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ADB:Lachmann, Karl

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Artikel „Lachmann, Karl“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 471–481, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lachmann,_Karl&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 11:44 Uhr UTC)
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Lachmann: Karl L., Philolog. Er wurde am 4. März 1793 zu Braunschweig geboren als der Sohn eines aus der Altmark stammenden Predigers, dessen Vorfahren seit lange im protestantischen Pfarrdienste gestanden hatten. Der Vater war theologischer und pädagogischer Schriftsteller, auch ein wenig Dichter und praktischer Pädagog, gegen seine Kinder streng und hart, immer auf das Lehrhafte und Nützliche bedacht, der freieren Bildung abgeneigt. Die Mutter, eine geborne v. Löben, starb ehe der Sohn des zweite Jahr erreicht hatte. L. [472] machte unter der Leitung des Vaters schnelle Fortschritte; schon im achten Jahre kam er auf das Gymnasium (das Katharineum, das unter der Leitung Heusinger’s blühte) und verließ es im Frühjahr 1809, um zunächst ein Semester lang in Leipzig Theologie zu studiren und nebenbei ein philologisches Colleg bei Gottfried Hermann zu hören, dann vom Herbst an in Göttingen mit wachsender Vernachlässigung der Theologie und zuletzt ausschließlich unter Heyne, Mitscherlich, Wunderlich und Dissen sich der klassischen Philologie zu widmen. Heyne galt ihm und seinen Genossen, unter denen Bunsen, Ernst Schulze, Klenze, Brandis hervorragten, als halb veraltet; Dissen zog sie am meisten an; die romantische Freude an den fremden modernen Litteraturen führte sie zu Shakespeare, Calderon u. A. L. speciell trieb eifrig Italienisch und Englisch und empfing aus Benecke’s Vorlesungen über altdeutsche Dichter eine Anregung für’s Leben. Sich in deutschen Werken zu versuchen, lag einem jungen Manne, dem Rhythmus und Reim leicht wurden, damals sehr nahe, auch wenn sein poetisches Talent im übrigen nicht weit reichte. L. verfaßte fromme Gesänge im Stile des Hans Sachs, dichtete patriotische Strophen wie Körner und Schenkendorf und griff gerne zum Sonett, um persönliche Stimmungen und Verstimmungen zum Ausdruck zu bringen. Er hat später auch Uebersetzungen von Shakespeare’s Sonetten (1820) und von Shakespeare’s Macbeth (1829) drucken lassen, welche durch allzu genauen Anschluß an das Original gehemmt waren. Seine patriotische Gesinnung führte ihn im Frühling 1815 unter die Waffen; aber er kam nicht an den Feind. Vorher hatte er sich in Göttingen habilitirt; indessen ging er, sobald das Detachement freiwilliger Jäger, dem er angehörte, aufgelöst war, nach Berlin, wo er die Prüfung für das höhere Schulfach ablegte, eine Stelle am Friedrich-Werder’schen Gymnasium erhielt und sich im April 1816 an der Berliner Universität mit der berühmten Schrift „Ueber die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ habilitirte. Aber auch in Berlin hielt er zunächst keine Vorlesungen: er kam noch im Sommer desselben Jahres auf eine bessere Schulstelle nach Königsberg, die er 1818 mit einer außerordentlichen Universitätsprofessur vertauschte. Seine Vorlesungen griffen wie seine einstweilen noch spärliche litterarische Thätigkeit in die deutsche und die klassische Philologie ein. Nach beiden Seiten hin zu wirken wurde bald auch in Berlin sein Beruf, dem er mit unermüdlicher Pflichttreue, weithin angesehen und gefürchtet, bis zu seinem Tode am 13. März 1851 nachlebte: 1825 war er auf seinen Wunsch an die Berliner Universität versetzt worden; 1827 erhielt er die Ernennung zum Ordinarius; seit 1829 leitete er die lateinische Abtheilung des philologischen Seminars; seit 1830 gehörte er der Akademie der Wissenschaften an. 15 Jahre lang war seine häusliche Existenz in Berlin eng mit der seines Freundes Klenze verbunden; als dieser starb, begann für ihn wieder ein zum Theil unbehagliches Junggesellenleben, das sich aber durch den lebhaften Verkehr mit vielen ausgezeichneten Männern und durch den fruchtbaren Contact mit jüngeren Genossen und Schülern innerhalb wie außerhalb Berlins schön ergänzte. Er war im Grunde seines Wesens ein einfacher, frommer, treuer und warmer Mensch, der sich das Zutrauen und die Liebe derer erwarb, die ihm wirklich nahe traten. Aber eine gewisse Schärfe verleugnete sich nirgends und konnte leicht verletzen. Die kritische Begabung, auf der seine wissenschaftliche Größe ruhte, machte sich fortwährend auch im Leben geltend. Wie er in friedlichster Geselligkeit am Necken, Höhnen und Spotten seine Freude hatte, so war er im bittersten Ernst ein schonungsloser Tadler und Verfolger dessen, was er für falsch und unerlaubt hielt. Der philologische Herausgeber, der das Echte zu suchen und auf Correctheit zu dringen, gegen die Trägheit, die Willkür, den Leichtsinn alter Schreiber und moderner [473] Setzer unermüdlich zu kämpfen hatte, eiferte überall für die Wahrheit und wider den Schein, für correcte Haltung und gewissenhafte Methode im Forschen und Leben. Den stets wachen Verstand, die gründliche Vorbereitung, das besonnene Urtheil, das ihm eigen war, hielt er für so selbstverständlich und jedermann zugänglich, wie richtiges Lesen und Schreiben; und wo er diese Eigenschaften vermißte, schloß er daher auf sittliche Mängel, die er niemals verzieh. Er glaubte Trägheit und Arbeitsscheu zu finden, wo vielleicht nur ungeschulte Vielthätigkeit; Eitelkeit und Prahlerei, wo vielleicht nur regelloses Phantasiren vorlag. Aber diese Einheit des moralischen und des intellectuellen Menschen, dem die Besonnenheit der Forschung als heiligste Pflicht erschien, gab seiner Persönlichkeit eine großartige Geschlossenheit, seinen Leistungen eine vollendete Sauberkeit, seinem Beispiel eine hohe erziehende Kraft, die noch heute unter uns fortwirkt. Er hatte das Selbstgefühl eines Mannes, der es mit der Aufgabe, die ihm übertragen, nie leicht genommen und auf seinem strengen Wege große Erfolge errungen hat. Aber er war doch fern von der Ueberhebung, als ob seine Art die einzig erlaubte; er beugte sich vor der Genialität Jacob Grimm’s, wie dieser seinerseits die Ueberlegenheit des Freundes auf dessen speciellem Gebiete willig anerkannte. „Er war zum Herausgeber geboren“, sagte er in seiner akademischen Gedächtnißrede auf L.: „seines gleichen hat Deutschland in diesem Jahrhundert noch nicht gesehen“. Alle Feinheit des poetischen Nachempfindens, alles Stilgefühl, alle Aufmerksamkeit auf Silbenmaß, Rhythmus und Reim, alles vielseitige Interesse an der klassischen, mittelalterlichen und modernen Litteratur, wie es die Romantik pflegte, und dazu die neue Methode der historischen Schule, wie sie theils auf der Philosophie der Aufklärung, theils auf der im Gegensatze zur Aufklärung gekräftigten Ehrfurcht vor der Vergangenheit beruhte, dieses Alles stellte er in den Dienst der kritischen Philologie.

Er begann seine ruhmvolle Thätigkeit mit einer Edition des Propertius, welche 1816 erschien; und gleich in diesem ersten Werk bewies er sich als einen Bahnbrecher: er suchte nicht einen möglichst glatten, sondern einen möglichst echten Text zu liefern. Wie man um dieselbe Zeit anfing, innerhalb der Quellen unserer geschichtlichen Kenntnisse zwischen gleichzeitigen und späteren, ursprünglichen und abgeleiteten zu unterscheiden und die Zeugen nicht zu zählen, sondern zu wägen, so ging auch Lachmann’s Bestreben dahin, sich nicht von der oft erdrückenden Masse vorhandener Manuscripte eines alten Autors imponiren zu lassen, sondern seine Kritik nur auf diejenigen zu gründen, welche in der That Ueberlieferung und nicht etwa die eigenen Einfälle eines gebildeten Schreibers, die glücklichen oder unglücklicheren Verbesserungen italienischer Humanisten darbieten und weiter die erkannte Ueberlieferung zwar mit gebührendem Respekt, aber auch mit rücksichtsloser Schärfe und auf Grund einer umfassenden Erforschung von Sprachgebrauch und Metrik des Dichters zu prüfen, vor offenkundigen Verderbnissen die Augen nicht zu schließen, ihre Heilung mit allen Mitteln zu erstreben, aber auch die Kunst des Nichtwissens, wo es nöthig, zu üben. Während er in dieser ersten Ausgabe, nicht ohne Kühnheit, einen lesbaren Text herstellen wollte und einen kritischen Commentar beifügte, gab er 1829 einen neuen Abdruck der properzischen Elegien, welcher lediglich den Stand der Ueberlieferung darlegen sollte; und gleichzeitig leisteten Ausgaben des Catullus und Tibullus diesen Dichtern den gleichen Dienst: beim Catull suchte er die verlorene Veroneser Handschrift wieder herzustellen, aus der alle vorhandenen Abschriften geflossen sind: beim Tibull legte er ein ähnliches Verhältniß klar, nur daß von einem bestimmten Punkt an eine zweite gleichfalls verlorene und unvollkommen bekannte Handschrift hinzutritt (vgl. Kleine Schriften 2, 146). Mit gleichem Scharfsinn drang er überall in die Geschichte der Ueberlieferung ein, welche stets eine Geschichte [474] der allmählichen Verderbniß ist; und wie er für die kritische Regel das schärfste Verhör aller Zeugen verlangte, so für die grammatische die vollständige Induction: beide Forderungen hat er gegenüber Gottfried Hermann schon 1818 entschieden ausgesprochen (Kleine Schriften 2, 2; 7). Neben dieser charakteristischen Grundrichtung steht seine Conjecturalkritik in zweiter Linie, obgleich er sie mit dem größten Glücke leicht und sicher übte. Der neugefundene griechische Fabeldichter Babrius reizte ihn und einige Freunde zur Emendation und zu einer rasch gefertigten Ausgabe (1845); er führte ihn zum Studium des römischen Fabulisten Avianus, der zum Theil aus Babrius schöpfte; dessen Ueberlieferung ward erforscht, sein Zeitalter bestimmt und ein neuer Text gedruckt (1845). Ein anderer lateinischer Dichter aber, Lucretius, offenbarte Lachmann’s kritische Meisterschaft am glänzendsten: auch hier schien sich ein überraschend genaues Bild von der Geschichte der Ueberlieferung zu ergeben und die Verbesserung erfolgte auf Grund ausgedehnter Studien in der gesammten römischen Litteratur, von welchen ein ausführlicher Commentar durch zahlreiche, subtile Bemerkungen über Einzelheiten der Metrik und des Wörterbuches, über Lautlehre und Orthographie, Formenlehre und Syntax sowie durch viele Emendationen zu anderen lateinischen Autoren ein beredtes Zeugniß ablegte. Nebenbei ward eine Edition der Fragmente des Satirikers Lucilius beinahe fertig, die aber erst 1876 durch Vahlen’s Bemühung ans Licht trat. Den römischen Grammatikern hatte er seine Aufmerksamkeit vorlängst zugewendet, insbesondere den Terentianus Maurus schon 1836 behandelt und in die Kritik des M. Terentius Varro ein neues folgenreiches Princip eingeführt (Kleine Schriften 2, 164). Die Texte der römischen Feldmesser, die er mit Bluhme und Rudorff edirte (Bd. I 1848, Bd. II unter Mommsen’s Betheiligung 1852), sind durch ihn erst lesbar und aus einer unglaublichen Verderbniß herausgearbeitet worden, obschon seine Gleichgültigkeit gegen ihren Inhalt noch manche Fehler verschuldete; und während er sonst sehr knappe Rechenschaft von seinem Verfahren ablegte, auch wol nur das Resultat hinstellte und die Gründe zu finden dem Leser selbst überließ, gab er hier eine frische, lebhaft geschriebene Auseinandersetzung, der man die Freude des Findens und Entdeckens, des allmählichen mühsamen, aber siegreichen Vordringens anmerkt. Die Kritik der römischen Rechtsquellen hat er mehrfach, insbesondere in seinem reizenden Versuch über Dositheus (1837) und seinen durch tactvolle Auswahl des Bleibenden unter den Leistungen der Vorgänger noch mehr als durch eigene Observationen und Vermuthungen ausgezeichneteten Editionen des Gaius (1841, 1842) gefördert. Und wie er durch die kritische Herstellung der Feldmesser einen Wunsch Niebuhr’s erfüllte, so betheiligte sich L. auch durch die Ausgabe des Genesius (1834) an einem anderen Unternehmen, das Niebuhr ins Leben rief, an der großen Sammlung byzantinischer Geschichtschreiber. Griechische Profantexte hat er sonst, abgesehen vom Babrius, nicht edirt: sein eindringendes Studium der Tragiker war nicht auf Editionen berechnet. Wol aber widmete er dem Neuen Testamente, dem Originaltexte wie der lateinischen Uebersetzung des Hieronymus, jahrelange Sorgfalt. Und wie er im Verkehr mit Schleiermacher die Grundsätze feststellte, denen er folgen wollte, so war es ihm nicht blos ein Bedürfniß des philologischen Kritikers, sondern ein Bedürfniß des frommen Herzens, auch hier die späte Willkür zu beseitigen und zu den Grundlagen der Ueberlieferung vorzudringen. Er glaubte nicht blos der Wissenschaft, sondern auch der christlichen Gemeinde zu dienen, wenn er es unternahm die Textgeschichte des Neuen Testamtentes zu erforschen und nach festen Principien, unbekümmert um die recipirte Lesart, einen neuen Text darauf zu gründen. Aber eben weil es sich um die heiligen Schriften handelte, wollte er eigenes Urtheil und jede beschränkte Autorität so viel als möglich ausschließen; er verzichtete [475] daher in bescheidenster Fassung seiner Aufgabe gänzlich darauf, die wahre Lesart zu suchen; ja er suchte nicht einmal die älteste, sondern begnügte sich mit der ältesten unter den erweislich verbreiteten, wie sie aus dem Zeugniß der alten griechischen Handschriften, der Uebersetzungen und der ältesten kirchlichen Schriftsteller entnommen werden können. Das Ziel, das er sich dabei vorsetzte und vorsetzen mußte, nicht blos die einheitliche, sondern auch die in früher Zeit schwankende Ueberlieferung anschaulich zu machen, ward erst in der großen Ausgabe erreicht, bei der ihm Philipp Buttmann Hülfe leistete und deren erster Band 1842, deren zweiter 1850 erschien; während er in einer früheren Stereotypausgabe (1831, wiederholt 1837 und 1846) sich darauf beschränkt hatte, nur den Text einer der beiden großen Familien, in welche sämmtliche Handschriften zerfallen, der orientalischen, darzustellen. Man sieht, wie verschiedene Wissenschaften, welche dem Philologen ferner zu liegen pflegen, von Lachmann’s kritischem Genie ihren Vortheil zogen; es war nur billig, daß die juristische wie die theologische Facultät dem Meister ihren Doctorhut verliehen. Wie einst in den Zeiten des Humanismus die Philologie nach allen Seiten befruchtend wirkte, so kam der bedeutende Fortschritt philologischer Methode, der von L. ausging, sogleich und durch ihn selbst zweien Disciplinen zu gute, deren litterarische Fundamente auf den edelsten Kräften des sinkenden Alterthums beruhen.

Aber er ward auch für die Erkenntniß des Mittelalters und der heimischen Vorzeit fruchtbar. Und wenn L. auf dem Gebiete der klassischen Philologie die Textkritik vervollkommnete, so hat er sie auf dem Gebiete der altdeutschen Philologie fast allein gegründet und zugleich zu einer solchen Vollkommenheit gebracht, daß er von Niemand bis jetzt übertroffen ist. Es gab eine Zeit, wo ihm die mittelhochdeutsche Dichtung viel näher am Herzen lag als die klassische Litteratur. Kaum hatte er seinen Properz in erster Fassung herausgegeben, als er sich vorzugsweise altdeutschen Studien zuwandte. Alle die Ehrfahrungen, die er in der Schule der klassischen Philologie bis dahin gewonnen hatte, stellte er in den Dienst der älteren vaterländischen Poesie. Da gab es noch keine Grammatik, keine Metrik; die vorhandenen Ausgaben waren Abdrücke von Handschriften und es ließ sich erkennen, daß solche Handschriften die Sprache der Verfasser niemals rein wiedergeben, während es doch möglich schien dieselbe annähernd zu ermitteln. Benecke hatte einige Schritte vorwärts gethan, aber hiermit doch nur einen Anfang gemacht. L. suchte eine mittelhochdeutsche Grammatik und Metrik zu gewinnen; er erkannte, nach Benecke’s Vorgang, die Wichtigkeit der mittelhochdeutschen Reime, welche durch ihre Genauigkeit einen Anhalt für phonetische und orthographische Feststellungen gewähren; er legte sich aus allen ihm erreichbaren Quellen ein umfassendes Reimlexikon an und war schon weit vorgedrungen, als ihm Jacob Grimm’s deutsche Grammatik zu Hülfe kam und seine Studien ergänzte, berichtigte, festigte, wie er seinerseits Jacob Grimm’s Arbeiten fördern konnte und dafür dessen lauten Dank erntete. Aber wenn Grimm und L., seit 1819 in brieflichem Contact, für die Grammatik einander in die Hände arbeiteten, so war er in metrischen Dingen ganz allein auf sich selbst angewiesen. Am 10. Juni 1820 theilte er Jacob Grimm alles Metrische, was er wußte, mit und meinte, es sei wol nicht viel mehr als was Benecke auch wisse. Aber bald bemächtigte er sich ganz neuer Einsichten, und schon am 2. Juli 1823 übersandte er metrische Bemerkungen, welche die Grundzüge seiner Metrik nun vollständig enthielten (vgl. auch die Mittheilungen an Benecke am 24. November 1822: Germania 17, 115). Er hatte erkannt, daß die mittelhochdeutsche Metrik von der althochdeutschen, insbesondere von dem unvergleichlich gut überlieferten Otfried aus Licht empfangen müsse. Gestützt nur auf die höchst mangelhaften Ausgaben von Otfried’s Evangelienbuch, welche bis dahin vorlagen, arbeitete er [476] eine umfassende Metrik Otfried’s aus; für jede Regel sammelte er alle Beispiele; Thatsachen, die uns heute ganz geläufig sind und als selbstverständlich erscheinen, hat er nicht blos durch Aperçü, sondern durch mühsame Forschung und durch vollständige Induction gewonnen; die kleineren althochdeutschen Denkmäler hinzu zu ziehen und ihre Abweichungen zu notiren, war dann leichte Mühe. Am 16. März 1824 schloß er das Manuscript von etwa 220 engbeschriebenen Quartseiten ab und sandte es an Jacob Grimm, der es mit Bemerkungen begleitete und zum Theil für sich abschrieb. Von dieser Grundlage aus erhellte sich auch die mittelhochdeutsche Verskunst und L. durfte sich nunmehr ausgerüstet glauben, um wissenschaftliche Editionen althochdeutscher Dichter zu liefern: seine „Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts“ (1820) hatte nur vorläufige Proben gewährt, die er jetzt weit zu übertreffen im Stande war. Aber die gedruckten Hülfsmittel reichten nicht aus. Eine wissenschaftliche Reise im Sommer 1824, welche seinen Königsberger Aufenthalt abschloß, führte ihn nach den süddeutschen und schweizerischen Bibliotheken; und mit staunenswerther Arbeitskraft und Sicherheit brachte er in verhältnißmäßig kurzer Zeit zusammen, was er für seine specielle Zwecke brauchte, und darüber hinaus noch manches, was den Freunden nützte: althochdeutsche Glossen, die Werke Notker’s, den provenzalischen Roman Fierabras, den nachher Bekker herausgab, u. A. In rascher Folge erschienen nun, abgesehen von einem althochdeutschen Lesebuche („Specimina linguae francicae“, 1825), seine großen mittelhochdeutschen Ausgaben: „Der Nibelunge Not mit der Klage“ (1826, 2. Ausg. 1841, 3. Ausg. 1851; dazu die Anmerkungen „Zu den Nibelungen und zur Klage“, 1836; ferner: „Zwanzig alte Lieder von den Nibelungen, zur vierhundertjährigen Jubelfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst gedruckt bei Rudolph Ludwig Decker“, Berlin 1840); Iwein von Hartmann von Aue (in Gemeinschaft mit Benecke 1827, 2. Ausg. 1843); die Gedichte Walthers von der Vogelweide (1827, 2. Ausg. 1843); Wolfram von Eschenbach (1833); wozu dann noch Hartmann’s „Gregorius“ (1838, dazu der kritische Apparat in Haupt’s Zeitschrift 5, 32) und Ulrich von Lichtenstein (mit Anmerkungen von Theodor v. Karajan, 1841), sowie in akademischen Abhandlungen „Das Hildebrandslied“ (1833) und die „Bruchstücke niederrheinischer Gedichte“ (1836) kamen. Dazwischen lieferte er auch in seiner Ausgabe von „Lessing’s sämmtlichen Schriften“ (1838–1840, dazu Kleine Schriften 1, 548) das erste Muster einer philologischen Edition neuerer deutscher Klassiker. Aus seinem Nachlasse konnte Haupt einige von ihm hergestellte ältere Minnesänger herausgeben („Des Minnesangs Frühling“ von L. und Haupt 1857) und einzelne handschriftliche Textesconstitutionen althochdeutscher Gedichte kamen noch den „Denkmälern“ (1864) zu gute.

Wie bei römischen und griechischen Texten ging L. auch bei den altdeutschen darauf aus, zunächst die Geschichte der Ueberlieferung zu erforschen und die besonderen Schicksale jedes einzelnen Werkes festzustellen. Es ergaben sich in der That ganz andere Verhältnisse bei den Nibelungen, andere beim Iwein, andere bei Walther, andere bei Wolfram v. Eschenbach. Es kam auch hier darauf an, nicht den elegantesten, sondern den ursprünglichsten Text zu gewinnen und mit unerbittlicher Consequenz alle Willkür, alle Glättung späterer Schreiber zu beseitigen. Die Orthographie suchte er so einzurichten, daß uns möglich würde mittelhochdeutsche Gedichte „so zu lesen, wie sie ein guter Vorleser in der gebildetsten Gesellschaft des 13. Jahrhunderts aus der besten Handschrift vorgetragen hätte“; daß insbesondere ohne Künstelei, ohne Ueberladung mit Accenten oder anderen Zeichen das Versmaß leicht erkannt würde und daß in der Regel Buchstaben, welche verschwiegen werden mußten, auch im Druck nicht erschienen. [477] In der Durchführung der erkannten metrischen Regeln geht er zuweilen vielleicht zu weit: er rechnet nicht mit der Möglichkeit, daß ein Dichter zwar die Regel kennen und im Allgemeinen befolgen, im Einzelnen aber aus höheren Rücksichten des Sinnes, des Zusammenhanges, der poetischen Wirkung sie vernachlässigen mag. Bewundernswürdig jedoch, daß L. von vornherein nicht blos auf die Hauptsachen, sondern auf alle Feinheiten des Auftaktes und Versschlusses, nicht blos auf die allgemeinen Regeln, sondern auch auf die individuellen Abweichungen achtete und allen wichtigeren Dichtern hierin ihre Stellen anzuweisen wußte. Nur durch die auf solche Untersuchungen gegründete Reinheit und Sauberkeit seiner Texte wurde zur Anschauung gebracht, welche ästhetische Cultur in den ritterlichen Kreisen des 12. und 13. Jahrhunderts zu Hause war und schon in der Lautform der feinen mittelhochdeutschen Sprache sich spiegelt.

Wortkarg und knapp ist L. als Schriftsteller stets gewesen und zu ausführlicher zusammenhängender Erörterung hat er sich selten entschlossen. Doch waren es wiederholt metrische Fragen, die ihn dazu veranlaßten. Im Anschluß an Gottfried Hermann’s Untersuchungen suchte er über die Metrik und sonstige Technik der griechischen Tragödie Genaueres zu ermitteln in den Schriften „De choricis systematis tragicorum graecorum libri quattuor“ (1819) und „De mensura tragoediarum liber singularis“ (1822), ohne daß er damit den Beifall der Fachgenossen erlangte, was ihn aber so wenig anfocht wie die Fehler, die er selbst darin entdeckte: „Ich habe ein Buch geschrieben“, bemerkte er gelegentlich in einem Brief an Jacob Grimm über die erstgenannte Schrift, „(das Sie ja nicht ansehen sollen, es ist für Stockmetriker, kann aber einst populär werden), weit besser als ich sonst etwas geschrieben habe, aber übervoll der entsetzlichsten Fehler und Inconsequenzen: sie rühren mich gar nicht, ich überlasse ihre Verbesserung einer neuen Ausgabe oder Nachfolgern; ebensowenig rührt mich, daß Niemand darüber zu urtheilen wagt, daß Hermann, dem die neuen Observationen an die Seele greifen, noch immer schweigt: denn ich bin überzeugt, daß die Grundsätze wahr und die Ausführung im Ganzen gut ist: ja helfe Gott uns und unseren Nachfolgern weiter, ohne vielfache Irrthümer geht’s einmal nicht ab.“ Noch 1841 brachte er seine Forschungen wieder in Erinnerung (Kleine Schriften 2, 37) und wieder vergeblich. Doch ist neuerdings wenigstens einer der Sätze, die er zu beweisen suchte, wieder aufgenommen und über die Bedeutung jener Schriften günstiger geurtheilt worden (Moritz Schmidt, Commentatio de Caroli Lachmanni studiis metricis recte aestimandis, Jena 1880). Seine Forschungen über althochdeutsche Betonung und Verskunst fing er 1831 in akademischen Abhandlungen vorzutragen an (Kleine Schriften 1, 358), ohne daß er damit zu Ende kam. Das meiste über mittelhochdeutsche Metrik enthalten die Anmerkungen zum Iwein; ein kurzes äußerst knapp gefaßtes System derselben pflegte er seinen Zuhörern mitzutheilen (Abdruck bei Müllenhoff, Paradigmata zur deutschen Grammatik, S. 23). Nur beim Hildebrandsliede hat er eine vollständige Rechtfertigung seiner Kritik in metrischer, grammatischer und lexikalischer Hinsicht, Uebersetzung und Erläuterung gegeben (Kleine Schriften 1, 407). Selten sind sonst seine Anmerkungen erklärender Natur; und doch gewahrt man, daß er ein ausgezeichneter Interpret gewesen sein muß und mit Bewußtsein auch hier die feinste Methode übte: er läßt nicht den Kunstverstand, sondern das Kunstgefühl walten; er geht nicht davon aus, den Hauptgedanken eines Gedichtes zu finden, sondern sucht möglichst rein den Eindruck aufzunehmen, Inhalt und Stimmung sich anzueignen und so zu einer stilistischen und ästhetischen Charakteristik vorzudringen, welche den Kunstzweck und die Mittel ihn zu erreichen darlegt. In diesem Sinne hat er z. B. eine Elegie des Tibull kurz behandelt (Kleine Schriften 2, 156) und so den schwierigen Eingang des Parzival in einer besonderen Abhandlung [478] erläutert (Kleine Schriften 1, 480). Auch sein Vortrag über den Inhalt des Parzival (1819: Anzeiger für deutsches Alterthum 5, 290) kann noch heute mit Nutzen gelesen werden. Und wie präcis er Wortbedeutungen anzugeben wußte, zeigt sein Glossar zur Auswahl (Kleine Schriften 1, 176).

Das Kunstgefühl und die scharfe Auffassung des Zusammenhanges, die strikte Interpretation, welche das Ganze wie die Verbindung der Theile keinen Augenblick aus dem Gesichte verliert, ist die Grundlage der von ihm so oft und mit unnachahmlicher Sicherheit geübten höheren Kritik. Achtete er auf entstellende Willkür späterer Zeit, so mußte er insbesondere auch solche Entstellungen zu erkennen suchen, welche den ursprünglichen Vers- und Strophenbestand alterirten, welche in Zusätzen, Interpolationen eigene Gedanken der Schreiber oder alter Kritiker den Verfassern aufdrängten. Ueberall stellte er sich die Frage, ob ihm ein einheitliches Werk aus einem Guß, aus einer Hand vorliege, oder ob Verschiedenheiten der Abfassung erkennbar seien. Auch eigene unverarbeitete Bemerkungen, Zusätze, Randnotizen des Verfassers konnten in einen Text hineingekommen sein und ihn entstellt haben: beim Varro, beim Lucrez glaubte L. Spuren der Unvollendung zu entdecken; beim Lucrez, beim Horaz verfolgte er die Interpolatoren; bei den Feldmessern lagen Pandecten, ein aus verschiedenen Quellen redigirtes Lehrbuch vor; beim mittelhochdeutschen Wartburgkrieg deutete schon verschiedenes Metrum auf verschiedene Verfasser und andere Handschriften zeigten anderen Strophenbestand. Ein ähnliches Problem war ihm fast im Anfange seiner Laufbahn am Nibelungenlied entgegengetreten. Friedrich August Wolf hatte den einheitlichen Homer bezweifelt; und das Nibelungenlied mit der Ilias auf eine Stufe zu stellen war der enthusiastischen Betrachtung jener Zeit ganz geläufig: mit dieser allgemeinen Ansicht aber konnte sich L. nicht begnügen; war das Werk in der That nicht einheitlich, so mußte sich das irgendwie verrathen; hatten mehrere Dichter daran gearbeitet, so konnten sie unmöglich überall dieselben Voraussetzungen festhalten. Die Schrift „Von der ursprünglichen Gestalt“, mit der sich L., wie wir sahen, in Berlin habilitirte, führte den Nachweis, daß sich dies in der That so verhielt, und die Anmerkungen zu den Nibelungen suchten 20 Jahre später die Forschung zum Abschluß zu bringen, durch das ganze Gedicht hin die Interpolationen bestimmt zu bezeichnen und die 20 echten Lieder mit ihren Fortsetzungen von einander zu sondern. Lachmann’s Verfahren war gewiß nicht fehlerlos (vgl. Zeitschrift für deutsches Alterthum 24, 274) und die Begründung verzichtet auch hier auf erschöpfende Argumentation; aber das Resultat war ein überraschend reines und für viele philologisch gebildete Männer von unabhängigem Urtheil ist es noch heute im Ganzen und Großen völlig überzeugend, wenn auch die Ansicht, die sich L. von der Entstehung des Gesammtwerkes gebildet hatte, durch Karl Müllenhoff (Zur Geschichte der Nibelunge Not, 1855) eine Fortbildung und Modification erfuhr, welche den Vorzug größerer Wahrscheinlichkeit besitzt. Die Methode, die am Nibelungenlied erfolgreich gewesen war, wandte L. auch auf die Ilias an: denn auch dieses Gedicht schien ihm eine Sammlung erkennbarer Lieder zu sein. Schon im December 1821 theilte er Jacob Grimm die ersten Resultate seiner Analyse mit; 1839 und 1843 (gelesen in der Akademie 1837 und 1841, als Buch zusammengedruckt mit Haupt’s Zusätzen 1847) erschienen seine „Betrachtungen über die Ilias“, welche die höhere Kritik dieses Epos zu einem abgeschlossenen, überall in zusammenhängender Erörterung präcis begründeten Resultate führten, bei dem er seine Absicht vollkommen erreichte, nur „ausgefundene Thatsachen zum künftigen Gebrauch hinzustellen, die vielleicht noch im Einzelnen, wo geirrt worden ist, richtiger bestimmt werden können, aber so wenig als möglich Vermuthungen, denen man ebenso wahrscheinliche entgegensetzen dürfte.“ Das Maß und die [479] Enthaltsamkeit von Lachmann’s höherer Kritik ist ebenso bewundernswerth wie ihr Scharfsinn und Geschmack.

Mußte er sich dabei für die Hauptsachen auf sorgfältige Interpretation stützen, so wollte er doch auch den Versuch machen, ob in Nebenpunkten nicht noch andere Hülfsmittel herbeigezogen werden könnten, welche die oft schwierige Entscheidung über ächt und unächt, die Auffindung von Lücken und Zusätzen erleichterten; und die Ueberzeugung von der hohen Gesetzmäßigkeit aller älteren Poesie gab ihm höchst eigenthümliche Erwägungen ein, welche mit ziemlich sicheren Resultaten seiner niederen Kritik in einer gewissen Analogie stehen. Galt es verlorene Handschriften zu reconstruiren, so suchte er sich ein festes Bild davon zu machen, wie viele Zeilen wol auf jeder Seite derselben gestanden haben mochten: der Veronensis des Catull zählte 30, die Urhandschrift des Lucretius in der Regel 26 Zeilen auf der Seite. Die Verszahl in Wolfram’s Parzival ist durch 30 theilbar, in Wolfram’s Willehalm findet sich die Theilung zu 30 Versen vollständig überliefert und man sieht, daß Wolfram von einer bestimmten Stelle des Parzival an darnach dichtete; L. vermuthete 30 Zeilen auf jeder Seite oder Spalte der Urhandschrift (Scherer, Deutsche Studien 1, 21). Aber auch im Iwein und der Klage ist, wie L. sah, die Zeilenzahl durch 30 theilbar; und im Nibelungenlied, nach Abzug der 13 allerjüngsten Strophen, durch 28 (gleich 7 Strophen). Bei den griechischen Tragikern suchte er nachzuweisen, daß die Verszahl jedes einzelnen strophischen Systems und sogar die Summe aller Verse, welche dem Chor sowie jedem einzelnen der zwei oder drei Schauspieler zugetheilt war, sowie die Anzahl der Gesänge jenes, der Reden eines jeden von diesen durch sieben theilbar gewesen sei: ein Resultat, das man sonderbar gefunden und niemals ernstlich nachgeprüft hat. Aber auch die Strophenzahl der von L. als ächt anerkannten Nibelungenlieder ist durch sieben theilbar, und hiervon schwieg L., ohne Zweifel um den Glauben an die Unbefangenheit seiner Kritik nicht von vornherein zu erschüttern und seiner Kritik des Nibelungenliedes nicht dasselbe Schicksal zu bereiten wie seinen Untersuchungen über die griechischen Tragödien: er kann der Natur der Sache nach sich nur bei der letzten Entscheidung über zweifelhafte Strophen durch die Siebenzahl haben bestimmen lassen; an sich wäre die Erscheinung so wenig verwunderlich wie die Dreißige des höfischen Epos, an denen bei Wolfram Niemand zweifelt und denen in einem Gedichte von vierzeiligen Strophen die sieben Strophen oder 28 Zeilen sehr wohl entsprechen. Wie aber solche Zahlen nur über Nebensachen entscheiden können, so sind sie nur eine Nebensache für die Kritik. Viel wichtiger ist die ästhetische Reinigung, welche L. den ehrwürdigen Resten epischer Poesie aus Griechenland und dem mittelalterlichen Deutschland zu theil werden ließ. Der ästhetisch widerspruchsvolle Charakter, den sie in der Ueberlieferung darbieten, die Mischung der Stile, der sonderbare Wechsel zwischen herrlichen, mittelmäßigen und schlechten Partien ist durch ihn einerseits aufgehoben und andererseits historisch erklärt. So zeugen denn auch seine Bemerkungen über wechselnden Ton in jenen Epen stets von der feinsten stilistischen Bildung, und wenn es auch nachgerade nothwendig ist, den Ton, den Stil nicht mehr blos zu fühlen und durch ein andeutendes Wort zu bezeichnen, sondern ihn streng zu demonstriren, die ganze künstlerische Technik, Composition und Darstellungsweise nach genauer Observation zu analysiren und zu charakterisiren und den Satz individuum est ineffabile so viel als möglich, wenn auch nur immer annähernd, zu widerlegen: so besaß L. doch in seinem „Gefühl“ eine höchst lebendige Anschauung dichterischer Individualität und bewährte sich dadurch als ein philologischer Träger jener Richtung auf das Individuelle, welche Goethe einmal an Lavater’s Physiognomik anknüpft. Man lese seine Schilderung der Tibullischen Poesie (Kleine [480] Schriften 2, 134) oder seine kurzen Charakteristiken altdeutscher Dichter in der Vorrede zur Auswahl (Kleine Schriften 1, 159 f., dazu die feine Bemerkung über Freidank 1, 356), oder seine Uebersicht über die Entwickelung des deutschen Erzählungsstiles, wobei er die wichtige Parallele zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert andeutet, in den Abhandlungen über das Hildebrandslied und über Otfried (Kleine Schriften 1, 408; 453); und man erwäge, wie das Bedürfniß philologischen Anschmiegens ihn zu Uebersetzungen aus Aeschylus, Sophokles, Plato, den römischen Elegikern, Petrarca, Shakespeare führte, wie er einmal ein Stück Ilias in mittelhochdeutsche Nibelungenstrophen übertrug (der Trierer Philologenversammlung 1879 mitgetheilt von W. Wilmanns), fremde Uebersetzungen einsichtig zu beurtheilen wußte (Kleine Schriften 2, 102) und bis zur eigenen poetischen Production in vielerlei Stilarten, in griechischer, lateinischer, alt- und neudeutscher Sprache fortschritt: so wird man sich leicht überzeugen, daß Wilhelm Schlegel, den er später sehr gering schätzte, auf seine Bildung nicht ohne Einfluß gewesen sein muß oder daß er mindestens in demselben Boden wie der klassische Uebersetzer des Shakespeare wurzelt.

Aber so wenig L. schriftlich zu interpretieren liebte, so wenig gefiel er sich in litterarhistorischen Charakteristiken und ästhetischen Analysen. Viel mehr lag ihm daran, in der Litteraturgeschichte auf eine sorgfältige Scheidung der poetischen Gattungen zu dringen, ihren Ursprung und ihre Geschichte fleißig zu verfolgen, wie er z. B. die lyrische Gattung der mittelhochdeutschen Leiche mit einer kleinen Monographie bedachte (Kleine Schriften 1, 325) und die specifischen Spielmannsgedichte aus den übrigen altdeutschen Epen absonderte (zu Nib. S. 290), oder die Art des Vortrages poetischer Werke zu verfolgen, wie er für die altdeutsche Poesie in der Abhandlung über Singen und Sagen (Kleine Schriften 1, 461) that, oder chronologische Daten möglichst genau zu fixiren: so bestimmte er die Jahre, in denen die Bücher der Elegien des Propertius oder der Sophokleische Oedipus auf Kolonos (Kleine Schriften 2, 18) oder verschiedene Theile von Wolfram’s Parzival erschienen; so ging er der Chronologie der Sprüche Walthers von der Vogelweide nach, indem er die gleichzeitigen Geschichtsquellen heranzog: so hat er zahlreiche andere chronologische Daten in der altdeutschen Litteraturgeschichte zuerst und meist mit Glück bestimmt und dadurch eine genaue Behandlung derselben erst möglich gemacht. Und wenn er in derselben Weise auch die klassische, insbesondere die römische Litteraturgeschichte förderte, so hat er doch nur innerhalb der deutschen und auch hier nur einmal einen poetischen Stoff, die Sage von den Nibelungen, eingehend behandelt (1829, zu Nib. S. 333). Während er sich beim Gaius, bei den Feldmessern, beim Neuen Testament, beim Lucrez auf juristische, theologische, philosophische Fragen nicht einließ, in der Ilias sich um die Entstehung der Sage nicht kümmerte, mochte er an dem berühmtesten Stoffe des heimischen Alterthums, den die Romantik mit neuem Glanze verklärte, nicht ebenso theilnahmlos vorübergehen. Mit großer Sicherheit weiß er die verschiedenen Fassungen der Sage gleich Handschriften eines Gedichtes zu gebrauchen, die jüngeren Elemente auszuscheiden, zur ältesten Gestalt vorzudringen, in dieser das historische von dem mythischen Elemente zu trennen und für das letztere einen Grundgedanken zu finden. Nicht alle Resultate hatten Bestand; aber die Methode war ein Vorbild, welches für das Verständniß der gesammten Heldensage maßgebend wurde. Auch hier zeigte er, daß nicht vorschnelle Geistreichigkeit, sondern geduldige Vertiefung die philologischen Lorbeern pflückte, oder wie er selbst es in der Widmung der zweiten Iwein-Ausgabe, wol dem Schönsten, was er geschrieben, ausdrückt: „Sein Urtheil befreit nur, wer sich willig ergeben hat.“ Mit diesem Grundsatz ist er ein strenger, allen Trägen unsympathischer, aber den Tüchtigen höchst werthvoller Lehrer gewesen. Viele [481] der besten jüngeren Kräfte blickten als Schüler zu ihm auf, mochten sie es nun unmittelbar gewesen oder, wie Moritz Haupt, ihm sonst nahe getreten sein. Und wenn man die mittelbare Fortpflanzung seiner Methode noch Schule nennen darf, so kann man den Geisteswissenschaften, soweit sie auf schriftliche Ueberlieferung vertrauen müssen, nichts Besseres wünschen, als daß seine Schule nie aussterbe.

Kleinere Schriften von Karl Lachmann, 2 Bde., herausgegeben von K. Müllenhoff und J. Vahlen (Berlin 1876). G. Hinrichs, Lachmanniana, Anzeiger für deutsches Alterthum 6, 354; vgl. 5, 289. M. Hertz, Karl Lachmann (Berlin 1851). Jacob Grimm, Rede auf Lachmann, Kl. Schriften 1, 145. Scherer, Jacob Grimm (Berlin 1865), S. 103; Preuß. Jahrb. 38, 597. R. v. Raumer, Gesch. der germ. Phil., S. 457, 540. Vgl. auch Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben; Belger, M. Haupt; Wendeler, Fischartstudien des Freiherrn v. Meusebach und Briefwechsel Meusebach’s mit den Brüdern Grimm. Mittheilungen aus Lachmann’schen Correspondenzen, außerdem bei Friedlaender, Die Homerische Frage; in der Germania Bd. XII, XIII; in der Zeitschr. für deutsche Philologie Bd. II.