ADB:Sonnenfels, Josef von
Lipmann Perlin (Bernhard), ein vielseitiger Gelehrter und gründlicher Kenner der semitischen Sprachen, wandte sich von Berlin nach Eisenstadt in Ungarn und 1733 als Lehrer des Hebräischen nach Nikolsburg in Mähren. Hier wurde 1733 Joseph, 1735 dessen Bruder Franz Anton († 1806) geboren. Mit den beiden Söhnen trat Lipmann Perlin zwischen 1735 und 1741 zum Katholicismus über, wahrscheinlich in Wien, und führte nun den Namen Alois Wiener. Nachdem er aber 1745 als Magister der orientalischen Sprachen an die Universität übergesiedelt war und gelegentlich auch für den Hof Uebersetzungen aus denselben angefertigt hatte, wurde er auf sein Ansuchen im September 1746 in den erblichen Adel mit dem Prädicate v. Sonnenfels erhoben (1757 Dolmetsch für die hebräischen Documente bei der niederösterreichischen Regierung, † 1768). Joseph, mit einem glücklichen Gedächtniß begabt und durch Lese- und Lerneifer ausgezeichnet, besuchte die Klosterschule der Piaristen zu Nikolsburg und beschloß seine Gymnasialstudien 1746 zu Wien. Flüchtig dachte er daran, Mönch zu werden, gab diese Absicht aber in den folgenden Jahren, während mißliche Vermögensverhältnisse ihn zur Unterbrechung des Studiums zwangen, bald wieder auf. 1749 trat er als Gemeiner in das Regiment Deutschmeister, in welchem er etwa nach Jahresfrist zum Corporal vorrückte. Mit seinem Regimente lag er abwechselnd in Klagenfurt, in verschiedenen steyrischen Orten, in Feldkirchen, seit 1752 in Böhmen, seit 1754 in Ungarn. Die Ruhezeit zwischen den großen Exercierlagern benutzte er, um sich verschiedene Sprachen (darunter Französisch, Italienisch, Böhmisch) anzueignen und seine Kenntnisse auch sonst nach Kräften zu erweitern. Regelrecht konnte er sein Studium erst wieder fortsetzen, als sich 1754 die pecuniäre Lage seines Vaters gebessert und die Fürsprache einflußreicher Gönner, besonders des Grafen Johann Karl v. Dietrichstein, dem wißbegierigen Jünglinge den Austritt aus dem Soldatenstande ermöglicht hatte. Er studirte nun in Wien die Rechtswissenschaft und trieb daneben bei seinem Vater Hebräisch, trat auch schon 1757 in lateinischer Sprache als juristischer Schriftsteller und 1758 als biblischer Exeget hervor und wurde zum Adjunct seines Vaters beim Uebersetzen hebräischer Schriften für die niederösterreichische Regierung ernannt. Nach Abschluß der Universitätsjahre arbeitete er auch (unentgeltlich) in der Kanzlei eines beschäftigten Advocaten. Sein innigstes Streben aber, für Hebung der deutschen Sprache und Litteratur in Oesterreich zu wirken, konnte er vorläufig nur wenig verwirklichen, am ersten noch als Mitglied und Vorstand der „Deutschen Gesellschaft“ in Wien, als welcher er 1761 und 1762 mehrere auch im Auslande beifällig aufgenommene Reden hielt und in kritischer oder satirischer Weise litterarisch [629] thätig war. Seine Bewerbungen um eine Lehrstelle für deutsche Litteratur blieben aber zunächst ohne Erfolg. Um nicht länger dem Vater zur Last zu fallen, trat er am 1. Mai 1761 die neugeschaffene Stelle eines Rechnungsführers oder Fouriers bei der Arcierengarde an. Aber er bekleidete den untergeordneten Posten nicht einmal zwei Jahre lang. Durch den Staatsrath Freiherrn v. Borié wirksam empfohlen, durfte er sich schon seit Ende 1762 auf eine neu zu begründende Professur an der Wiener Universität für Polizei- und Cameralwissenschaften vorbereiten, bis er im November 1763 dieses Amt selbst antrat. Noch in demselben Jahre verheirathete er sich mit Josepha Therese v. Hay, Tochter eines Oberamtmannes zu Fulnek in Mähren († am 15. Mai 1820); die sonst glückliche Ehe blieb kinderlos. In seinem Berufe verfaßte er neben kleineren Untersuchungen („Vom Zusammenflusse“ 1764; „Betrachtungen über die neuen politischen Handlungsgrundsätze der Engländer“ 1764; „Von der Verwandlung der Domänen in Bauerngüter“ 1773; „Leitfaden in den Handlungswissenschaften und in der Polizeiwissenschaft“ 1776; „Politische Abhandlungen“ 1777 u. s. w.) das dreibändige Lehrbuch „Grundsätze der Polizei-, Handlungs- und Finanzwissenschaft“ (Wien 1765–76), das oft aufgelegt und bearbeitet wurde und an den österreichischen sowie an mehreren auswärtigen Universitäten bis 1845 als grundlegendes Hülfsbuch galt. S. schloß sich in seinem einfach und klar gehaltenen Werke vielfach an deutsche, französische und englische Vorgänger an, an Rousseau, Montesquieu, den älteren Mirabeau, Turgot, Forbonnais, Locke, Joh. Peter Süßmilch, Jak. Friedr. v. Bielfeld u. a., besonders an Johann Heinrich Gottlob v. Justi, dessen Gedanken er jedoch fast in jeder Hinsicht systematischer zu begründen und in allen ihren Folgerungen auszuführen wußte. An Inconsequenzen und Widersprüchen fehlte es freilich auch bei S. nicht. Weniger auf theoretische Analyse, als auf die Ertheilung praktischer Vorschriften bedacht, sah er in der Staatswissenschaft vor allem die Lehre von der Wohlfahrt des Staates. Als Anhänger der Populationisten suchte er dieselbe aber durchaus nach dem Princip größtmöglicher Bevölkerung zu befördern. Ueberhaupt vertrat er im Josephinischen Sinne aufklärerische Tendenzen und – allerdings mit gewissen Einschränkungen – einen durch philanthropische Ideen gemilderten Absolutismus. Vielfach befand er sich dabei im Widerspruch gegen theoretische Vorurtheile und gegen die Praxis seiner Zeit und näherte sich, besonders in seinen Grundsätzen der Finanzwissenschaft, modernen Anschauungen. Maria Theresia und Joseph II. ließen es an Huldbeweisen für den Verfasser dieses volks- und zeitgemäßen Lehrbuchs nicht fehlen. Sogleich nach dem Erscheinen des ersten Theils wurde sein Jahresgehalt bedeutend aufgebessert und ihm auch die Vorlesungen am Theresianum sowie an der savoyischen Ritterakademie übertragen; eine weitere Gehaltszulage nebst dem Titel eines wirklichen Regierungsrathes wurde ihm nach der Veröffentlichung des zweiten Bandes 1769 zu Theil.
Sonnenfels: Joseph v. S. entstammt einer jüdischen Familie, die kurz vor seiner Geburt aus Norddeutschland nach Oesterreich ausgewandert war. Sein Großvater Michael, der Fromme genannt, wirkte als Rabbiner 1715–25 in Berlin. Sein VaterAber über den Berufsarbeiten vergaß S. seine ältere Neigung zur deutschen Litteratur nicht. Nachdem er schon zu der von Klemm und Herrl herausgegebenen Wochenschrift „Die Welt“ (1762–63) einiges beigesteuert hatte, gründete er selbst (anonym) im Februar 1765 eine Wochenschrift „Der Vertraute“ nach Addison’s Muster mit satirischem Grundton; aber das Journal brachte es nur auf sieben Nummern und wurde noch vor Ablauf eines Monats durch die Censur verboten. S. ließ ihm im September 1765 (wieder anonym) seine wichtigste Wochenschrift, deren Titel er von Voltaire entlehnte, folgen, den „Mann ohne Vorurtheil“ (1765–67, 3 Bände, 1769 und 1775 wieder aufgelegt). Auch dieses Blatt, das zweimal wöchentlich erschien und allein von den zahlreichen sonstigen Wochenschriften des damaligen Oesterreich, die es nach und nach alle verdrängte, es zu einer längeren Lebensdauer brachte, war den [630] moralischen Wochenschriften der Engländer nachgebildet. Bedeutung verlieh ihm vor allem der Muth, mit welchem sein journalistisch ungemein begabter Verfasser rücksichtslos allen Ständen und Gesellschaftsclassen seines Vaterlandes die Wahrheit predigte, dem vornehmen Hofpöbel und den auf allerlei Vorrechte pochenden Geistlichen ebenso wie den Schreibern und niedrigen Beamten, den Schulgelehrten, den Bürgern und Soldaten. Aufklärerisch ging S. gegen verschiedene Schäden der Erziehung, des gesellschaftlichen Verkehrs, des gesammten socialen und litterarischen Lebens vor, griff die Ueberreste mittelalterlicher Einrichtungen an, verwahrte sich gegen die Uebergriffe des Adels und des Clerus, eiferte wider die allgemeine Titelsucht und Selbstüberhebung, stellte das Protectionswesen an den Pranger, deckte das drückende Elend der leibeigenen Bauern auf, geißelte das mangelhafte Deutsch der Wiener, die dem Kanzleistil ungeschickt abgeborgten Wendungen in ihren Briefen und schriftlichen Aufsätzen, die Verderbniß des Wiener Geschmacks überhaupt, wie er sich namentlich in den rohen und possenhaften Leistungen der Volksbühne offenbarte. Wie in den früheren moralischen Zeitschriften, so wechselten auch bei S. Abhandlungen, litterarische Kritiken und Betrachtungen mit Gedichten, fingirten und echten Briefen einzelner Leser an den Verfasser, moralisirenden Charakterbildern und kleinen Geschichten, selbst mit Auszügen aus nordischen und orientalischen Schriften. Mehrfach berief sich der „Mann ohne Vorurtheil“ auf Rousseau und stellte nahezu regelmäßig im Sinne des französischen Denkers den getadelten Mißständen seiner civilisirten Heimath die sittlich besseren Verhältnisse und Anschauungen eines unverdorbenen Wilden gegenüber. In Sprache und Stil klar, natürlich, stets anregend und oft selbst anziehend, zeigte sich S. formal im allgemeinen von der norddeutschen Prosalitteratur vor und neben Lessing, bisweilen auch von Lessing selbst abhängig; seine Satire, um deren willen er auch in den höchsten Kreisen manchem Vorwurf und heftiger persönlicher Verfolgung ausgesetzt war, bekundete verschiedentlich den Einfluß Rabener’s, gegen dessen Zahmheit sie allerdings auf Schritt und Tritt verstieß. Der gleiche Stilcharakter herrschte im allgemeinen in der nach denselben Grundsätzen und Vorbildern verfaßten Wochenschrift „Theresia und Eleonore“, welche seit dem August 1766 während eines halben Jahres erschien und 1769 und 1775 wieder aufgelegt wurde. Wie sie die Namen der Gattin und der Schwägerin Sonnenfels’ an der Spitze trug, so scheinen diese beiden Frauen auch an der Autorschaft des Journals einen gewissen Antheil gehabt zu haben. Das Blatt wandte sich vornehmlich an das weibliche Publicum. Der Umkreis der darin behandelten Stoffe wurde dadurch mannichfach verengt, die herbe Entschiedenheit des Tones, der sonst nicht selten S. zu Gebote stand, durchweg gemildert, das Ganze aber auch trotz dem bunten Wechsel der äußern Darstellungsformen, der hier nicht weniger als im „Mann ohne Vorurtheil“ beobachtet war, gleichmäßiger und auf die Dauer etwas ermüdend. Noch engere Schranken setzte sich S. in der Wochenschrift „Das weibliche Orakel“, die 1767 „Theresia und Eleonore“ ablöste: auch die Einkleidung seiner Lehren war hier ziemlich einförmig, die moralisirende Tendenz aber noch aufdringlicher als früher.
Neben froher Zustimmung begegnete S. bei allen Reformvorschlägen seiner Zeitschriften auch heftigem Widerstande. Aber nichts zog ihm so plumpe Angriffe zu, wie sein Kampf gegen den Hanswurst und den gesammten, mit dieser Figur verbundenen rohen Zauberspuk und Possenulk des Wiener Theaters. Selbst frühere Bundesgenossen, wie Heufeld und Klemm, gesellten sich jetzt zu seinen Gegnern, der Partei des „grünen Hutes“, deren Kern persönliche Anhänger des in seiner Art ausgezeichneten Hanswursts Prehauser bildeten. Nachdem verschiedene Rachepläne derselben unausgeführt geblieben waren, verfertigte Klemm [631] im Auftrag der Theaterdirection eine direct gegen S. gerichtete Posse „Der auf den Parnaß erhobene grüne Hut“ (neu herausgegeben von August Sauer, Wien 1883), die trotz allem Bemühen des Verspotteten, die Vorstellung zu verhindern, am 26. Februar 1767 unter ungeheurem Andrang des Publicums aufgeführt wurde, aber da sie nur vorübergehend Beifall erntete, schließlich zum Gewinn für die Vertheidiger des regelmäßigen Schauspiels ausschlug. So entschloß sich denn S., seinen allgemeiner gehaltenen Wochenschriften von Weihnachten 1767 an eine neue folgen zu lassen, die ausschließlich dem Theater gewidmet war, die „Briefe über die wienerische Schaubühne“ (neu herausgegeben von Sauer, Wien 1884), deren zwei erste Quartale er unter der Maske eines in Wien lebenden Franzosen veröffentlichte. In der äußeren Form nahm er sich hauptsächlich die „Litteraturbriefe“ zum Muster; nicht weniger aber ahmte er die „Hamburgische Dramaturgie“ nach bei seiner Besprechung dramatischer Werke und ihrer Aufführung, bei gelegentlichen schwachen Ausfällen gegen Voltaire, bei seinen Versuchen, an die Kritik der einzelnen Stücke allgemeine theoretische Auseinandersetzungen anzuknüpfen. Trotz dieser beständigen geistigen Abhängigkeit von Lessing, an den er mit seiner höchst verdienstvollen Leistung freilich nirgends hinanreichte, und trotz aller sonstigen, aufrichtigen Bewunderung für den Schöpfer der „Minna von Barnhelm“ ließ es S. doch nicht an (mitunter recht ungeschickten) polemischen Bemerkungen gegen seinen großen Vorgänger in der Kritik fehlen. Ihm selbst war ja auch bei der Reinigung der Wiener Bühne nur halb die Rolle eines Lessing zugefallen, halb aber die Rolle eines Gottsched. Persönlich sah er in diesem zwar nur mehr eine abgethane Größe; Gottsched’s Theorie aber und seine zumeist der französischen Litteratur entlehnten Muster besaßen zum großen Theil auch noch für S. ihre Geltung. Vornehmlich dem Lustspiel wandte er sein Augenmerk zu; der Kampf gegen die Wiener Localposse erweiterte sich dabei folgerichtig, da die italienische Oper und Komödie – letztere das Vorbild jener Localposse – gleichfalls in Wien gepflegt wurde, zu einem Kriege gegen die Opera buffa, gegen Goldoni und Chiari. In diesem Zusammenhange gab S. eine kurze Geschichte des Wiener Theaters, dem er (wie den österreichischen Dramatikern überhaupt) seine Briefe in erster Reihe gewidmet hatte, entwickelte den Begriff der Nationalschaubühne, zu deren Verbesserung er verschiedene Vorschläge vorbrachte, und erwies gegen allerlei Angriffe den Werth und die Nothwendigkeit einer freimüthigen, gerechten Kritik. Die persönlichen Gehässigkeiten, mit denen ihn seine Gegner auch jetzt wieder reichlich bedachten, schreckten ihn auf seinem Wege nicht; als aber die einstigen Vertheidiger des Hanswursts, Heufeld und Klemm, die Leitung der deutschen Bühne in Wien übertragen erhielten, schloß er am 25. Februar 1769 mit einem langen, an den Geheimrath Klotz gerichteten Schreiben seine „Briefe“, die letzte und litterargeschichtlich bedeutendste seiner Wochenschriften. Seine Reformvorschläge hatten inzwischen bei Schauspielern und Publicum so sehr an Boden gewonnen, daß alles Bemühen der Theaterleitung, die alten Possen noch weiterhin zu fristen, vergeblich war. S. reichte, um der Gefahr eines Rückfalles vorzubeugen, wiederholt schriftliche Eingaben unmittelbar an Kaiser Joseph ein, und Staatsrath v. Gebler unterstützte ihn dabei so wirksam, daß das Extemporiren auf der Bühne streng verboten und am 15. März 1770 S. selbst zum Censor des deutschen Theaters mit sehr weit gehender Vollmacht ernannt wurde. Als solcher trat er bald auch in die artistische Leitung der Bühne ein. In demselben Jahre 1770 wurde er durch den Leibarzt der Kaiserin, Gerhard van Swieten, in die Büchercensurcommission berufen; ihm wurde die Censur aller politischen Schriften, ferner die sämmtlicher englischen Bücher und der deutschen Gedichte, Romane, Wochenschriften und historischen Werke übertragen: eine ausgedehnte und undankbare [632] Arbeit, von der er nach Swieten’s Tode im August 1772 wieder entbunden wurde.
Er hatte inzwischen eine neue Aufgabe zu seinen früheren übernommen. Bei der Begründung der k. k. Zeichnungs- und Kupferstecher-Akademie 1768 betheiligte er sich eifrig durch eine Vorlesung von dem Verdienste des Porträtmalers und eine Ermunterung zur Lectüre an junge Künstler, zwei Reden, die ebensowohl gute Kenntniß der gleichzeitigen Litteratur über bildende Kunst wie unmittelbaren Sinn für die Aufgabe des Malers bekundeten, vor allem aber auf eine allgemeine und höhere, speciell auch poetische und ästhetische Bildung des Künstlers abzielten. Im Januar 1769 wurde er daraufhin zum Secretär der Kupferstecher-Akademie und, als mit dieser 1772 noch verschiedene andere Künstlerschulen vereinigt wurden, zum Secretär der Akademie der bildenden Künste ernannt. Um ihn aber in seinen mannichfachen Amtspflichten zu erleichtern, wurde ihm seit 1769 ein Hülfslehrer für den Unterricht am Theresianum und an der savoyischen Akademie beigegeben und er endlich 1771 S. auf seine oft wiederholte Bitte dieser Pflicht ganz enthoben. Als Schriftsteller veröffentlichte er in dieser Zeit 1769 zu Leipzig eine bereits zwei Jahre ältere, aber zuerst in Wien nicht zum Drucke zugelassene „Abhandlung von der Theurung in Hauptstädten und dem Mittel derselben abzuhelfen“ (früher „Ueber die zu vermindernde Bevölkerung der Residenzstadt Wien“ betitelt). Den Grund des allgemein beklagten Mißstandes sah er in der Uebervölkerung der Residenzstädte; um dieser zuvorzukommen, wünschte er, daß die mittelalterlichen „wandernden Hoflager“ wieder eingeführt, der Aufenthalt des Landadels, ebenso der der Processirenden und der Bewerber um ein Amt oder eine Gunst in der Residenz durch landesherrliche Verordnungen beschränkt, Klöster, Universitäten, Manufacturen und Fabriken nach kleineren Orten verlegt würden. 1770 ließ S. Charakteristiken zweier ausgezeichneter Schauspieler, die kurz zuvor in jungen Jahren gestorben waren, Katharina Jaquet’s und Lang’s des Aelteren, erscheinen; 1771 folgte neben kleineren Abhandlungen die anekdotenreiche und daher unterhaltende, aber geistig nicht tief gründende und ziemlich locker ohne logische Strenge ausgeführte Schrift „Ueber die Liebe des Vaterlandes“, inhaltlich zum Theil angeregt durch die verwandten Arbeiten Abbé’s und Zimmermann’s.
Unverhältnißmäßig wichtiger als diese mehr theoretische Untersuchung, für die der junge Goethe in den „Frankfurter gelehrten Anzeigen“ in der Hauptsache nur bittern Spott hatte, wurden Sonnenfels’ Bemühungen um Verbesserung der peinlichen Rechtspflege. In seinen Vorlesungen hatte er stets gegen die Folter, die in Oesterreich noch in ganzer Strenge bestand, geeifert und statt der Todesstrafe langwierige Zwangsarbeit empfohlen. Im August 1772 auf eine Anklage der k. k. Hofkanzlei zum Schweigen über beide Fragen vermahnt, wandte er sich sofort mit einer ausführlichen Schutzschrift an Maria Theresia und erwirkte dadurch schon im December 1772 die Rücknahme jener Weisung. Die Kaiserin aber, gedrängt durch die öffentliche Meinung, welche Sonnenfels’ Ansichten billigte, durch das Gutachten der medicinischen Facultät in Wien und durch die Vorstellungen ihres Sohnes, hob zunächst im October 1773 die Intercalartortur auf und forderte von allen Länderstellen und Gerichten ihres Reiches Urtheile über die eventuelle gänzliche Beseitigung der Folter. Daraufhin gab S., der seit kurzem an den Sitzungen der niederösterreichischen Landesregierung theilnahm, ein sorgfältig ausgearbeitetes Separatvotum ab, worin er in bescheidener Sprache, aber mit aller Kraft und Wärme der Ueberzeugung durch logische Gründe, geschichtliche Erfahrungen und litterarische Zeugnisse die völlige juristische Nutzlosigkeit, ja Gefährlichkeit der Folter nachwies und ihre unbedingte Abschaffung verlangte. Höchstens wollte er sie vorläufig noch bei bereits überführten [633] Verbrechern angewandt wissen, um von ihnen die Namen ihrer Mitschuldigen zu erpressen – hierin im Widerspruch gegen Beccaria, dem er sich sonst ziemlich in allen Punkten der Untersuchung anschloß. Noch bevor die gesammte Streitfrage durch vollständige Aufhebung der Tortur in den österreichischen Erblanden (1. Januar 1776) endgültig entschieden wurde, gab ein mit S. befreundeter Züricher Buchhändler, angeblich ohne Wissen des Verfassers, dessen Schutzschrift und Separatvotum 1775 nach einer Abschrift heraus und zog dadurch diesem wegen scheinbarer Verletzung des Amtsgeheimnisses eine Disciplinaruntersuchung zu, aus der er jedoch glimpflich mit einem bloßen Verweise und dem Verbote seiner Schrift „Ueber die Abschaffung der Tortur“ in Oesterreich davonkam.
Gleichzeitig führte S., der als Regierungsrath zum Director der verwahrlosten Beleuchtung in Wien ernannt worden war, eine allgemein gerühmte Laternenbeleuchtung in der Hauptstadt durch. Befriedigt erhob ihn die Kaiserin 1779 zum Titularhofrath, 1780 zum wirklichen Hofrath und Mitglied der Studienhofcommission. Wenige Wochen darnach starb Maria Theresia. Die Trauerrede, mit der S. nach ihrem Leichenbegängniß seine Vorlesungen wieder eröffnete, ein schöner Ausdruck seiner innig-dankbaren Verehrung für die Verewigte, fand die weiteste Verbreitung, blieb aber freilich auch nicht von hämischen Angriffen verschont. Die erweiterte Preßfreiheit und die übrigen aufklärerischen Regungen der nunmehrigen Regierung Joseph’s II. kamen auch S. merklich zu Gute. In der „Ankündigung von neun Predigten über das Vaterunser“ (1781, gegen geheime Verbrechen im Innern der Klöster) sowie in den Fragmenten über die Aufhebung des Jesuitenordens und über die Ankunft des Papstes Pius VI. in Wien (1782) waltete eine Freiheit des Gedankens und des Wortes, die sich S. früher kaum je zu gestatten wagte. Im gleichen aufklärerischen Sinne war er als Mitglied der Freimaurerloge, die seit 1784 auf kaiserlichen Befehl eine durchgreifende Reform erfuhr, schriftstellerisch thätig und galt daher den Gegnern als Haupt der österreichischen Illuminaten. Im Zusammenhang damit stand sein „Entwurf zu einer Privatvereinigung für Männer von Wissenschaften“ (von September 1784), der auf eine Art von Akademie aller „ausübenden“, d. h. nicht bloß speculativen Wissenschaften mit vier Classen, einer philosophischen, physikalischen, mathematischen und historischen, abzielte. Für die ersten beiden Jahre wurde S. selbst als Secretär an die Spitze der neuen Gesellschaft gestellt. Aber gleich den meisten vom neuen Geist durchwehten Gründungen des Josephinischen Jahrzehnts konnte auch sie nicht die zu ihrem wirklichen Gedeihen erforderliche längere Dauer gewinnen.
Als Mitglied der Studienhofcommission griff S. durch zahlreiche Referate, Entwürfe und Vorschläge praktisch in die Reform des österreichischen Unterrichtswesens unter Joseph II. ein. Ferner hatte er seit 1781 die neuen Gesetzeserlasse der Regierung auf ihren Stil hin zu prüfen und in ihrem Wortlaut zu verbessern. Gleichen Zwecken dienten seine Lehrbücher des Geschäfts- und Briefstiles, besonders der zweibändige „Versuch über die Grundsätze des Stils in Privat- und öffentlichen Geschäften“ (1781). Daneben veranstaltete er 1783–87 zu Wien eine zehnbändige Ausgabe seiner „Gesammelten Schriften“, in die er außer den eigentlichen nationalökonomischen und stilistischen Lehrbüchern weitaus die meisten Arbeiten aus seiner Feder, namentlich auch seine eigenen Beiträge zu den von ihm begründeten Zeitschriften aufnahm. Einzelne dieser Arbeiten erschienen in der Gesammtausgabe bedeutsam verändert. So war z. B. in den „Briefen über die wienerische Schaubühne“ jetzt mehreres, das für die fortgeschrittene Zeit allen Werth verloren hatte, gestrichen, anderes zum Theil gegen Lessing Polemisirende neu eingefügt; die Schrift von der Liebe des Vaterlandes [634] war auf den doppelten Umfang gebracht und dadurch erst recht breit und doch nicht gründlicher geworden; in sprachlicher Hinsicht waren die älteren Aufsätze überhaupt vielfach verbessert. Auch einige vorher ungedruckte, theilweise aber schon früher verfaßte Abhandlungen theilte S. hier zuerst mit, so „Vierzig Sätze über die Bevölkerung“, Untersuchungen „Ueber die Einsamkeit“ und „Von Mäuten und Zöllen“, kleinere Gedichte und eine kurze Selbstbiographie unter dem Titel „An mein Herz“, welche gleich den Vorreden der einzelnen Bände vornehmlich ein öffentlicher Ausdruck des Dankes war, den S. verschiedenen Gönnern von Jugend auf schuldete. Zugleich mit dieser Ausgabe erschienen 1783 zu Leipzig auch seine „Gesammelten kleinen Schriften“ in sechs Bänden. Im letzten Jahre der Regierung Joseph’s II., der in den meisten Hauptpunkten seiner Politik nach den von S. vertretenen Grundsätzen verfuhr, obgleich ihm persönlich dessen Sucht, sich selbstgefällig vorzudrängen und alles zu bekritteln, unangenehm war, verfaßte S. mehrere Abhandlungen über den Wucher, der nach Aufhebung der auch von ihm bekämpften Theresianischen Wuchergesetze (1787) in Oesterreich bedrohlich überhand genommen hatte. S. schlug maßvoll gehaltene Zinsgesetze vor, glaubte aber, daß durch Gründung einer staatlichen Leihbank, die auch soliden Grundeigenthümern, Handwerkern und Handelsleuten Darlehen gegen mäßige Zinsen vorstrecke, dem Wucher am besten gesteuert werden könne.
Joseph’s Nachfolger Leopold II. berief S. sogleich 1791 zum Referenten einer seit 1768 bestehenden, nun aber von Grund aus erneuerten Commission zur Sammlung der politischen Gesetze und enthob ihn demzufolge auf sein Ansuchen im August 1791 seiner Professur. Während S. nunmehr die Herausgabe der „Politischen Gesetze und Verordnungen für die deutschen, böhmischen und galizischen Erblande“ besorgte, erregten seine (von ihm allerdings nicht zu dieser Beförderung empfohlenen) Nachfolger im Lehramt ihm in der rückschrittlichen „Wiener Zeitschrift“ und in Broschüren einen gehässigen Streit, in welchem sich besonders Johann v. Alxinger des Angegriffenen annahm. Auch die Universität ergriff seine Partei, indem sie ihn 1794 und 1796 zum Rector magnificus wählte. Seine Thätigkeit war jetzt zum allergrößten Theile den verschiedenen gesetzgebenden Commissionen gewidmet; er wirkte nahezu in diesen allen, als beisitzender Rath, als Referent, als materieller Redactor, als stilistischer Corrector. 1808 wurde er zum Vicepräsidenten der Hofcommission für die politische Gesetzsammlung ernannt. Die unter Kaiser Franz veröffentlichten Gesetzbücher waren alle durch seine Hand gegangen; einzelne, wie der zweite Theil des Strafgesetzbuches von 1803 und die Dienstbotenordnung von 1807 (sammt den dazu gehörigen „Bemerkungen über die neue Gesindeordnung“ 1810), hatten S. geradezu zum Verfasser. Seine sonstigen schriftstellerischen Leistungen konnten daneben den früheren Umfang nicht mehr gewinnen. Er veröffentlichte unter anderm 1793 „Betrachtungen eines österreichischen Staatsbürgers an seinen Freund, veranlaßt durch das Schreiben des Herrn M. an Abbé Sabatier über die französische Republik“, 1796 eine „Skizze des Feldmarschalls Grafen v. Nostitz“, 1798 den ersten Band eines „Handbuchs der inneren Staatsverwaltung mit Rücksicht auf die Umstände und Begriffe der Zeit“ (eine neue Umarbeitung seiner „Grundsätze der politischen Wissenschaften“), 1800 „Lehrreiches Alltagsbuch zum Unterricht, Vergnügen und Nachdenken“, 1801 die von Feuerbach warm vertheidigte Schrift „Ueber die Stimmenmehrheit bei Criminalurtheilen“ (neu aufgelegt 1808), 1817 „Ueber öffentliche Sicherheit, oder von der Sorgfalt, die Privatkräfte gegen die Kraft der Staates in einem untergeordneten Verhältnisse zu erhalten“, seine letzte Schrift. An Auszeichnung fehlte es dem greisen Gelehrten und Beamten nicht. Ordensverleihungen und Diplome gelehrter Gesellschaften bereiteten ihm, dessen Eitelkeit seine größte Schwäche war, eine bisweilen [635] , kindisch sich äußernde Freude. 1804 erhielt er durch den Stephansorden die Freiherrnwürde, 1806 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Wien, 1811 zum Präsidenten der Akademie der bildenden Künste ernannt. Unter dem Drucke der reactionären Staatsverwaltung Metternich’s hatte auch er gelegentlich und gerade in dieser letzteren Stellung zu leiden; aber ohne sich zu beugen, sprach auch noch der Achtzigjährige seine freieren Anschauungen unumwunden gegen den allmächtigen Minister aus. Sonst lebte S. zuletzt ziemlich zurückgezogen und einfach in Wien, das er (eine Reise nach Leipzig 1767 und eine nach Berlin 1787 abgerechnet) in seinen späteren Jahren überhaupt kaum verlassen hatte. Er starb am 25. April 1817 an Altersschwäche. Er war kein aus eigener Ideenfülle schöpferisch wirkender Geist, auch menschlich nicht groß angelegt, eitel, selbstgefällig, oft anmaßend und bis zur Keckheit aufdringlich; aber als ein rastlos thätiges Werkzeug der Josephinischen Aufklärung brach er in Oesterreich auf den verschiedensten Gebieten der neuen Zeit erfolgreich Bahn. Sein Andenken wurde in seinem Vaterlande weit über seinen Tod hinaus mannichfach geehrt; 1867 errichteten ihm auch seine Wiener Mitbürger ein Standbild.
- Einzelne Seiten des Wesens und Wirkens von S. behandelten, meist auf Grund nur wenig verarbeiteter archivalischer Forschungen: Joseph Feil, S. und Maria Theresia. Wien 1859; A. v. Arneth, Beaumarchais und S., Wien 1868; G. Wolf, Das Unterrichtswesen in Oesterreich unter Kaiser Joseph II., nach einer Darstellung von J. v. S., Wien 1880; Karl v. Görner. Der Hanswurststreit in Wien und J. v. S., Wien 1884 (eine fleißige und gründliche litterargeschichtliche Untersuchung). – Die staatswissenschaftlichen Schriften Sonnenfels’ charakterisirte[WS 1] ausgezeichnet mit treffender Kürze Wilhelm Roscher, Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland. München 1874. S. 533–552; vgl. dazu F. Simonson. J. v. S. und seine Grundsätze der Polizei, Berlin und Leipzig 1885 und W. Lustkandl. S. und Kudler. Rede gehalten am 17. Juli 1891, Wien 1891. – Eine zusammenfassende Biographie versuchte zuerst Franz Kopetzky, Joseph und Franz v. S., Das Leben und Wirken eines edlen Brüderpaares nach den besten Quellen dargestellt, Wien 1882 (als Stoffsammlung schätzbar, doch ohne jede Spur einer methodischen Untersuchung und eines selbständigen Urtheils, besonders über die litterarischen Leistungen des Mannes). – Gleichzeitig erschien J. v. S., biographische Studie aus dem Zeitalter der Aufklärung in Oesterreich von Wilibald Müller, Wien 1882 (kürzer und ein wenig selbständiger als die vorige Arbeit, aber auch ärmer an Stoff und als Werk litterargeschichtlicher Forschung ebenso wenig befriedigend). – Vgl. außerdem Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. 2. Auflage, Bd. 4, I. S. 183 f. und Erich Schmidt’s kurze, aber treffende Charakteristik in seinem „Lessing“, II. 308 ff., Berlin 1892.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: charakerisirte