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ADB:Müllenhoff, Karl

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Artikel „Müllenhoff, Karl“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 494–499, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCllenhoff,_Karl&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 02:09 Uhr UTC)
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Band 22 (1885), S. 494–499 (Quelle).
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Müllenhoff: Karl Victor M., deutscher Philolog. Er war zu Marne im Süderditmarschen am 8. September 1818 geboren. Sein Vater, der Kaufmann Johann Anton M., suchte ihn zu hohem Streben anzufeuern, steckte ihm eine „höhere Menschenbildung“ als Lebensziel und schärfte ihm ein: „Laß es deinen Grundsatz sein: was Du thun willst, was Du sein willst, immer ganz zu sein, nie halb“. Er wollte den Sohn überall in der ersten Reihe erblicken: „Etwas Mittelmäßiges, Alltägliches“, schrieb er ihm, „will ich nun einmal von Dir nicht“. Er legte dadurch den Grund zu jenen verhängnißvoll strengen Anforderungen, welche der Sohn zeitlebens an sich selbst stellte, und welche ihn zur Vollendung seiner Lebensarbeit nicht kommen ließen.

M. besuchte anfangs die Volksschule zu Marne und erhielt den ersten Unterricht im Lateinischen und Griechischen von einem Candidaten der Theologie, dem nachmaligen Pastor Nehlsen in Wesselburen. Ostern 1830 kam er auf die gelehrte Schule in Meldorf, bei welcher bald darauf, im Juli, der nachmalige Director Dr. Wilhelm Heinrich Kolster, ein Schüler Niebuhr’s, Philolog und Historiker, um die Schule, um Sophokles, um die Landesgeschichte später vielfach verdient, als Collaborator eintrat, und sehr bald auf M. entscheidenden Einfluß gewann, der ihm bis ans Grab die treueste Dankbarkeit bewahrte. Hatte des Vaters und Großvaters Bibliothek den Knaben früh mit deutscher Litteratur vertraut gemacht, so nährte jetzt Kolster diese Neigung, ja brachte sie erst zur Klarheit, pflegte daneben aber die Liebe zu den Alten, insbesondere zu Sophokles, weckte den historischen und den vaterländischen Sinn. Auch Meldorf selbst trug dazu bei: „Wo in aller Welt“ rief M. nach vielen Jahren einmal aus, „wäre ein Ort, wo Erinnerungen wie die an Niebuhr, Voß und Boie den Sinn auf Alterthum und Gegenwart zugleich wach hielten, und wo zugleich aus der eigenen Vergangenheit des Landes dem jugendlichen Gemüth ein so frischer Hauch entgegenwehte?“

Mit dem Herbst 1837 verließ M. Meldorf, um in Kiel Philologie zu studiren. Dort war Gregor Wilhelm Nitzsch sein Hauptlehrer, gewährte ihm [495] aber nicht ganz, was er suchte, und war namentlich nicht im Stande, einer stark hervortretenden ästhetischen Richtung Müllenhoff’s wirksam zu begegnen. Auch der Aufenthalt zu Leipzig, im Sommersemester 1839, gewann ihn nicht für die strenge Philologie; Gottfried Hermann ließ ihn gleichgiltig; er ergab sich einer ausgedehnten, übrigens nicht systemlosen Lecture deutscher Litteratur; und ein handschriftliches Reisetagebuch aus den Herbstferien 1839 zeigt ihn als gewandten Schriftsteller von angeregter Phantasie und großer Schilderungslust, voll von nationalem und liberalem Pathos, so daß man sich nicht wundern würde, wenn er sich unter die Träger der damals so kräftig aufblühenden Tageslitteratur eingereiht hätte. Aber schon hatte ihn Moriz Haupt, damals Privatdocent in Leipzig, auf Lachmann hingewiesen; und seit dem October 1839 genoß er in Berlin zwei Jahre lang Lachmann’s für immer entscheidenden Unterricht; daneben wirkten Ranke, Böckh, Droysen, Wilhelm Grimm auf ihn ein, und er schloß sich eng an strebsame Freunde, wie Wilhelm Nitzsch, deren ernste Naturen zu seiner inneren Festigung nicht wenig beitrugen.

In den Herbstferien 1841 kehrte er in die Heimath zurück, verlobte sich mit Henriette Thaden, einer Gespielin seiner Jugend, und trat bald darnach in Kiel sein neuntes Universitätssemester an, welches wesentlich der Vorbereitung auf die Promotion gewidmet war. Sophokles, schon durch Kolster in den Mittelpunkt seiner griechischen Studien gerückt, war der Gegenstand seiner Dissertation („Theologumena Sophoclis“, ungedruckt), mit welcher er am 7. April 1842 den Doctortitel erwarb, der ihm zugleich das Recht gab, in Kiel als Privatdocent aufzutreten.

Indessen versuchte er zunächst an der Schule sein Glück, und übernahm eine Hilfslehrerstelle zu Meldorf, die er von Ostern 1842 bis Michaelis 1843 versah. In dieser Zeit erst wandten sich seine Studien ausschließlich dem deutschen Alterthum zu, und schon faßte er den Plan zu einer Kritik der Kudrun, sowie zu einer Sammlung der schleswig-holsteinischen Sagen. Ein bescheidenes Amt an der Kieler Universitätsbibliothek, das ihm angeboten wurde, bestimmte ihn zur Uebersiedlung nach Kiel, wo er sofort im Wintersemester 1843 auf 1844 an der Universität docirte. Er ward am 2. März 1846 außerordentlicher Professor der deutschen Sprache, Litteratur und Alterthumskunde, heirathete am 5. Mai 1846, mußte aber noch bis zum 30. December 1854 auf die ordentliche Professur warten. Die Universität Kiel war unterdessen durch die 1852 einbrechende dänische Willkürherrschaft tief geschädigt worden, und Müllenhoffs Lehrthätigkeit konnte dort niemals festen Fuß fassen, wenn er auch die Freude hatte, an R. v. Liliencron einen Schüler und für einige Jahre einen Collegen zu gewinnen.

Am 25. September 1858 ward er als Nachfolger Friedrich Heinrich von der Hagen’s zum ordentlichen Professor seines Faches in Berlin ernannt; am 2. Februar 1864 kam er, als Nachfolger Jacob Grimm’s, in die preußische Akademie. Am 31. Januar 1873 verlor er seine Frau; am 15. Mai 1875 vermählte er sich in Darmstadt mit Ferdinande Helmsdörfer, einer Enkelin des Grammatikers Karl Ferdinand Becker: „Der Gegensatz der historischen und philosophischen Grammatik“, scherzte er, „ist durch unsere Heirath geschlichtet“.

Seine Lehrthätigkeit war mit reichem Erfolge gesegnet; eine große Zahl glücklich strebender Schüler schaarte sich um den Meister. Aber zunehmende Schwäche seiner Augen zwang ihn allmählich, sich zu beschränken. Den regelmäßigen zweijährigen Cyclus seiner Vorlesungen, der über alle wesentlichen Probleme der altdeutschen Philologie orientirte, konnte er seit dem Sommer 1880 nicht mehr durchführen. Sein Denken ward immer langsamer und schwerfälliger, und im Spätherbst 1883 zeigten sich plötzlich Erscheinungen der [496] Aphasie: mit allem Arbeiten war es zu Ende, und vieles, was ihm vorgelesen wurde, wollte nicht verfangen; nur Sophokles übte den alten Zauber. Am 19. Februar 1884 ist er gestorben.

Der größte Theil seiner litterarischen Thätigkeit darf als Vorarbeit für eine „deutsche Alterthumskunde“ angesehen werden, von welcher nur der erste Band (Berlin 1870), und die erste Hälfte des fünften (Berlin 1883), erschien. Er setzte das Werk Jacob und Wilhelm Grimm’s mit einer Energie fort, wie kein anderer Fachgenosse, und mit einer Schärfe der Methode, wie er sie von Lachmann gelernt hatte. Er wollte in seinem großen Lebenswerke den Ursprung unseres Volkes erforschen, die heidnischen Germanen schildern, und das deutsche Heidenthum in seiner Wirkung auf die späteren Zeiten verfolgen.

Ethnographische Erörterungen machen den Anfang, für welche Kaspar Zeuß in seinem Buche „Die Deutschen und ihre Nachbarstämme“ einen vortrefflichen Grund gelegt hatte. Aber M. suchte den von ihm hochverehrten Vorgänger in allen Punkten zu übertreffen, indem er an den überlieferten Nachrichten strengere Kritik übte und die Probleme vertiefte. Die Frage nach dem allmählichen Bekanntwerden der Germanen glaubte er nur beantworten zu können, wenn er in die Geschichte der Erdkunde bei den Alten eingedrungen wäre. Die Frage nach dem Verhältnisse der Deutschen zu ihren Nachbarstämmen verwandelte sich ihm in die Frage nach der Art und Weise, wie Europa bevölkert worden oder wenigstens wie die Völker arischen Stammes in Europa ihre Sitze eingenommen hätten. Der erste Band der Alterthumskunde setzte auseinander, wie das Zinn und der Bernstein frühzeitig die Seefahrer aus dem Mittelmeere in den Nordwesten unseres Welttheils lockten, und wie dann auf ihrem Wege einem Griechen des vierten Jahrhunderts vor Christus, dem Pytheas von Marseille, die wissenschaftliche Entdeckung Brittanniens und zugleich die Entdeckung der Nordseeküste jenseits des Rheins mit einer deutschen Bevölkerung gelang. Der zweite Band sollte nachweisen, daß das Gebiet der Oder und der Elbe unterhalb des Gebirges die älteste und eigentliche Heimath unserer Ahnen gewesen sei. In den Zusammenhang dieser Erörterungen gehört Müllenhoff’s letzte von ihm selbst veröffentlichte Abhandlung „über den südöstlichen Winkel des alten Germaniens“, (Sitzungsber. der Berliner Akademie, 1883, S. 871) und die Erläuterung des dritten Capitels von Jordanes’ „Getica“ (in Mommsen’s Ausg. Monumenta Germaniae, Auctores antiquissimi, 5, 1, Berol. 1882), worin er eine vermuthlich von dem Herulerkönig Rodwulf herrührende, in sich wohlzusammenhängende Beschreibung Scandinaviens aus der Zeit um 500 nach Christus erkannte. Der dritte Band der Alterthumskunde sollte nachweisen, daß die Väter der Germanen ihren Wohnsitz an der Oder und Elbe nicht später eingenommen haben können, als die urverwandten Stämme der Italiker und Griechen ihre Sitze in Italien und Griechenland. Der Band sollte weiter die Ausbreitung und Verzweigung der Germanen um den Anfang unserer Zeitrechnung darlegen: die Germanen schieden sich nach ihm in Ostgermanen (der vandilisch-gothische Stamm und die Scandinavier), und Westgermanen (die drei von Tacitus genannten und auf die drei Söhne des Mannus zurückgeführten Stämme, die Ahnen der Deutschen, Niederländer und Engländer). Hier griff ein Artikel über die Geten ein (Ersch und Gruber, Sect. 1, Bd. 64, S. 448 vom J. 1857), eine akademische Abhandlung über das Sarmatien des Ptolemäus (Monatsber. der Berl. Akad., 1866, S. 1) und der Nachweis, daß die pontischen Skythen und Sarmaten iranischen Stammes seien (ibid. S. 549); ferner Untersuchungen über die römische Weltkarte (zuerst: Kiel 1856; dann Hermes 9, 183) und über die fränkische Völkertafel (Abhandl. der Berl. Akad. 1862, S. 532), sowie die Quellensammlung „Germania antiqua“ (Berol. 1873).

[497] Die Staats- und Privatalterthümer mußten im vierten Bande abgehandelt werden, indem die gleichzeitigen Berichte fremder Beobachter aus der einheimischen Ueberlieferung und aus den späteren Verhältnissen Erläuterung und Ergänzung empfingen. Schöne Muster für dieses Verfahren stellte er in der Schrift „Zur Runenlehre“, (Braunschweig 1852, mit v. Liliencron), und in der Abhandlung über den Schwerttanz (Festgaben für Homeyer, Berlin 1871; Zeitschr. f. deutsches Alterth. 18, 9; 20, 10) auf. Mit dem altgermanischen Vers- und Strophenbaue beschäftigte sich die Abhandlung „De carmine Wessofontano“ (Berol. 1861), während die Untersuchung „De antiquissima Germanorum poesi chorica“ (Kil. 1847) feststellte, daß die älteste germanische Poesie im wesentlichen strophischer Chorgesang gewesen sei und die Keime der epischen, der lyrischen und der dramatischen Dichtung in sich enthalten habe. M. zeigte (in der Zeitschr. f. deutsches Alterth. 23, 151), wie hieraus eine gemischte Form, Prosa mit eingefügten Versen, und zuletzt das Epos mit fortlaufenden, nicht strophisch gegliederten Langzeilen hervorging. Der Inhalt der ursprünglichen Chorpoesie aber war mythologisch, der Inhalt des Epos halb mythisch, halb historisch: denn durch eine Mischung mythischer und historischer Elemente ist die deutsche Heldensage entstanden.

Mit der Mythologie und Heldensage sollte sich der fünfte und sechste Band der Alterthumskunde beschäftigen. Hier schlug die Kritik der älteren und jüngeren Edda ein, über welche M. durch Jahre lange Untersuchungen ins reine gekommen war: er hat dieselbe noch zum großen Theile selbst veröffentlicht, indem er zugleich die Angriffe von Bang und Bugge auf die Echtheit der alten Edda zurückwies und in seiner Behandlung der Völuspa und der Havamal ein Meisterstück höherer Kritik und Interpretation lieferte. Im weiteren Verfolge mußte dann M. auf eine schon 1847 („Ueber Tuisco und seine Nachkommen“ in Schmidt’s Zeitschr. f. Geschichtswissenschaft 8, 209) veröffentlichte Entdeckung zurückkommen, wornach die ältesten deutschen Stämme Cultusgemeinschaften waren und wir in den Berichten über den Cultus der Nerthus bei den Ingävonen, der Tanfana bei den Istävonen, des regnator omnium deus (Irmin oder Ziu) bei den Irminonen, der Dioskuren bei den Vandiliern eben diese Stammculte zu erkennen haben. Die Mythen aber, welche sich an die genannten Stammculte knüpften, lebten nach M. in der Heldensage fort: der istävonische oder fränkische in der Nibelungensage; der ingävonische im „Beowulf“; der vandilische in den Sagen von Ortnit und Wolfdietrich; der herminonische in der Sage vom Untergange des thüringischen Reiches. Die deutsche Heldensage war der Ausgangspunkt von Müllenhoff’s Studien und blieb auch deren Mittelpunkt, das eigentliche Ziel der Alterthumskunde. Allen mittelhochdeutschen Heldenepen hat er specielle Untersuchungen gewidmet und in den „Zeugnissen und Excursen zu deutschen Heldensage“ (Zeitschr. für deutsches Alterth. 12, 253; 413) reiche Nachträge zu Wilhelm Grimm’s „Deutscher Heldensage“ gegeben. Er wandte Lachmann’s kritische Principien auf die Kudrun an („Kudrun“, Kiel 1845); er suchte in der Streitschrift „Zur Geschichte der Nibelunge Noth“, (Braunschweig 1855) Lachmanns Ansichten über die Entstehung des Nibelungenliedes fortzubilden und die von Holtzmann und Zarncke dagegen erhobenen Einwendungen zu entkräften; er erörterte wiederholt die Nibelungensage (Zeitschr. f. deutsch. Alterth. 10, 146; 23, 113); er gab in Gemeinschaft mit seinen Schülern Martin, Zupitza, Jänicke, Amelung, denen sich noch Steinmeyer anschließen sollte, das „Deutsche Heldenbuch“ (5 Bde., Berlin 1866–1872) heraus, worin er selbst das Gedicht von dem Zwergkönige Laurin (Separatausgabe: Berlin 1871) bearbeitete. Er übte endlich auch am „Beowulf“ höhere Kritik [498] (Zeitschr. f. deutsches Alterth. 14, 193) und suchte in die Entstehung der Beowulf-Sage einzudringen (ibid. 7, 419).

Aber Müllenhoff’s Interesse an der deutschen Litteratur beschränkte sich nicht auf den Kreis der Gedichte, welche Stoff für die Alterthumskunde lieferten. Er griff darüber hinaus in den mit dem Unterzeichneten herausgegebenen „Denkmälern der deutschen Poesie und Prosa aus dem 8.–12. Jahrh.“ (Berl. 1864, zweite Aufl. 1873), in seinen Vorlesungen über Geschichte der altdeutschen Poesie und über mittelhochdeutsche Dichter, in seiner aus der Litteratur und dem Volksmunde geschöpften Sammlung: „Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ (Kiel 1845), die er mit einer bewunderungswürdigen Einleitung versah, und in seiner Theilnahme an Klaus Groth’s „Quickborn“, dessen Orthographie er feststellen half, zu dem er Einleitung, Grammatik und Glossar hinzufügte (3. Aufl., Hamburg 1854, und namentlich 6. Aufl. 1856) und den er zum Theil ins hochdeutsche übertrug (5. Aufl. 1856). Wie er sich hier als einen Meister in der Darstellung seiner heimathlichen Mundart bewährte, so hat er die Geschichte unserer älteren Sprache durch die Vorrede zu den „Denkmälern“ gefördert. Er gehörte ferner zu Denjenigen, welche den Anstoß zu einer neuen Auffassung des indogermanischen, zunächst des europäischen Vocalismus gaben. Er trug die deutsche Grammatik in beständiger Fühlung mit der vergleichenden Sprachwissenschaft vor. Er war in allen germanischen Sprachen fast gleichmäßig zu Hause, übte Textkritik auf dem nordischen und angelsächsischen Gebiete ganz ebenso wie auf dem althochdeutschen und mittelhochdeutschen, nicht minder aber auch auf dem griechischen und lateinischen. Er war ein kundiger Etymolog, ein großer Kenner der germanischen Personennamen, ein sinniger Mythendeuter, ein glücklich scheidender Sagenforscher auch für Ilias und Odyssee, ein ausgezeichneter Interpret und ein Mann von eminent historischem Sinne, geübt, wie wenige, das Sein aus dem Werden, oder vielmehr im Sein das Werden zu erkennen. Er haftete nirgends an der überlieferten Thatsache, sondern bemühte sich, über die Tradition hinaus auf einen höheren Zusammenhang zu kommen. Er begnügte sich nicht mit den Einzelheiten, sondern strebte zum Ganzen. Das war aber auf den Gebieten, die er bearbeitete, nur durch Vermuthung zu erreichen, und die fruchtbare Vermuthung setzt eine wissenschaftlich geschulte Phantasie voraus. Der hohe Rang, den M. als Gelehrter einnahm, beruhte großentheils auf dem Werthe seiner Hypothesen und auf der Kraft seiner Phantasie. Die Fähigkeit phantasievoller Vergegenwärtigung machte ihm abgeschiedene Menschen lebendig, und er gewann zu ihnen ein ganz persönliches Verhältniß in Feindschaft und Freundschaft, in Haß und Liebe, in Verachtung und Verehrung. Das Organ der Verehrung war stark in ihm ausgebildet und das, was er verehrte, hielt er wie ein Heiligthum hoch. Die Gegner Lachmann’s hat er im Nibelungenstreite statt der überlegenen Ironie, die vollkommen ausreichte, mit der schwersten Rüstung des sittlichen Zornes bekämpft. Er sah und suchte stets den ganzen Menschen und seinen sittlichen Kern. Das Kleinste hing ihm mit dem Größten zusammen; und so war auch Er in jedem Augenblicke ganz. Sein leidenschaftlicher Ernst, der ihn bei geringem Anlaß im Tiefsten aufwühlen konnte, hat ihm manche bittere Stunde bereitet und seine wissenschaftliche Laufbahn fast zu einer tragischen gemacht. Die schwere Gründlichkeit seiner Natur ließ ihn bei der Alterthumskunde nicht aus der Stelle kommen. Sie zwang ihm eine solche Vertiefung in die Einzelheiten auf, daß das Ganze, das seinem Geiste vorschwebte, überhaupt nicht zu Tage trat. Aber der fragmentarische Zustand seines Lebenswerkes enthält eine Aufforderung zu strenger, weiter führender Arbeit in seinem Sinne; und es wird daran nicht fehlen.

[499] Kurze Selbstbiographie in E. Alberti, Lexicon der schleswig-holstein-lauenburgischen und eutinischen Schriftsteller 2, 88 (Kiel 1868). Nekrologe: E. Schmidt, N. fr. Presse 6. März 1884; Klaus Groth, Kieler Zeitung, 12. März 1884; Schönbach, (Münchner) Allgem. Zeitung, Beil. 19.–21. März 1884; G. Kossinna, Bezzenberger’s Beiträge 9, 135 (mit sorgfältigem Verzeichniß der Schriften); E. Steinmeyer, Anz. f. deutsches Alterth. 10, 372; E. Martin, Zeitsch. f. deutsche Phil. 16, 366; A. Sauer, Zeitschr. f. Allgem. Gesch. 1884, Heft 4; (F. Niedner), Berliner Philologische Wochenschrift 1884, Nr. 21–25; Scherer, Gedächtnißrede auf Karl Müllenhoff, (Abhandl. der Kgl. Preuß. Akademie für 1884), woraus das Vorstehende großentheils ausgezogen ist.