bringen, mit fröhlichen Kriegsgenossen verschwendend, die schlauen Betrügereien seiner Bedienten gleichmüthig ertragend, seltene Bücher zu Tausenden häufend, den nicht abreißenden Ansprüchen des Vaterhauses mit immer neuen Unterstützungen genügend. Im Spätsommer 1762 begleitete er in bester Laune seinen General ins Feld zur Belagerung von Schweidnitz, im Februar 1763 verkündete er als Friedensherold den Breslauern das Ende des Krieges, im Sommer desselben Jahres war er mit Tauentzien in Potsdam, wo dieser vom König mit neuen Ehren überhäuft, sein Secretär aber nicht weiter beachtet wurde. Er kehrte, nachdem er die Berliner Freunde wieder begrüßt hatte, mit Tauentzien nach Breslau zurück, wo ihm Aussicht auf eine vortheilhafte Bedienung gemacht war, aber einen seinen Wünschen entsprechenden Posten erlangte er nicht, und der ihm angebotene war ebensowenig nach seinem Geschmack als eine schon früher ihm angetragene Professur der Eloquenz in Königsberg, und er war mehr als jemals entschlossen, von aller Bedienung, die nicht vollständig nach seinem Sinne wäre, zu abstrahiren; er glaubte sich über die Hälfte seines Lebens hinaus und wußte nicht, was ihn nöthigen könnte, sich für den kürzeren Rest desselben noch zum Sklaven zu machen. Eine ernste Erkrankung Tauentzien’s im Sommer 1764, ein hitziges Fieber, das ihn selbst bald [771] darauf befiel und in welchem er den letzten Rest seiner jugendlichen Thorheiten verrast haben wollte, zogen die Entscheidung über seine Zukunft hinaus. Inzwischen tröstete er sich mit einem schönen Plan, nach Wien zu gehen und die kaiserliche Bibliothek zu nutzen, in Italien die Antiken zu studiren und Griechenlands klassischen Boden mit seinen Denkmälern zu besuchen. Diese Luftschlösser standen in engster Beziehung zu einer der mannigfachen Arbeiten, die er seit dem Frieden vorgenommen. Er wollte sich seine eigene große Bibliothek nicht umsonst angeschafft haben und hatte an seinen gelehrten Bekannten, dem Rector des Elisabethgymnasiums Arletius (s. Bd. I. S. 530), einem Polyhistor vom alten Schlage, und Klose (s. Bd. XVI S. 226), dem Rector der Heiligengeistschule, einem feingebildeten Altersgenossen, die erfahrensten Führer zu den Schätzen der damals noch getrennten Büchersammlungen Breslaus. Mit ihrer Hilfe wurde die Logauarbeit, die ihm als Vorstudie zu einem deutschen Wörterbuche galt, in Forschungen über Tscherning und Scultetus fortgesetzt, zur Geschichte der Fabel die Gesta Romanorum und deutsche Schwankbücher studirt, die zu schneller Versificirung einer und der anderen scherzhaften Erzählung Veranlassung gaben, für die Litteraturbriefe über Musäus Grillen gefangen, die freilich bis auf eine nie zu Papier gebracht sind. Aber neben diesen leichteren Gelegenheitsarbeiten beschäftigten ihn dreierlei von schwererem Kaliber: der Entwurf seiner Minna von Barnhelm, aus dem etwas Besseres werden sollte als alle seine bisherigen dramatischen Stücke, widrigenfalls er fest entschlossen war, sich mit dem Theater nicht mehr abzugeben; verschiedene kritische und antiquarische Aufsätze, die er zunächst zu einem Ganzen verweben zu können verzweifelte und darum unter dem räthselhaften Titel „Hermäa“, welcher einen verliebten Roman verspricht und mit den Wanderschaften eines gelehrten Landstörzes Wort hält, herausgeben wollte, aus denen dann aber sein Laokoon erwuchs; endlich, veranlaßt durch die Lectüre von Dippel’s (s. Bd. V S. 249) Schriften, ein ernsteres Studium des Spinoza und der Kirchenväter, von denen besonders Justinus Martyr ihn zu dem ausführlich skizzirten Aufsatz „Von der Art und Weise der Ausbreitung und Fortpflanzung der christlichen Religion“ anregte. Mit Recht urtheilte also schon Fichte, daß die eigentliche Epoche der Bestimmung und Befestigung seines Geistes in seinen Breslauer Aufenthalt zu fallen scheine, während dessen sein Geist ohne litterarische Richtung nach außen, unter durchaus heterogenen Amtsgeschäften, die bei ihm nur auf der Oberfläche hingleiteten, sich auf sich selbst besann und in sich selbst Wurzel schlug. Von da an wurde ein rastloses Hinstreben nach der Tiefe und dem Bleibenden in allem menschlichen Wissen an ihm sichtbar.

Auf welche Weise sich L. von Tauentzien getrennt hat, ist nicht überliefert; am 12. October 1764 wollte er eine mindestens vierwöchentliche Reise antreten und gleich nach seiner Rückkehr seinen Abschied nehmen, wozu er die dringendsten Ursachen hätte. Vor dem 10. Januar 1765 ist das auch geschehen, aber erst Ostern 1765 verließ er Breslau und ging nach einem flüchtigen Besuch der Eltern über Leipzig wieder nach Berlin, wo er noch im Mai eintraf. Ernstlicher als je in seinem Leben sah er sich nach einer festen Stellung um, denn die Geldverlegenheiten im Vaterhause waren so hoch gestiegen, daß es undenkbar war, mit dem Ertrage der Schriftstellerei helfen zu können. Kaum hatte er seinen jüngsten Bruder Karl zu sich kommen lassen, um allein für ihn zu sorgen, als schon Theophilus nachkam mit der Botschaft, daß die Gläubiger des Vaters dessen Gehalt mit Arrest belegt hätten, und zur Abwendung der äußersten Noth mehr forderte, als ihm an Baarschaft zu Gebote stand. Zweierlei Aemter konnten ihn reizen, weil sie ihm neben der Sicherung seiner Existenz die Gelegenheit zur Fortsetzung seiner gelehrten Studien boten, die Direction eines Antiquitätencabinets oder einer Bibliothek. Zu beiden konnte er sich nicht besser [772] empfehlen, als wenn er den ersten Band seines „Laokoon“, der nur noch der letzten Redaction bedurfte, baldmöglichst drucken ließ. Er hatte dabei sein Augenmerk zuerst auf Dresden gerichtet, das unbestritten damals das Centrum aller künstlerischen Bestrebungen und Studien in Deutschland war. Der Tod des alten Berliner Bibliothekars Gaultier de la Croze eröffnete plötzlich eine andere Aussicht, die schon Kleist für ihn im Auge gehabt hatte, und die, wie es scheint, mit den Berliner Freunden im Sommer 1763 aufs neue besprochen war. Quintus Icilius, der in solchen Sachen das Ohr des Königs hatte, schlug sofort L. als Nachfolger vor, wurde aber zurückgewiesen, weil der König Lessing’s alten Handel mit Voltaire in zu treuem Gedächtniß bewahrt hatte. Die Bibliothekarstelle wurde Winckelmann angeboten, der auch für ein Gehalt von 2000 Thalern zu kommen bereit war, aber im Herbst 1765 verzichtete, als der König erklärt hatte, für einen Deutschen wären 1000 Thaler genug. Es liegt nahe zu vermuthen, daß die Freunde, die nun noch einen Versuch zu Gunsten Lessing’s machen wollten, sich in den Stand gesetzt wünschten, ihn dem König als einen Winckelmann ebenbürtigen Bewerber darzustellen. Der Laokoon wurde wirklich zur Ostermesse fertig, und L. konnte im Sommer mit einem jungen Herrn v. Brenkenhof, der sein Hausgenosse geworden war, nach Pyrmont reisen. Auf dem Heimwege besuchte er in Göttingen den berühmten Recensenten seiner Jugendwerke, Johann David Michaelis, dem er im Gespräch die erste Anregung zu seiner Uebersetzung des Alten Testaments mit Anmerkungen für Ungelehrte gab, seinen alten Freund Kästner und den Bibliothekar Dietze; dann verlebte er einige vergnügte Tage bei Gleim in Halberstadt, aber schon bald nach seiner Rückkunft nach Berlin scheint er erfahren zu haben, daß der König durchaus nichts von ihm wissen wolle, und daß das Einzige, worauf er so lange gehofft und worauf man ihn so oft vertröstet, fehlgeschlagen sei. Der König verschrieb sich einen unbrauchbaren Franzosen; L. verzichtete auch auf die Möglichkeit Aufseher des Kasseler Antikencabinets und Professor am Karolinum zu werden und acceptirte, den antiquarischen Studien vorläufig entsagend, den Vorschlag, als Dramaturg und Consulent an das neu zu gründende Nationaltheater in Hamburg zu gehen. Als er abschloß, fiel ihm Juvenal’s Wort ein: Quod non dant proceres, dabit histrio. „Ich stand eben am Markte und war müßig“, schrieb er im Frühjahr 1769 im Schlußstück der Dramaturgie; „Niemand wollte mich dingen, ohne Zweifel weil mich Niemand zu brauchen wußte, bis gerade auf diese Freunde.“

Der „Laokoon“ war mit dieser Entscheidung dazu verurtheilt ein Torso zu bleiben, aber auch so war er nach Goethe’s schönem Wort ein Lichtstrahl, den der vortrefflichste Denker durch düstere Wolken herableitete. Das so lange mißverstandene Ut pictura poesis war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar; die Gipfel beider erschienen nun getrennt, wie nah die Basen auch zusammenstoßen mochten. Den Grundgedanken von dem verschiedenen Darstellungsmaterial der Poesie und der bildenden Kunst hatte schon 1757 Mendelssohn in seinen Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften aufgestellt, aber er hatte, ebensowenig wie Harris, Dubos und Diderot, die strenge Consequenz auf das grundverschiedene Wesen der Künste und die Verschiedenheit ihrer Darstellungsgebiete gezogen. Die Vermischung der Kunstarten war ihm noch kein Zeichen des Verfalls, und er nahm weder an der Schilderungssucht der Poeten noch an der Allegoristerei der Maler Anstoß. Lessing’s eigenstes Werk war es, auf das von anderen schon gelegte Fundament die großen Stilgesetze der bildenden Kunst und der Dichtung zu bauen und dadurch der zweite Gesetzgeber der Künste, insbesondere der Poesie, nach Aristoteles zu werden. Herder zitterte vor dem Blutbade, das die Behauptung des Laokoon, Handlungen seien die eigentlichen Gegenstände [773] der Poesie, unter alten und neuen Poeten anrichten müsse; von Tyrtäus bis Gleim und von Gleim wieder nach Anakreon zurück, von Ossian zu Milton und von Klopstock zu Virgil werde aufgeräumt, der dogmatischen, der malenden, der idyllischen Dichter nicht zu gedenken. Seine Furcht war ungegründet, soweit sie sich auf die echte Lyrik bezog, und beruhte nur auf einem Mißverständniß des Wortes Handlung; daß es L. nie beigekommen ist, die Lyrik zu verurtheilen, geht aus seiner Definition im Fabelbuch hervor, wo ausdrücklich jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo einer den anderen aufhebt, als Handlung charakterisirt ist. Im Laokoon konnte, da von den beabsichtigten drei Theilen nur der erste vollendet ist, der die Unterschiede der dichterischen und bildnerischen Gestaltenmalerei untersucht, naturgemäß auf poetischem Gebiet nur vom Epos die Rede sein, und hier können auch heutzutage noch Lessing’s Resultate als maßgebend gelten: der Satz, daß der Dichter nicht malen solle, gehört nach Vischer’s Wort zum ABC der Poesie. Die Schwächen des Laokoon liegen auf der Seite der bildenden Kunst. Ist es überhaupt bedenklich, daß L. nicht allein in dem Nebentitel seines Buches „Ueber die Grenzen der Malerei und Poesie“ die bildenden Künste unter dem Begriff der Malerei zusammenfaßte, sondern auch im Verlauf seiner Untersuchungen ohne weiteres Gesetze und Bedingungen der Plastik auf die Malerei übertrug, so treten im Einzelnen, namentlich in der Beurtheilung der Gattungen der Malerei, noch schlimmere Einseitigkeiten hervor, die sich daraus erklären, daß es ihm sowol an der Anschauung namhafter Kunstwerke als auch an dem wahren Kunstenthusiasmus fehlte. Wenn er aber auch einem falschen Rigorismus gegen Landschafts-, Genre- und Historienmalerei huldigte, so bleibt doch seine Grundanschauung von dem Stilgesetz aller bildenden Kunst davon unberührt, und mancher gefeierte Liebling des modernen Publikums würde weniger weit vom rechten Wege abirren, wenn er fleißiger bei L. in die Schule gegangen wäre. Die künstlerische Composition des Laokoon ist mit Recht von jeher bewundert worden. Die ersten Entwürfe, die uns erhalten sind, zum Theil mit den kritischen Randbemerkungen Mendelssohn’s und Nicolai’s, haben ganz die Form systematischer Behandlungen des Themas; vom Laokoon ist noch nirgend die Rede. L. selbst aber nennt in einer seiner theologischen Streitschriften das seine eigensinnige Art, von der unerheblichsten Kleinigkeit am liebsten auszugehen, wenn er sich durch sie am geschwindesten mitten in die Materie versetzen könne. Mit wunderbarem Geschick wird eine Aeußerung aus Winkelmann’s Aufsatz „Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ über den Ausdruck des Schmerzes in der Laokoonstatue zum Ausgangspunkt gewählt und damit nicht allein ein prägnanter Titel für seine sogenannten unordentlichen Collectaneen zu einem Buche gewonnen, sondern auch der Weg gegeben, seine Theorie wie Achills Schild beim Homer vor unseren Augen entstehen zu sehen, als das Werk eines Poeten, wie Herder sagt, d. i. eines Schriststellers, nicht der da gemacht hat, sondern der da machet, nicht der da gedacht haben will, sondern uns vordenket. Diese Methode entspricht dem in der Dramaturgie dem kritischen Schriftsteller empfohlenen Sprüchelchen des alten Lactanz: er suche sich nur erst Jemand, mit dem er streiten kann, so kommt er nach und nach in die Materie und das Uebrige findet sich. Nur daß L. bei der letzten Redaction des Laokoon es geflissentlich vermieden hat, seinem Werk den Charakter einer polemischen Schrift gegen Winckelmann zu geben, für dessen Größe er bei aller Verschiedenheit ihrer Naturen doch ein feineres Verständniß gehabt, als Winckelmann je für die seinige erlangt hat, und deshalb den Kunstgriff gebraucht, seinen ersten Theil als im Wesentlichen vor der Drucklegung von Winckekmann’s Geschichte der Kunst abgeschlossen erscheinen [774] zu lassen und sich die Auseinandersetzung mit diesem für den folgenden Band vorzubehalten.

„Mein Laokoon ist nun wieder die Nebenarbeit“, schrieb L. im Februar 1767 an Gleim, als er ihm seine zu Ostern bevorstehende Uebersiedelung nach Hamburg meldete. Er hatte schon die seit 1759 ruhende Umarbeitung seiner Schriften vor die Hand genommen und bereitete eine neue Ausgabe seiner Lustspiele in zwei Bänden zur Ostermesse vor, die zu den fünf der alten Sammlung sein Meisterstück auf dem Gebiet der Komödie, „Minna von Barnhelm“, bringen sollte. Schon 1763 in Breslau unter den frischen Eindrücken des Krieges und seiner schlimmsten Nachwehen entworfen und 1764 bis zu der Unterbrechung durch die Krankheit im Sommer weiter gefördert, ward das Stück 1766 in Berlin im Verkehr mit dem kritischen Freunde Ramler zum Abschluß gebracht. Es war das schönste Geschenk, das der künftige Dramaturg der ersten deutschen Nationalbühne mitbringen konnte, seine vollendetste, in ihrer Art noch unübertroffene dichterische Leistung. Was die gleichzeitigen Recensenten gegen das Stück im Einzelnen zu erinnern hatten, muthet uns jetzt ebenso komisch an wie die polizeilichen Bedenken, die demselben wegen der darin entdeckten Stiche gegen die preußische Regierung eine Zeit lang den Weg auf die Bühne versperrten, und zwar nicht allein in Berlin, wo das königliche Handbillet, auf das der Dichter vergebens hatte warten müssen, Anstoß gegeben hatte, sondern auch in Hamburg, wo der preußische Resident sich beim Minister ein Verdienst daraus zu machen suchte, daß er vom Senat ein Verbot der Aufführung erwirkte. Das Publikum jauchzte dem volksthümlichen Stücke, gepackt von seiner lebensvollen Naturwahrheit, die auf Vornehm und Gering gleich mächtig wirkte, überall zu, am meisten in der preußischen Hauptstadt, wo man die entlassenen Offiziere der Freibataillone, die Soldatenwittwen und die abenteuernden Glücksritter täglich vor Augen hatte und in den gebildeten Kreisen auch die eingewebten historischen Motive des Contributionsvorschusses an die Lausitzer Stadt Lübben durch den Major Marschall v. Biberstein und des schnell avancirten Reitergenerals Paul v. Werner verstand. In einem Monat, dessen Spieltage noch durch die Osterpause verringert wurden, mußte Döbbelin das Stück 19 mal wiederholen. Allgemein bekannt ist der kindliche Jubel, mit dem Claudius eine Hamburger Aufführung begrüßte, und Goethe’s feinfühliges Urtheil von der Ueberwindung des Werthes, der Würde und des Starrsinns der Preußen durch die Anmuth und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen. Was die vollendete Beherrschung der Technik aus dem so glücklich gewählten bedeutenden Stoff gemacht hat, die meisterhafte Exposition, die kunstvolle Steigerung, der vortreffliche, sauber nüancirte Dialog, die feine Charakteristik der höheren, mittleren und niederen Personen, die nur für die Frauen nicht völlig auf derselben Stufe steht wie die der Männer, das ist in aller Munde. Daß zu dieser und jener Scene Goldoni und Farquhar, Riccoboni und Sterne Farben geliehen haben, wie der Nebentitel des Stücks „Das Soldatenglück“ den Titel eines Otway’schen Lustspiels wiederholt, thut bei der selbständigen und ganz freien Umbildung der entlehnten Details der Originalität des Ganzen keinen Abbruch. Reminiscenzen aus Shakespeare, aus Plautus oder gar aus Cervantes’ Don Quixote finden zu wollen, ist schon mehr Gespensterseherei.

Als L. im December 1766 einen vorläufigen Besuch in Hamburg machte, um sich die dortigen Theaterverhältnisse in der Nähe zu besehen, und den Entschluß wagte, sich mit Rath und That an der Begründung einer festen Bühne für die alte Hansestadt zu betheiligen, versprach er sich auf einige Jahre ein ruhiges und angenehmes Leben. Ein schlichtes, aber geräumiges Schauspielhaus, erst im Jahre vorher von Ackermann (s. Bd. I S. 37) aufgeführt; gute, zum Theil ausgezeichnete Schauspieler wie Ekhof und Borchers, Friderike Sophie [775] Hensel, Susanne Mecour und Mad. Löwen; zwölf angesehene Bürger als Entrepreneurs und ein geschäftsleitender Ausschuß dreier derselben, in dem zwei Theaterenthusiasten wie Seyler und Bubbers saßen; ein technischer Director wie Löwen, der die schönsten Zukunftspläne für die Hebung des Schauspielerstandes durch Beseitigung der Principalschaft, Vorlesungen über körperliche Beredtsamkeit und dauernde Altersversorgung auf seinem Programm hatte; das alles konnte die anständig dotirte Stellung eines Dramaturgen, der durch seine Kritiken Dichter, Schauspieler und Publikum bilden sollte, einem L. schon lockend machen. Daneben eröffnete sich schon damals die andere Aussicht, in eine von Bode (s. Bd. II S. 795) zu gründende Buchdruckerei und Verlagshandlung als Socius einzutreten. Nach Berlin zurückgekehrt sonderte er aus seiner großen Bibliothek nur das aus, was er zu seinen bevorstehenden Arbeiten brauchte, und beauftragte seinen Bruder mit dem Verkauf des Restes, um seine Schulden zu decken und sein ganzes flüssiges Kapital in dieses Unternehmen zu stecken, das durch den Druck der Dramaturgie und der Theaterzettel mit der Theaterentreprise in Verbindung stand, zugleich aber auf eigenen Verlag der Werke der besten deutschen Schriftsteller ohne Risiko berechnet war. Auf beiden Seiten blieben die bittersten Enttäuschungen nicht lange aus. Im Anfang des April 1767 zog L. in Hamburg ein; am 22. wurde das neue Theater eröffnet, an demselben Tage die Ankündigung des neuen Blattes ausgegeben, welches ein kritisches Register von allen aufzuführenden Stücken halten und jeden Schritt begleiten sollte, den die Kunst, sowol des Dichters als des Schauspielers, in Hamburg thun würde, und am 1. Mai erschien das erste Stück der „Hamburgischen Dramaturgie“. Drei Wochen später aber hören wir schon die Klage, es gingen mit dem neuen Theater eine Menge Dinge vor, die ihm gar nicht anständen; unter den Entrepreneurs sei Uneinigkeit, und keiner wisse, wer Koch oder Kellner sei. Dem bisherigen Principal Ackermann hatte man sein Schauspielhaus mit Decorationen und Garderobe abgepachtet und dennoch ihn mit seiner Familie als Schauspieler wieder engagirt, der Director Löwen hatte bei den Künstlern keine Autorität, die Damen verbaten sich die Recensionen ihrer Leistungen durch den Dramaturgen, das Publikum verhielt sich kühl und theilnahmlos, an Kabalen neidischer Gegner fehlte es auch nicht, und die Kasse der Gesellschaft wurde bald durch zu großen Ausstattungsluxus erschöpft. Schon am 4. December wurde die Bühne geschlossen, die nicht einmal mit Balletten und Pantomimen die Concurrenz gegen eine französische Truppe im alten Komödienhause durchführen konnte, und die Schauspieler gingen nach Hannover, um erst am 13. Mai 1768 eine noch unglücklichere Campagne zu versuchen, die am 25. November ein ruhmloses Ende nahm. Wenn es auch nicht wahr ist, was Schütze erzählt und ihm oft nacherzählt worden ist, daß man wegen der schlechten Einnahmen das Haus oft auf einige Tage geschlossen habe, so war doch die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs selbst Fernerstehenden, geschweige einem an dem Unternehmen Betheiligten, schon im Sommer klar, als Löwen die Direction niederlegte und seine Frau aus der Bühnengenossenschaft ausschied, und der Zuzug von Brandes und Frau, denen L. in Breslau als Trauzeuge und Pathe ihrer Tochter Minna gedient hatte, konnte nichts mehr helfen, als daß man sich nothdürftig bis zur Adventszeit durchkrüppelte. L. löste sich schon Michaelis 1768 von allen theatralischen Verbindlichkeiten und kündigte gleichzeitig auf Neujahr seinen Societätsvertrag mit Bode, der ihm auch nur Schaden gebracht hatte. Beide Compagnons hatten von dem Geschäftlichen nichts verstanden und von dem auf diesem Gebiet erfahrenen Nicolai guten Rath nicht annehmen wollen. Ihre besondere Vorliebe für das Kleinquartformat, das feingestreifte italienische Papier und allerlei kostspieligen Schmuck ihrer Drucksachen hatte ihre Auslagen unverhältnißmäßig vergrößert, und die Marotte, ihre Verlagsartikel [776] nur in Hamburg aushändigen zu wollen, hatte geradezu der Raublust der Nachdrucker in die Hände gearbeitet. Das von ihnen geplante Journal „Deutsches Museum“, das nur die auserlesensten Werke der besten Dichter aufnehmen und diesen ein würdiges Honorar sichern sollte, ist nie zustande gekommen; Gerstenberg’s Ugolino und Klopstock’s Hermanns Schlacht, die für dasselbe hergegeben waren, wurden zwar noch von ihren Pressen einzeln gedruckt, erschienen aber, wie die erst zur Ostermesse 1769 abgeschlossene Dramaturgie, ohne den Namen der Firma Bode & Co. und ohne das verabredete Firmenzeichen der Maiblume.

Die unglückliche Geschichte des Nationaltheaters und der Bode-Lessing’schen Druckerei spiegelt sich wieder in der sonderbaren Druckgeschichte der „Hamburgischen Dramaturgie“. Bis Mitte August 1767 wurden, wie angekündigt war, wöchentlich zwei Stücke ausgegeben; dann wurde des Dodsley’schen Nachdrucks wegen (der übrigens nicht, wie L. argwohnte, von einer Verbindung angesehener Buchhändler, sondern von einem ganz gewöhnlichen Räuber, dem damaligen Handlungsdiener der Wittwe Dyck, nachherigen Leipziger Verleger E. B. Schwickert, herrührte) die Ausgabe eingestellt und das Rückständige des ersten Bandes zur Michaelismesse versprochen. Das Erscheinen eines zweiten Nachdrucks machte auch dies unmöglich und zwang, zunächst um schützende Privilegien nachzusuchen; erst am 8. December, also erst nach dem Anfang der großen Winterpause in den Aufführungen, konnte die Austheilung der einzelnen Stücke wieder aufgenommen werden und wurde bis Ostern 1768 fortgesetzt. Anfangs erschienen vier, dann bald zwei bald drei Stücke wöchentlich, um das Versäumte nachzuholen, aber auch so gedieh die Arbeit nur bis zum 82. Stück, so daß noch 22 bis zum Abschluß des zweiten Bandes fehlten. Die neue Unterbrechung wurde mit der Fortsetzung des Nachdrucks entschuldigt, aber diesmal war der Grund nur ein vorgeschobener; der wirkliche war, daß L. zur Messe nach Leipzig reiste und mehrere Wochen fortblieb. Nach seiner Rückkehr war es ihm schon zweifelhaft, ob er die Arbeit überhaupt über den zweiten Band hinaus fortsetzen wollte, weil sein Interesse sich wieder antiquarischen Untersuchungen zuwandte, und als mit dem Entschluß, die Arbeit fallen zu lassen, die Nothwendigkeit an ihn herantrat, die angefangenen Discussionen in den noch zu liefernden Stücken zu einem ordentlichen Abschluß zu führen, ließ er auf die Lösung der unbequemen Aufgabe unter den Zerstreuungen seiner neuen Arbeiten fast ein Jahr bis Ostern 1769 warten. L. selbst hat in dem berühmten Nachwort, zu dem er die vier letzten Stücke benutzt hat, das Bekenntniß abgelegt, seine Blätter seien nicht völlig das geworden, wozu er sie zu machen versprochen; er durfte hinzusetzen: „etwas anderes, aber doch, denke ich, nichts schlechteres.“ Die Schritte der Kunst des Schauspielers zu begleiten hatte er schon mit dem 25. Stück aufgegeben, die Empfindlichkeit der Henselin ebenso fein als milde rügend, da bei der Herrschaft, die sie über Seyler übte, jeder andere Ausweg von vornherein abgeschnitten war. Aber mit der Begleitung der Dichterschritte stand es nicht besser: ein Vierteljahr nach der Auflösung des Theaterunternehmens, das in seinen zwei Spielperioden 270 Spielabende zählte, beschäftigt sich der Schluß der Dramaturgie noch mit dem 52. Abende. Zur Zeit der ersten Unterbrechung, Mitte August 1767, hatte L. noch hoffen können, mit seinen Berichten allmählich die Vorstellungen wieder einzuholen, denn er war schon bis zum 10. Juni vorgeschritten; zur Zeit der zweiten, Ostern 1768, war er erst bis zum 22. Juli 1767 vorgerückt, und er ist überhaupt nur bis zum 28. Juli gekommen. Er hat also auch diese Seite des ursprünglichen Programms schon mit der Wiederaufnahme der unterbrochenen Arbeit aufgegeben, und der Grund davon liegt auf der Hand. Man wollte ein Nationaltheater haben und führte fast ausschließlich französische Stücke auf. Die [777] Deutschen waren, wie das Schlußwort sagt, ihrem sittlichen Charakter nach noch keine Nation, denn ihr Charakter schien zu sein, daß sie keinen eigenen haben wollten; sie waren noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die unterthänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen. Was kam ihm darauf an, mit Dutzenden von Stücken zu belegen, was sich an zweien oder dreien zeigen ließ, daß man den rechten Weg verloren hätte, und was für Schritte der Irrende zurückgehen müßte, um wieder auf den rechten Weg zu kommen? Besonders von der Tragödie getraute er sich unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen könne, ohne sich ebenso weit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen; wenn er auch mit dem Ansehen des Aristoteles bald fertig werden wollte, wußte er es nur nicht mit seinen Gründen zu werden, und darum galt ihm die aristotelische Poetik für ein ebenso unfehlbares Werk als die Elemente des Euklides. So griff er denn das Uebel an der Wurzel an, zeigte, daß die französischen Tragiker, die sich immer auf den Aristoteles beriefen, den Aristoteles gar nicht verstanden, sondern nach Corneille’s Lehren entkräftet und verstümmelt, gedeutelt und vereitelt hätten, stellte vornehmlich an Corneille’s Rodegune und Voltaire’s Merope mit siegesfroher Sicherheit dar, wie der größte der todten und der größte der lebenden die Aufgabe der echten Tragödie verfehlt hätte, und erhob sich zu der überkühnen Behauptung, die Franzosen, die seit hundert Jahren sich ein Theater zu haben rühmten, ja das beste Theater von ganz Europa zu haben prahlten, hätten ebenso wenig eins als die Deutschen. Seine eigene Erklärung der berühmten Stelle der Poetik ist bekanntlich in Einzelheiten verfehlt, hatte er doch nicht einmal einen correcten Text des Originals zur Verfügung; aber diese Fehler haben ihn nicht gehindert, das Wesen der wahren Tragödie und die daraus sich ergebenden dramatischen Regeln mit divinatorischer Kraft zu erkennen, weil ihm schon lange klar war, daß Shakespeare’s Genie in der Praxis bereits ausgeübt, was der reflektirende Kritiker als Theorie erst wiederzuentdecken hatte. Die große Wahrheit, die er schon im 17. Litteraturbrief ausgesprochen hatte, daß Shakespeare, auch nach den Mustern der Alten bemessen, ein weit größerer tragischer Dichter als Corneille sei, obgleich dieser die Alten sehr wohl, jener sie fast gar nicht gekannt hätte, daß Shakespeare den Zweck der Tragödie fast immer erreiche, so sonderbare und ihm eigene Wege er auch wähle, Corneille aber fast niemals, ob er gleich die gebahnten Wege der Alten betrete, zieht sich als Grundton durch die ganze Dramaturgie. Nirgends läßt er sich auf die Analyse eines Shakespeare’schen Stückes ein, und doch schwebt ihm überall Shakespeare als der, der alles besser verstanden hat, vor, ohne daß er einen Augenblick in Gefahr geriethe, ein Shakespearomane im Sinne der Sturm- und Drangzeit zu werden. Die entschieden ablehnende Stellung, die er gegen Goethe’s Götz von Berlichingen, wie gegen die Lenzischen und Klinger’schen Dramen eingenommen hat, ist schon in der Dramaturgie, auf Veranlassung des nur aus Höflichkeit nicht ausdrücklich genannten Ugolino Gerstenberg’s, deutlich begründet. Die Warnung, daß man nicht alle Erfahrungen der vergangenen Zeit muthwillig verscherzen und von den Dichtern nicht verlangen sollte, daß jeder die Kunst aufs neue für sich erfinden müsse, kennzeichnet am besten den besonnenen Reformator, dem Schiller, als er eben nach Vollendung des Wallenstein wieder an der geistreichen und belebten Unterhaltung durch die Dramaturgie sich erfreute, dankbar bezeugt, er sei unter allen Deutschen seiner Zeit über das, was die Kunst betrifft, am klarsten gewesen, habe am schärfsten und zugleich am liberalsten darüber gedacht und habe das Wesentliche, worauf es ankommt, am unverrücktesten ins Auge gefaßt.

[778] Hatte das Mißlingen des Hamburger Nationaltheaterplans die Dramaturgie ins Stocken gebracht, so verleidete es begreiflicherweise L. auch die Beschäftigung mit eigenen dramatischen Arbeiten. Nicht allein sein Faust, den er im Herbst 1767 wieder vorgenommen hatte, und eine neue Bearbeitung seiner schon in Leipzig entworfenen Matrone von Ephesus blieben liegen; auch zwei neue Trauerspiele, Arabella und Philoktet, deren Erscheinen seine Freunde von einer Messe zur andern erwarteten, rückten nicht vor, und ein in Berlin skizzirtes, in Hamburg großentheils vollendetes Lustspiel, „Der Schlaftrunk“, blieb Fragment, obgleich die drei ersten Bogen bereits in der eigenen Druckerei, und sogar zweimal, gedruckt worden waren. Je näher die Zeit heranrückte, daß er wieder als ungebundener und unsteter Litterat leben sollte, desto mehr wandte sich sein Interesse den beiseite geschobenen antiquarischen Studien aufs neue zu. Zur Fortsetzung und Vollendung des Laokoon fehlte es ihm freilich noch an ungestörter Muße und an den reichen Hilfsmitteln seiner in Berlin verkauften Bibliothek; an solche Arbeit ließ sich erst denken, wenn er Hamburg den Rücken gekehrt und in Göttingen oder Cassel eine stille Rast bei Bücher- und Antikenschätzen gewonnen hatte, so sehr er sich auch davon überzeugen mußte, daß die Kritiker des ersten Theils, selbst den genialen Verfasser der Kritischen Wälder nicht ausgenommen, von dem Gesammtplan seines Werkes sich nicht die richtige Vorstellung machten, und so werthvoll auch die Vorarbeiten waren, die aus seiner dramaturgischen Schriftstellerei dem dritten, einer Betrachtung des Dramas bestimmten Theile hätten zu gute kommen können. Aber einen ruhmsüchtigen Streber in seine Schranken zurückzuweisen, der sich mit Hilfe einer dienstfertigen Recensentenclique als geschmackvollster Antiquar und unfehlbarer Kunstrichter Deutschlands zu brüsten versuchte und in keckem Selbstvertrauen den Verfasser des Laokoon wie den großen Winckelmann zu meistern unternahm, dazu fühlte er sich gerade in der rechten Stimmung. Friedrich der Große, der für Lessing’s Werth blind war, hatte der vernichtenden Lessing’schen Kritik gegenüber Unglück mit seinen Schützlingen; wie einst Lange und Gottsched, so erlag dem unerbittlichen Feinde alles erschlichenen Scheinverdienstes und aller heimlichen Ränke jetzt auch Chr. Ad. Klotz (s. Bd. XVI S. 228). Dieser war eben erst in auffallender Weise durch die königliche Gunst befördert worden, denn schon als 27jähriger Jüngling war er 1765 als Professor der Philosophie und Eloquenz nach Halle an die hervorragendste preußische Universität berufen und im folgenden Jahre durch Gewährung einer bedeutenden Gehaltszulage und des Geheimrathtitels zur Ablehnung eines Rufs nach Warschau bewogen worden, obgleich er weder durch ausgebreitete Gelehrsamkeit noch durch ungewöhnliche Lehrgaben sich auszeichnete und von seiner anzuerkennenden Begabung, der Leichtigkeit seines lateinischen Stils, schon mehr als einmal einen höchst bedenklichen Gebrauch gemacht hatte. Gleichgültig gegen die Pflichten seines Amtes und nie wählerisch in Bezug auf die Mittel, seinen Schriftstellerruhm zu steigern und seinen Namen in der gelehrten Welt gefürchtet zu machen, war er in seiner neuen Stellung unermüdlich thätig mit der Feder gewesen, hatte nicht allein seine schon in Göttingen begonnene lateinische Zeitschrift, die Acta litteraria, fortgesetzt, sondern daneben noch zwei deutsche, die „Neuen Hallischen gelehrten Zeitungen“ (seit 1766) und die „Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften“ (seit 1767) begründet und seine Gewandtheit im schnellen Gewinnen eines Ueberblicks über neue Wissensgebiete wie seinen Takt in der Wahl zeitgemäßer Aufgaben für seine kleinen Schriften, verbunden mit der größten Rücksichtslosigkeit im Ausbeuten fremder Arbeiten, dazu mißbraucht, sich das Air des gründlichsten und vielseitigsten Gelehrten zu geben. Eine Schaar jüngerer Männer, zum Theil geblendet von seinen formalen Talenten, zum Theil gelockt durch die Aussicht auf Beförderung [779] durch seinen Einfluß, zum Theil lustige Genossen seines dissoluten Lebens, halfen ihm bereitwillig seinen Ruhm in allen Tonarten durch seine und fremde Zeitungen auszuposaunen, und er selbst suchte durch eine ausgebreitete Correspondenz ältere Gelehrte von Ruf als Freunde einzufangen und eine große Lobassecuranz auf Gegenseitigkeit immer fester zu begründen. So hatte er sich gleich nach dem Erscheinen des Laokoon, in welchem er einmal ein Gelehrter von sehr richtigem und feinem Geschmack genannt war, mit einer zudringlichen Liebeserklärung auch an L. gewandt und nach Empfang einer höflichen Antwort seine mit den zierlichsten Lobeserhebungen verbrämte Anzeige des Laokoon aus den Actis litterariis überschickt. Der forcirt demüthige Ton des Begleitschreibens contrastirte zu auffallend mit dem anmaßend absprechenden, der in den Klotzischen Zeitschriften herrschte, als daß L. die Ergebenheitsversicherungen seines Recensenten nicht mit einem gewissen Mißtrauen gegen den Charakter desselben hätte aufnehmen müssen. Er hatte das Beste gethan, was sich thun ließ: er hatte zu der Beräucherung seines Buches wie zu den philologischen Ausstellungen gegen Einzelheiten, die an sich nicht ungegründet waren, aber den Hauptgedanken nicht tangirten, beharrlich geschwiegen und dadurch Klotzens Eitelkeit empfindlich gekränkt. Zunächst hatte dieser seinen Aerger hinuntergeschluckt, weil Lessing’s Gründlichkeit ihm doch imponirte, und beim Versuch, in seinem Beitrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen gegen Lessing’s Meinung den Alten die Perspective zu vindiciren, hatte er noch den Namen seines Gegners vorsichtig verschwiegen. Aber mit der Zeit war er kühner geworden. Der „Herr Geheimderath“, der in seiner deutschen Bibliothek über Ramler, Gerstenberg und Klopstock zu Gericht saß und an der Minna von Barnhelm allerlei Ausstellungen zu machen wußte, hatte geglaubt, auf dem Gebiete der Alterthumswissenschaft, das der Dramaturg L. ganz verlassen zu haben schien, die früheren Komplimente gegen „einen unserer besten Kunstrichter“ beiseite lassen zu dürfen, und hatte in seinem Büchlein „Ueber den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrücke“ einige seiner Widersprüche gegen Stellen des Laokoon mit solcher Dreistigkeit ausgesprochen, daß einer seiner Recensenten scheinbar mit Fug und Recht verkünden konnte, L. sei von ihm eines unverzeihlichen Irrthums überwiesen. L. hatte schon im Februar 1768 „unleidlich gefunden, was die Kerle in Halle sudelten“ und daran gedacht, seinen Freund Ramler gegen ihre Zudringlichkeiten durch ein Litteraturbriefchen zu retten; auf der Ostermesse in Leipzig, wo der junge Goethe die einzige Gelegenheit zu einer persönlichen Bekanntschaft mit ihm verpaßte, hatte er die neuesten Klotzischen Publikationen kennen gelernt und auch sonst Nachtheiliges genug über Klotz gehört, um den Gedanken an einen Besuch in Halle aufzugeben, und war Anfang Juni schon entschlossen in der Hamburgischen Neuen Zeitung über das Buch von den geschnittenen Steinen kurz seine unverhohlene Meinung zu sagen und zugleich anonym unter der Maske eines Schulmannes Klotzens irrige und noch dazu, wie sich später herausstellte, aus einem Collegienhefte Christ’s entlehnte Vorstellung von den Ahnenbildern der alten Römer in einer besonderen Schrift zu widerlegen. Er änderte diesen Plan, sei es, daß der Stoff der Ahnenbilder sich während der Arbeit für ein Buch von 10–12 Bogen als zu mager erwies, sei es, daß es ihm zweckmäßiger erschien statt einer gelegentlichen Bemerkung in der Vorrede zu Meusel’s Uebersetzung von Caylus’ Abhandlungen zur Geschichte und zur Kunst, Klotzens selbständiges Werk ausführlich anzugreifen, das ihm als die „elendeste und unverschämteste Compilation aus Lippert und Winckelmann“ mit jämmerlichen Zuthaten aus der eigenen Gelehrsamkeit und in schlechtem Deutsch geschrieben erschien, während der gedungene Recensent in Duschens Altonaer Reichspostreuter vom 2. Juni es nach der in der Klotzischen Clique üblichen Methode als ein Original angepriesen [780] hatte, dergleichen nicht die Ausländer und noch viel weniger die Deutschen vorher hätten lesen können. Die Behauptung dieses Recensenten, außer Winckelmann, sei ihm kein deutscher Alterthumsforscher bekannt, der mit so unermüdetem Fleiße alle Quellen und Hilfsmittel aufgesucht und studirt und doch zugleich eine so tief eindringende Urtheilskraft und einen so edlen und reinen Vortrag geäußert hätte, und es sei ein wahres Glück, daß eine noch fast ganz unbearbeitete Materie nicht in die Hände eines schalen und blos gedächtnißreichen Antiquars gerathen wäre, zwang den geflissentlich ignorirten Verfasser des Laokoon dazu, seinen rühmlichst verdienten Platz neben Winckelmann zu vertheidigen und „die Welt wegen eines Windbeutels zu desabusiren“. Es bedurfte kaum noch der oben erwähnten Beschuldigung eines unverzeihlichen Irrthums in der Fortsetzung der Recension vom 13. Juni, um L. zu der Kriegserklärung gegen Klotz zu treiben, die acht Tage später in zwei Hamburger Zeitungen erschien und nur ein Vorläufer der „Briefe antiquarischen Inhalts“ war, an deren erstem Bande schon Anfang Juli gedruckt wurde, als die Nachricht von Winckelmann’s Ermordung in Hamburg ankam. Von den folgenden Briefen brachte die Neue Zeitung vom 21. Juli bis 18. August noch fünf als Probe aus den bereits gedruckten Bogen des Buches, am 25. August auf Klotzens kahle Antwort im Hamburger Correspondenten vom 19. eine Erwiderung Lessing’s, die später in den 51. Brief übergegangen ist, und zwischendurch am 2. August die Anzeige von Meusel’s mangelhafter Apollodorübersetzung, an der sich zeigen ließ, was für schlechte Bücher Klotz durch sein Lob einführte, wenn sie nur aus seinem Freundeskreise stammten. Der erste Band der antiquarischen Briefe ward zur Michaelismesse fertig, und schon häufte sich der Stoff für folgende, ganz abgesehen von der angefangenen Abhandlung über die Ahnenbilder, denn L. hatte sich bei der Arbeit am ersten Bande jenes berühmte Collectaneenbuch angelegt, das jetzt zu den handschriftlichen Schätzen der Breslauer Bibliothek gehört, und sammelte in demselben emsig immer neue Munition für seinen Kampf, weil er sich schon mit dem Plane trug auf Reisen zu gehen und sich daher auf eine Fortsetzung ohne alle bibliothekarischen Hilfsmittel einrichten mußte.

Ende September 1768 überraschte L. seine Freunde in Berlin und Halberstadt mit der lakonischen Mittheilung, er wolle im bevorstehenden Januar alle seine Bücher zu Gelde machen und im Februar mit dem ersten Schiff nach Livorno und von da gerades Weges nach Rom gehen. Das bald durch verschiedene Zeitungen verbreitete Gerede, er sei dazu bestimmt Winckelmann’s Nachfolger zu werden, verdroß ihn in mehr als einer Beziehung und veranlaßte ihn, nicht allein auf das Entschiedenste gegen solche Auslegungen seines Reiseplans sich zu verwahren, sondern auch die von Berlin aus angebotenen Empfehlungen an den Cardinal Albani höflich zurückzuweisen. Was er wol dazu gesagt hätte, wenn er gar hätte hören müssen, daß man seine Expatriirung mit einer ohne allen Grund vermutheten unglücklichen Liebe zu Frau Eva König in Verbindung bringen könnte? Es ist schwer zu begreifen, warum der plötzlich auftauchende Gedanke an eine Uebersiedelung nach Italien für so befremdlich und abenteuerlich gelten soll, daß man zu seiner Deutung nach solchen romantischen Motiven sucht, da er sich auf die einfachste Weise aus Lessing’s verzweifelten ökonomischen Verlegenheiten erklärt. Bekannt genug ist, daß er von Jugend auf schlecht verstanden hat zu wirthschaften und bei aller Anspruchslosigkeit in Bezug auf die Genüsse des Lebens durch seine Leidenschaft für das Spiel und durch seine schrankenlose Freigebigkeit im Unterstützen von Verwandten und Bekannten seine Lage mehr als nöthig verschlimmert hat. In Hamburg war er von vornherein in einen Kreis von Familien eingeführt, deren Lebensweise kostspieliger war, als seine Stellung ihm zu theilen erlaubte, wenn nicht das buchhändlerische Unternehmen [781] sich als ein einträgliches Geschäft erwies. Alle die guten Freunde, mit denen er im Kaffeehause oder in dem ehrwürdigen Rathsweinkeller verkehrte, und in deren Häusern er stets ein hochwillkommener Gast war, sein Hauswirth, der Commissionsrath Schmidt, Wurmb, der Stifter der Handlungsakademie, und sein berühmterer Nachfolger Professor Büsch (s. Bd. III S. 642), dessen kunstliebender Schwager Schwalb, der Münzmeister Knorre, der Seidenhändler Engelbert König und sein Bruder, der hannoversche Postmeister, der Miteigenthümer des Hamburgischen Correspondenten, Legationsrath Zink, und sein Schwager, der Arzt Grund, Klopstock’s Vetter Leisching, der Stifter und Eigenthümer des Adreßcomtoirs und der Neuen Zeitung, der gelehrte Rector des Johanneums, Johann Samuel Müller, waren wie Bode und die Entrepreneurs des Theaters wohlhabende Leute, oder lebten nach der Gewohnheit früherer besserer Tage vorläufig noch auf großem Fuß. Daß L. bei solchem Umgang erklärte, er könne für seine 800 Thaler nicht leben, daß er schnell sich eine beträchtliche Schuldenlast aufbürdete und sich am Ende vorkam wie versunken in einen Morast, in den er desto tiefer einsank, je geschwinder er sich herausarbeiten wollte, das ist gar nicht verwunderlich. Ein längerer Aufenthalt in Hamburg schien sich entschieden zu verbieten, aber als er im Herbst 1768 seine dortigen contractlichen Verbindungen löste, meinte er nach Abwicklung seiner Verpflichtungen noch 300 Thaler nach Rom bringen zu können, wenn er die billige Seereise wählte, und rechnete auf die Möglichkeit, davon in Rom ein Jahr zu leben. War es schon in Breslau sein Lieblingswunsch gewesen, Italiens Kunstschätze mit eigenen Augen zu sehen, wie viel lebhafter mußte er ihn jetzt empfinden, nachdem ihm bei seinen antiquarischen Studien die Unentbehrlichkeit eigener Anschauung der Antiken und die Unmöglichkeit, sich blos auf die alten ungenauen Abbildungen zu verlassen, zum Bewußtsein gekommen war. Der Borghesische Fechter allein hätte ihn über die Alpen ziehen können, seit er überzeugt war, daß er ihn nie zu einer Chabriasstatue gemacht haben würde, wenn er ihn selber gesehen hätte, und die ganze Unbehaglichkeit der Zwangslage empfand, in einer Streitschrift wider Klotz seine vermeintliche Entdeckung zurücknehmen zu müssen. Und was versäumte er, wenn er dem undankbaren Vaterlande, das nirgends einen Platz für ihn zu haben schien, den Rücken wandte? Er war den Vierzigen nahe und kannte wohl Stimmungen, in denen er sich sehnte, endlich auch einmal zur Ruhe zu kommen und die glücklichste Autorschaft ohne eine ernsthafte bürgerliche Beschäftigung für ein armseliges Handwerk hielt. Aber wenn Deutschland ihm diese Ruhe versagte, behielt das Sperlingsleben auf dem Dach, vorausgesetzt daß man ihm kein Ende abzusehen brauchte, auch seine Reize für ihn und er war bereit, wie ein unglücklicher Spieler seine letzte Habe auf eine Karte zu setzen, mit dem leidigen Trost, daß es sich schlimmsten Falles lustiger und erbaulicher in Rom müsse hungern und betteln lassen als in Deutschland, oder daß irgend ein mitleidiges Kloster ihm seine Pforten aufthun würde, um ihm Unabhängigkeit von allen Sorgen der Nahrung und völlige Muße zum Studiren zu gewähren.

Den römischen Plan hat L. etwa ein Jahr festgehalten, ohne ihn zur Ausführung zu bringen. Im December 1768 war der Katalog seiner Bibliothek fertig, die Anfang Februar 1769 wirklich verauctionirt wurde, und zur Ostermesse erschien der Schluß der Dramaturgie. Aber die Abreise unterblieb, weil sein Ueberschlag über die für ihn disponibel bleibenden Mittel sich als irrig erwies: er war in Hamburg „so tief eingenistet, daß er sich gemächlich losreißen mußte, wenn nicht hier und da ein Stück Haut mit sitzen bleiben sollte“. Ueberdies mahnten gewisse Aussichten auf eine Anstellung in Wien dazu, den Entschluß zu einer gänzlichen Uebersiedelung nach Italien nicht zu übereilen. Klopstock, den er wiederholt in Hamburg gesehen hatte und mit dem er in brieflichem Verkehr [782] stand, hatte ihm eine Rolle bei seiner von Kaiser Joseph zu begründenden Akademie deutscher Gelehrten in der Kaiserstadt zugedacht, und ehe noch dieses Traumbild öffentlich besprochen ward (s. Bd. XVI, S. 222), ließ der neue Leiter der Wiener Bühne L. die Stelle eines Theaterdichters, der jährlich zwei Stücke zu liefern hätte, mit einem Gehalt von 3000 Gulden anbieten. So wartete er denn vorläufig ab, ob das eine oder das andere Wiener Projekt sich verwirklichen würde, entschlossen anzunehmen, wenn ihm die Möglichkeit einer italienischen Reise nicht verschränkt würde, und förderte langsam den zweiten Band der antiquarischen Briefe, der erst Anfang August 1769 fertig ward. Das heikle Schlußwort über den Borghesischen Fechter auf den ersten fünf Bogen dieses Bandes, welches den Irrthum im Laokoon ehrlich zurücknimmt, während es ein offenbares Versehen im 13. Brief des ersten Bandes ziemlich sophistisch zu bemänteln sucht, war im April schon gedruckt; aber das Erscheinen von Raspe’s Schrift gegen Klotz, von Herder’s kritischen Wäldern und Garve’s Recension des Laokoon, die an die Fortsetzung des Laokoon mahnten, die immer feindseligeren Angriffe, mit denen Klotz und seine Anhänger ihre Blätter füllten, und der massenhaft anschwellende Stoff zur Widerlegung der Klotzischen Schrift, von welcher der größere Theil noch seiner Zergliederung harrte, verzögerten den Fortgang der so rührig begonnenen Arbeit. An Schneidigkeit hat sie durch diese Verzögerung nichts eingebüßt; die zusammenhängende Schilderung von Klotzens Treiben in den letzten 7 Briefen fiel geradezu vernichtend aus, und die gegen den Schluß aufgestellte Tonleiter der Kritik: „gelinde und schmeichelnd gegen den Anfänger; mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen den Meister; abschreckend und positiv gegen den Stümper; höhnisch gegen den Prahler und so bitter als möglich gegen den Kabalenmacher“ war eine glänzende Rechtfertigung gegen alle Beschwerden über den Ton der Briefe. Wer von Klotzens Recension des ersten Bandes mehr gelesen hat, als die von L. selbst citirte Stelle über den „Magister Lessing“, weiß auch, daß der Vorwurf des Bauernstolzes für den Geheimrath nicht blos sachlich sondern auch formell unwiderleglich war. Und doch steckten in Lessing’s Köcher, wie die Skizzen zu 40 weiteren Briefen für einen dritten und vierten Band zeigen, noch furchtbarere Pfeile: er hatte die Beweise in Händen, daß Klotz nicht allein ein Ausschreiber Winckelmann’s und Lippert’s, sondern auch ein Plagiator des verstorbenen, von ihm immer über die Achsel angesehenen Christ war, und würde auch dies noch gleichzeitig mit einem Strafgericht über die Klotzianer, vornehmlich über Riedel, ans Licht gebracht haben, wenn ihn nicht den Sommer über eine Zwischenarbeit beschäftigt hätte, die freilich auch von Klotz, und zwar von seiner Vorrede zu dem eben erschienenen zweiten Theil der Caylus’schen Abhandlungen aussetzte, aber schnell den häßlichen Gegner in den Hintergrund treten ließ. Es war die Abhandlung „Wie die Alten den Tod gebildet“. Man hat die Ausarbeitung derselben aus dem Wunsch erklären wollen, die Verhandlungen über seine Berufung nach Wolfenbüttel durch die Herausgabe eines weniger polemischen Werkes der produktiven Kritik zu fördern. So ansprechend diese Vermuthung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, sie ist unhaltbar: noch am 10. August 1769 hatte L. allein seine Romreise im Sinn, „so unwandelbar als das Schicksal“, und nur in der Art der Ausführung durch die Entscheidung über Klopstock’s Wiener Projekt zu modificiren, also war von Braunschweig damals noch nichts an ihn gekommen; an demselben Tage hatte sein Bruder in Berlin schon drei gedruckte Bogen der neuen Schrift in Händen gehabt. L. hat die Arbeit an den antiquarischen Briefen unterbrochen, weil er der Erholung von den Armseligkeiten, um die er mit dem Alterthumskrämer stritt, bedurfte und mit der weiteren Ausführung seiner schon im Laokoon angedeuteten Gedanken von der Gestalt des Todes in [783] der antiken Kunst endlich einmal wieder zu dem Grundprinzip, das Hauptgesetz in der bildenden Kunst der Griechen sei Schönheit gewesen, zurückkehren konnte. Diese Materie war, auch abgesehen davon, daß sie sich nicht sofort in den Gang der Briefe einreihen ließ, zu gut, um neben den Einzeluntersuchungen über Gemmen und Steinschneider als Beweis für Klotzens Unwissenheit verwerthet zu werden; sie gab, einzeln behandelt, Gelegenheit einen vornehmeren Ton anzuschlagen, als den einer bloßen Streitschrift; Herder gegenüber wurde Courtoisie geübt, wenn der unvermeidliche Widerspruch gegen einen seiner Einwürfe den antiquarischen Briefen fern blieb; die Fiction der Klotzianer, L. kämpfe blos als Haupt einer Berliner Litteraturschule im Dienste Nicolai’s, wurde praktisch widerlegt durch einen Verlagsartikel der Vossischen Handlung, und daneben noch der Vortheil gewonnen, daß zu den nothwendigen Gefälligkeiten, um die wachsenden finanziellen Verlegenheiten zu lindern, neben Nicolai auch Voß herangezogen werden konnte. Das Büchlein war fertig, als Ebert’s schon im Anfang des Jahres leicht hingeworfene Einladung, auf dem Wege nach Rom in Braunschweig vorzusprechen, in der Form einer bestimmten Aufforderung sich dem Erbprinzen mit der Aussicht auf den Eintritt in braunschweigische Dienste vorzustellen, Ende September oder Anfang October wiederholt wurde. Mit der Abhandlung vom Tode ließ L. den Streit gegen Klotz fallen, und so entging Klotz der ärgsten Beschämung; es bedurfte derselben übrigens auch nicht mehr, denn mit seinem erschlichenen Ansehen war es ohnehin vorbei: weder die affectirte Gleichgültigkeit, die er selbst zur Schau trug, noch der Diensteifer seiner alten Freunde, die von seiner Berufung nach Wien und seiner Erhebung in den Freiherrenstand fabelten, konnte darüber täuschen, daß seine Dictatur aufgehört hatte, und daß sein früher Tod am letzten December 1771, der sogar L. ernsthafter machte, als er je gedacht hätte, für ihn das größte Glück war. Abgesehen von dem kleinen Zeitungsaufsatz über die Dresdener Agrippina (Ariadne) war die Abhandlung auch Lessing’s letzte antiquarische Arbeit; zu einer Ausführung des Vorsatzes, Winckelmann’s sämmtliche Werke herauszugeben, an dem er 1776 noch festhielt, ist es nie gekommen.

Die unfreiwillige Verlängerung des Hamburger Aufenthaltes verschaffte L. noch verschiedene interessante Bekanntschaften. Er befreundete sich mit Matthias Claudius (s. d.) und Philipp Emanuel Bach (s. d.); er sah den später so berühmten Schröder bei den ersten bedeutenden Versuchen seiner schauspielerischen Thätigkeit; er verkehrte gern in lustiger Gesellschaft mit dem Pastor Alberti (s. d.), dessen derber Humor ihm mehr Freude machte als seine schwächliche Theologie, und den er im Streit über das Bußtagsgebet mit einer Yorick’schen Predigt neckte; er besuchte am 24. Januar 1769 auf wiederholte Einladung den Senior Goeze (s. d.) und war seitdem zur Verwunderung seiner aufgeklärten Freunde häufiger der Gast des kenntnißreichen Vorkämpfers der lutherischen Orthodoxie, gewiß nicht, wie die Spötter meinten, aus Liebhaberei für den guten Rheinwein des Hauptpastors, sondern aus Interesse an der kostbaren Bibelsammlung und an den gelehrten Streitigkeiten des Besitzers, in die er übrigens damals sich nicht einmischte; und zuletzt fand er auch Zutritt bei den Kindern des gelehrten Herm. Sam. Reimarus, dem tüchtigen Arzt und Physiker Johann Albert Hinrich und seiner talentvollen Schwester Margarethe Elisabeth (Elise). Daß er den Vater nicht mehr persönlich kennen gelernt hat, ist vielleicht Folge seiner Freundschaft mit dem Rector Müller gewesen, der in seiner entschiedenen Abneigung gegen den alten Reimarus ihn dessen Hause fern gehalten haben mag; auch der Sohn war ihm im Januar 1769 noch fremd und daher die reichen, von Großvater und Vater gesammelten Bücherschätze der Reimarer ihm nicht zugänglich, die er erst für seine Abhandlung vom Tode nutzen durfte. [784] Aber dieser am spätesten ihm sich erschließende Hamburger Kreis zählte ihn schnell zu den vertrauten Genossen seines Theetisches und gestattete ihm nicht allein den ausgiebigsten Gebrauch der Familienbibliothek, sondern weihte ihn auch ein in das Geheimniß der mit großer Aengstlichkeit gehüteten „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“, die der bereits am 1. März 1768 verstorbene Vater handschriftlich hinterlassen hatte, und erlaubte ihm sogar, eine ältere Niederschrift von verschiedenen Abschnitten des umfangreichen Werkes nach Wolfenbüttel mitzunehmen. Inniger und herzlicher blieb freilich in der letzten Hamburger Zeit sein Verkehr mit dem schon genannten Kaufmann König, der vor seiner letzten Reise beim Abschied ihm Weib und Kinder empfahl, ohne zu ahnen, daß er selbst schon Ende December 1769 in Venedig einem frühen Tode erliegen und seine Hinterbliebenen 7 Jahre später in L. Gatten und Vater wiederfinden sollten. Aber in seinen letzten Lebensjahren nach dem Tode seiner Frau stand L. mit den Reimarern in lebhaftem brieflichen Verkehr und weilte, wenn er Hamburg besuchte, am liebsten in dem Zirkel ihrer „Gemeinde“, in der er die alten Freunde Klopstock und Claudius wiederfand und einen neuen an Campe gewann.

In der zweiten Hälfte des November 1769 reiste L. nach Braunschweig und kam nach vier Wochen noch einmal nach Hamburg zurück, um seine verworrenen Geldangelegenheiten, so gut es ging, zu ordnen. Der Herzog Karl hatte ihn am 15. December auf Neujahr zum Bibliothekar in Wolfenbüttel mit 600 Thaler Gehalt und freier Wohnung im alten Schloß ernannt unter Bewilligung eines Urlaubs von 8–10 Wochen vor seinem Amtsantritt und mit der Zusage, daß die beabsichtigte italienische Reise dadurch nicht gestört, vielmehr seiner Zeit befördert werden sollte, um sie für die Bereicherung der braunschweigischen Sammlungen nutzbar zu machen. Der Abschluß der Verhandlungen war leicht und glatt von statten gegangen. Da die Verwaltung der berühmten Bibliothek bis dahin ein Nebenamt des Klosterraths Hugo gewesen war, konnte die Stelle jeden Augenblick frei gemacht werden; der Mehraufwand war selbst für die derangirten Verhältnisse des nahe vor dem Bankerott stehenden braunschweigischen Landes und Fürstenhauses nur unbedeutend; der Wunsch, zu den mancherlei Genossen des Klopstock’schen Jugendkreises, die das Carolinum in Braunschweig schmückten, einen L. um ein billiges zu gewinnen, ließ alle Mitglieder der herzoglichen Familie als „die leutseligsten und besten Personen“ erscheinen. Insonderheit der Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand, der auf Ebert’s Anregung die Berufung Lessing’s am eifrigsten betrieben hatte, verstand seine Anerbietungen in die verbindlichsten Formen zu kleiden, seine kalt berechnende, die Menschen verachtende Weise, die er mit seinem Oheim Friedrich dem Großen theilte, zu verbergen und durch Erzählungen von seinem Verkehr mit Winckelmann in Rom und von seinem eben erst gemachten Besuche Mendelssohn’s in Berlin zu bezaubern. L. nahm mit Freuden an, und nur die unleidlichen Schwierigkeiten, welche ihm aus der Auseinandersetzung mit seinen Hamburger Gläubigern erwuchsen, verzögerten seinen Umzug nach Wolfenbüttel bis Mitte April 1770. Er hatte durch das wiederholte Hinausschieben seiner Abreise wenigstens die Freude, noch Herder persönlich zu begrüßen, der auf dem Wege nach Eutin und bald nachher auf der zweiten Durchreise in Begleitung seines Prinzen 14 vergnügte Tage mit ihm hatte und wacker umherschwärmte. Welchen Eindruck Herder damals von Lessing’s Persönlichkeit gewonnen hat, zeigt der schöne Nachruf in Wieland’s Merkur (wieder abgedruckt im 2. Band der Zerstreuten Blätter.

L. bezog nach kurzem Aufenthalt in Braunschweig am 4. Mai 1770 als einziger Bewohner sein verwünschtes Schloß in Wolfenbüttel und ward drei [785] Tage nachher in sein neues Amt eingeführt. Anfangs schien sich alles gut anzulassen; vermißte er in seiner Einsamkeit auch den gemüthlichen Spaziergang mit Frau König und das lustige Toben ihrer Kinderschaar, so gewährte die Bibliothek, die er noch weit vortrefflicher fand, als er sie sich je eingebildet hatte, dem völlig bücherlos gewordenen Bücherfreund zunächst volle Befriedigung. Er sah sich im Besitz von Hilfsquellen, um neue antiquarische Briefe zu schreiben, die aus ganz andern Augen sehen sollten, als die ersten, und noch mehr als diese zogen ihn die zahlreichen Handschriften, unter ihnen namentlich die sogenannten Weißenburger, an. Gleich in den ersten Tagen entdeckte er unter diesen eine völlig unbekannte Schrift des Berengar von Tours, die für die Geschichte der Abendmahlsstreitigkeiten im 11. Jahrhundert und die Darlegung von Berengar’s eigener Lehre vom Abendmahl höchst bedeutend war, und kündigte seinen Fund mit einer lichtvollen Darstellung dieser Streitigkeiten an in seinem „Berengarus Turonensis“. Einer seiner neuen Freunde vom Carolinum, Konrad Arnold Schmid, der alle seine späteren bibliothekarischen Arbeiten mit rührender Gefälligkeit und Ausdauer im Abschreiben unterstützt hat, hatte durch Herausgabe eines Briefes Adelmann’s an Berengar diesen Fund veranlaßt; daher die Einkleidung des Buchs in Briefe an Schmid. Mit der Mittheilung von diesem Funde und der Verheißung des freilich nicht gelungenen Beweises, Berengar habe schon Luther’s Lehrbegriff vom Abendmahl gehabt, konnte L. noch seinen alten Vater erfreuen, der die Fertigstellung der in der Michaelismesse 1770 erschienenen Schrift und ihre ehrende Anerkennung von Seiten der lutherischen Theologen, unter anderen auch Goeze’s, nicht mehr erlebte. Ihm selbst war die günstige Gelegenheit, sich als einen Bibliothekar anzukündigen, dem nicht alles und jedes gleichgiltig sei, was nicht in sein Lieblingsstudium einschlägt, mehr werth als der liebliche Geruch von Rechtgläubigkeit, in den er mit der sichern Aussicht ihn bald wieder zu verlieren sich setzte, denn er dachte schon damals an die Herausgabe eines Theils der Reimarischen Apologie als einer anderen Handschrift der Wolfenbüttelschen Bibliothek und wurde dazu von dem jüngeren Reimarus in Veranlassung von Mendelssohn’s Streit mit Lavater geradezu aufgefordert. Es war ihm auch Ernst mit dem Vorsatz, allen berufenen Gelehrten mit den Schätzen der Bibliothek zu dienen, und er konnte sich mit Recht rühmen, daß er trotz aller Abneigung gegen das Briefschreiben sofort zur Antwort bereit wäre, wenn man ihm mit einer die Bibliothek betreffenden Frage käme, ja daß er für seine Freunde den ganzen Oceanus juris gern copiren wollte. Reiske und seine gelehrte Frau durchweg, in geringerem Grad auch Heyne, dem L. den Mangel an Offenheit wohl anmerkte, haben das erfahren. Aber schon im Herbst 1770 war es mit der Zufriedenheit in Wolfenbüttel vorbei. Mancherlei körperliche Beschwerden, Schwindelanfälle und Augenschwäche, von denen er bis zu den bösen Vierzigern nichts gewußt hatte, stellten sich ein, und die gänzlich veränderte Lebensweise, der Mangel an der gewohnten Bewegung in freier Luft und an herzerfrischendem Umgang verschlimmerten diese Leiden und vermehrten seine hypochondrische Stimmung. Dazu kam die Mißlichkeit seiner äußeren Lage. Reichte sein bescheidenes Gehalt auch aus, ihn vor der Sorge um das tägliche Brot zu schützen, so konnte er doch nichts davon zur Tilgung seiner drückenden Schulden erübrigen, und die Nothwendigkeit, auch für die Verpflichtungen des verstorbenen Vaters einzutreten und die Erhaltung von Mutter und Schwester auf sich zu nehmen, rückte die Aussicht, endlich einmal aufs Trockne zu kommen in immer weitere Ferne. Und dabei hatten ihm seine „schurkischen Umstände“, die ihn nöthigten, um Geld zu schreiben, noch niemals den Kopf so wüste gemacht als gerade damals, weil er nicht mehr an sich allein, sondern auch an die einzige Frau in der Welt dachte, [786] mit der er sich zu leben getraute. Die Wittwe seines verstorbenen Freundes König, Eva Katharina, eine Tochter des Kaufmanns Heinr. Kaspar Hahn und der Eva Katharina geb. Gaub, geb. am 22. März 1736 zu Heidelberg, hatte ihn im Sommer zweimal besucht, das erste Mal in Begleitung ihres Bruders, des Utrechter Professor Hahn, auf dem Heimwege aus dem Pyrmonter Bade, das zweite Mal auf ihrer Reise nach Wien, wo sie die Geschäftslage der beiden von ihrem Manne ihr hinterlassenen Fabriken mit eigenen Augen prüfen wollte. Von einer Werbung um ihre Hand hatte natürlich nicht die Rede sein können, trug sie doch noch die Trauerkleider um den ersten Gatten und war ohne Einsicht in ihre und ihrer Kinder Verhältnisse, in welche die beschwerliche Wiener Reise erst Licht bringen sollte. Aber auch ohne ausdrückliche Erklärung wußten beide, wie herzlich sie einander zugethan waren, und die Unsicherheit von Frau Eva’s Zukunft, welche die Erfüllung der im Stillen gehegten Wünsche ebenso unsicher machte, konnte nur Lessing’s Bitterkeit über die eigene Rathlosigkeit verschärfen. In solcher Stimmung bekannte er dem Bruder, er könne sich mit allem was eine besondere Heiterkeit des Geistes, was eine besondere Anstrengung erfordere, was er mehr aus sich selbst ziehen müsse als aus Büchern, vorderhand nicht abgeben; er müsse das Brett bohren, wo es am dünnsten ist, und das dicke Ende erst wieder vornehmen, wenn er von außen weniger geplagt wäre. Darum wurde der Plan zu einem Trauerspiele Spartacus schnell wieder beiseite gelegt; außer der Herausgabe der schon in Wittenberg und Breslau abgeschriebenen Gedichte des Scultetus, die er Zachariä für seine Sammlung auserlesener Stücke der besten deutschen Dichter überließ, und gelegentlicher Bereicherung seiner Collectaneen zu einem deutschen Lexikon, für das er bis zum Erscheinen von Adelung’s Wörterbuch gesammelt hat, beschäftigte ihn nur die Neubearbeitung der sechs Bände seiner vermischten Schriften. Ueber dieselbe hatte er bereits zu Anfang des Jahres bei Gelegenheit des unbefugten Abdrucks seiner Jugenddramen, des Damon und der alten Jungfer, in Schmid’s Anthologie mit seinem Verleger verhandelt, ein neu erscheinender Nachdruck trieb zur Eile, und so ward bis zur Michaelismesse 1771 der erste Band fertig, der eine vermehrte und verbesserte Ausgabe seiner Sinngedichte und Lieder enthielt, nebst den zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatisten. Gleich nach Beendigung dieser Arbeit eilte er zum Besuch nach Hamburg, wohin Frau König über Heidelberg und Braunschweig im Mai zurückgekehrt war, und erhielt dort von ihr die schon in Braunschweig erbetene, aber bis zu seiner Herüberkunft verschobene feierliche Zusage ihrer Hand, vorausgesetzt daß ihre Verhältnisse sich nach Wunsch ordnen würden. Hierzu schienen die rechten Wege gebahnt, und so kehrte L., obwol er gleich nach seiner Verlobung die Braut über den Tod ihrer alten Mutter zu trösten hatte, nach einem Besuch seiner Berliner Freunde Anfang November so froh und glücklich nach Wolfenbüttel zurück, als er sich seit Jahren nicht gefühlt hatte. Mit seiner Gesundheit war er auch zufrieden und rechnete auf einen ruhigen und fleißigen Winter. Er hatte zwar den in Berlin mit Freunden besprochenen Gedanken, die Reimarische Apologie drucken zu lassen, wieder aufgegeben, weil der Censor sein Imprimatur verweigert hatte, aber er hatte für die nächste Ostermesse außer dem zweiten Bande der Vermischten Schriften einen Band Trauerspiele mit einer neuen Tragödie versprochen. Der Band der Vermischten Schriften, von denen die ersten fünf Bogen noch bis zum Schlusse des Jahres gedruckt wurden, blieb unvollendet liegen, weil L. zur Ausarbeitung der für denselben bestimmten Geschichte der äsopischen Fabel die nöthige Ruhe nicht finden konnte, und erschien erst drei Jahre nach seinem Tode, vollendet von seinem Bruder Karl, der damit die Besorgung der ersten Gesammtausgabe der Werke begann. Der Band [787] Trauerspiele wurde rechtzeitig fertig und brachte außer der corrigirten Miß Sara Sampson und dem Philotas die „Emilia Galotti“, sein tragisches Meisterstück.

Es ist oben erzählt, daß L. sich schon in Leipzig 1757 mit dem Plane einer Virginia getragen und schnell das römische Freiheitsstück durch Befreiung von allem Staatsinteresse in eine dreiactige bürgerliche Tragödie Emilia Galotti umgewandelt habe. Diesen Entwurf hatte er in Hamburg wieder vorgenommen, um an ihm die Probe auf die in der Dramaturgie entwickelten Gesetze der tragischen Kunst zu machen. Die Bearbeitung, nur für die Aufführung, nicht für den Druck bestimmt, die leider nicht erhalten ist, hatte ihn mit dem alten Sujet wieder so vertraut gemacht, daß er weit schneller als er sonst zu arbeiten pflegte, freilich mit einer Ueberanstrengung seiner Kräfte, die sich durch desto größere Abspannung hinterdrein rächte, seine schwierige Aufgabe löste. Daß es ihm in der That gelungen ist, die Schicksale seiner Personen als eine nothwendige Folge ihrer Leidenschaften, die Leidenschaften als eine nothwendige Folge ihrer Charaktere, die vermöge der ihnen einmal gegebenen Anlage und Beschaffenheit unter gewissen Verhältnissen auch nur so und nicht anders sich entfalten dürften, darzustellen und dadurch die höchste tragische Wirkung zu erreichen, das scheint nach dem langen Widerstreit der Beurtheiler von Jahr zu Jahr mehr erkannt zu werden. Für das Theaterpublikum von 1772 war das Stück offenbar zu fein gearbeitet und sein Schluß zu herbe, als daß es ein Zugstück wie die Minna hätte werden können. Kaiser Joseph lobte es, obgleich er in seinem Leben bei keiner Tragödie so viel gelacht haben wollte. Lessing’s ältere Freunde ließen es an pflichtschuldiger Bewunderung mit obligaten Exklamationen über den Shakespeare-Lessing nicht fehlen, aber gingen der erbetenen Einzelkritik vorsichtig aus dem Wege. Die jüngere Generation, wie der Göttinger Hain und der junge Goethe, begeisterte sich und lernte von ihm, und selbst der in den Litteraturbriefen so scharf gestriegelte Wieland fühlte sich zu einer feurigen Liebeserklärung gedrungen. Schiller war die Tragödie geradezu zuwider, den ebenso naseweisen als dramatisch unfruchtbaren Romantikern galt sie für ein gutes Exempel der dramatischen Algebra, das man frierend bewundern könnte, höchstens für ein mit meisterhaftem Scharfsinn ausgearbeitetes tragisches Epigramm, und der achtzigjährige Goethe hielt sie gar nicht mehr für wirksam und meinte, man hätte vor ihr den Respekt wie vor einer Mumie, die von Alter und hoher Würde des Aufbewahrten Zeugniß ablegt. Nur die Heroen der Schauspielkunst haben von vornherein den Schatz erkannt, den L. ihnen mit der Emilia geschenkt. Von Ekhof und Schröder bis zu Ed. Devrient ist sie gewürdigt als die Quelle unerschöpflicher Anregungen und Aufgaben, mit denen die Kunst des Mimen nie zu Ende käme; sie haben durch die That das Urtheil des greisen Goethe widerlegt und die Tragödie bis auf den heutigen Tag so frisch und bühnenwirksam erhalten, als sie je bei ihrem ersten Erscheinen gewesen ist; und die zahlreichen neueren Untersuchungen über ihre einzelnen in der höchsten Vollendung gezeichneten Charaktere haben dies erste deutsche Trauerspiel immer allgemeiner als das Muster erkennen lassen, das noch auf lange Zeit hinaus nicht völlig ausstudirt ist und dem modernen Dramatiker mehr zu lernen giebt, als alle Schiller’schen Dramen.

Während L. die Arbeit an seiner Emilia begann, wurde unerwarteterweise der für lange aufgegeben geltende Plan einer deutschen Akademie in Wien wieder lebendig, und Sulzer in Berlin, an dessen Berufung auch gedacht wurde, ließ auf Veranlassung des dortigen österreichischen Gesandten van Swieten Anfang November 1771 L. durch Bruder Karl sondiren, ob er wohl geneigt sei, unter vortheilhaften Bedingungen nach Wien zu kommen unter der Voraussetzung, daß es sich nicht um das Theater und die windigen Versprechungen eines eigennützigen [788] Impresario handle, und daß die Veränderung eine wirkliche Verbesserung seiner äußeren Umstände mit sich bringe, erklärte sich L. sofort bereit, Wolfenbüttel aufzugeben. Immer unter Büchern vergraben zu sein, dünkte ihm nachgerade wenig besser, als im eigentlichen Verstande begraben zu sein; die Möglichkeit, hin und wieder in Braunschweig oder halbwegs dahin auf dem Weghause gute Bekannte zu sehen, tröstete ihn nicht über den gänzlichen Mangel an freundschaftlichem Verkehr in seinem öden Städtchen, und die naheliegende Eventualität, daß seine Braut wenigstens zeitweilig die Leitung ihrer Wiener Fabriken selbst würde übernehmen müssen, machte ihm Wiener Anerbietungen erst recht lockend. Allein die in Aussicht gestellten direkten Eröffnungen blieben aus; es wurde ihm nur zu Ende des Jahres wiederum durch die dritte Hand ein Gehalt von 2000 Thlrn. zugesagt – eine glänzende Offerte für einen Mann, der sein ganzes kärgliches Jahreseinkommen auf Vorschuß genommen hatte und doch noch dieselbe Summe bei seinem Verleger anzuleihen versuchen mußte, um einer Klage wegen seiner Wechselschulden zu entgehen – aber dabei zugleich der Vorschlag gemacht, vorläufig ohne feste Berufung auf des Kaisers Kosten nach Wien zu kommen, um sich die dortigen Verhältnisse erst anzusehen. Das lehnte L. empfindlich ab, da er weder für eine solche Reise einen schicklichen Vorwand zu einem Urlaubsgesuch bei seinem Herzog zu finden wußte, noch Lust hatte, als Bewerber sich an einem Hofe vorzustellen, der ohne vorherige Besichtigung den Klotzianer Riedel bereits berufen hatte und mit andern deutschen Gelehrten in Unterhandlung stand. Darauf war alles wieder still, und auch Frau König, die Mitte Februar 1772 zum zweiten Mal nach Wien reiste und dort sogleich mit dem Staatsrath Gebler und mit Sonnenfels verkehrte, konnte nichts Näheres über das was eigentlich im Werke war ermitteln. Solche Folter des Wartens zu ertragen, wäre auch einer kaltblütigeren Natur schwer geworden: auf der einen Seite eine Stellung, in der er seine geistige Spannkraft erlahmen fühlte, und die ihm nicht einmal die Mittel gewährte, sich aus den drückendsten Verlegenheiten herauszuarbeiten, geschweige denn einer geliebten Frau ihre Sorgen abzunehmen; auf der andern das vor seinen Blicken gaukelnde Bild des Lebens in der Großstadt, mitten im anregenden Verkehr mit bedeutenden Menschen, von allen prosaischen Kümmernissen des täglichen Lebens befreit, vereinigt mit der Gattin seiner Wahl: L. mußte sich vorkommen wie der dem Verschmachten nahe Wüstenwanderer, den eine tückische Fatamorgana äfft. Emilia Galotti war in Braunschweig am 13. März 1772 am Geburtstage der Herzogin zuerst aufgeführt worden; er hatte sich durch Zahnschmerzen abhalten lassen, dazu hinüberzugehen, kümmerte sich auch nicht um die folgenden Vorstellungen und würde sein Stück, von dem ganz Deutschland sprach, wahrscheinlich nie auf den Brettern gesehen haben, wenn es ihm nicht die Wiener am 19. April 1775 vorgeführt hätten. Konnte er auch keine Furcht vor der Ungnade des Erbprinzen, der nach der Meinung mancher Braunschweiger Kreise in dem begehrlichen Egoisten Hettore Gonzaga und der verlassenen Orsina sich selbst und seine ihm überlästig werdende Marquise Branconi erkennen sollte, und wies er auch jede Andeutung, als ob ihm je eine Aenderung des Schlusses beifallen könnte, als Lüge von der Hand, so verdroß ihn in seinem Mißmuth doch schon das Gerede am Hofe, der Wolfenbütteler Bibliothekar vergeude seine Zeit mit Allotriis so weit, daß er geflissentlich die frühe Entstehung seines Trauerspiels betonte und sich mit einer gewissen Ostentation in weitläufige Bibliothekgeschäfte stürzte, ohne an seinen armen Verleger zu denken, der als wohlverdienten Lohn für seinen wiederholt gewährten Beistand von einer Messe zur andern wenigstens Manuscript für die Vermischten Schriften erwartete. Am Ende gährt aus diesen hypochondrischen Qualen ein bestimmter greifbarer Plan [789] heraus. Er will noch einen Winter sich plagen und mehr arbeiten als sonst in dreien, um der Bibliothek ein Andenken an seine Thätigkeit zu hinterlassen, und dann fort von Wolfenbüttel. Im Frühling werden es drei Jahre, daß er da gefangen gewesen; dann kann er den bei seinem Amtsantritt versprochenen Urlaub zu einer italienischen Reise fordern und den Weg nach Rom natürlich über Wien nehmen. Eine so harte Nuß ihm das Selbstbewerben auch gewesen ist, der Besuch eines hochgestellten Mannes vom Kaiserhof hat ihm neues Vertrauen gegeben, und für die Braut, die ein Ende ihrer geschäftlichen Sorgen nicht absehen kann und voraussichtlich noch lange in Wien bleiben muß, will er sich überwinden, um eine wirkliche Chance nicht zu versäumen. Es war eine doppelte bibliothekarische Arbeit, die ihm im Sinne lag, und die er, ohne ihren Umfang richtig zu ermessen, schon angefaßt hatte und so schnell zu vollenden hoffte: die Neuordnung und Umstellung der vorhandenen Büchermassen und die Herausgabe eines Sammelwerks, das der gelehrten Welt durch Mittheilungen aus Wolfenbütteler Handschriften einen angemesseneren Begriff von der Bedeutung der Wolfenbütteler Bibliothek machen sollte, als die fleißige aber nur Aeußerlichkeiten bringende Geschichte ihrer Entstehung und Vermehrung von Jacob Burckhard, einem seiner Vorgänger (s. d.). Von der begonnenen Bücherumstellung kam er begreiflicherweise bald wieder zurück und beseitigte lieber die durch dieselbe hervorgerufene Unordnung durch Zurückbringen der Bücher auf ihre alten Plätze. Die andere Arbeit kam zustande, wenn auch in viel langsamerem Tempo, als beabsichtigt war. Unter dem Titel „Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel“ erschien der erste Beitrag, für den bereits am 13. Febr. 1772 die erbetene Censurfreiheit vom Herzog gewährt war, erst Neujahr 1773, der zweite Michaelis 1773, der dritte Michaelis 1774, zugleich mit einer gesondert ausgegebenen Abhandlung verwandten Inhalts „Vom Alter der Oelmalerei, aus dem Theophilus Presbyter“, der vierte Neujahr 1777; die beiden letzten, die erst 1780 als Neue Beiträge angefangen wurden und noch je zwei von ihm selbst zum Druck beförderte Aufsätze enthalten, wurden erst nach seinem Tode von Eschenburg und Leiste herausgegeben. Einen Mistwagen voll Moos und Schwämme nannte L. die Sammlung mit Anspielung auf eine Ebert’sche Epistel in dem wegwerfenden Tone, den er seinen eigenen Werken gegenüber so gern anschlug, eine Arbeit für Freund Schmid und noch ein Dutzend Pedanten seines Schlages, von der man nur einen Wisch nach dem andern in die Druckerei schicken dürfe und doch dafür von Zeit zu Zeit ein paar Louisd'or bekomme, um von einem Tage zum andern zu leben. Zierlicher hieß sie bei den Braunschweiger Freunden das Findelhaus Lessing’s, denn es sind allerlei Findlinge darin zusammengebracht; manches ist bloße Füllwaare und konnte nur ein vorübergehendes Interesse beanspruchen, oder ist inhaltlich durch neue Entdeckungen überholt und entwerthet; einmal ist auch ein bereits anderswo gedrucktes Stück irrigerweise als ein neuer Fund vorgeführt; aber andere dieser zerstreuten Aufsätze sind mit großer Lust und Liebe gearbeitet und gewähren noch heute durch die Art der Behandlung Genuß, weil der ganze Gang der Untersuchung so mitgetheilt wird, daß ein scheinbar unauflöslicher Knoten durch eine leichte und natürliche Katastrophe wie von selbst aufgeht. Vornehmlich treten in dieser Beziehung die Arbeiten über Boner’s Fabeln, über Romulus und Rimicius und über den sogenannten Anonymus des Nevelet hervor; L. brachte für sie als für Vorarbeiten zu seiner Geschichte der äsopischen Fabel eine besondere Theilnahme mit, die zeitweilig aufhörte, als theologische Streitfragen bei ihm in den Vordergrund traten und die Einmischung von Abschnitten aus dem Reimarischen Manuscripte unter die [790] Beiträge aus den Schätzen der Wolfenbütteler Bibliothek veranlaßten, um noch einmal in seinem letzten Lebensjahr wieder frisch zum Vorschein zu kommen.

Dem braunschweigischen Hofe muß es bekannt geworden sein, daß L. von Wolfenbüttel fortstrebte. Schon Ende Januar 1773 machte der Erbprinz in seiner Weise einen Versuch ihn aufs Neue zu fesseln. Er beschied ihn nach dem Tode des Hofrath Lichtenstein zu sich und trug ihm dessen Stelle mit Beibehaltung des Bibliothekariats an, um ihn „so zu fixiren, daß er sein Projekt, noch in der Welt viel herumzuschwärmen aufgebe“. L. ging vorläufig darauf ein, aber ein Monat nach dem andern verstrich, ohne daß die Sache gefördert wurde. Es sollte an der Langsamkeit des alten Ministers Schrader von Schliestedt liegen, aber dieser starb im Juli, und es geschah doch nichts, obgleich Lessing’s Verlegenheiten dem Hofe zu Ohren kommen mußten, da er im Januar 1774 wieder drei Quartale seines Gehaltes sich vorschießen ließ. Noch ein Jahr hielt er aus in menschenfeindlicher Stimmung, ohne Kraft zur Arbeit, die Braut wiederholt Monate lang ohne die geringste Nachricht von sich lassend. Die neuen litterarischen Erscheinungen verbesserten seine Stimmung nicht. Mit dem jungen Goethe, der nach seinem Urtheil im Götz Därme mit Sand füllte und sie für Stricke verkaufte, hätte er bei besserer Laune trotz seinem Genie schon anbinden wollen, und gegen den Werther, der ihn schon um seines jungen unglücklichen Freundes Jerusalem willen verdroß, fing er wirklich eine doppelte Entgegnung an, eine Komödie, Werther der Bessere, und eine Sammlung von Jerusalems philosophischen Aufsätzen. Aber er kam damit ebensowenig vom Fleck als mit einer kleinen Komödie, die er sich mit den Theologen vorsetzte, durch Veröffentlichung „Einer noch freieren Untersuchung des Kanons Alten und Neuen Testaments“ aus Reimarus’ Papieren gegen Semler’s Abhandlung von der freien Untersuchung des Kanons: das erste blieb liegen, das zweite erschien erst Ostern 1776, das dritte stieß in Berlin auf Censurschwierigkeiten und die beabsichtigte Vorrede ist vielleicht ganz ungeschrieben geblieben. Als mit dem neuen Jahr die alten Sorgen wiederkehrten, entschloß er sich plötzlich, mit einem gewaltsamen Schritt sich Luft zu machen, um nicht im Schlamme zu ersticken. Er forderte Urlaub auf zwei Monate und einen nochmaligen halbjährigen Vorschuß und eilte im Februar 1775 in die Welt hinaus, zu befreundeten Menschen. Ueber Leipzig, Berlin, Dresden und Prag traf er Ende März in Wien ein, wo sich Frau König’s Leidenszeit gerade damals einem leidlich günstigen Ende zu nahen schien. Sie hatte im October 1774 ihre Seidenfabrik verkauft, stand im Begriff, sich auch der Tapetenfabrik zu entäußern, und hoffte also, in Gesellschaft des geliebten Mannes, den sie nach drei schweren Trennungsjahren wiedersah, zu den Ihrigen zurückkehren zu können, um ihm dann bald als Gattin zu folgen. Halb widerwillig wurde L. ihr schon nach vier Wochen wieder entführt, nachdem sie Zeugin davon gewesen war, daß die kaiserliche Familie, der hohe Adel und die Gelehrten Wiens wetteiferten, ihrem berühmten Gast den wärmsten und ehrenvollsten Empfang zu bereiten. Er hatte sich in diesen Wochen doch davon überzeugt, daß das stille Wolfenbüttel, wenn Frau Eva seine Einsamkeit erheitern und der Herzog dem Derangement seiner Affairen abhelfen wollte, ihm auf die Dauer besser zusage als die turbulente Kaiserstadt. Um so weniger mochte er sich dem Drängen des jüngsten braunschweigischen Prinzen entziehen, ihn auf einer auf acht Wochen berechneten Reise nach Venedig zu begleiten. Prinz Leopold war zehn Tage nach ihm in Wien angekommen, Maria Theresia hatte demselben ein österreichisches Regiment angeboten, und der Prinz wünschte die Zwischenzeit angenehm zu verwenden, bis seine Familie, vornehmlich seine Mutter und ihr königlicher Bruder in Berlin, das letzte Wort dazu gesprochen hätten. Die Entscheidung verzögerte sich, und so wurde aus dem kurzen Ausflug [791] eine achtmonatliche Reise, die schließlich bis Rom und Neapel ausgedehnt ward, aber in ihrer planlosen Ausführung ohne alle Vorbereitungen und bei der Nothwendigkeit sich in die Neigungen des Prinzen und seine standesmäßigen Verpflichtungen zu schicken keine der Erwartungen erfüllen konnte, mit denen L. ein Jahrzehnt früher so lebhaft einen Besuch Italiens erstrebt hatte. Mailand, Venedig, Bologna, Florenz, Livorno, Bastia, Genua, Turin, Parma, Rom, wo Winckelmann’s Gönner, der alte blinde Kardinal Albani, dem Papst Pius VI. den gelehrten Bibliothekar vorstellte, und Neapel waren die Hauptstationen der Reise, von welcher ein Tagebuch mit wenig erquicklichen Aufzeichnungen sich erhalten hat. Weihnachten war L. wieder in Wien, nachdem er sich in München vom Prinzen getrennt hatte, der direkt zu dem ihm inzwischen verliehenen preußischen Regiment nach Frankfurt abgegangen war; er vermied dort geflissentlich das Zusammentreffen mit irgend einem Großen, der die Frage wegen eines Wiener Engagements von neuem hätte anregen können, und entzog sich einer Einladung zum Fürsten Kaunitz, die der von Berlin zum Besuch herübergekommene Gesandte van Swieten in der Hoffnung auf derartige Besprechungen vermittelt hatte, durch fluchtartige Abreise. Aber es lag ihm doch daran, nicht ohne eine bestimmte Aussicht auf eine annehmbare Stellung heimzukehren, um den billigen Forderungen, von deren Erfüllung er sein Verbleiben in Wolfenbüttel abhängig machen mußte, den nöthigen Nachdruck geben zu können, Auf einen früheren Vorschlag seiner Braut, sich um eine Heidelberger Professur zu bewerben, hatte er doch nur mit halbem Ohr gehört; die Aufforderung des Baron Stosch, des alten Heinius Nachfolger am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin zu werden, konnte ihm noch weniger passen, als die von demselben Manne proponirte ansehnliche Bedienung bei der preußischen Regie, in der er „sein Brot nicht als Gelehrter, sondern als ein anderer dummer Teufel verdienen könnte“. Was er suchte, fand er auf der Rückreise in seinem eigenen Vaterlande. In Dresden nahm ihm der Minister Graf Sacken das Versprechen ab, wenn er Wolfenbüttel verlassen wollte, auf alle Fälle nach Sachsen zurückzukehren, und der Kurfürst, der ihn selbst empfing, eröffnete ihm, daß ihm die Direction der Dresdener Kunstakademie nach dem bald zu erwartenden Ableben Chr. Ludw. v. Hagedorn’s (s. d.) zugedacht sei, daß aber auch schon früher für ihn Rath werden solle. Ein von Dresden aus unternommener Besuch bei seiner alten Mutter und die eigene Anschauung ihrer von der Schwester in vielen unleidlichen Briefen geschilderten Noth vermehrte indessen seine Unentschlossenheit, den entscheidenden Schritt zu thun. Zögernd und mit steigender Unlust machte er sich über Berlin auf den Rückweg nach Braunschweig und langte dort, durch ungünstiges Reisewetter nicht ungern aufgehalten, erst am 23. Februar 1776 wieder an. Sein nur allzugegründetes Mißtrauen gegen den Erbprinzen, dem er eine offene Beschwerde über die seit drei Jahren erfahrene Behandlung und die Erklärung, er sei jederzeit bereit seinen Abschied beim Herzog einzureichen, nicht ersparte – dieser interessante Brief ist leider nicht erhalten – verzögerte das Arrangement bis Anfang Juni, obgleich der ihm befreundete Kammerherr von Kuntzsch schon vor seiner Heimkehr acceptable Vorschläge vermittelt hatte. Der besonnenen Milde Frau König’s, die ihn während dieser Verhandlungen von allzu ungestümen, ihn selber bloßstellenden Schritten zurückzuhalten wußte, gebührte kein geringer Antheil daran, daß sich schließlich alles nach Wunsch löste. Von Johannis 1776 ab ward L. eine Erhöhung seines Gehaltes auf 800 Thlr. Gold bewilligt, auf die Zulage ein Vorschuß von 1000 Thlrn. unter Befreiung von den Abzügen für frühere Vorschüsse gewährt, eine neue Amtswohnung versprochen und der nicht erbetene Hofrathstitel in den Kauf gegeben. Abgesehen von der seinem unsteten Sinn immerhin unbequemen Einschränkung der [792] Freiheit, nach Belieben sich verändern zu können, so lange der Vorschuß nicht wieder abgetragen war, konnte er endlich im August in glücklicherer Stimmung, als er sie seit Jahren gekannt hatte, nach Hamburg reisen, um die letzten Vorbereitungen zu seiner von keiner Seite mehr gehinderten Heirath zu treffen. Auch die Braut war, seit sie gerade ein Jahr vorher über Heidelberg nach Hamburg zurückgekehrt war, mit der völligen Abwickelung ihrer geschäftlichen Verpflichtungen zustande gekommen, hatte der letzten, durch das Ausbleiben aller directen Nachrichten aus Italien erregten Sorgen sich entschlagen, L. würde, wie es schon einmal den Anschein gehabt hatte, versuchen sie ganz zu vergessen und gar nicht zurückkehren, oder gar die mit leidenschaftlicher Anhänglichkeit ihm zugethane Wittwe Reiske’s heimführen, und erntete nun endlich den Lohn ihrer unwandelbaren Treue. Noch einmal reiste L. allein nach Wolfenbüttel zurück, um sein Haus zum Empfang der Gattin zu bereiten und den Mannheimer Buchhändler Schwan zu sprechen, der in Braunschweig eintreffen sollte, um ihm das Diplom seiner Ernennung zum Mitgliede der pfälzischen Akademie zu überbringen und vorläufige Anträge wegen seiner Betheiligung an einem in Mannheim zu gründenden Nationaltheater zu übermitteln. Anfang October kehrte er zurück und am 8. Octbr. 1776 ward er mit seiner Eva auf dem Landgute des Hamburgischen Kaufmanns Johannes Schuback in York, halbwegs zwischen Harburg und Stade, getraut; der treue Freund, der mit seinem einsichtigen Rath Frau König während ihres Wittwenstandes unermüdlich behülflich gewesen war, hatte es sich nicht nehmen lassen, im engsten Familienkreise dem Paare die Hochzeit zu rüsten.

Das Mannheimer Projekt scheiterte auf die kläglichste Weise. Es stellte sich sehr bald heraus, daß das akademische Diplom nur eine Lockspeise gewesen war, und daß L. sich ganz unnützer Weise von seinem Herzog die Erlaubniß zur Annahme der damit verbundenen Pension und einen jährlichen Urlaub zur Theilnahme an den Sitzungen der Akademie erbeten hatte. Der pfälzische Finanzminister v. Hompesch wollte ihn ganz nach Mannheim ziehen und als Aushängeschild für das Theater gebrauchen; als er sah, daß L. bei seiner entschiedenen Abneigung gegen die Uebernahme einer unmittelbaren Aufsicht über das Theater für seine Pläne nicht zu gewinnen war, ließ er ihn ganz fallen. Obgleich L. sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, außer der Zeit über Hals und Kopf Schauspieler zu besorgen, obgleich er Mitte Januar 1777 selbst auf sechs Wochen nach Mannheim hinübergekommen war und einen Entwurf zu der Ausführung des ganzen Unternehmens ausgearbeitet hatte, wußte Hompesch den wohlwollenden Kurfürsten gegen den eigensinnigen und stolzen Fremden, dem die Pfalz nicht gefiele, so einzunehmen, daß L. nicht allein die erbetene Befreiung des Vermögens seiner Frau von der Decimation verweigert, sondern sogar die freiwillig zugesagte Pension wieder entzogen wurde. Die Menschen, die ein intriguantes Spiel mit ihm zu treiben sich erlaubt, züchtigte L. durch einen klassischen Brief an den Minister und bewirkte durch seinen rückhaltlosen Freimuth wenigstens eine Schadloshaltung des von ihm ohne Erfolg nach Mannheim empfohlenen Hamburger Theatergenossen Seyler. Eine andere, vielleicht zu feine und darum an betreffender Stelle nicht genügend empfundene Strafe erhielten die Mannheimer durch Wieland’s Schilderung der Theaterverhältnisse in Abdera, in der L. sehr ergötzlich unter der Maske des Euripides auftritt. L. selbst vergaß, nachdem er sich gegen jede mißbräuchliche Verquickung seines Namens mit dem Mannheimer Theaterunternehmen salvirt hatte, in seinem häuslichen Glück die pfälzische Mißhandlung und verlebte den Rest des Jahres in seiner bescheidenen Wolfenbüttler Behausung so friedlich und fröhlich, daß seine Besucher nicht Rühmens genug von seinem gemüthlichen Familienleben [793] machen konnten. Der junge Historiker Spittler, der im Frühjahr einige Wochen auf der Bibliothek arbeitete und von L. oft in sein Haus geladen wurde, der arme Bruder Theophilus aus Pirna, der sich um Ostern nach einer besseren Stelle im Braunschweigischen umsah, und der alte Freund Moses, der bei einem Besuch im Spätjahr Gelegenheit hatte, sich über Lessing’s ruhige und zufriedene Lage und das Verschwinden seiner ihm unsympathischen geistreichen aber bitteren Laune zu freuen, bestätigen mit ihren Berichten das Lob, das L. selbst in seinen Briefen an die Seinigen seiner Hausfrau spendete. Aber dieses Glück nahm ein jähes Ende. Weihnacht schenkte Frau Eva ihm einen Sohn, der den Tag seiner Geburt nicht überlebte, und am 10. Januar 1778 starb auch die Mutter nach bangen Tagen des Schwankens zwischen Furcht und Hoffnung an den Folgen ihrer schweren Entbindung. Die kurzen, bitteren Worte, mit denen L. den Freunden mittheilte, wie schlecht es ihm bekommen, daß er es auch einmal so gut hätte haben wollen als andere Menschen, und daß er sich freue, nach dieser Erfahrung nicht viele dergleichen mehr übrig zu haben, zeugen bei ihm lauter als die beredtesten Klagen davon, wie schwer er an diesem Verlust zu tragen hatte, der auf den Rest seiner Tage einen tiefen Schatten warf.

War die Ruhe des Jahres 1777 für Lessings häusliches Leben die Windstille vor dem Sturme gewesen, so war sie es nicht minder für seine litterarische Thätigkeit. Während seine Gattin mit dem Tode rang, erhielt er den ersten Aufsatz Goeze’s (s. d.) in Nr. 55 und 56 der „Freiwilligen Beiträge zu den Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit“ vom 17. December 1777, in welchem er wegen Veröffentlichung der Fragmente aus Reimarus’ Apologie und seiner hinzugefügten Gegensätze direct angegriffen wurde, das Signal zu den leidenschaftlichen theologischen Kämpfen seiner letzten Lebensjahre. Er hatte das erste Fragment eines Ungenannten von Duldung der Deisten schon 1774 im dritten Bande seiner Beiträge einer Abhandlung Von Adam Neusern angehängt, ohne daß dasselbe besondere Aufmerksamkeit erregt hätte. Die aus Rücksicht auf die Familie des Verfassers nothwendige Irreleitung des Publikums über die Herkunft des Manuscripts und die hingeworfene Andeutung, es könne von Joh. Lorenz Schmidt, dem Uebersetzer der Wertheimischen Bibel, herrühren, hatten wol zu dieser Nichtbeachtung beigetragen. Daß er unmittelbar darauf ein neues Fragment über den Kanon zu publiciren beabsichtigte, ist bereits erwähnt; den Plan, ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten ans Licht kommen zu lassen, hatte er auch ferner festgehalten und noch im Januar 1776 in Dresden mit A. Hennings (s. Bd. XI S. 778), dem Schwager des Dr. Reimarus und Freunde Mendelssohn’s, besprochen. Als er seine Wolfenbüttler Stellung im Sommer eben neu fixirt sah, war er sofort an die Ausführung gegangen und hatte seinen vierten Beitrag gänzlich mit fünf weiteren Fragmenten gefüllt: Von Verschreiung der Vernunft auf Kanzeln; Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten; Durchzug der Israeliten durchs Rothe Meer; Daß die Bücher A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren; Ueber die Auferstehungsgeschichte: nur ein kurzes Vorwort und eine Reihe von Gegensätzen hatte er aus dem Eigenen hinzugethan, begierig zu vernehmen, ob die Orthodoxen mit seiner oder des Ungenannten Arbeit zufriedener sein würden. Man wird schwerlich irren, wenn man annimmt, daß der Wunsch, endlich die lange unterbrochenen Beiträge fortzusetzen, obgleich die zeitraubenden Vorbereitungen auf seine Hochzeit und die ersten Mannheimer Verhandlungen ihm zu eigenen Arbeiten für dieselben keine Muße übrig ließen, den Entschluß gezeitigt hat, plötzlich mit einem so großen Vorrath aus seiner Handschrift hervorzutreten; das Wenige, was er selber zur Einführung seines Ungenannten mittheilen wollte, war schon seit Jahren [794] so gründlich durchdacht, daß das Niederschreiben kaum eine besondere Anstrengung erforderte. Er hatte sich nach seiner eigenen Aussage zwar gleich anfangs vorgenommen, nicht das Geringste gegen die Fragmente schreiben oder auch gelegentlich erinnern zu lassen, ohne sofort seine Augen selbst dabei zu haben, weil er dem Ungenannten, den er ohne seinen Willen in die Welt gezogen, seine Vorsprache schuldig sei, so oft Unwissenheit oder Stolz die Nase über ihn rümpften; aber er glaubte sich mit seinem Ungenannten auf der anderen Seite der Scheidewand, die man zwischen der Orthodoxie und der Philosophie gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortsetzen könnte, ohne die andere zu hindern; er erwartete Angriffe nur von der herrschenden aufgeklärten Theologie, welche diese Scheidewand niederreißen wollte und die Menschen unter dem Vorwande, sie zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen machte; ihrem neumodischen Religionssystem, dem Stückwerk von Stümpern und Halbphilosophen, hatte er seinen consequenten Unbekannten als einen dem Ideale eines echten Bestreiters der Religion nahekommenden Gelehrten entgegengestellt, und mit ihnen dachte er leicht fertig zu werden, weil er in ihrem sogen. vernünftigen Christenthum weder Vernunft noch Christenthum entdecken konnte. Bis zum Herbst 1777 blieb Alles still, und L. sah sich schon nach einer theatralischen Arbeit für sich oder für Bruder Karl um, Calderons Alcalden von Zalamea, der sich nach seiner Meinung vollkommen verdeutschen, etwas mehr als übersetzen, ließe. Da erschienen kurz nach einander die ersten Gegenschriften gegen die Fragmente, des hannoverschen Schuldirectors J. D. Schumann Abhandlung Ueber die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion und des Wolfenbüttler Superintendenten J. H. Reß anonym herausgegebene Vertheidigung der Auferstehungsgeschichte gegen das letzte Fragment. Dem ersten setzte er sofort die beiden Bogen „Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft“ und „Das Testament Johannis“ entgegen, jenen, noch mit der Hochachtung, welche Untersucher der Wahrheit gegen einander zu tragen sich nie entbrechen, diesen, in schrofferem Tone die Möglichkeit der christlichen Liebe ohne den christlichen Glauben vertheidigend. Der zweite störte ihn bei der Bearbeitung seiner „Neuen Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtschreiber betrachtet“, welche die drei synoptischen Evangelien aus einem hebräischen Urevangelium der Nazarener ableiten, und die Aufnahme der beiden letzten in den Kanon mit dem Bedürfniß, die Lücke zwischen dem Matthäusevangelium des Fleisches und dem Johannesevangelium des Geistes auszufüllen, erklären wollte. Diesem antwortete er auf seinen ziemlich schwachen harmonistischen Versuch, den er sarkastisch als Replik gegen die Evangelisten mit der Anklage des Ungenannten auf eine Stufe stellte, durch „Eine Duplik“, gelassen anfangend, aber höhnisch endigend. Der Schluß der Duplik war eben schon in der verbitterten Stimmung geschrieben, in welcher nach Eva’s Tode ein guter Vorrath vom Laudano litterarischer und theologischer Zerstreuungen ihm einen Tag nach dem andern schon ganz leidlich überstehen helfen sollte. An solchem Vorrath sollte es ihm nicht fehlen, denn mit dem neuen Jahre erschien die ganze theologische Welt auf dem Kampfplatz, um in mehr als 30 Schriften den Ungenannten zu widerlegen, oder seinen Herausgeber wegen des gegebenen Aergernisses zur Rechenschaft zu ziehen. Der Einzige unter diesem Heere von Gegnern, der die Fragmente selbst als lauteste Lästerung von vornherein beiseite schob und sich ausschließlich gegen Lessing’s Gegensätze wandte, war eben Goeze. L., ebenso erbittert durch das wegwerfende Urtheil über den Fragmentisten, als durch den Angriff auf sein zweideutiges Verhältniß zu demselben, eröffnete sofort nach Vollendung seiner Duplik ein mörderisches Feuer aus allen Batterieen auf den unbequemen Feind, der den schwachen Punkt seiner Stellung instinctiv erkannt [795] hatte. Nirgends hat er eine solche Feinheit der Dialektik, nirgends einen solchen Reichthum an Darstellungsformen, nirgends eine solche Kraft und Schönheit der Sprache gezeigt, als in den Streitschriften gegen Goeze, den er als Typus aller Geistesbeschränktheit und Wissenschaftsfeindschaft vernichten wollte. Wie die Schneeflocken flogen sie heraus gegen den streitbarsten Theologen, der den Namen hatte, noch nie seinem Gegenpart das letzte Wort gelassen zu haben. Mitte März antwortete er zweifach auf die beiden ersten Zeitungsartikel Goeze’s durch „Eine Parabel, nebst einer kleinen Bitte und einem eventualen Absagungsschreiben“ und „Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen gibt“, und schickte, eine dritte Recension aus den freiwilligen Beiträgen unbesehens auf Goeze’s Rechnung setzend, seinen ersten „Anti-Goeze“ nach, der schon auf dem Titel als erster nothgedrungener Beitrag zu den freiwilligen Beiträgen des Herrn Pastor Goeze bezeichnet war. Als darauf Goeze seine beiden Aufsätze mit sechs andern Anfangs April unter dem Titel „Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofraths Lessing’s mittelbare und unmittelbare Angriffe auf unsere allerheiligste Religion und auf den einigen Lehrgrund derselben, die heilige Schrift“ herausgab, folgten im schnellsten Tempo bis Anfang Juli noch zehn Anti-Goezen und dazwischen Ende Mai das früher noch zurückgehaltene Dreisteste und Stärkste aus Reimarus’ Manuscripten, „Vom Zweck Jesu und seiner Jünger“. Dann legte sich die braunschweigische Regierung ins Mittel, confiscirte die gedruckten Fragmente und Lessing’s Streitschriften, forderte L. die Reimarische Handschrift mit allen etwaigen Abschriften ab und entzog ihm die Censurfreiheit. Inzwischen hatte Goeze auch in einzelnen Heftchen „Lessing’s Schwächen“ zu zeigen angefangen, deren drittes und letztes Stück erst Mitte August herauskam, und L. bemühte sich daher angelegentlich um die Erlaubniß, seine antigoezischen Blätter fortsetzen zu dürfen, nachdem er schon gegen das Verbot als Entgegnung auf das zweite Stück seine „Nöthige Antwort auf eine sehr unnöthige Frage des Herrn Hauptpastor Goeze“ in Berlin und Hamburg hatte drucken lassen. Als der Herzog es bei seiner ersten Resolution bewenden ließ und nicht gestatten wollte, daß L. in Braunschweig oder auswärts, unter eigenem oder angenommenen Namen, etwas in Religionssachen drucken ließe ohne vorherige Genehmigung des Ministeriums, trotzte dieser allerdings noch einmal dem Verbot mit der Ersten Folge seiner nöthigen Antwort, die ebenfalls in Hamburg gedruckt wurde, hatte aber schon einen anderen Weg, den Theologen einen Possen zu spielen, gefunden. Er wollte versuchen, ob man ihn auf seiner alten Kanzel, auf dem Theater, wenigstens noch ungestört wollte predigen lassen, und hatte bereits am 8. August die Ankündigung seines Nathan, der zur Ostermesse 1779 auf Subscription erscheinen sollte, in die Welt geschickt. Damit ebbte die Hochfluth leidenschaftlichster Polemik gegen den einen Mann ab; der hitzige Ton der Anti-Goezen, der schon in den beiden folgenden Bogen um ein weniges gemildert war, verstummte; aber zu einer unparteiischen Würdigung Goeze’s ist L. nie gekommen. Er hat im Gegentheil dadurch, daß er dem Patriarchen im Nathan eine Menge von Worten Goeze’s in den Mund gelegt, das Bild eines bornirten, heuchlerischen Pfaffen, unter dem er ihn in den Streitschriften dargestellt hatte, als ein treues festzuhalten gesucht und hat noch im December 1779 in der „Noch näheren Berichtigung des Märchens von 1000 Ducaten oder Judas Ischarioth dem Zweiten“, mit welcher er unter der Chiffre seines Stiefsohns die abgeschmackte Behauptung eines Wiener Blattes, die Amsterdamer Juden hätten ihm für die Bekanntmachung der Fragmente ein reiches Geldgeschenk gemacht, und die noch ärgere Berichtigung desselben Blattes zurückwies, eine früher von ihm schon angedeutete Beschuldigung gegen Goeze erneuert, die ihm keine Ehre macht. Mag man dem Meister der Disputirkunst noch so viel zu gute halten, daß er die Waffen nach [796] seinem Gegner richtet und manches gymnastisch schreibt, was er dogmatisch nicht schreiben würde; daß er in den Schnurren seiner theologischen Katzbalgerei mit klugberechneter Taktik sich in Posituren setzt und Evolutionen macht; daß er Goeze’s wiederholte berechtigte Frage nach seinem eigenen Glaubensbekenntniß geflissentlich ignorirt; selbst daß er der Möglichkeit eines Einschreitens des Reichshofraths gegenüber versucht, wie Paulus das Synedrium zu trennen und sich auf die Confinien der katholischen und der protestantischen Kirche zurückzieht: die Insinuation, es sei Goeze um sein einträgliches Pastorat zu thun gewesen, die Wiederholung des elenden Klatsches, er habe seine Herren Collegen aus brüderlicher Liebe ewig schlafen machen, und die Behauptung, Goeze’s Angriff sei durch eine 1774 vorgekommene Ungefälligkeit des undienstfertigen Wolfenbüttler Bibliothekars veranlaßt, der nun durchaus auch als der ruchloseste hätte geschildert werden müssen, konnte er nicht gut machen und mit dem Namen einer zwar ungesitteten, aber nicht unmoralischen Kampfesweise decken, oder für gerechte Abwehr eines unverdienterweise der Irreligion Bezichtigten ausgeben. So mangelhaft Goeze’s Apologetik war, in wissenschaftlicher Beziehung wegen seines Gebundenseins an die crudeste Lehre von der Verbalinspiration der Schrift und der von allen seinen Zeitgenossen, L. selbst nicht ausgeschlossen, getheilten Anschauung, die christliche Wahrheit sei eine rein erkenntnißmäßig darzustellende Lehre; in formaler Beziehung wegen des nur mitunter glücklichen Versuches die Sprache des Gegners zu reden und statt des ruhigen und würdigen Tones einen spottenden und satirischen anzuschlagen: seine Ehrlichkeit, mit der er für sein Heiligthum stritt, hätte von L. nie in Zweifel gezogen werden sollen. Daß er L. Religion abgestritten hätte, ist bekanntlich auch nur eine gymnastische Behauptung Lessing’s, um das schöne Pathos zu rechtfertigen, mit dem er es sich verbittet, aus seines Vaters Hause geworfen zu werden; daß dem christlichen Nichtchristen, wie Hebler L. mit einem geistreichen Paradoxon genannt hat, mit Unrecht Angriffe auf die christliche Religion vorgeworfen wären, oder daß er das Recht gehabt hätte zu versichern, er meine es mit der christlichen Religion besser als Goeze, glaubt Niemand, der auch nur Lessing’s eigene Erklärung des Begriffs „christliche Religion“ annimmt.

L. hat seine religionsphilosophischen Anschauungen, die er im Streit mit Goeze deutlich auszusprechen vermieden hat, weil er bei der Herausgabe der Fragmente einmal die Stellung genommen hatte, weder sich von Reimarus entschieden loszusagen, noch dessen Sache entschieden zu der seinigen zu machen, nie in ein System gebracht. Seiner selbständigen und kritischen Natur widerstrebte es ebenso sehr, dem System eines anderen unbedingt sich anzuschließen als vorschnell mit der eigenen Speculation abzuschließen. Tausenden für einen ist nach seiner Meinung das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden sind; er mochte lieber allerlei Hypothesen machen, um das Vergnügen zu haben sie wieder einzureißen. Indessen liegen die Grundzüge seiner Weltanschauung, wie er sie unter eifrigem Studium des Leibniz und des Spinoza gewonnen, in seinen letzten Schriften, dem dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“ (1779), den „Gesprächen für Freimäurer, Ernst und Falk“ (1778 und 1780) und der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780, nachdem §§ 1–53 schon 1777 in den Gegensätzen zum vierten Fragment gedruckt waren) hinlänglich klar zu Tage. Nathans Gesinnung gegen alle positive Religion ist, wie er selbst erklärt, von jeher die seinige gewesen. Die geoffenbarten Religionen sind ihm alle gleich wahr und gleich falsch: gleich wahr, insofern sie die Vernunftwahrheiten der natürlichen Religion in sich schließen, welche die Menschen durch die Offenbarung wie das vorausgesagte Facit eines Rechenexempels nur früher erhalten haben, als sie durch eigene Vernunft sie gefunden haben würden; gleich [797] falsch, insofern sie, als fertige, übernatürliche Wahrheit geglaubt, die nothwendige Ausbildung der offenbarten Wahrheiten zu Vernunftwahrheiten hindern, ruhig, träge und stolz machen, die Bethätigung des Testaments Johannis in brüderlicher Liebe und Toleranz stören. In der Umdichtung der alten, von L. aus Boccaccio’s dritter Novelle entlehnten Ringfabel sind die Ringe alle drei unecht; der echte, der die Kraft besaß vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug, ist vermuthlich verloren gegangen; aber die Besitzer der unechten Ringe können durch ihr sittliches Streben jeder in seinem Ring die Kraft des Steines an den Tag legen. Die positiven Religionen gründen sich alle auf Geschichte, aber die muß auf Treu und Glauben angenommen werden, und zufällige Geschichtswahrheiten können nie der Beweis positiver Vernunftwahrheiten sein. Der einzige Werth, der ihnen zukommt, ist der pädagogische; nach den Gesetzen einer höheren Haushaltung sind sie nur Erziehungsstufen: wie das Judenthum eine Vorstufe des Christenthums ist, so dieses wieder nur eine Vorstufe zu der Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, da der Mensch das Gute thun wird, weil es das Gute ist. Das Ideal, das durch die göttliche Erziehung verwirklicht werden soll, ist eine Verbindung gemeinschaftlich sympathisirender Geister, die ausschließlich der Vernunft und dem Sittengesetz in der eigenen Brust folgen. Nicht die Seligkeit schlechthin, sondern die Seligkeit durch Erleuchtung ist das letzte Ziel, das jeder erreichen soll; weil der einzelne nicht in demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen sein und sie beide überholt haben kann, wird sogar die Hypothese gewagt, daß er auf dem Wege der Seelenwanderung schließlich zur Vollendung gelangt. Die christliche Religion ist dabei nicht mehr, wie Reimarus wollte, ein Werk des frommen Betruges, aber doch ein menschlicher Irrthum, bei dem Gott seine Hand im Spiele gehabt hat, und der desto früher antiquirt wird, je schneller die Menschheit an seine Stelle die Religion Christi setzt. Eine solche vernünftige, sittlich autonome Verbindung von edlen Menschen, die durch ihre Geburt den verschiedenen positiven Religionen angehören, aber sich über die Fesseln derselben zu der allgemeinen Vernunftreligion emporgeschwungen haben, schildert er poetisch in den Hauptpersonen seines Nathan; schließlich finden sich alle als Glieder einer großen Familie wieder und heben sich hell ab von den in den Schranken ihrer ererbten Väterreligion zurückgebliebenen Tröpfen und Schurken. Die scheinbare Ungerechtigkeit, daß diese dunkle Gruppe sich ausschließlich aus Christen zusammensetzt, ist nicht bloßer Nachhall der vorausgegangenen bitteren Polemik, ist auch nicht, wie die ungedruckte Vorrede zur Rechtfertigung der poetischen Schicklichkeit geltend macht, durch die Thatsache bedingt, daß zur Zeit der Kreuzzüge Juden und Muselmänner die einzigen Gelehrten gewesen, sondern ist nothwendige Consequenz der Grundanschauung, daß das Christenthum mit Unrecht den Anspruch erhebe, die Weltreligion zu sein und auf eine Höhe zu führen, von der es kein Weitersteigen, sondern nur ein Herabsinken gibt.

L. nennt seinen Nathan in den Begleitzeilen, mit denen er das Anfang Mai 1779 im Druck vollendete Stück Fr. H. Jacobi zuschickt, den Sohn seines eintretenden Alters, den die Polemik entbinden helfen. Geboren hat diese ihn nicht, sondern nur zu Tage gefördert, was vor vielen Jahren schon entworfen war, als sich ihm unwillkürlich alles, was seinen Geist beschäftigte, zum dramatischen Plan gestaltete. Es ist keine Spur dieses ältesten Entwurfs erhalten, von dem als ausgemacht gelten kann, daß er seiner ersten Berliner Zeit, als er die Rettung des Cardanus schrieb, angehört. Auch von einer viel jüngeren Wiederaufnahme des Plans ist nichts übrig geblieben als sein eigenes Zeugniß, das er gleich nach seiner Rückkehr aus Italien ihn habe vollends ins Reine bringen und drucken lassen wollen. Was als erster Entwurf aus seiner Handschrift [798] gedruckt ist, gehört schon zur wirklichen Ausführung: es ist das Scenarium, nach welchem er im Winter 1778 auf 1779 arbeitete, ohne sich streng an dasselbe zu binden. Mitte November stand ihm auch die Form fest; zu der so glücklich getroffenen orientalischen Lokalfarbe, zu dem sentenziösen Ton, in den er seine tiefsten Gedanken kleiden, zu der milden Heiterkeit, die er über das ganze Stück ergießen wollte, paßte nicht die epigrammatische Prosa seiner Emilia. Mit sicherem Schönheitsgefühl verschmähte er die Ramler’schen Trimeter mit eingestreuten Anapästen und wählte den früher schon versuchten fünffüßigen Jambus, dessen Verwendbarkeit für diesen besonderen Zweck Gleim’s Halladat erst wieder gezeigt hatte, und der durch ihn als der gegebene Vers für das höhere Drama auch in Deutschland fest eingebürgert worden ist. Die Gefahr, daß neue quälende Sorgen, die ihn in Folge des Todes seiner Frau bedrängten, die Ausführung des Werkes hemmen könnten, beseitigte die Hilfsbereitschaft seines alten Bekannten Moses Wessely, der durch einen Vorschuß ihn der verhaßten Nothwendigkeit überhob, sich durch Pränumeration die Gemächlichkeit zur Arbeit zu verschaffen, und das bittere Gefühl des freundlosen Verlassenseins, das ihm im Sommer ergreifende Klagen ausgepreßt hatte, wich wieder einer ruhigeren Seelenstimmung, seit er im Herbst vier Wochen mit seinem Malchen in Hamburg zugebracht hatte, wo ihm statt der mißtrauischen Kälte und des verläumderischen Klatsches seiner Wolfenbütteler Umgebung im Kreise alter und neuer Freunde die herzlichste Liebe entgegengetragen war. Bei dem in diesen Wochen beschafften Druck seiner drei ersten Freimaurergespräche hatte er sich wieder eingelebt in den schönen Traum von dem alle Nationen und Religionen umschlingenden Liebesband und war mitten in dem Ideenkreise, der sein Drama erfüllen sollte. Eine bei ihm selten hervortretende Wärme des Gefühls, wie er sie nicht einmal in den vertrautesten brieflichen Aeußerungen zu zeigen pflegte, durchdrang das neue Stück, das so rührend werden sollte, als er nur immer eins gemacht hatte. Die Züge, die er von sich selbst, von seiner Eva und ihrer ältesten Tochter, von Moses Mendelssohn und dessen Hausgenossen, dem jüdischen Mathematiker Abraham Wolf, seinen Hauptpersonen lieh, gaben ihnen ein frisches Leben, eine Naturwahrheit, deren poetischer Zauber auch die gefangen nimmt, die der Tendenz des Stücks nicht zustimmen können, weil ihnen Humanität und Toleranz aus dem biblischen Christenthum fließen, nicht mit demselben contrastiren. Beim letzten Akte noch drohte seiner Dichtung eine Störung, die ihr leicht hätte verhängnißvoll werden können, weil sie ihm die zum Versmachen so nöthige gute Laune gründlich trübte: Semler’s Beantwortung der Fragmente mit dem skurrilen Anhang, der den Herausgeber des Ungenannten ins Tollhaus verwies. Aber er überwand um seines Dramas willen seinen Zorn über die impertinente Professorgans, den Schubiack, dem er mit einem Briefchen aus Bedlam heimzuleuchten sich vorbehielt, wie er denn auch noch „Sogenannte Briefe an verschiedene Theologen, denen an meinen theologischen Streitigkeiten Antheil zu nehmen beliebt“, plante, deren erste Abtheilung Briefe an Walch gegen dessen Kritische Untersuchung vom Gebrauch der heiligen Schrift unter den alten Christen in den ersten vier Jahrhunderten enthalten, deren zweite sich unter Anderen mit Leß und Reß beschäftigen sollte. Größere und kleinere Fragmente davon haben sich in seinem Nachlaß gefunden und sind zuerst von seinem Bruder herausgegeben.

Zunehmende körperliche Leiden, eine krankhafte Schlafsucht, die ihn sogar mitten im lebhaften Gespräch mit guten Freunden befiel, und eine in gesteigertem Maße wiederkehrende Augenschwäche ließen L. nicht mehr zur Vollendung einer neuen Arbeit kommen. Er wollte zum Nathan noch ein Nachspiel „Der Derwisch“ schreiben und demselben verschiedene Erläuterungen nebst einer Abhandlung über dramatische Interpunktion anhängen; er plante eine Tragödie „Der fromme [799] Samariter“, in welcher Levit und Priester eine gar brillante Rolle spielen sollten; er arbeitete eine Zeit lang an der Ausführung eines älteren Entwurfs, „Der Tod Neros“; ja er versprach sogar der neuen Hamburger Theaterleitung, für die sich die Familie Reimarus lebhaft interessirte, den alleinigen Gebrauch von zwei jährlich zu liefernden neuen Stücken und fing eine Neubearbeitung des London Prodigal für sie an, nachdem er im October 1780 noch einmal auf drei Wochen zum Besuch in Hamburg gewesen war. Von allen diesen Entwürfen hat sich nichts erhalten; man kennt sie nur aus seinem Briefwechsel. Kurz vor Weihnachten, als das letztgenannte Stück schon fertig sein sollte, klagte er seinem Moses, er sei ehemals ein gesundes schlankes Bäumchen gewesen und sei jetzt ein so fauler knorrichter Stamm. Nathan sollte das letzte Werk bleiben, das er zu Ende brachte; die später veröffentlichte Fortsetzung von Ernst und Falk und die Erziehung des Menschengeschlechts waren beide vor dem Nathan geschrieben.

Von „Ernst und Falk“ stammt gerade das letzte Gespräch, das den Ursprung des Freimaurerordens untersucht und ihn, in freilich unhaltbarer Weise, von einer Templermasonei herleiten will, wie der erhaltene erste Entwurf beweist, seinem Inhalte nach aus Lessing’s Hamburger Zeit, als er selbst der Brüderschaft noch gar nicht beigetreten war. Die ernste Warnung seines Freundes Bode vor jedem Versuch über Freimaurerei zu schreiben, ohne die Geheimnisse des Bundes zu kennen, war für ihn Veranlassung gewesen, die von einem anderen Logenmeistet ihm angetragene Mitgliedschaft anzunehmen. Er ist am 14. October 1771 unter der Pathenschaft des befreundeten Münzmeister Knorre vom Freiherrn v. Rosenberg in die Hamburger Loge Zu den drei Rosen historisch recipirt, hat also mit dem ersten Schritt den höchsten der Johannisgrade erreicht. Die Geheimnisse der Schottengrade haben ihn nie gereizt; er theilte nach seiner Aufnahme die Gefühle des in seinen Erwartungen betrogenen Ernst und konnte durch die versuchte Bevormundung des Großmeisters v. Zinnendorf (J. W. Ellenberger) nur abgestoßen werden. Die handschriftlichen Quellen, aus denen Guhrauer die Behauptung schöpfte, das System der Rosenloge habe gerade damals die größten Intelligenzen in seiner Mitte gehabt, sind sicherlich trübe gewesen, denn es ist unschwer nachzuweisen, daß die von ihm genannten Brüder erst später, zum Theil gerade durch Lessing’s Namen angelockt, sich dem Bunde angeschlossen haben. Die Loge hat für L. keine Anziehungskraft gehabt; in die das ganze letzte Jahrzehnt seines Lebens ausfüllenden Kämpfe der verschiedenen Observanzen hat er nie handelnd eingegriffen, die in seiner unmittelbaren Nähe abgehaltenen Convente nie besucht; seine Stellung zu den streitenden Parteien war dieselbe wie die zu den Orthodoxen und Neologen der lutherischen Kirche; mit beiden unzufrieden blieb er auf seinem Hügel für sich allein und stellte ihren Systemen sein Idealbild der echten Freimaurerei gegenüber. Wie sich die divergirenden Richtungen des Ordens mit seinen Ideen heutzutage abfinden, da man hüben und drüben im Wesentlichen auf ihn schwören will, ist dem Uneingeweihten natürlich verborgen. L. hatte die ersten drei Gespräche dem alten Herzog Ferdinand (s. Bd. VI S. 682), dem Sieger von Crefeld und Minden, gewidmet, in dessen Hand damals die Oberleitung aller Logen von der strikten Observanz lag, und demselben versprochen die folgenden nicht ohne sein Vorwissen herauszugeben. Inzwischen waren diese, die nachweislich im März 1779 schon in letzter Redaction fertig vorlagen, in der Handschrift befreundeten Maurern mitgetheilt worden. Ob durch eine Indiskretion 1780 die Veröffentlichung herbeigeführt wurde, oder ob das „Vorwort eines Dritten“, eines angeblichen Nichtmaurers, nur als Maske von L. gebraucht ist, um eine Verletzung des ihm wohlgewogenen Fürsten, den er manchmal in Vechelde besuchen durfte, zu vermeiden, wird schwerlich mit Sicherheit aufgeklärt [800] werden. Die seltsame Streitfrage dagegen, die von Körte in Beziehung auf den Autor der „Erziehung des Menschengeschlechts“ erhoben worden ist, kann nachgerade als definitiv entschieden gelten. Wer noch im Stande wäre sich den zwingenden inneren Gründen zu verschließen, die den Gedanken an einen anderen Verfasser als L. eigentlich gar nicht hätten aufkommen lassen dürfen, der muß auf die Quelle der Körte’schen Vermuthung selbst, die Bekenntnisse Albrecht Thaer’s für seine Braut Philippine v. Willich, verwiesen werden, aus deren Wortlaut nichts anderes herausgelesen werden kann, als daß Thaer in jugendlicher Eitelkeit und Ruhmredigkeit das erste Fragment des Ungenannten Von Duldung der Deisten für die Umarbeitung eines von ihm 1773 verfaßten freidenkerischen Aufsatzes gehalten hat. Auf die Erziehung des Menschengeschlechts paßt von seiner ganzen Erzählung kein Wort, und Lessing’s alleinige Verfasserschaft, die er selber bekanntlich auch nirgends in Abrede gestellt hat, ist nicht in Zweifel zu ziehen, natürlich mit der Einschränkung, daß er den auf dem Titel gegebenen Begriff nicht erfunden, sondern von den alten Kirchenvätern, etwa von Tertullian, entlehnt hat, wie er sich für sein neues ewiges Evangelium auf Joachim von Floris und dessen Nachfolger beruft. Bedeutsamer ist der andere Streit, der sich an das merkwürdige Büchlein knüpft, ob in Lessing’s Ueberzeugungen sich noch zuletzt eine Umwandlung vollzogen habe. Sonderbarerweise ist eine solche Umwandlung nach diametral entgegengesetzten Richtungen behauptet worden. Auf der einen Seite hat man in der Erziehung des Menschengeschlechtes eine Umkehr von den im Nathan ausgesprochenen Ideen zu einer dem positiven Christenthum freundlicheren Anschauung finden wollen; auf der anderen hat man aus seiner vielbesprochenen Unterredung mit Fr. H. Jacobi, der ihn im Juli 1780 besuchte, geschlossen, er sei zuletzt ein entschiedener Spinozist geworden. Weder die eine noch die andere Ansicht läßt sich halten. Die poetische Darstellung der kleinen vernünftigen Gemeinde im Nathan, die über den Offenbarungsglauben schon hinaus ist oder hinausgehoben wird, und die durch die Tendenz des Stückes gebotene Betonung der Schlechtigkeit oder Dummheit derer, die auf der niedrigeren Stufe verharren wollen oder müssen, steht durchaus in keinem Widerspruch mit den ohne dichterische Hülle aufgestellten Sätzen aus der Erziehung des Menschengeschlechts, die überdies früher geschrieben sind als der Nathan, also, die Unvereinbarkeit mit dem Nathan angenommen, nicht auf eine Umkehr, sondern auf eine noch weitere Entfernung von einer gerechten Würdigung des Christenthums schließen lassen müßten. Was aber die Behauptung von Lessing’s Spinozismus angeht, so darf wol als ausgemacht gelten, daß ohne Jacobi’s Erzählung kein Mensch L. nach seinen Schriften für einen Anhänger Spinoza’s ausgegeben haben würde. Man braucht darum gar nicht anzunehmen, Jacobi habe sich verhört; er hat nur seine eigene Situation in dem Gespräch nicht begriffen: L., der den Spinoza genau kannte und richtig verstand, hat vor dessen absolut freiem Standpunkt und wissenschaftlicher Methode eine so hohe Achtung gehabt, daß er es müde war, von ihm wie von einem todten Hunde reden zu hören, und hat seine Freude daran gefunden, mit unverkennbarem Humor Jacobi über den Spinoza auszuholen, statt sich von ihm ausholen zu lassen, indem er ihn durch allerlei verfängliche Redewendungen zum Widerlegen von Spinoza’s System zu reizen suchte. Unseres Erachtens hat sich Lessing’s Weltanschauung in ihren Grundzügen nicht wesentlich verändert, seit er in seinen Jünglingsjahren sich von dem Glauben des Vaterhauses klüglich zweifelnd abgewandt hatte. Er hat sie, rastlos nach Wahrheit strebend, mit den Jahren vertieft und sein Leben lang die Frage nicht aus den Augen verloren, was in der Sache des Christenthums ausgemacht sei. Gleich feind den Spöttereien der Berliner Franzosen, der flachen Inconsequenz des vulgären Rationalismus und [801] der drohenden Stagnation in der alten abgelebten Orthodoxie hat er als ein ganzer Mann seinen eigenen Weg gesucht, Irrthümer bekämpfend, zu tieferer Erfassung der Wahrheit anregend, auch wo er selbst irrte, für die Vernunft neue Richtungsstöße gebend. Wer wie Claudius sein Credo nicht annehmen kann, aber seinen Kopf hoch hält, weiß auch, warum ihm das Abtragen des alten Hauses besser gelungen ist als das Aufführen des Neubaues. L. will den frommen Christen über die Hypothesen und Beweise seines Ungenannten mit dem schönen Wort beruhigen: „Wenn der Paralytikus die wohlthätigen Schläge des elektrischen Funkens erfährt, was kümmert es ihn, ob Nollet oder ob Franklin, oder ob keiner von beiden Recht hat?“ Er selbst hat sich nie als Paralytikus gefühlt, also die Erfahrung der wohlthätigen Schläge nicht machen können und darum den Glauben an die Realität des elektrischen Funkens verloren.

Zu Ende des Jahres 1780 fühlte L. sich kränker als je. Um sich zu zerstreuen ging er nach Braunschweig hinüber, wo er seit Jahren im Hause des ihm befreundeten Weinhändlers Angott am Aegidienmarkt ein ständiges Absteigequartier gemiethet hatte. Am 3. Februar 1781 kam er höchst engbrüstig aus einer Gesellschaft nach Hause, wollte am anderen Tage nach Wolfenbüttel zurückkehren, ließ sich aber von den Freunden bereden zu bleiben, einen Arzt zu consultiren und seine Stieftochter herüberkommen zu lassen. Ohne ans Krankenlager gefesselt zu werden konnte er den Besuch von Bekannten empfangen und sich vorlesen lassen, obwol die Anfälle sich häufiger wiederholten. Am 15. Februar hatte er sich besonders wohl gefühlt, aber am Abend dieses Tages endete ein Schlagfluß, ihm und den Seinigen gleich unvermuthet, sein Leben. Der Herzog Karl Wilhelm Ferdinand sorgte für seine Bestattung auf dem Magnikirchhof, die am 20. in würdiger Weise veranstaltet ward.

Hier ist kein Raum aus den zahllosen Schriften über Lessing’s Leben und Werke auch nur das Bedeutende anzuführen; statt dessen mögen diese Skizze die Worte dreier Männer beschließen, die dem Geschiedenen gleich nach seinem Hingang nachgerufen sind. Moses Mendelssohn schrieb gleich nach Empfang der Todesbotschaft an Karl Lessing voll bewundernder Liebe: „Fontenelle sagt von Copernicus: er machte sein neues System bekannt und starb. Der Biograph Ihres Bruders wird mit eben dem Anstande sagen können: er schrieb Nathan den Weisen und starb. Von einem Werke des Geistes, das ebenso sehr über Nathan hervorragte als dieses Stück in meinen Augen über alles, was er bis dahin geschrieben, kann ich mir keinen Begriff machen. Er konnte nicht höher steigen, ohne in eine Region zu kommen, die sich unseren sinnlichen Augen völlig entzieht, und dies that er. Nun stehen wir da, wie die Jünger des Propheten und staunen den Ort an, wo er in die Höhe fuhr und verschwand.“ Lakonisch, aber nachdrücklich mit wenigen Worten den Mann würdigend, den er gerade damals zu besuchen geplant hatte, schrieb Goethe in denselben Tagen an Frau v. Stein: „Wir verlieren viel, viel an ihm, mehr als wir glauben.“ Und enthusiastisch ruft Herder ihm nach: „Wo bist Du nun, edler Wahrheitsucher, Wahrheitkenner, Wahrheitverfechter – was siehest, was erblickst Du jetzt? Dein erster Blick, den Du über die Grenzen dieser Dunkelheit, dieses Erdennebels hinwegwarfst, in welch’ anderem, höheren Lichte zeigte er Dir alles, was Du hienieden sahest und suchtest? Wahrheit forschen, nicht erforscht haben, nach Gutem streben, nicht alle Güte bereits erfaßt haben, war hier Dein Blick, Dein strenges Geschäft, Dein Studium, Dein Leben. Augen und Herz suchtest Du immer wach uns wacker zu erhalten und warst keinem Laster so feind als der unbestimmten, kriechenden Heuchelei, unserer gewohnten täglichen Halblüge und Halbwahrheit, der falschen Höflichkeit, die nie dienstfertig, der gleißenden [802] Menschenliebe, die nie wohlthätig sein will oder sein kann; am meisten (Deinem Amt und Beruf nach) der langweiligen, schläfrigen Halbwahrheit, die wie Rost und Krebs in allem Wissen und Lernen von frühauf an menschlichen Seelen naget. Dies Ungeheuer und ihre ganze fürchterliche Brut gingst Du wie ein Held an und hast Deinen Kampf tapfer gekämpfet. Viele Stellen in Deinen Büchern, voll reiner Wahrheit, voll männlichen, festen Gefühls, voll goldener ewiger Güte und Schönheit, werden, so lange Wahrheit Wahrheit ist und der menschliche Geist das, wozu er erschaffen ist, bleibet – sie werden aufmuntern, belehren, befestigen und Männer wecken, die auch wie Du der Wahrheit durchaus dienen: jeder Wahrheit, selbst wo sie uns im Anfange fürchterlich und häßlich vorkäme; überzeugt, daß sie am Ende doch gute, erquickende, schöne Wahrheit werde. Wo Du irrtest, wo Dich Dein Scharfsinn und Dein immer thätiger, lebendiger Geist auf Abwege lockte, kurz, wo Du ein Mensch warst, warst Du es gewiß nicht gern und strebtest immer ein ganzer Mensch, ein fortgehender zunehmender Geist zu werden.“


[756] *) Zu Bd. XVIII S. 448.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. Lessing, Karl Gotthelf XIX 757 Z. 25 v. u. l.: könne. Er starb 1812 in Breslau. [Bd. 56, S. 398]
  2. S. 759. Z. 1 v. o.: sein erstes Gedicht (1743) veröffentlichte Distel im Dresdner Anzeiger Nr. 184 (3. Juli) 1893, S. 4 Sp. 3, vgl. auch dessen Nachtrag ebenda Nr. 221 (9. Aug.) 1893, S. 17 Sp. 2/3. [Bd. 45, S. 669]