ADB:Becker, Karl Ferdinand (Sprachwissenschaftler)

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Artikel „Becker, Karl Ferdinand“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 224–225, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Becker,_Karl_Ferdinand_(Sprachwissenschaftler)&oldid=- (Version vom 19. April 2024, 06:17 Uhr UTC)
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Becker: Karl Ferdinand B., deutscher Grammatiker. Geb. 14. April 1775 zu Lyser an der Mosel, zwei Jahre im Priesterseminar zu Hildesheim, neunzehnjährig Lehrer am Josephinum daselbst, seit 1799 aber der Medicin zugewandt, studirte in Göttingen, eine Zeit lang Director der Salpeterfabrikation im Harzdepartement, 1814 Vorstand mehrerer Militärhospitäler zu Frankfurt a. M., 1815 praktischer Arzt in Offenbach, † 4. September 1849. Er war eine frische, anziehende Erscheinung. Aus eiserner Meditation und vertiefter Gedankenarbeit blickte er hell und fest ins Leben. Er fand seinen eigentlichen Beruf, als er 1823 sein Haus und seine Familie zu einer kleinen Erziehungsanstalt erweiterte. Der Unterricht, den er ertheilte, führte ihn zurück zur Sprachforschung, der er sich schon 25 Jahre früher als Schulmann mit Vorliebe zugewandt hatte. Er war beinahe ein Fünfziger, als er neu begann: aber seine litterarische Thätigkeit zeigt aufsteigende Kraft: „Wortbildung“ 1824, „Organismus“, 1827, „Ausführliche deutsche Grammatik“, 1836. 1838, „Deutscher Stil“, 1848, davon zum Theil Schulbearbeitungen und neue Auflagen. Man merkt, daß seine Bildungsjahre in eine vorzugsweise philosophische Epoche fielen. Anknüpfend an Wilhelm von Humboldt, aber gerade das Eigenthümlichste in dessen linguistischen Ansichten verkennend, erneuerte B. die philosophische Sprachlehre des vorigen Jahrhunderts, welche eine Geschichte des menschlichen Verstandes, eine sinnliche Logik sein wollte. Er wußte sehr wohl, daß die Sprache die Dinge und ihre Verhältnisse nicht so darstellt, wie sie uns heute erscheinen oder wie sie an sich sind, sondern nur so, wie sie in der Kindheit des Menschengeschlechts von einer noch ganz in sinnlicher Anschauung befangenen Intelligenz aufgefaßt wurden. Aber anstatt diese sinnliche Auffassungsweise zum Angelpunkte der Forschung zu machen und die verschiedenen Methoden zu ergründen, in welchen verschiedene Sprachen ihrer Aufgabe gerecht werden, behandelte er das Denken oder vielmehr gewisse logisch-metaphysische Kategorien wie eine Naturkraft, durch welche die Sprache unmittelbar hervorgerufen werde. In dieser Macht des Gedankens, der sich den Laut unterwirft, sah er das Organische der Sprache. Wie die Physik zur vergleichenden Anatomie, so sollte sich seine Grammatik zur comparativen verhalten. Er setzte die historische Forschung überall voraus, aber er war weder ihrer Resultate noch ihrer Methode vollkommen mächtig: wo er als Etymolog eigene Schritte wagt, ist er gestrauchelt. Er hoffte durch Intuition und Deduction mit einem Male zu erringen, was lange geduldige inductive Arbeit voraussetzt. Er wollte vom Neuhochdeutschen aus erreichen, was streng genommen nur das Resultat der letzten Analyse aller auf den ursprünglichsten Zustand reducirten Sprachen sein kann. Die Frage: Existiren im Sprachgefühl des Redenden grammatische Kategorien, die derselbe lautlich nicht bezeichnet? beantwortete er mit Ja und unterschied demgemäß zwischen logischer und grammatischer Form: „Alle Sprachen bezeichnen durch Betonung und Wortfolge auf vollkommene Weise die logische Form, indeß sehr viele Sprachen, nämlich alle nicht flectirenden Sprachen, die grammatische Form nur unvollkommen bezeichnen.“ – Die Logik (aber keineswegs die formale) sollte das Regulativ der Grammatik werden. Nicht die Form, sondern die Bedeutung war Grundlage des Systems. Von ihr ging die Darstellung und Anordnung aus. Es wurde nicht das Feste, sinnlich Faßbare, die Form, vorgelegt und daran die [225] Frage nach ihrer Bedeutung geknüpft. Sondern das Unsichere, Vermuthete, Erschlossene gab den Faden der Belehrung her. Diese pädagogisch gewiß verfehlten Anschauungen haben gleichwol, getragen durch manche verwandte Tendenzen in Wissenschaft und Unterricht, etwa 30 Jahre lang die deutsche Schule beherrscht und auf die grammatische Behandlung sowol der modernen wie der classischen Sprachen tiefgreifenden Einfluß geübt. Man hat recht gethan, sie wieder zu verlassen, aber man hat noch lange kein Recht, ihren Urheber als Sprachforscher bei Seite zu schieben. Steinthal’s Kritik (Grammatik, Logik und Psychologie 1855) war ohne Verständniß für das Echte und Bedeutende in Becker. B. ist nicht blos ein guter Beobachter auf dem Gebiete des Neuhochdeutschen, sondern er hat sich auch das Verdienst erworben, uns fast gleichzeitig mit dem vierten Band von Grimm’s Grammatik, welcher nur den einfachen Satz darstellte, eine vollständige vergleichende Syntax des Neuhochdeutschen zu schenken, wobei das Alt- und Mittelhochdeutsche sehr eingehende Berücksichtigung fand und auch die übrigen germanischen sowie die verwandten Sprachen herangezogen wurden, letztere in umfassenderer Weise als selbst bei Grimm. Dabei bot das Ausgehen von der Muttersprache als dem Gegenstande unserer unmittelbaren sprachlichen Erfahrung große Vortheile, die sich keine linguistische Betrachtung darf entgehen lassen. Auch Becker’s Stillehre ist voll von feinen Bemerkungen. Und was seine allgemeinen Ansichten über die Sprache betrifft, so wird niemand leugnen, daß die Natur der Dinge d. h. auch die Kategorien jedenfalls ein Factor mit in dem Proceß des Ursprungs der Sprache sind. Deshalb muß die Forschung darüber Aufschluß suchen, welche Kategorien in einer bestimmten Sprache wirken und wie sie darin zum Ausdruck gebracht sind. Daß eine ähnliche Forderung wenigstens durch B. festgehalten schien und daß er für das Neuhochdeutsche dieselbe so energisch zu erfüllen trachtete (freilich in dem Irrthum damit etwas für alle Sprachen Gültiges zu liefern), das war es wol, was ihn einem Philosophen wie Trendelenburg werth machte. Einige fundamentale Erscheinungen in dem Leben der Sprache, die Unterscheidung zwischen Begriffs- und Formwörtern, die fortschreitende Individualisirung aus wenigen Grundformen, den Ueberfluß der Wortformen, den die Sprache benutzt, um Unterschiede der Bedeutung zu bezeichnen, (Differenzirung) etc. hat B. ganz richtig erkannt. Es wäre Zeit, daß eine productive Kritik das Fruchtbare in seinen Anschauungen für die deutsche Wissenschaft zurückzuerobern suchte. – N. Nekr. XXVII. (1849) 2, 722. Helmsdörfer, Becker der Grammatiker, Frankf. 1854. Raumer, Unterr. 80. Gesch. 625.