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ADB:Sulzer, Johann Georg

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Artikel „Sulzer, Johann Georg“ von Otto Liebmann (Philologe) in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 144–147, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sulzer,_Johann_Georg&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 22:15 Uhr UTC)
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Band 37 (1894), S. 144–147 (Quelle).
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Sulzer: Johann Georg S., eine der hervorragenden Persönlichkeiten des litterarischen und gelehrten Berlin unter der Regierung Friedrich’s des Großen, als Aesthetiker, Philosoph und Schulmann eine universelle Thätigkeit [145] entfaltend, stammte, wie mancher vielgenannte deutsche Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, aus der Schweiz her. Geboren zu Winterthur im Kanton Zürich entweder am 5. oder am 16. October des Jahres 1720 als fünfundzwanzigstes Kind des dortigen Rathsherrn Heinrich S., war er von seinen Eltern zum Theologen bestimmt, sah aber durch den mangelhaften Betrieb des ersten Schulunterrichts seine lebhaften geistigen Interessen nur wenig befriedigt. Nachdem er 1734 beide Eltern an demselben Tage durch den Tod verloren hatte, wurde er von seinem Vormund 1736 bei einem Prediger in Zürich in Pension gebracht, um an dem dortigen akademischen Gymnasium zu studiren. Während er daselbst seinen regelrechten theologischen Cursus durchmachte, warf er sich zugleich, angeborenen Neigungen folgend, auf Mathematik, Botanik und Philosophie; wurde aber außerdem von seinen Lehrern Bodmer und Breitinger in die poetische Litteratur eingeführt und zu ästhetischen Reflexionen über Kunst und Kunstgeschmack entschieden angeregt. Im J. 1741, nachdem er das Examen bestanden hatte und unter die Zahl der ordinirten Geistlichen aufgenommen war, übernahm er in dem schöngelegenen Dorfe Maschwanden die Stelle eines Vicars des dortigen Pfarrers. Seine freie Zeit theilte er zwischen wissenschaftlichen Studien, Naturgenuß und geselligem Verkehr im Hause des Landvogts Scheuchzer; auch schrieb er seinen „Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur“, eine im wolffianischen Stil gehaltene physikotheologische Erbauungsschrift, welche dann von dem Berliner Hofprediger A. F. W. Sack mit Vorrede herausgegeben worden ist (2. Aufl., Berlin 1750). Uebrigens regte sich in ihm jugendliche Reiselust und ein wachsendes Bedürfniß, die Welt, namentlich Deutschland, kennen zu lernen. Gern ergriff er daher die Gelegenheit, als ihm auf Empfehlung des Directors Schultheß in Zürich von einem vermögenden Kaufmann in Magdeburg der Antrag, die Erziehung seiner beiden Söhne zu übernehmen, gemacht wurde. Ende 1743 siedelte S. nach Magdeburg über. Dort arbeitete er eine deutsche Uebersetzung von Scheuchzer’s Itinera Alpina sowie einige pädagogische Abhandlungen aus und machte die persönliche Bekanntschaft des vorübergehend zum Besuch anwesenden Hofpredigers Sack aus Berlin, der ihm alsbald die Aussicht auf eine amtliche Stelle in der preußischen Residenz eröffnen konnte. Bei einer Reise nach Berlin trat S. mit Euler, Maupertuis und Gleim in freundschaftliche Beziehungen; und diesen Männern hatte er es zu verdanken, daß er 1747 die Berufung als Professor der Mathematik am Joachimsthal’schen Gymnasium erhielt. Mit Freuden folgte er dem ehrenvollen Rufe, um schon drei Jahre darauf als ordentliches Mitglied in die königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen zu werden. Im Sommer 1750 machte er gemeinschaftlich mit Klopstock eine Reise nach der Schweiz, wo er selbst wie der hochverehrte Dichter des Messias im gastlichen Hause des väterlichen Freundes Bodmer zu Zürich schöne Tage verlebte. In demselben Jahre heirathete S. eine Tochter des Kaufmanns Keusenhof in Magdeburg und begründete sich damit eine höchst angenehme, über die Strapazen seines Gymnasiallehramts hinweghelfende Häuslichkeit. Zugleich aber begann für S. ein Decennium, welches ihn durch theoretische und praktische Unternehmungen neben reger Geselligkeit aufs mannichfaltigste in Anspruch nahm. Mit Ramler hatte er schon vorher die „Kritischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit“ (1750) herausgegeben. Für die Akademie verfaßte er eine Anzahl wissenschaftlicher Abhandlungen, die nachmals als „Vermischte Philosophische Schriften“ (Leipzig 1773) gesammelt erschienen sind. In ästhetischer Hinsicht hielt er an seiner unbedingten Verehrung für Bodmer und an den Grundsätzen der Schweizer standhaft fest, so daß er mit Lessing, Mendelssohn, [146] Nicolai, – einer jüngeren, weiterstrebenden kritischen Generation, – vielfach in Differenzen gerieth. Im J. 1761 traf ihn ein schwerer Schlag; seine Frau starb infolge einer Niederkunft; tief betroffen von diesem Verlust nahm S. für längere Zeit Urlaub. Er reiste über Magdeburg, Leipzig, Frankfurt und Straßburg in seine schweizerische Heimath und begann hier an seinem schon seit Jahren projectirten Hauptwerk, der „Allgemeinen Theorie der schönen Künste“ ernsthaft zu arbeiten. Er legte 1763 die Berliner Professur nieder; ja er machte sich mit dem Gedanken vertraut, sich für den Rest seines Lebens mit seinen zwei unerzogenen Töchtern ganz in sein Vaterland zu stiller Arbeit zurückzuziehen. Indessen gab er diesen Entschluß wieder auf, als ihn der König in einem sehr gnädigen Cabinetsschreiben zum Bleiben aufforderte und bald darauf als Professor an der neubegründeten Ritterakademie (Ecole militaire) anstellte, überdies aber mit einem nahe bei Berlin gelegenen Grundstücke zur Anlegung von Garten und Wohnhaus beschenkte. Seit 1775 war er außerdem Director der philosophischen Classe der Akademie der Wissenschaften. Mehrfach wurde er mit wichtigen praktischen Missionen beauftragt; so mit Neuordnung der Akademie, mit Revision des Joachimsthal’schen Gymnasiums und der Schulen zu Kloster-Bergen, Stettin und Stargard. Als ihn jedoch 1771 der Herzog von Kurland in schmeichelhafter Weise zur Begründung eines Gymnasiums nach Mitau einlud, antwortete er nur mit Einsendung eines ausführlichen Organisationsplanes und lehnte im übrigen dankend ab; theils mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand, theils weil er durch seine Stellung in Berlin vollkommen befriedigt war.

Sulzer’s umfangreiches Hauptwerk ist die „Allgemeine Theorie der schönen Künste“ (Leipzig 1771–74; zweite, verm. Aufl., 4 Bde., Leipzig 1792–94). Es behandelt, unter Verarbeitung eines massenhaften gelehrten Materials und mit ungewöhnlicher Belesenheit, in einer langen Reihe alphabetisch geordneter Artikel sämmtliche allgemeinen Grundbegriffe und Specialfragen der Aesthetik. Unter Anlehnung an das Dictionnaire des beaux arts von La Combe, aber weit darüber hinausgreifend und die kritisch-ästhetischen Arbeiten von Bodmer, Breitinger, Home, Batteux, Ramler, J. A. Schlegel, Baumgarten etc. verwerthend, beginnt es mit einem Artikel über den musikalischen Ton A und schließt mit dem Artikel über die „Zwischenzeit“ in der dramatischen Dichtkunst. Laut der Vorrede sind die zwei von einander unabhängigen Vermögen des Menschen, auf deren Entwicklung die Glückseligkeit des gesellschaftlichen Lebens beruht, der Verstand und das sittliche Gefühl; nach dem Artikel „Aesthetik“ geht „die Hauptabsicht der schönen Künste auf die Erweckung eines lebhaften Gefühls des Wahren und des Guten“. Das ganze Werk wird von einem engen, moralisirenden Grundgesichtspunkt beherrscht, aus welchem denn allerdings manche seltsame Einzelbeurtheilungen und Werthschätzungen hervorgehen. So ist nach Sulzer’s Dafürhalten nicht nur Klopstock’s Messias, sondern auch Bodmer’s Noah ein unübertreffliches Meisterwerk; als höchste Dichtungsgattung wird die Ode gepriesen; Plautus und Molière sollen da am vortrefflichsten sein, wo sie am ernsthaftesten sind; Wieland wird ermahnt, durch Abfassung philosophischer Lehrgedichte für Leibniz das zu werden, was Lucrez für Epikur gewesen ist, etc. etc. - Wenn ein solcher Standpunkt den jungen Originalgenies einer dem Streit zwischen Gottsched und den Schweizern durchaus entwachsenen Litteraturperiode zu imponiren nicht im Stande war, so wird man das sehr natürlich finden. Herder schrieb (1771) an Merck: „Sulzer’s Wörterbuch ist erschienen; aber der erste Theil ganz unter meiner Erwartung. Alle litterarisch-kritischen Artikel taugen nichts, die meisten mechanischen nichts; die psychologischen sind die einzigen, und auch in denen das langwierigste, darbendste Geschwätze, sowie auch Landsmannschaft und Parteilichkeit aus dem ganzen Werke [147] leuchtet.“ Goethe in seiner für die Frankfurter gelehrten Anzeigen (1772) verfaßten Recension äußert sich so: „Herr S. umfaßte einen Weltkreis von Materie; seine Schultern waren zu schwach; er sonderte also ab, was sie nicht tragen konnten. – Durch das Ganze herrscht überhaupt eine beständige Strafpredigt gegen Wieland, Gleim und Jacobi. Hingegen sind fast alle Beispiele des Großen und Erhabenen aus der Noachide genommen. Nachdem sich die Wasser der epischen Sündfluth in Deutschland verlaufen, so hätte man die Trümmer der Bodmer’schen Arche auf dem Gebirge der Andacht weniger Pilgrime überlassen können.“ – Immerhin, so begreiflich, wie gesagt, derartige Urtheile aus solchem Munde kommend sind, so behielt das Werk doch seinen sachlichen Werth mindestens als gelehrte Materialiensammlung und Nachschlagebuch. Was Sulzer’s übrige Schriften betrifft, so hat außer den bisher genannten sein pädagogisches Buch „Vorübungen zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens“ vielen Anklang gefunden und mehrere Auflagen erlebt. Beim Hofe fand S. sympathische Aufnahme; er hat dem Prinzen Heinrich, Bruder des nachherigen Königs Friedrich Wilhelm II., Unterricht in der Mathematik ertheilt. Interessant ist unter anderem eine längere, von ihm in seiner Selbstbiographie mitgetheilte Unterredung mit Friedrich dem Großen, worin der König sich über philosophische, religiöse und theologische Angelegenheiten mit außerordentlicher Offenheit aussprach und ihn nach zweistündigem Gespräch sehr gnädig mit den Worten entließ: „Je vois que vous êtes fatigué; je vous ferai apeller une autre fois.“ In der That war S. damals krank, hatte sich im Schloß die Treppen hinauftragen lassen und mußte sich während der Audienz an einen Stuhl gelehnt mühsam aufrecht erhalten. Ueberhaupt kämpfte er während seiner letzten Lebensjahre mit einem hartnäckigen Lungenleiden. Er suchte und fand 1775 auf einer Reise durch Frankreich und Italien Linderung; doch nahmen nach der Rückkehr seine Kräfte mehr und mehr ab. Im Sommer 1778 fühlte er sich durch Schwäche und schmerzhafte Zufälle zu wissenschaftlicher Beschäftigung untüchtig und starb in Berlin am 27. Februar 1779.

Eloge de Mr. Sulzer; Mémoires de l’Académie des sciences de Berlin. Année 1779. – Hirzel an Gleim, über Sulzer den Weltweisen, 2 Bde., Zürich 1779. – Johann Georg Sulzer’s Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt. Mit Anmerkungen von Joh. Bernh. Merian und Friedr. Nicolai. Berlin und Stettin 1809.