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ADB:Eschenbach, Wolfram von

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Artikel „Eschenbach, Wolfram von“ von Elias von Steinmeyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 6 (1877), S. 340–346, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Eschenbach,_Wolfram_von&oldid=- (Version vom 30. Dezember 2024, 15:53 Uhr UTC)
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Band 6 (1877), S. 340–346 (Quelle).
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Eschenbach: Wolfram v. E., der größte Dichter des deutschen Mittelalters, ist in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts aus ritterlichem Geschlecht geboren. Das wenige, was wir über seine Lebensschicksale wissen, muß aus spärlichen Andeutungen in seinen Werken geschlossen werden, und ist daher unbestimmter und unsicherer Natur. Er nennt sich selbst einen Baiern nach dem ungenauen Sprachgebrauche seiner Zeit; in der That lag der Stammsitz seiner Familie, seine Heimath Eschenbach, vier Stunden von Ansbach, also in Mittelfranken. Doch nicht dort wohnte er später, sondern in Wildenberg, jetzt Wehlenberg [341] bei Ansbach. Wahrscheinlich war er ein jüngerer Sohn seines Geschlechtes: dazu stimmt, daß er über Mangel und Entbehrung öfters klagt. Seine wenig günstigen äußeren Verhältnisse zwangen ihn zu einem fahrenden Leben, in welchem seine Kunst ihm den Unterhalt verschaffte. Wir finden ihn daher nicht nur an den Höfen der seinem Wohnorte benachbarten Adelichen, sondern auch an dem fürstlichen Hofe von Thüringen, welcher in den beiden ersten Decennien des 13. Jahrhunderts deutsche Dichter von nah und fern heranzog. Wie diese wird aber auch Wolfram dort nur zeitweise, kommend und gehend, verweilt haben. Jedenfalls ist er am Schlusse seines Lebens in seine Heimath zurückgekehrt und dort gestorben, nach 1216: denn den in diesem Jahre verschiedenen Landgrafen Hermann, seinen Gönner, bezeichnet er gegen Ende des Willehalm (417, 22) als todt. In der Liebfrauenkirche zu Eschenbach ist er, nach Zeugnissen des 15. und 17. Jahrhunderts, begraben worden. Daß er verheirathet war und Kinder besaß, scheint aus manchen gelegentlichen Anspielungen zweifellos hervorzugehen.

Zur Erkenntniß des Wesens und der Bedeutung des Mannes sind wir ausschließlich auf seine Werke angewiesen. Denn die Lobsprüche ebenso seiner Zeitgenossen wie seiner zahlreichen Nachahmer und Verehrer späterer Zeit sind sämmtlich in ihrer Allgemeinheit wenig lehrreich. Wir besitzen von Wolfram außer einigen lyrischen Gedichten, meist schwungvollen Tageliedern, zwei umfangreiche Epen in Reimpaaren, den „Parcival“ und „Willehalm“, und zwei strophische Lieder, welchen wir den Namen „Titurel“ nach ihrem Eingange zu geben pflegen. Von diesen ist der Parcival das älteste Werk, dann folgen „Titurel“ und „Willehalm“, an welchen er gleichzeitig gearbeitet zu haben scheint. Der „Parcival“ besteht aus 827 Abschnitten zu je 30 Zeilen, und ist in 16 Bücher getheilt. Nach einer Vorgeschichte von Parcivals Eltern, Gahmuret und Herzeloyde, wird zunächst berichtet, wie nach des Gatten Fall Herzeloyde ihren Sohn in Einsamkeit und Unkenntniß alles Ritterthums erzieht, damit nicht auch er ein Opfer seines Thatendurstes werde, wie aber diese Vorsorge sich als vergeblich erweist: denn der Knabe erblickt Ritter, die er ihrer glänzenden Erscheinung halber für Gott ansieht, und verlangt nun, ebenfalls Ritter zu werden. Trotzdem seine Mutter ihm Thorenkleider und ein elendes Pferd mitgibt, damit er durch den Spott der Leute abgeschreckt wieder zu ihr zurückkehre, gelangt Parcival zu Artus und erwirbt sich bei diesem durch die Tödtung des Ither die Ritterwürde. Aber die eigentlich ritterliche Ausbildung wird ihm erst durch Gurnemanz von Graharz zu Theil: dieser versieht ihn mit denjenigen Verhaltungsvorschriften, welche für sein späteres Leben bestimmend und verhängnißvoll werden. Er befreit weiter die von dem König Clamide bedrängte Kondwiramurs und heirathet sie. Aber nicht lange duldet es ihn daheim, bald zieht er auf neue Abenteuer aus und gelangt, ohne es zu wissen, zur Gralburg: doch all der Jammer, dessen Zeuge er dort bei Tafel wird, vermag ihn nicht zur Erkundigung nach dem Grunde desselben zu bestimmen. Diese Frage würde den Gralkönig Anfortas von seinen Leiden befreit und dem Parcival selbst das Gralkönigthum, die höchste irdische Wonne, verschafft haben. Da er die Frage unterlassen hat, verfolgt ihn der Fluch der Gralbotin bis an den Hof des Artus und trifft ihn dort gerade in dem Augenblicke, wo er der höchsten Ehre genießt. Parcival muß jetzt Artus verlassen, aber sein Herz wird verstockt; statt zu büßen wendet er sich von Gott ab; ohne ihn will er den Gral erwerben. Fünf Jahre hindurch, während deren der Dichter ihn uns entrückt und Gawein die Rolle des Haupthelden zuweist, bleibt er in diesem Zustande, von Abenteuer zu Abenteuer jagend und nach dem Gral forschend, bis endlich an einem Charfreitag das Gespräch mit einem bußfertig zum Gottesdienst eilenden Ritter ihn zur Einkehr in sich selbst bewegt und der längere [342] Umgang mit dem Einsiedler Trevrizent, dem Bruder des Anfortas, das Werk der inneren Läuterung vollendet. Da ist denn auch alsbald der Zorn des Grals gestillt: die Botin desselben erscheint an Artus’ Hof, an welchem Parcival mit seinem Halbbruder Feirefiz weilt, und fordert ihn auf, nunmehr seine Herrschaft anzutreten. Parcival eilt dahin, stellt die erlösende Frage und wird, mit seiner Gemahlin wieder vereinigt, König des Grals.

Die Quelle, aus welcher Wolfram diesen Stoff schöpfte, von dessen Reichthum die gegebene gedrängte Uebersicht kaum eine schwache Vorstellung zu bieten vermag, ist bisher immer noch nicht mit voller Sicherheit ermittelt. Wolfram selbst nennt als seinen Gewährsmann einen Provençalen Kîot, der aber nordfranzösisch gedichtet habe. Von einem solchen wissen wir jedoch sonst absolut nichts: man hat daher angenommen, daß eine Verwechslung mit Guiot von Provins (bei Paris) vorliege. Guiot von Provins war ein Cluniacensermönch, welcher zwischen 1203 und 1208 ein satirisches Gedicht auf alle Stände, namentlich aber auf den geistlichen, schrieb. Doch eine Vergleichung der in diesem, „Bible“ betitelten, Gedichte hervortretenden Lebensauffassung mit der, welche für eine Quelle Wolframs vorauszusetzen wäre, läßt jede Identificirung von Kîot mit Guiot von Provins unthunlich erscheinen. Dazu kommt nun noch der Umstand, daß Chrestiens’ von Troies „Conte del Graal“ mit einem großen Theil des Parcival eine so genaue Uebereinstimmung verräth, daß man entweder annehmen muß, Chrestiens habe Kîot, oder Kîot Chrestiens ausgeschrieben, oder aber, Chrestiens’ Gedicht, nicht Kîots, sei Wolframs Quelle. Und die letztere Annahme hat die meiste Wahrscheinlichkeit: denn gesetzt, es habe Wolfram wirklich einen Gralroman Kîots vor sich gehabt, so mußte ihn doch die weitgehende Congruenz desselben mit dem Werke Chrestiens’, das Wolfram, wie er selbst bezeugt, sehr wohl kannte, dermaßen frappiren, daß er nicht Kîot als die einzige lautere Grundlage ansprechen durfte, um so weniger, da es nach Parcival 827, 1 den Anschein hat, daß Wolfram selbst Kîot als jünger denn Chrestiens und als dessen Kritiker annimmt. Die Unwahrscheinlichkeit eines Kîot’schen Gralromans wird endlich voll durch die fabelhafte Vorgeschichte von Kîots Buch, die uns Wolfram auftischt. Wir werden daher anzunehmen haben, daß alles, was Wolfram über Chrestiens hinaus, dessen Werk ihm unvollendet vorlag, mittheilt, aus seiner eigenen Phantasie geschöpft sei, und daß besondere Gründe ihn geleitet haben mögen, wenn er zur Deckung seiner Zuthaten zu und seiner Abweichungen von Chrestiens’ damals gewiß in Deutschland schon bekannter Erzählung einen geheimnißvollen Gewährsmann Kîot fingirte.

Aber freilich auch Chrestiens hat den Stoff, den er bearbeitete, nicht erfunden; dieser ist älter, er ist aus der Arbeit mehrerer Jahrhunderte und Völker erwachsen. Auf der einen Seite war ein wallisisches Märchen von Peredur vorhanden, auf der anderen eine christliche Legende von Joseph von Arimathia, in welchem der Gral, das Gefäß, dessen sich Christus am Gründonnerstage beim Abendmahl bedient hatte (mittellat. gradalis), eine besondere Rolle spielte. Diese beiden Sagen sind später auf dem Continente zu einer zusammengeflossen: wie und wann, wissen wir nicht, nur daß auf die Ausbildung des Stoffes die zunehmende Bedeutung des Templerordens von Einfluß gewesen ist, scheint festzustehen.

Dem gleichen Sagenkreise gehören Wolframs Titurellieder an. Sein „Willehalm“ dagegen behandelt eine Partie aus dem großen Mythencomplex, der sich um den historischen Herzog Wilhelm von Aquitanien seit dem 9. Jahrhundert gebildet hatte. Die unmittelbare Quelle des deutschen Dichters, welche ihm der Landgraf Hermann verschaffte, ist die Bataille d’Aliscanz, doch auch diese von ihm sehr frei bearbeitet. Der „Willehalm“ ist unvollendet, wahrscheinlich [343] ist Wolfram darüber gestorben: denn er, der seine beiden Epen, ja sogar vom fünften Buche des „Parcivals“ an jedes einzelne Buch derselben in Abschnitte von je 30 Zeilen theilt, würde nicht den Willehalm mit der achten Zeile eines solchen geschlossen haben.

Alle unsere mittelalterlichen Dichter schöpfen den Stoff ihrer Erzählungen aus der mündlichen Tradition oder aus schriftlichen Vorlagen; erst die spätesten und unbedeutendsten stehlen sich Inhalt und Motive aus verschiedenen Gedichten zusammen. Für die Beurtheilung der poetischen Gestaltungskraft kommt es also wesentlich in Betracht, welche Stellung der Dichter seinen Quellen gegenüber einnimmt. Chrestiens’ „Conte del Graal“ bot Wolfram eine gewaltige Masse von verworrenen Abenteuern ohne rechte Einheit. Mit großem Geschick hat Wolfram alles störende ausgeschieden und das, was er beibehielt, der Durchführung eines einheitlichen Grundgedankens dienstbar gemacht. Nach dieser Hinsicht ist der „Parcival“ ein psychologischer Roman geworden, dem wir aus unserer älteren Litteratur nur Gottfrieds „Tristan“ an die Seite stellen können. Es wird darin gezeigt, wie ein trefflicher hochbegabter Jüngling durch die stricte Erfüllung der conventionell ritterlichen Gebote seine Herzenseinfalt so völlig einbüßt, daß er eine Probe reiner Herzensgüte, deren Bestehen ihn zu des Lebens höchster Glückseligkeit und zu seinem ewigen Heile berufen haben würde, nicht besteht; wie er darauf in schwere innere Kämpfe verfällt, aus denen er endlich geläutert hervorgeht und nun jenes Ziel erreichen kann, welches ihm schon früher zugefallen wäre, hätte er nicht seine Unschuld verloren gehabt. Geht somit durch das ganze Gedicht eine planvolle Entwicklung, deren Kern bereits in dem Eingang sich ausgesprochen findet, so hat Wolfram auch nicht versäumt, im einzelnen alle Handlungen Parcivals diesem Grundgedanken unterzuordnen und sie in sich genügend zu motiviren, während seine französische Quelle ebenso wie viele deutsche aus dem Französischen schöpfende Romane den Helden nur darum aus einem Abenteuer in das andere stürzen lassen, damit er seine Unbezwinglichkeit zeige. Doch nicht nur die Hauptperson des Gedichtes erfreut sich einer solchen innerlichen Vertiefung, auch alle übrigen sind mit gleicher Liebe und Meisterschaft, wenn auch zuweilen nur mit wenigen Strichen, gezeichnet. Eine jede hat ihren besonderen Typus; während wir in den landläufigen Artusromanen die einzelnen Personen fast wie Marionetten kommen und gehen sehen und sie sich von einander oft nur durch die Kleidung oder als Vertreter verschiedener Abstractionen unterscheiden, zeigt sich bei Wolfram überall frisches natürliches Leben. Insbesondere die Frauencharaktere sind von großer Mannigfaltigkeit und bis ins feinste Detail verschieden angelegt: so die zärtlich besorgte Mutter Herzeloyde, die jungfräulich verschämte Sigune (im „Titurel“), die treuliebende Gattin Kondwiramurs, das liebliche, naive Kind Obilot und die glänzende, kokette Orgeluse. Ja dort, wo Parcival in der höchsten Verzweiflung sich befindet und ihn der Dichter darum unseren Augen entzieht, da macht er den eleganten Gawein zum Herren des maeres und gibt uns so neben dem tiefinnerlichen Parcival ein Bild der andern, der oberflächlichen Menschenclasse.

Aber Wolframs „Parcival“ ist nicht nur ein psychologischer Roman. Es soll auch das Ideal des Ritterthums in ihm dargestellt und gezeigt werden, wie nur die Verbindung wahrhaft christlichen Sinnees mit der körperlichen Tüchtigkeit und dem äußern Anstande den echten Ritter schaffe. Das tritt noch stärker im „Willehalm“ hervor. Sanct Willehalm ist das Muster, nach dem sich jeder Ritter bilden soll. Darum ist nun freilich Wolfram nicht im geringsten ein Reformator vor der Reformation, zu dem man ihn so gern hat stempeln wollen: im Gegentheil, bei ihm weht so specifisch mittelalterlicher Geist wie kaum bei einem andern unserer alten Dichter. Man darf eben nicht vergessen, daß Wolfram als sein Publicum die damalige ritterliche Gesellschaft im Auge hatte, wie er denn selbst seinen [344] ritterlichen Stand mehrfach betont und ihn höher achtet als seine Dichtkunst, und daß es für ihn galt, die conventionellen Anschauungen dieser Kreise mit dem Christenthum in Einklang zu bringen; zu diesem Zwecke mußte sich klärlich die kirchliche Lehre einige Modificationen gefallen lassen. In diesem Betrachte ist Wolframs Poesie ausgesprochenste Standespoesie, während dagegen Gottfried von Straßburg auf dem allgemein menschlichen Standpunkte und daher unserm modernen Gefühle näher steht: nur fehlt ihm der sittliche Halt und die ethische Tendenz.

Wir können verfolgen, wie die deutsche Dichtung entstanden ist aus der gegenseitigen litterarischen Befehdung der Geistlichen und der Spielleute, denen dann als dritter litterarischer Factor die Ritter in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts hinzutraten. Während sich so jeder Stand gegen den andern abschloß, ist es gerade das Verdienst unserer größten Dichter, Wolframs und Walthers, eine Versöhnung und Verschmelzung der feindlichen Parteien angebahnt zu haben, indem sie die fruchtbaren Elemente in der geistlichen und Spielmannspoesie herausfanden und ihre Ueberführung in die ritterliche nicht verschmähten. So hat Wolfram das Volksepos sehr wohl gekannt und nimmt des öftern Gelegenheit, auf dasselbe anzuspielen: so hat er eine große Menge von diesem eigenthümlichen Worten und Wendungen, die in der sonstigen ritterlichen Dichtung verpönt waren, ohne Scheu angewandt: so hat er sich nach Art der Spielleute und vielleicht mit Benutzung ihrer Erzeugnisse eine Vorgeschichte von Parcivals Eltern erfunden, von der in seiner Quelle keine Spur vorhanden war: so hat er endlich für seine Titurellieder einer nur wenig modificirten volksthümlichen Strophe sich bedient. Anklänge an die geistliche Poesie durchziehen seine Werke, deren ganzer Inhalt ja religiös gefärbt ist. Wolfram besaß ferner nicht unbedeutendes theologisches Wissen, wenn dies auch kein schulmäßig angeeignetes, sondern, wie seine sonstigen umfassenden Kenntnisse auf allen Gebieten der damaligen Gelehrsamkeit, ihm nur durch Hörensagen vermittelt und daher ungenau und verworren war. Denn Lesen und Schreiben verstand er seiner eigenen Angabe zufolge ebenso wenig wie viele andere seiner Standesgenossen. Doch kokettirt er gern mit seinem Wissen, namentlich mit seinen Kenntnissen der französischen Sprache, wenn dieselben auch ziemlich mangelhaft waren und wir uns öfter in der Lage befinden, dem Dichter starke Mißverständnisse seiner romanischen Vorlagen nachzuweisen. Auch seine Bekanntschaft mit deutscher und romanischer Litteratur ist bedeutend.

Wolfram ist eine durchaus subjective Natur. Er besitzt eine lebhafte Phantasie. Jeder Gedanke, jedes Wort, das er ausspricht, regt in ihm eine ganze Reihe weiterer Vorstellungen an, welche in rascher Aufeinanderfolge, eine die andere verdrängend, endlich in Bildern sich Ausdruck schaffen, die anscheinend dem verglichenen Gegenstande ganz fern liegen. Und darin besteht eine Hauptschwierigkeit für das Verständniß des Dichters, daß er die Zwischenglieder seiner Gedanken ausläßt und so den Glauben erweckt, als würden wir, seine Leser, durch die regellosen Sprünge seiner Phantasie nur irre geführt. Das ist Wolfram schon bei seinen Lebzeiten von Gottfried von Straßburg mit scharfen Worten und feinem Geschmack zum Vorwurf gemacht worden. Wolframs Phantasie ist aber nicht nur lebhaft, sie ist auch anschaulich: seine großartigen und hochpoetischen Bilder sind daher zumeist aus dem Natur- oder Thierreich entlehnt. Doch verschmäht er auch Vergleiche aus dem alltäglichen Leben nicht: und diese Zusammenstellung oft der disparatesten Begriffe, dieses Nebeneinander des idealsten Schwunges und der realsten Wirklichkeit verleiht seiner Ausdrucksweise den eigenthümlich humoristischen Anstrich. Die Fülle seiner Anschauungen ist so groß, daß er sie zuweilen nicht unterbringen kann, daß er zu kühnen Constructionen greifen muß, um nur eine Ahnung von dem uns zu geben, was er alles zu sagen [345] wünschte, daß er oft in schwerverständliche Formeln das zusammenzupressen sucht, was er auf dem Herzen hat: daher auch seine kühnen Wortbildungen, seine Neigung, Abstracta zu personificiren. Der Vers von vier Hebungen hat nicht Raum genug, um seinen Gedankenreichthum aufzunehmen; daher überfüllt er die Zeile und erlaubt sich stärkere Kürzungen, als die Kunst seiner Zeit gestattete; auch dies recht im Gegensatz zu seinem Antipoden Gottfried. Wolfram lebt so ganz in den Personen und Begebenheiten, die er gerade schildert, daß er dieselbe Theilnahme auch bei seinen Hörern voraussetzt: daher seine häufigen Anreden und Fragen an dieselben, die Fragen, die er als an sich aus der Mitte seines Publicums gestellt fingirt und die Antworten darauf. Auch die vielen Vorausdeutungen auf die weitere Entwicklung der Fabel, die mannigfaltigen Umschreibungen der Personen spannen das Interesse des Zuhörers. Mit dieser Lebhaftigkeit hängen noch manche Eigenheiten seines Stils zusammen, so der häufige Uebergang aus indirecter in directe Rede, die zahlreichen ἀπὸ κοινοῦ u. a. m.

Von keinem Dichter unseres Mittelalters sind so viele Handschriften auf uns gekommen, wie von Wolfram, ein Zeichen, wie beliebt er war. Seine hohe Werthschätzung bekundet am frühesten Wirnt von Gravenberg, welcher, als erst einige Bücher des „Parcivals“ heraus waren, über den Dichter ausruft: leien munt nie baz gesprach. Vielfach ist Wolfram nachgeahmt worden: aber meist waren es nur die schnörkelhaften Auswüchse seiner Manier, das alleräußerlichste, was die spätern ihm absahen; ja es gibt Dichter, die so armselig waren, daß sie ihm ganze Versdutzende stahlen, und denen man nachweisen kann, daß sie vor jeder eigenen Leistung durch Wolframs Lectüre sich erst in die nöthige dichterische Stimmung versetzen mußten. Sein „Willehalm“ hat nachher durch zwei verschiedene Dichter eine Vor- und eine Nachgeschichte erhalten; der Anfang desselben wurde auch ins Lateinische übersetzt. Sein „Parcival“ erfuhr im 14. Jahrhundert nach dem 14. Buch einen umfangreichen Zusatz durch die Einschaltung einer poetischen deutschen Uebersetzung des Werkes eines der Fortsetzer Chrestiens’, des Manessier. An Wolframs Titurelliedern aber baute Albrecht v. Scharfenberg in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts seinen endlosen „jüngeren Titurel“ auf, ein überaus geschmackloses, aber höchst gelehrtes und nach vielen Seiten hin wichtiges Gedicht. Da Albrecht an mehreren Stellen sich einer Ausdrucksweise bedient, welche die Autorschaft des jüngeren Titurel Wolfram zu vindiciren geeignet war, so wurde das Gedicht in der Folge ganz allgemein Wolfram zugeschrieben, und gerade dieses abstrusen Werkes wegen er am meisten verehrt. Erst Lachmann hat den Wahn zerstört. An Wolfram knüpfen endlich auch an der „Lohengrin“ und der „Wartburgkrieg“.

Wolfram von Eschenbach, herausgegeben von Karl Lachmann, dritte Ausgabe, Berlin 1872. – Ueber Wolframs Wappen und Grab s. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. 1861. Sp. 358. – Ueber die Gralsage vgl. San Marte (A. Schulz), Die Arthursage, Quedlinburg und Leipzig 1842. Zarncke, Zur Geschichte der Gralsage, in Paul-Braune’s Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur 3. (1876) S. 304 ff. – Ueber Kîot vgl. Rochat in der Germania 3. S. 81 ff. San Marte, Parcival-Studien, Heft 1, Halle 1861. Bartsch in seinen Germanistischen Studien II. (1875) S. 114 ff. – Ueber die Quelle des Willehalm vgl. San Marte, Ueber Wolframs von Eschenbach Rittergedicht Wilhelm von Orange, Quedlinburg und Leipzig 1871. – Ueber die Reihenfolge von Parcival und Titurel vgl. Herforth in der Zeitschrift f. d. Alterthum 18. S. 281 ff. – Ueber den Grundgedanken des Parcival vgl. insbesondere die treffliche Schrift von Karl Reichel, Studien zu Wolframs Parcival, Wien 1858. – Ueber Wolframs Stil vgl. die Dissertation von Jänicke, De dicendi usu Wolframi de Eschenbach, [346] Halis 1860. Kinzel, Zur Charakteristik des Wolframischen Stils, Zeitschrift f. d. Philologie 5. S. 1 ff. Förster, Zur Sprache und Poesie Wolframs, Leipzig 1874. Bötticher, Ueber die Eigenthümlichkeiten der Sprache Wolframs, Germania 21. S. 257 ff.