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ADB:Müller, Wilhelm (Germanist)

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Artikel „Müller, Wilhelm“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 530–537, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCller,_Wilhelm_(Germanist)&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 18:22 Uhr UTC)
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Band 52 (1906), S. 530–537 (Quelle).
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Müller: Wilhelm Konrad Hermann M., deutscher Philolog, wurde unter dem Scepter König Jerôme’s am 27. Mai 1812 zu Holzminden geboren: als ältester Sohn zweiter Ehe eines lutherischen Steuerbeamten, der nach der Wiederherstellung des Königreichs Hannover in Springe einen Posten fand und dort im J. 1834 als Kreissteuereinnehmer hochbetagt, mit Hinterlassung einer zahlreichen unversorgten Familie gestorben ist. In Springe mit seiner waldreichen Umgebung hat M. zunächst fröhliche Knabenjahre verlebt und durch den Candidaten Buck vortrefflichen Privatunterricht in Lateinisch und [531] Griechisch sowie die frühe Ermunterung zu wissenschaftlicher Arbeit empfangen. Nach dessen Fortgang von Springe (1827) trat der Ernst des Lebens an den Fünfzehnjährigen heran: er siedelte als Hauslehrer zu einem kinderreichen Landpfarrer über, der ihm seinerseits versprach, ihn selbst für das Universitätsstudium weiter vorzubereiten. Aber diese Zusage wurde nicht gehalten, und so bezog M., nachdem er ein Jahr für seine höhern Zwecke verloren hatte, das Gymnasium in Holzminden, das ihn zu Michaelis 1832 mit einem ehrenvollen Abgangszeugniß zur Universität entließ. Die Kunst mit Wenigem auszukommen und den entschlossenen Verzicht auf jeden sorgenfreien Lebensgenuß brachte er mit nach Göttingen, wo er am 26. October 1832 als stud. phil. et theol. immatrikulirt wurde und während acht Semestern die Vorlesungen von Ewald, Otfried Müller, Dahlmann, Jacob Grimm, Benecke und Herbart besuchte. Am stärksten hat auf ihn Otfried Müller gewirkt, in dessen philologischer Societät er einen fruchtbaren Eifer entfaltete, während er Jacob Grimm in den Studienjahren nicht näher getreten ist und bei Benecke nur eben eine Interpretation, gegen den Schluß seiner Studienzeit hin, belegt hat. In seinem sechsten Semester, am 4. Juni 1835, wurde eine Preisschrift von ihm „De Corcyraeorum republica“ gekrönt und bald darauf durch den Druck veröffentlicht. Im Frühjahr 1836 übernahm er die Erziehung der beiden Söhne des Hofraths Bergmann, ließ sich im Herbst exmatrikuliren und legte am 13. Juni 1837 vor der wissenschaftlichen Prüfungscommission das Staatsexamen in den alten Sprachen, Geschichte und Deutsch ab: das von Jacob Grimm als Vorsitzenden ausgefertigte Zeugniß läßt deutlich erkennen, wie bis dahin die classische Philologie in Müller’s Arbeit und Interesse durchaus überwogen hatte und für das Deutsche nur eben erst die Ansätze zu einem historischen Studium der Sprache vorhanden waren.

Die Vorgänge vom November 1837, welche dreien seiner Lehrer die Amtsentsetzung brachten und auch Otfried Müller im Tiefsten erregten, hat M. als Hausgenosse des damaligen Prorectors Bergmann erlebt, dessen schlaffe und selbstzufriedene Objectivität in den Briefen Wilhelm Grimm’s mit verächtlichem Spott verfolgt wird. Er verblieb in dieser Stellung auch, nachdem er im Sommer 1838 seine Probelection am Gymnasium gehalten hatte und bald darauf als Accessist bei der Bibliothek vereidigt worden war. Erst im Frühjahr 1839 verließ er das Bergmann’sche Haus, im Herbst gab er auch seine Stellung am Gymnasium auf, um sich ganz der Vorbereitung auf die akademische Laufbahn widmen zu können. Daß er dafür die deutsche Philologie wählte, dazu war er wol durch die Verwaisung dieses Faches bestimmt worden, das nach dem Ausscheiden der Brüder Grimm nur noch matt von dem 77jährigen Benecke im Nebenamt versorgt wurde. Sein erster wissenschaftlicher Plan war ein Specialwörterbuch zu Wolfram von Eschenbach, das Jacob Grimm im December 1839 brieflich willkommen hieß und für das sich Lachmann noch 1844 erbot, Georg Reimer als Verleger zu werben: die Vorarbeiten dafür sind dann dem großen „Mittelhochdeutschen Wörterbuch“ zu gute gekommen. – Durch lange Jahre harter Arbeit und unausgesetzt geübter Entsagung, in denen M. noch obendrein für Ausbildung und Unterhalt seines sieben Jahre jüngeren Bruders Heinrich Dietrich (s. d.) aufopfernd gesorgt und sich um das Ergehn von Mutter und Schwestern selbstquälerisch gebangt hat, ist er zu dem Ziele gelangt, das ihm offenbar früh vorgeschwebt hat. Die gleiche zähe Energie hat aber auch der Bruder bewiesen: in Beiden arbeitete sich eine Familie wieder zu der Höhe des Lebens empor, die, wie es scheint, nicht ohne die Schuld des Großvaters auf den Abstieg gerathen war, und Beide schlugen dabei einen Weg ein, für den ihnen der ehrenwerthe Vater, [532] ein alter Soldat, nur eben den Muth und die Kraft des Entbehrens mitgeben konnte.

W. Müller’s ganzes weiteres Leben ist an Göttingen und die Georgia Augusta geknüpft geblieben. Im Januar 1841 hat er hier promovirt, gleich darauf, am 13. Februar, die venia legendi für deutsche Sprache und Litteratur erlangt und mit dem Beginn des Sommersemesters seine Vorlesungen eröffnet. Zu seinen lexikographischen Arbeiten, deren gegebenes Vorbild Benecke blieb und die ihm somit auch das Rüstzeug zu einem tüchtigen Editor lieferten, waren inzwischen eindringende Studien auf dem Gebiete der deutschen Heldensage und Mythologie getreten, für deren Richtung er sich von vornherein mehr noch Otfried Müller als Jacob Grimm und Lachmann verpflichtet glaubte. Aber freilich ist dieser Einfluß Otfried Müller’s in seinen späteren Arbeiten weit stärker zu Tage getreten, als in dem „Versuch einer mythologischen Erklärung der Nibelungensage“ von 1841. Eine Ausgabe des „Armen Heinrich“ mit Wörterbuch (1842) war für seine Vorlesungen bestimmt und durfte sich auch nach Wackernagel’s von Lachmann geförderter Recension und neben der bald darauf ans Licht tretenden Haupt’s sehen lassen. Für die ersten Bände der „Zeitschrift für deutsches Alterthum“ (1841–1845) lieferte M. eine Reihe von Beiträgen, die der Herausgeber mit freudigem Danke aufnahm; ich hebe hervor: in Band 1 die Bearbeitung der Bruchstücke des „Crane“, mit denen M. seinen Landsmann Berthold v. Holle in die Litteraturgeschichte einreihte, aus Bd. 3 die Abhandlung über „Siegfried und Freyr“ und den sachlich verfehlten, aber im Hinblick auf spätere Anläufe Anderer nicht uninteressanten Versuch, Hildebrandslied und Muspilli in Strophen abzutheilen, schließlich aus Bd. 5 die erste Veröffentlichung des hochbedeutsamen altfranzösischen „S. Alexis“ aus Lammspringe. An die Stelle des langgewohnten Gedrücktseins durfte jetzt wachsendes Selbstgefühl, ja eine gewisse Hoffnungsfreudigkeit treten. Briefe Jacob Grimm’s, dem er seit Anfang 1840 für das Deutsche Wörterbuch beisteuerte, Uhland’s, der bei abweichender Grundanschauung doch der Selbständigkeit seiner germanistischen Erstlingsschrift hohe Anerkennung zollte, Lachmann’s, der ihm unterm 3. December 1844 schrieb: „Wie könnte das Wörterbuch [Benecke’s] in bessere Hände kommen, als in die Ihrigen?“, Wilhelm Wackernagel’s (der ihm sogar gegen Jacob Grimm später Recht gab) bezeugten ihm die Anerkennung der Besten, und wenn auch aus der von der kurhessischen Regierung geplanten Marburger Professur, für die ihn Moriz Haupt schon im Herbst 1843 als einzigen Candidaten vorgeschlagen hatte, schließlich gar nichts wurde, so traf doch die Anerkennung von Hannover nach dem Erscheinen seines ersten größeren Buches: „System und Geschichte der altdeutschen Religion“ (1844) ziemlich prompt ein: im Januar 1845, fast genau vier Jahre nach seiner Promotion, wurde M. außerordentlicher Professor, allerdings mit einem recht bescheidenen Gehalt.

Aber freilich, eben dies Buch, das ihm seine Stellung an der Landesuniversität einbrachte und ihn aus der drückendsten Noth befreite, wurde zugleich das tragische Verhängniß seines Lebens. M. strebte über Jac. Grimm’s „Mythologie“ hinaus mit einer „Geschichte der Religion“: dazu hatte er ein Recht, und das faktische Verdienst dieser seiner Aufgabestellung würde noch größer sein, wenn er es nicht selbst durch das gleichzeitige Streben nach einem „System“ abgeschwächt hätte. Er übte ferner Kritik an Jacob Grimm’s Werthung wirklicher und vermeinter Quellen, und auch hier hat er im Princip wie in vielen Einzelheiten unsern Beifall, umsomehr als die zweite Auflage der „Deutschen Mythologie“ den Beweis geliefert hatte, daß ihr Verfasser in der Aufsuchung zweifelhafter Zeugnisse durchaus nicht vorsichtiger geworden [533] war. M. hob scharf hervor, daß er eine Darstellung des alten Heidenthums, nicht eine solche des heutigen Volksglaubens liefern wolle, an dessen Herausbildung allzuviele Factoren betheiligt seien. Man kann auch ganz und gar nicht behaupten, daß sich M. von vorn herein im Tone vergriffen und den schuldigen Respect gegen den Altmeister verletzt hätte. Aber Jacob Grimm hatte mit keinem seiner Werke solches Glück gehabt wie gerade mit der „Mythologie“: sie war aus einer überquellenden Entdeckerfreude geboren und mit einer fast allgemeinen Begeisterung aufgenommen worden, der Autor hatte sich daran gewöhnt, nicht nur die Anordnung und die Gedankenarbeit, sondern auch das Material, das er zusammengebracht, als sein Eigenthum anzusehen. Und nun wehte ihm aus dem trockenen und mit wenig Stilgefühl geschriebenen Buche eines Jüngeren, der naturgemäß auf die gleichen stofflichen Grundlagen angewiesen war, ein nüchterner, kritischer Geist entgegen, und eine bald als irrig widerrufene Mittheilung ließ ihm M. geradezu als einen Plagiator erscheinen, der unter der Correctur der zweiten Auflage seines Werkes ihm die Früchte eigenster Arbeit entwendet haben sollte. Zornwüthig, wie es nie zuvor und niemals später seine Art war, schlug er auf das Concurrenzwerk los (Jahrbücher f. wiss. Kritik 1844, Nr. 91. 92 = Kleinere Schriften 5, 336–344), und auch nachdem die Aufklärung erfolgt war, welche M. von einem ehrenrührigen Verdacht befreite, verwirklichte er die Hoffnung nicht, die W. Wackernagel brieflich aussprach, daß er „Gelegenheit finden werde, seine Uebereilung gut zu machen“. Vielmehr antwortete er auf Müller’s „Offenes Sendschreiben an Herrn Jacob Grimm als Nachtrag zu dem Buche Geschichte und System der altdeutschen Religion“ (1845), das eine durchaus berechtigte Selbstvertheidigung darstellte, mit neuen, gleichheftigen Anklagen und Ausfällen (Allgemeine Zeitung 1845, Nr. 102, Beilage = Kleinere Schriften 7, 600–602). Allerdings war sein Unmuth in durchaus begreiflicher Weise gesteigert worden durch ein schwer zu entschuldigendes Manöver, eine grobe Tactlosigkeit, zu der sich die Jacob Grimm wahrlich zu Danke verpflichteten Göttingischen Gelehrten Anzeigen hergaben: hier erschienen im Spätjahr 1844 kurz nach einander eine zum mindesten überflüssige Besprechung der zweiten Auflage der „Deutschen Mythologie“ von M. selbst (Nr. 174–176) und eine solche von Müller’s eigenem Werke, deren Verfasser, der M. befreundete Historiker Adolf Schaumann, als gänzlich unberufen bezeichnet werden durfte. Diese Anzeigen geschrieben und veranlaßt zu haben ist Müller’s einzige Schuld – er hat sie schwer gebüßt! Denn sie steigerten zunächst in Göttingen selbst die Verstimmung bei den zahlreichen und einflußreichen Freunden, die die Grimms hier hinterlassen hatten, sie vereitelten eine Wiederannäherung Müller’s an Jacob, die ihm persönlich noch lange Bedürfniß war, aber obendrein von seinen Freunden, vor allem von Schaumann und dem Bruder Heinrich Dietrich als eine Selbstentwürdigung energisch verhindert wurde, und sie hielten M. für alle Folgezeit dem Kreise derjenigen Gelehrten fern, deren Würdigung er bisher mit freudigem Stolze genossen hatte. M. war kein großer Geist, aber er war ein methodischer Kopf und ein consequenter Denker; er hatte einen ausgesprochenen Sinn für Probleme und centrale Aufgaben unserer Wissenschaft, er besaß eine vortreffliche sprachwissenschaftliche Bildung, an der neben den Werken von Grimm und Bopp auch dem Unterricht Ewald’s sein Antheil gebührt, und er hatte sich durch ein eindringendes Studium der Ausgaben Lachmann’s und Benecke’s zu einem Verständniß des mittelhochdeutschen Idioms hingearbeitet, das ihn als Herausgeber, Conjecturalkritiker und wirklich interpretirenden Lexikographen dieser Meister nicht unwürdig erscheinen ließ. Seinem ganzen wissenschaftlichen Habitus nach gehörte er zu dem Kreise der Lachmann, [534] Haupt und Müllenhoff – und ihnen wurde er damals entfremdet. Es war für ihn wirklich keine volle Entschädigung, und er hat es auch kaum als solche empfunden, als sich ihm später die Pfeiffer, Bartsch und Zarncke näherten und er einen losen Anschluß an den Kreis der „Germania“ fand, der im wesentlichen durch berechtigten und unberechtigten, aber doch durchweg mehr persönlichen als sachlichen Widerwillen gegen die „Berliner“ zusammengehalten wurde.

M. war von Haus aus eine nach außen spröde, doch innerlich weiche Natur, aber das Leben war für ihn von Jugend auf ein Kampf, und die Isolirung, in die er gedrängt wurde mit dem Gefühl, sein Recht und sein Verdienst verkannt zu sehen, gab ihm mehr und mehr eine Starrheit, die durch den beständigen Verkehr mit dem knorrig zähen jüngern Bruder noch gesteigert wurde. Er blieb in Göttingen und[WS 1] hat sich hier mühsam in die Höhe quälen müssen. Den geringen Erfolg seiner Lehrthätigkeit schob er darauf, daß man das Deutsche als Prüfungsfach wieder beseitigt hatte, und so war er bemüht, den Kreis seiner Vorlesungen zu erweitern, in die er nach dem Vorbilde Jacob Grimm’s seit 1847 auch die historischen Hülfswissenschaften aufnahm. Nachdem er endlich für sein Lehrfach die Anerkennung der Oberschulbehörde erlangt hatte und dann im J. 1854 unmittelbar nach einander der 1. Band des „Mittelhochdeutschen Wörterbuches, mit Benutzung des Nachlasses von G. F. Benecke ausgearbeitet“ und die in der Hauptsache von Schambach gesammelten, von M. geordneten und wissenschaftlich bearbeiteten „Niedersächsischen Sagen und Märchen“ erschienen waren, erreichte er 1856 auch die Beförderung zum Ordinarius, mußte aber weitere zwölf Jahre bis zum Aufrücken in die Honorenfacultät warten. Das Jahr, in dem er sein großes lexikalisches Werk abschloß, 1866, brachte dem treuen Hannoveraner, der sich gerade in der letzten Zeit wiederholter Gnadenerweise von Seiten seines Königs erfreuen durfte, schweren Kummer, und er hat ihn erst nach den Ereignissen von 1870/71 langsam überwinden gelernt.

Nichts im Leben hat er mühelos und nichts früh erreicht – dafür ist es ihm beschieden gewesen, das Erreichte lange und dankbar zu genießen und insbesondere seine geistigen Kräfte bis in sein hohes Alter zu bewahren. 1851 hatte er mit einer Verwandten einen glücklichen Ehebund geschlossen, zwanzig Jahre später konnte er das freundliche Häuschen beziehen, das er sich vor dem Albanithore erbaut hatte. Seine litterarische Production schien nach 1866 völlig zu stocken – nur ein Aufsatz im 14. Bande der „Germania“ (S. 257–269) hatte 1869 daran erinnert, daß M. seine eigene Auffassung von der Nibelungensage principiell umgebildet habe. Da überraschte der alte Herr die Fachgenossen 1886 mit der Zusammenfassung seiner in langen Jahren still fortgehegten Lieblingsstudien zu einer „Mythologie der Deutschen Heldensage“, ließ diesem Buche 1889 noch ein zweites „Zur Mythologie der Griechischen und Deutschen Heldensage“ folgen und führte in der Vertheidigung seiner selbständigen und eigenartig consequenten Methode gegen die Recensenten eine so sichere und scharfe Klinge, daß der unbetheiligte Zuschauer an der geistigen Frische des 77jährigen seine Freude haben durfte. Nachdem er dann noch im Spätjahr 1889 die in seinem Besitz befindlichen „Briefe der Brüder Grimm an G. F. Benecke (1808–1829)“ herausgegeben hatte, begann er um die Weihnachtszeit zu kränkeln und starb am Geburtstage Jacob Grimm’s, am 4. Januar 1890.

Wilhelm Müller’s wissenschaftliche Arbeit ist, von kleineren Jugendschriften und gelegentlichen kritischen Beiträgen aus späterer Zeit (besonders wichtig die zum „Erec“, Germania Bd. 7, S. 129 ff.) abgesehen, zwei Gebieten unserer Wissenschaft [535] zugewandt gewesen, der mittelhochdeutschen Lexikographie und der Mythologie und Heldensage: auf ersterem liegt sein größeres Verdienst, auf letzterem hat er die stärkere Originalität entfaltet. Das Verdienst des Lexikographen ist anerkannt worden, obwol sein Name mehr als billig hinter dem Werke zurücktrat, für den Mythologen hat sich bei seinen Lebzeiten selten eine Stimme des Dankes und der Anerkennung erhoben.

Das „Mittelhochdeutsche Wörterbuch“ sollte das Lebenswerk G. F. Benecke’s krönen, der dafür seit drei Jahrzehnten gesammelt hatte und im 1. Bande von Haupt’s Zeitschrift (S. 39–56) sich über die Principien der Anordnung aussprach, indem er zugleich ein paar Probeartikel mittheilte. Nach Benecke’s Tode (1844) erwarb M. den handschriftlichen Nachlaß und entschloß sich, das Wörterbuch gemäß den Grundsätzen Benecke’s auszuarbeiten: dieser Anschluß an eine unpraktische und auch wissenschaftlich nicht zu rechtfertigende Anordnung nach „Stämmen“, wie man sie dem Dialektwörterbuche Schmeller’s und allenfalls noch dem „Althochdeutschen Sprachschatz“ Graff’s zugestehen mochte, die aber für das Mittelhochdeutsche mit seinen eben durch Benecke und Lachmann festgelegten Normalformen entschieden zu verwerfen war, hat in Verbindung mit dem allzu bescheidenen Titel der ersten Lieferung (1847) zunächst die Vorstellung erweckt, als ob Benecke ein nahezu druckfertiges Manuscript hinterlassen habe: der Vorbericht Müller’s zum 1. Bande gibt über den mangelhaften Zustand der Vorarbeiten genügenden Aufschluß, läßt aber noch immer nicht hervortreten, wie viel M. neben der Vermehrung der Stichwörter und Belege für die reichere Ausgestaltung der Interpretation gethan hat. Davon kann man sich ein annäherndes Bild machen, wenn man den einen Halbband 2 I (M–R), welchen Zarncke bearbeitet hat, vergleicht mit Müller’s Leistung, insbesondere mit Band 2 II, dem Buchstaben S, mit welchem M. an Stelle des damals kränkelnden Zarncke das Werk 1866 abschloß (Bd. 3 war schon 1861 herausgekommen) und zugleich die Höhe seines Könnens erreichte. Das „Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke, Müller und Zarncke“, das nach Müller’s bescheidenem Vorwort als ein „erster Versuch“ gelten sollte, ist heute noch unveraltet und unentbehrlich und wird in absehbarer Zeit durch kein Werk ersetzt werden, das für das Verständniß der mittelhochdeutschen Dichter auf breiterer und mehr gesicherter Basis Aehnliches leistete. Und das Hauptverdienst, der meiste Dank gebührt Wilhelm Müller.

Schwerer ist es, den Leistungen Müller’s auf dem Gebiete der Mythologie und Heldensage gerecht zu werden. Daß er vor Müllenhoff auf strengere Sichtung der Quellen gedrungen hat, daß er den Aberglauben als ein Gebiet ansah, dessen Wurzeln erst für sich erforscht werden müßten, daß er auch die „Mythologie der Volkssage“ „auf ihre eigenen Füße stellen“ wollte, ehe er aus ihr direct das alte Heidenthum erläuterte, das alles steht fest und war in der Zeit J. W. Wolf’s und des jungen Mannhardt gewiß ein Verdienst. Auch daß er eine schärfere Scheidung von Religionsgeschichte und Mythologie anstrebte, hätte mit Fug und Nutzen anerkannt werden sollen, mochte man sich nun seinen Begriff der Mythologie aneignen oder nicht.

Als M. 1841 seine germanistische Erstlingsarbeit schrieb und die Siegfriedssage aus einem alten Freysmythus ableitete, stand er in Ziel und Methode Lachmann recht nahe (bei dessen Verleger G. Reimer ja auch das Büchlein herauskam); auch mit der Schrift „Ueber die Lieder von den Nibelungen“ (1845, aus den „Göttinger Studien“), welche die Vielheit der Lachmann’schen Lieder auf eine ursprüngliche Fünfzahl reducirte, konnte er sich als einen Fortbildner des Bahnbrechers der Nibelungenkritik fühlen und er selbst trug sich mit der Vorstellung, Lachmann abgelöst zu haben. Zehn Jahre später [536] aber zeigt der Recensent von Müllenhoff’s Streitschrift in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen (1855, St. 70–72) und der Verfasser des Aufsatzes „Die geschichtliche Grundlage der Dietrichssage“ (in Henneberger’s Jahrbuch für deutsche Litteraturgeschichte Bd. 1, S. 159–179) ein ganz anderes Gesicht. Er fühlt sich jetzt ausgesprochen als der Vertreter einer von Lachmann und Müllenhoff grundverschiedenen Auffassung der germanischen Heldensage, wenn er auch an gewissen Hauptpunkten seiner ursprünglichen Erklärung der Sage zeitlebens festhält, und er hat diesen neugewonnenen Standpunkt festgehalten und seine Methode immer straffer ausgebildet über den Germaniaaufsatz von 1869 bis zu den beiden Büchern, welche er als sein wissenschaftliches Testament ansah. Erst jetzt trat, weit deutlicher als in der „Altdeutschen Religion“, der Einfluß von Otfried Müller’s „Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie“ (1825) und desselben Gelehrten „Geschichte hellenischer Stämme und Städte“ (seit 1820) hervor, aber stärker noch als die Werke des alten Lehrers wirkte der beständige Verkehr mit dem Bruder, dem Verfasser der „Mythologie der griechischen Stämme“ (1857–1869). Wieweit sich W. M., der stets ein starke Gefühl der Selbständigkeit besaß, über diese Einflüsse klar gewesen ist, läßt sich um so schwerer sagen, als die neue Methode seiner eigensten Art so sehr entsprach, daß sie ihr immerhin auch direct hätte entspringen können. Denn sie schaltete Momente aus, für die M. kein Organ besaß, dichterische Phantasie und künstlerische Gestaltung, und sie strebte nach „Formeln der historischen Symbolik“, die sich wie grammatische Gesetze und wie feste Linien des Bedeutungswandels greifen ließen. Schon daß M. nicht müde wurde zu betonen, Mythologie, religiöse und historische, habe nur dann ein Anrecht auf den Namen einer wissenschaftlichen Disciplin, wenn sie über die volle Beweiskraft einer sicheren Methode verfüge, und das könne und müsse sie, zeigt die Stärke und zugleich die Schwäche seines Verfahrens, das kein vorsichtig tastendes Einfühlen in diese oft so zarten Gebilde kannte.

Müller’s Fortschritt, und gewiß war es principiell ein solcher, liegt darin, daß er neben den historischen Grundlagen einer Heldensage und etwaigen durch unzweideutige Parallelen gesicherten Resten des religiösen Mythus ein drittes anerkannte und forderte: die mythische Umgestaltung des Geschichtlichen, die sich unter ähnlichen Formen vollziehe, wie die religiöse Symbolik. So erblickte er in der Sage Dietrich’s von Bern, deren Grundlagen er (im Gegensatze zu Wilhelm Grimm) in der Geschichte Theoderich’s des Großen gegeben fand, zugleich wesentliche Züge aus der Geschichte des ostgothischen Volkes vor und nach Theoderich, in symbolischer Umformung in die Lebensgeschichte des Nationalhelden eingereiht. Er sah mit Recht ein Verlegenheitszeugniß der Lachmann’schen Methode darin, daß sie den Rüdiger von Pöchlarn zu einem mythischen Localheros (religiöser Natur) stempelte, bloß weil er historisch nicht zu greifen war. Indem er nun aber diese Erkenntniß des „historischen Mythus“ neben der „historischen Sage“, den die Forschung auf dem Gebiete der griechischen Heldensage längst anerkannt hat, methodisch auszugestalten strebte, gelangte er seiner strengen und nüchternen Art gemäß zu einer Allegorisirung der Geschichte, welche mit Schablonen arbeitet: eine Brautwerbung bedeutete ein und für alle Mal die Eroberung eines Landes, und wenn sich die Brautwerbung wiederholte, dann mußte eben das Land zwei Mal erobert sein. So ist es gekommen, daß von den positiven Aufstellungen Müller’s wenig oder gar nichts anerkannt wurde, daß aber auch die faktischen Voraussetzungen seiner Methode nicht die unbefangene Prüfung gefunden haben, die sie unzweifelhaft verdienen.

[537] H. F(ischer) in der Beilage z. Münchener Allgemeinen Zeitung 1890, Nr. 24. – Lattmann, Nekrolog des Bruders Heinrich Dietrich Müller in den Neuen Jahrbüchern für Philologie 1894, II. Abtheilung, S. 344 bis 352. 392–400 (darin Mittheilungen aus der Familiengeschichte). – Der Nachlaß, soweit er nicht auf Veranlassung des Bruders vernichtet wurde, ist mir durch die Wittwe und Tochter M.’s zur Verfügung gestellt worden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: und und