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ADB:Scherer, Wilhelm

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Artikel „Scherer, Wilhelm“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 104–114, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Scherer,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 5. Dezember 2024, 19:41 Uhr UTC)
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Band 31 (1890), S. 104–114 (Quelle).
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Scherer: Wilhelm S., deutscher Philolog. Er wurde geboren zu Schönborn in Niederösterreich am 26. April 1841. Sein Vater stammte aus Franken und war als gräflich Schönbornscher Oberamtmann in den Donaulanden erst heimisch geworden, die Mutter also war es, die ihm das österreichische Blut gab, und auch ihr tapferes Wesen glaubte, wer sie kennen gelernt hat, in dem Sohne wiedergespiegelt zu sehen. Früh schon ward der Knabe des Vaters beraubt (1845), aber eine zweite Ehe, die die Wittwe nach dem Wunsche ihres Gatten mit dem Wirthschaftsrathe Stadler schloß, entzog ihm in nichts die sorgende Mutterliebe, und gab ihm einen zweiten Vater, der mit wehmüthigem Stolze die Hoffnungen des dahingeschiedenen Freundes reifen sah und dem S. in herzlicher Verehrung zugethan war.

S. wechselte wiederholt den Schauplatz seiner Jugend, ehe er im J. 1854 in das Akademische Gymnasium zu Wien aufgenommen wurde. Gern hat er [105] später diese Anstalt vor ihren österreichischen Schwestern die tüchtigste genannt und dankbar erzählt, wie auch seine früh erwachten Neigungen für deutsche Sprache und Litteratur dort bei dem Professor Karl Reichel Verständniß und Förderung fanden. Schon auf der Schule verschlang der reich begabte Knabe nicht nur eine Fülle schöner Litteratur, er bewältigte auch schwerere Kost, wie Herder’s „Ideen“, ja er fühlte sich bereits als den zukünftigen Gelehrten und Politiker, der sich an den Werken Jacob Grimm’s, an den Litteraturgeschichten von Gervinus und Julian Schmidt begeisterte und in den „Grenzboten“ die politischen Ideale vertreten fand, die ihm durchs Leben vorangeleuchtet haben: Einigung Deutschlands unter Preußens Führung, wenn es sein muß vorerst mit Ausschluß Oesterreichs. Den Grenzbotenmännern Julian Schmidt und Gustav Freytag hat er denn auch unauslöschliche Dankbarkeit bewahrt und noch im letzten Lebensabschnitt freudig bezeugt, wie viel er in den entscheidenden Jahren ihrer nationalen Propaganda, ihrer litterarischen Kritik und dem Vorbild ihrer schriftstellerischen Praxis verdankt habe.

Mit hochgespannten Plänen und einem brennenden Studieneifer bezog er kaum 17jährig 1858 die Universität Wien. Er hörte bei Bonitz, Vahlen, Miklosich, Franz Pfeiffer – aber am wenigsten vermochte ihm gerade der Vertreter der Wissenschaft zu genügen, der er sich schon als Gymnasiast zugeschworen hatte, der deutschen Philologie. Ein erstes persönliches Gegenüber mit Pfeiffer brachte Enttäuschung und Einschüchterung und auch spätere Annäherung gab ihm die deutliche Erkenntniß der wissenschaftlichen und leider auch menschlichen Schwächen des Lehrers. S. hat ausdrücklich die reichen Kenntnisse und auf selbstgewähltem und selbstbegrenztem Gebiete tüchtigen Leistungen dieses Autodidakten anerkannt, aber Pfeiffer’s gründliche Abneigung gegen die Bethätigung höherer Kritik, historischer Combination und vergleichender Methode, sein Ausweichen vor allen Problemen, die eine Entfernung von den geliebten Handschriften nothwendig machten, dazu seine Unfähigkeit, sich in die wissenschaftlichen Interessen und den Ideengang eines Andern zu versetzen, hat von vornherein Niemand stärker empfunden, als der lebhafte und gesprächige Jüngling, dessen vordringlicher Wißbegier er gelegentlich schweigend die eherne Mauer seiner wissenschaftlichen Vollkommenheit entgegensetzte. Bloß bei Pfeiffer Collegien gehört zu haben, das schien S. so gut als Autodidakt sein, und da sich bei ihm zu umfassenden und oft ausschweifenden Plänen das Streben strenger Selbstzucht gesellte, so verließ er nach vier Semestern Wien, um sich direct ins Lager der gehaßten Gegner Pfeiffer’s, nach Berlin zu begeben. Er erfuhr auch an sich den mächtigen Zauber, der von Jacob Grimm’s ehrfurchtheischender Persönlichkeit ausging, und gewann noch das freundliche Interesse des greisen Altmeisters. Er hörte bei Moriz Haupt und Trendelenburg, bei Ranke und Homeyer, Bopp und Albr. Weber, vor allem aber besuchte er die Vorlesungen und erstrebte er den Umgang Müllenhoff’s, bei dem er eines Tages mit der Erklärung in die Stube trat, er komme von Wien, um hier, bei ihm „Methode zu lernen“.

Die Einführung war nicht der Art, daß sie Müllenhoff sofort Vertrauen abgewann. Aber bald stellte sich dies Vertrauen ein, denn rasch erkannte Müllenhoff die hohe Begabung nicht nur, sondern auch den ehernen Fleiß, den tiefen sittlichen Ernst und den glühenden nationalen Enthusiasmus des Wiener Studenten, der aus einem eifrigen Zögling bald ein Vertrauter seiner wissenschaftlichen Arbeit und ein geschätzter, oft freudig bewunderter Mitarbeiter wurde. Der Unterschied des Naturells und des Temperaments blieb keinem verborgen, aber alle sich daraus ergebenden Mißverständnisse und Wirrungen wurden durch fast zwei Jahrzehnte hindurch glücklich überwunden; mit der leichten, essayistischen [106] Form, welche der Schüler gern auch zur Mittheilung streng wissenschaftlicher Resultate und Hypothesen wählte, war der Lehrer von vornherein nicht einverstanden; die politische Discussion zwischen dem jugendlichen Oesterreicher, der von Preußen die Rettung der Nationalität erwartete, und dem zähen Holsteiner, der als preußischer Professor eben diesem Staate jahrelang grollend gegenüberstand, wurde als wenig förderlich gemieden – über all diesen Differenzen stand die Einigkeit in den großen wissenschaftlichen und nationalen Zielen und in der strengen, philologischen Methode, stand die dankbare Verehrung für den großen Meister der Kritik und der historischen Combination und die stolze Bewunderung für den bald kühn und weit ausgreifenden, bald in scharfsinniger Specialarbeit sich beschränkenden genialischen Schüler. Es ist ein so schönes und so fruchtbringendes Verhältniß gewesen, wie die Geschichte der Wissenschaft kaum ein zweites kennt.

Als S. im Frühjahr 1862 nach Wien zurückkehrte, verband ihn mit Müllenhoff bereits ein gemeinsamer Arbeitsplan. Er galt der kritischen Bearbeitung und eingehenden sprachlichen und sachlichen Erläuterung der kleinern Gedichte und Prosastücke in althochdeutscher und frühmittelhochdeutscher Sprache und ist in den „Denkmälern deutscher Poesie und Prosa vom VIII.–XII. Jahrhundert“ (Berlin 1864, 2. verm. u. verbess. Ausg. 1873) zu glänzender Ausführung gelangt. Die mannichfachen Vorarbeiten dienten in Wien zunächst der Promotion als Grundlage (Mai 1862), der nach zwei Jahren die Habilitation folgte. Scherer’s Probevorlesung am 7. März 1864 behandelte „Den Ursprung der deutschen Litteratur“, sie ist zuletzt gedruckt in den „Vorträgen und Aufsätzen“ S. 71–100.

Der Eintritt in die akademische Laufbahn war wenig ermuthigend. Franz Pfeiffer, der den Schüler Müllenhoff’s als Renegaten und Feind betrachtete, hatte auf Scherer’s Bewerbung, die einen hohen und umfassenden Begriff der deutschen Philologie aufstellte, mit der Ertheilung einer engbegrenzten venia legendi geantwortet: sie schloß die Litteraturgeschichte und Alterthumskunde ganz aus und schränkte Grammatik und Interpretation auf das Gothische, Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche ein. Und als nach einem Jahre S. auf Grund neuer Leistungen sein ursprüngliches Gesuch erneuerte, begründete der Ordinarius seine übelwollende Zurückhaltung mit persönlichen Kränkungen, die ihm durch die neueste Schrift des Privatdocenten zugefügt sein sollten. Erst durch das Eingreifen des Ministeriums wurde S. die Lehrthätigkeit in dem gewünschten Umfang freigegeben.

Jene Schrift, mit welcher S. auch seinen Beruf, Litteraturgeschichte zu lesen, erwiesen zu haben glaubte, war das Buch „Jacob Grimm. Zwei Artikel aus den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 14, 15, 16 besonders abgedruckt“ (Berlin 1865), von dem eine zweite, verbesserte Auflage im Jubiläumsjahre 1885 erschienen ist. Es war recht eigentlich eine Frucht seiner Berliner Studienzeit und der in den akademischen Ferien fast regelmäßig wiederholten Besuche der preußischen Hauptstadt. Bewundernde Verehrung des großen Gelehrten und des herrlichen Menschen, die bei ihm nie ermattete und die er allen seinen Schülern einzuflößen wußte, hat seine Charakteristik Jacob Grimm’s geschaffen, aber sie trübte nirgends die Klarheit seines Blickes. Wo andere die Ernte gethan glaubten, sah er Aufgaben über Aufgaben, und aus dem Lebenswerk des Schöpfers der deutschen Alterthumswissenschaft erwuchs ihm ein wissenschaftliches Programm, das die alten Bahnen vielfach zu verlassen mahnte. Blickt in der Kritik der „Mythologie“, des „Reinhart Fuchs“, der „Geschichte der deutschen Sprache“ der Schüler Müllenhoff’s und Haupt’s durch, so zeigen sich doch überall neue, über den Gesichtskreis dieser Forscher hinausgreifende Anschauungen und Problemstellungen. In dem Historiker aber, der das Bild des Brüderpaares im Rahmen [107] der Litteraturgeschichte zeichnet, ihre wissenschaftliche Arbeit in den Zusammenhang der großen Geistesbewegung vom Anfang des Jahrhunderts hineinstellt und die Fäden aufdeckt, die von da auf Herder und Goethe und weiterhin zurückweisen, glauben wir den Einfluß eines Kreises jüngerer Gelehrter zu erkennen, in dem S. in jenen Jahren viel verkehrte und mit dem er gerade auch das Studium der romantischen Kunst und Wissenschaft gepflegt hatte.

Scherer’s Erfolge als akademischer Lehrer überwanden bald die Schranken, welche ihm Uebelwollen und Mißverständniß zu ziehen vermochten. Mit einer Interpretation österreichischer Litteraturdenkmäler des 11. und 12. Jahrhunderts beginnend, schritt er bald zu den Hauptcollegien seines Faches vor, die Zahl seiner Zuhörer wuchs mit jedem Semester. Nach Pfeiffer’s Tode bestand für die Facultät wie für die Regierung über die würdigste Besetzung des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Litteratur kaum noch ein Zweifel: am 3. Juli 1868 wurde S., damals 27jährig, zum ordentlichen Professor an der Universität Wien ernannt.

Wenige Monate vorher war das Buch erschienen, das in der Geschichte der Wissenschaft wohl der Hauptträger seines Namens sein wird: „Zur Geschichte der deutschen Sprache“ (Berlin 1868), Müllenhoff gewidmet. Aber den Rastlosen wandelte auch jetzt keinen Moment der Gedanke an, auszuruhen. Eine Fülle von neuen Resultaten und Gesichtspunkten hatte ihm fast jede seiner Vorlesungen ergeben, die jetzt zur Ausgestaltung und Weiterverfolgung drängten. Geistliche Dichtung, Heldensage und Minnesang des 12. Jahrhunderts waren lockende Arbeitsfelder, die reiche Ernte versprachen, mit der Uebernahme des neuen Abdrucks der „Deutschen Grammatik“ drängte sich ihm der große Plan einer Germanischen Syntax als Ergänzung des Grimm’schen Werkes immer mächtiger auf. Dazu kamen Amtsgeschäfte, Vorträge, Essays und Zeitungsartikel – nicht zum letzten die politischen Interessen, die ihn alle diese Jahre hindurch in lebhafter Spannung hielten.

Mehr als einmal lief S. durch seine freimüthige Kritik der österreichischen Zustände und die noch verletzendere Hervorhebung der Tüchtigkeit Preußens und seiner Erfolge Gefahr, es mit der heimischen Regierung gründlich zu verderben. Zu dem engern Kreise der wissenschaftlichen Schüler gesellte sich ein weit größerer, der in ihm den Vorkämpfer der nationalen Sache verehrte, dessen lärmender Beifall aber seiner Propaganda nicht immer zum Vortheil gereichte. Der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges gab dem enthusiastischen Apostel der preußisch-deutschen Sache neuen Anlaß zum Hervortreten, und in den folgenden Jahren zogen sich, nicht ohne seine Schuld, ernste Wolken über ihm zusammen. Indessen, er besaß Muth genug, dem Gewitter Trotz zu bieten, dafür hatte er mannhafte Beweise genug geliefert. Angst oder Schuldbewußtsein war es nicht, was ihn im Sommer 1872 den Ruf an die neugegründete Universität Straßburg anzunehmen mahnte, sondern die Genugthuung des Patrioten, an dem Friedenswerke im neuen Reichslande mitschaffen zu dürfen, nachdem er den Thaten des Kriegsjahres mit neidvoller Bewunderung gefolgt war. Ein litterarisches Bürgerrecht für die neue Heimath hatte er sich in Gemeinschaft mit seinem Freunde Ottokar Lorenz schon durch die „Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart“ (Berlin 1871, 3. Aufl. 1886) erworben.

Vom Herbst 1872 bis zum Herbst 1877 hat S. in Straßburg gewirkt, und diese Jahre haben dem Lehrer den reichsten Erfolg seines Lebens gebracht. Er hat das selbst mit freudigem Stolz empfunden und es war ihm später oft eine Herzerfrischung, von der schönen Straßburger Zeit zu reden. Ein stattlicher Kreis von Schülern umgab ihn hier, aus allen Landen deutscher Zunge, hergeführt zumeist wie er selbst durch jugendlichen Enthusiasmus für das Elsaß und [108] bald festgehalten durch die Persönlichkeit des Lehrers, der mit der Befriedigung des idealen Bedürfnisses zugleich strenge methodische Schulung zu verbinden wußte. Jedem der lernen und arbeiten wollte, war er zugänglich: im Seminar, zu Hause, in harmlos fröhlicher studentischer Geselligkeit. Der schwachen und ungeübten Kraft gab er Muth und Selbstvertrauen durch die herzliche Mitfreude an jedem kleinen Fund und Fortschritt, und wo er wirklichen Ernst und Liebe zur Sache sah, da verdrossen ihn auch die dilettantischen Irrfahrten eines Anfängers nicht. Er besaß eine wunderbare Fähigkeit, sich in den Arbeitskreis und Gedankengang anderer Menschen zu versetzen, und seine eigene geniale Beanlagung, jedem ersichtlich, der ihm begegnete, wirkte auf keinen erdrückend, der ihm nahe trat. Es war ihm eine große Genugthuung, wenn es gelang, den rechten Mann an den rechten Arbeitsplatz zu stellen, und gern hat der ewig ruhelose und plänereiche eine neueroberte wissenschaftliche Provinz geräumt, wenn er einen guten Statthalter darin zurücklassen konnte. Aus der Schule des Straßburger Seminars, das ihm und seinen jüngern Collegen eine treffliche Ausstattung verdankte, sind germanistische Erstlingsschriften in rascher Folge hervorgegangen; die Mehrzahl von ihnen, darunter einige von hervorragender Tüchtigkeit, fanden Aufnahme in die von S. und ten Brink begründeten „Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker“ (Straßburg 1874 ff.)

Ihm selbst aber reifte in diesen Jahren eine Fülle litterarhistorischer Arbeiten, zu denen er die Vorstudien großentheils aus Wien mit herüberbrachte: „Deutsche Studien II. Die Anfänge des Minnesanges“ (Wien 1874); „Geistliche Poeten der deutschen Kaiserzeit“, 2 Hefte (Quellen und Forschungen 1 u. 7, Straßburg 1874, 75); „Geschichte der deutschen Dichtung im 11. u. 12. Jahrhundert“ (Quellen u. Forschungen 12, Straßburg 1875); ferner die mit Heinzel[WS 1] gemeinsam besorgte Ausgabe des „Wiener Notker“ (Straßburg 1876), eine lange Reihe von Abhandlungen und inhaltreichen Recensionen, auch zur deutschen Grammatik, und daneben die Sammlung der „Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich“ (Berlin 1874), welche eine Gruppe von 20 größern und kleinern Essays, den Ertrag eines Jahrzehnts vereinigte. Abgeschlossen wird die Reihe der größeren Straßburger Arbeiten durch die aus einer ablehnenden Recension zu reichen Ergebnissen ausgewachsene Studienkette „Die Anfänge des deutschen Prosaromans und Jörg Wickram von Colmar“ (Quellen u. Forschungen 21, Straßburg 1877). Mehr und mehr trat während dieser Zeit die Beschäftigung mit der modernen Litteratur aus dem Hintergrund hervor, in den sie besonders durch den festen Kreis der regelmäßigen größeren Collegien Scherer’s gebannt schien. Denn nur nebenher war in Wien und Straßburg die moderne Litteraturgeschichte in öffentlichen Vorlesungen zu ihrem Rechte gelangt.

Ganz andere Aussichten eröffneten sich hierfür mit der Berufung nach Berlin, der S. im Herbste 1877 Folge leistete, nachdem er zwei Jahre vorher im Interesse der Reichsuniversität die Möglichkeit der Uebersiedelung noch von sich gewiesen hatte. Der für ihn neugegründete Lehrstuhl war in erster Linie für neuere deutsche Litteraturgeschichte bestimmt, und unter dem Zeichen des jungen Goethe trat der Straßburger Professor in die verheißungsvolle neue Thätigkeit ein. Verdrängt wurde freilich auch in Berlin die alte Sprache und Dichtung keineswegs aus Scherer’s Vorlesungen, und nach Müllenhoff’s Tode (19. Februar 1884) erhielt das Altdeutsche sogar wieder den Vorrang. Aber von vorn herein gehörte Scherer’s eigene wissenschaftliche Arbeit in Berlin vorzugsweise der modernen Litteraturgeschichte an, und ihr kamen auch die meisten und nachhaltigsten Anregungen zu gute, die er in Vorlesungen und [109] Uebungen, Vorträgen und Essays ausstreute. Mittelpunkt seiner Studien wurde mit immer größerer Deutlichkeit Goethe: an das aus Straßburger Ansätzen erwachsene Buch „Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Commentars zum jungen Goethe“ (Quellen u. Forschungen 34, Straßburg 1879) schlossen sich, bis in die letzte Lebenszeit hinabreichend, jene scharfsinnigen und geistvollen Studien und Abhandlungen, die, mit ältern Stücken vereinigt, jetzt in den „Aufsätzen über Goethe“ am bequemsten zugänglich sind.

Zu den Triumphen des Gelehrten fügten die Berliner Jahre das wachsende Ansehen und die Ehren des Schriftstellers, und der Erfolg seiner „Geschichte der deutschen Litteratur“, die 1879 in Lieferungen zu erscheinen begann, 1883 abgeschlossen wurde, und von der er selbst noch die dritte Auflage erlebte, näherte ihn dem früh gesteckten Ziele seines Ehrgeizes, über den engen Kreis der Gelehrten hinaus einen geistigen Einfluß auf die Gesammtheit der Gebildeten zu gewinnen. Nicht zu bequemem Ausruhen, aber doch zu behaglichem Ausgestalten größerer litterarischer Pläne schien seinen Freunden die Zeit gekommen. In der Ehe mit einer österreichischen Landsmännin, Marie Leeder, hatte er das reinste und höchste Glück gefunden: wunschlose Tage waren bei ihm eingekehrt.

Aber immer neue Aufgaben drängten an ihn heran, ohne daß die alten lange gehegten Pläne ihren Reiz verloren. Im Frühjahr 1884 starb Müllenhoff. Mehrere Jahre hindurch hatte eine Entfremdung zwischen Lehrer und Schüler gewährt, an der S. keine andere Schuld trug, als die seit Anbeginn der Bekanntschaft offen dalag. Müllenhoff’s Erkrankung hatte die von S. stets erstrebte Wiederannäherung herbeigeführt, in Scherer’s Hand und auf Scherer’s Schultern legte der Sterbende die Fürsorge für sein unvollendetes Lebenswerk, die „Deutsche Alterthumskunde“. Schon als Student war S. in den Plan und zum Theil in die Methode des Werkes eingeweiht worden und in der Rolle des Dariussclaven hatte er seinerzeit mit dem ewig wiederholten Mahnungsruf „Herr, gedenke der Alterthumskunde!“ das Hervortreten des ersten Bandes bewirkt. Jetzt war er ganz Hingabe an das pflichtenschwere Erbe, er wollte alle eigenen, selbst die theuersten Herzenspläne, wie eine Goethe-Biographie, bei Seite schieben, wenn es sein mußte für immer. Aus eindringender Beschäftigung mit dem Lebensgange und der Arbeitsweise des Lehrers erwuchs ein biographisches Denkmal, dem leider der Abschluß fehlt, das aber (von mir ergänzt und vollendet) demnächst erscheinen soll. S. dachte sogar den feststehenden Plan des Müllenhoff’schen Werkes um eine vergleichende Darstellung des Rechtslebens und der Rechtsbildung der Germanen zu erweitern. Aber nachdem er sich mit der Technik der Quellenbehandlung und der combinatorischen Methode an der Hand des toten Meisters leidlich vertraut gemacht hatte, behielt der Stoff selbst nicht mehr den ursprünglichen Reiz, die eigensten Interessen gewannen den Sieg und zogen ihn nach einer ganz anderen Seite.

In der Akademie, zu der ihm noch Müllenhoff den Weg geebnet hatte, begrüßte ihn Mommsen als Vertreter der modernen Litteratur, und S. bekannte sich in erster Linie zu den philologischen Pflichten eines solchen. Die Eröffnung des Weimarer Goethehauses und der handschriftlichen Schätze aus dem Nachlaß des Dichters versetzten den Goethe-Philologen wieder ganz in diesen liebgewordenen Studienkreis; als erster Vicepräsident der jungen Goethe-Gesellschaft, als Vertrauensmann der Großherzogin bei Vorbereitung der großen Weimarer Goethe-Ausgabe, erwuchsen ihm zahlreiche, mit Eifer geübte Pflichten. Im Sommer 1885 begann mit der ersten Ausarbeitung einer Vorlesung über „Poetik“ (aus dem Nachlaß herausgegeben von Richard M. Meyer, Berlin 1888) ein früh gefaßter und weitaussehender Plan zu reifen, der nichts geringeres als eine Ausdehnung [110] des Machtgebietes der Philologie und die Neubegründung einer empirischen Aesthetik anstrebte. Einen zahlreichen und auserlesenen Kreis von Zuhörern sah er zu seinen Füßen und nie hatte sich die anziehende und anregende Kraft seines Vortrags machtvoller gezeigt.

Sein Schaffensdrang war angespannter als je zuvor, und die Arbeitskraft schien dem zu entsprechen. Aber nein! sie war vielmehr der Erschöpfung nahe. Bedenkliche Krankheitserscheinungen eröffneten den Winter 1885, und nach wiederholtem Aufraffen der körperlichen und geistigen Kräfte brachte ein Schlaganfall am 6. August 1886 dem Leben des 45jährigen ein jähes Ende. Es war an dem gleichen Kalendertage, an dem er ein Jahr zuvor sein eigenes Haus in der Nähe des Thiergartens bezogen hatte.

Ein Ueberblick über Scherer’s litterarische Thätigkeit läßt in der Wiener Periode mehr den Grammatiker, in Straßburg mehr den Litterarhistoriker, in Berlin schließlich den Schriftsteller hervortreten. Aber keineswegs haben mit dem Wechsel des Ortes verschiedene Interessengebiete und Ziele einander abgelöst. Die Mehrzahl der in den Straßburger Jahren erschienenen Arbeiten beruht auf Material, auf Vorstudien und Gesichtspunkten, die in Wien angesammelt waren, und während der Jahre 1872–77 war S. bereits, und das keineswegs als Anfänger, in der Weise schriftstellerisch thätig, welche die Berliner Zeit zu beherrschen scheint. Gleich im Beginn seiner Laufbahn stehen die flotten litterarhistorischen Essays über Jacob Grimm dicht neben der streng philologischen Arbeit an den „Denkmälern“, und zu einer Zeit, wo er von den schwierigsten Problemen der germanischen Grammatik erfüllt war, arbeitete er einen Vortrag über Achim von Arnim aus, dessen Manuscript die rastlose stilistische Feile bekundet. Und ebenso noch ganz zuletzt: zwischen die Vorarbeiten für die Goethe-Ausgabe und die Vorlesung über Poetik fallen Streifzüge rückwärts zu den „Altdeutschen Segen“ und zu Notker, fällt eine in der Niederschrift leider unterbrochene Auseinandersetzung mit Paul’s „Principien der Sprachgeschichte“. Diese Universalität der Interessen und der Arbeitsbethätigung ist eben für S. vom ersten Auftreten an charakteristisch. und mit ihr zusammenhängend die sich drängende Folge der Pläne und Studien, die sich gelegentlich bis zu nervöser Hast steigert. In Vorlesungen hat er alle Zweige der deutschen Philologie behandelt und in seiner litterarischen Thätigkeit blieb davon nur das Altnordische unbedacht. An der Schwelle einer Zeit, die auch in unserer Wissenschaft mehr und mehr die Specialisirung begünstigt, hat er das Beispiel einer zusammenfassenden Beherrschung ohne Gleichen geboten. Und dies Bild steht mit dem 23jährigen Privatdocenten fest und bleibt im wesentlichen das gleiche, wie sehr sich auch später sein Wissen ausbreitet, sein Ideenreichthum steigert, seine Arbeitsweise verfeinert. Die Uebertragung der an den Erzeugnissen des classischen und des deutschen Alterthums geschulten philologischen Kritik und Interpretation auf die Litteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, so spät sie zur Ausführung gelangt, ist in seinem frühsten Programm mitenthalten.

Und wo immer Scherer’s Arbeit einsetzt, überall waltet der enthusiastische Glaube an die geistigen und sittlichen Kräfte der Nation und an die Macht der ästhetischen Cultur auch im gegenwärtigen Zeitalter der politischen und socialen Kämpfe, überall auch die hohe Meinung von der Befähigung und dem Berufe der deutschen Philologie, jene Kräfte dem deutschen Volke vor Augen zu führen und das Vertrauen in sie zu befestigen. Aus diesem Streben hervorgegangen ist vor allem seine „Geschichte der deutschen Litteratur“, ein Buch, bei dem die sichere und fast gleichmäßige Beherrschung des ausgedehnten Stoffes ein nahezu selbstverständliches Lob ist. Es geht auf treibende Anregungen Müllenhoff’s zurück und läßt in der Darstellung der altdeutschen Litteratur noch einmal, [111] deutlicher fast als die vorangegangenen Monographien, den Einfluß seiner Vorlesungen erkennen. Denn die Ueberwindung der alten Art nach Stoffkreisen oder Gattungen chronologisch aufzureihen durch eine genauere Beobachtung der schriftstellerischen Individualität und ihrer Vorbedingungen, durch sorgfältige Ermittelung des Antheils der einzelnen Landschaften und ihres litterarischen Charakters, das sind die von S. immer wieder stark betonten Verdienste Müllenhoff’s. Daneben tritt auch der Einfluß Julian Schmidt’s und weit stärker das Vorbild des Gervinus hervor, dem er nicht nur den Glauben an die erhellende Kraft der historischen Parallele, sondern auch den Muth verdankt, den gewaltigen Stoff nach einer einheitlichen Idee zu gestalten. Diese Idee aber – wir haben es oben angedeutet – ist im Gegensatz zu dem doctrinären Freiheitspolitiker Gervinus die nationale. Die ganze Betrachtung führt hin, bereitet vor auf Goethe, und die Vorzüge des Schriftstellers: die künstlerische Gruppirung des Stoffes, der bald zündende und blitzartig erhellende, bald in mildem, anschmiegsamem Licht sich ergießende Stil, die durchgebildete Kunst der Charakteristik (von der gerade unsere A. D. B. so zahlreiche glänzende Proben aufzuweisen hat) scheinen zu wachsen, sobald er sich ihm nähert. Und wer S. in der Zeit wiedersah, wo er ganz in der Beschäftigung mit Goethe lebte, der hatte das Gefühl, daß von der einzigen Harmonie des großen Dichters etwas auf ihn überging, daß in der Vertiefung dieser Studien alles momentane, sprunghafte und unruhige in seinem Wesen zu weichen beginne, und nun erst die Zeit der reifsten Früchte gekommen sei.

Philologie war für S. im Sinne Wilhelm’s v. Humboldt „die Wissenschaft von der Nationalität“. Darum strebte er hinaus über die Grenzen, welche ihr die litterarischen Denkmäler in der Heimathssprache nur scheinbar stecken: Musik und bildende Kunst, Theologie und Philosophie, sociale und politische Geschichte zog er in den Kreis seiner Arbeit, und alle diese Disciplinen hat sein eindringendes Studium, sein rascher und scharfer Blick gelegentlich gefördert: in den Anmerkungen der „Denkmäler“, im „Leben Willirams“ (Wien 1866), in der „Geschichte des Elsaß“, in der „Poetik“ und zahllosen kleinern Arbeiten, unter denen seine Recensionen durch das sichere Erfassen von Aufgabe und Leistung, wie durch den Reichthum der eigenen Beisteuer einen hohen Rang in der Geschichte unserer litterarischen Kritik einnehmen.

Für die Wissenschaft vom Deutschthum glaubte er im Sinne Jacob Grimm’s, wenn auch auf eigenen Wegen wandernd, auch in der Geschichte unserer Sprache eine reiche Erkenntnißquelle zu haben, und er glaubte dies um so sicherer, als ihm die Resultate und Hilfsmittel der vergleichenden Sprachwissenschaft schon früh in seltenem Maße vertraut waren, er überdies als Schüler Brücke’s die Lautphysiologie erfolgreich zur Erklärung historischer Vorgänge heranzog, die man seither (mit wenigen Ausnahmen) nur beschreibend dargestellt hatte. Sein Buch „Zur Geschichte der deutschen Sprache“ hat gewiß nicht das hohe Ziel erreicht, das die Vorrede begeistert aufstellte: die Entstehung unserer Nation – gewissermaßen eine Ergänzung zu Müllenhoff’s „Alterthumskunde“ – von einer besonderen Seite zu begreifen und zur Grundlegung eines „Systems der nationalen Ethik“ beizutragen. Aber das Streben, die sprachlichen Thatsachen als historisch begreifliche Processe zu erkennen, ist unserer Wissenschaft seitdem geblieben, und Niemand bestreitet heute dem vielbekämpften Werke die historische Stellung am Eingang einer neuen Epoche der deutschen Grammatik, ja der Sprachwissenschaft überhaupt. Es ist ein Buch, in dem neben nüchterner und solider Erörterung grammatischer Fragen kühne, phantasievolle Hypothesen und Combinationen einhergehen, das uns aber zu einer Fülle fördernder Einzelheiten auch die wichtigsten methodischen Fortschritte gebracht hat. Es hat das gelockerte Band zwischen deutscher Grammatik und vergleichender Sprachforschung aufs neue geknüpft: erst seit [112] Scherer’s Auftreten haben die Germanisten wieder in erster Reihe mitgearbeitet an den großen Aufgaben, die die Wissenschaft Bopp’s und Schleicher’s stellte. Es hat bewirkt, daß sich die Lautphysiologie gerade unserer Wissenschaft wie ein verwandter Seitentrieb angegliedert hat. Es hat eine strengere Beobachtung der Lautgesetze gelehrt und das Erklärungsprincip der falschen Analogie mit einem Glück methodisch verwerthet, das auf spätere oft verwirrend gewirkt hat. Die Frage, inwieweit daneben die Isolirung und das Streben nach Differenzirung zur Erklärung sprachlicher Thatsachen herangezogen werden dürfen, ist erst im Anschluß an S. zur Discussion gelangt und noch heute nicht ausgefochten. Das größte und allereigenste Verdienst Scherer’s aber ist in diesem Buche die Verwerthung von jüngern sprachlichen Vorgängen zur Erklärung frühhistorischer und vorhistorischer Erscheinungen, wie gelegentlich umgekehrt. Diesem Princip der „gegenseitigen Erhellung“ verdankt S. seine schönsten Ergebnisse und für immer hat er jene imaginäre Schranke niedergerissen, welche für Jacob Grimm die Andacht vor dem Alterthümlichen gezogen, für Schleicher und andere die Scheidung von vorhistorischer Entwicklung und historischem Verfall, von Natur und Geschichte der Sprache grundsätzlich befestigt hatte.

Einen Philologen wie S. vermochten die glänzenden Erfolge der Naturwissenschaften und die öffentliche Gunst, die ihnen so überreich entgegenkommt, nicht mit Verzagtheit oder Neid zu erfüllen. Er hatte sich frühzeitig mit dem modernen Empirismus der Engländer und Franzosen vertraut gemacht und er glaubte mit Buckle[WS 2], „daß die Ziele der historischen Wissenschaft mit denen der Naturwissenschaft wesentlich verwandt“ seien. Darum wünschte er auch die empirische Forschungsweise der Naturwissenschaften auf dem gesammten Gebiete der historischen Disciplinen nutzbar gemacht zu sehen, und die Verfeinerung der philologischen Methode schien ihm wesentlich durch Verstärkung der Empirie erreichbar. Er ging noch einen Schritt weiter und übertrug diese Methode auch auf ein Gebiet, das bisher der speculativen Philosophie vorbehalten schien, auf die Aesthetik. Es war kein Abweichen von jener „Wissenschaft der Nationalität“, wenn er mehr und mehr vorschritt zu den Problemen vom Ursprung der Poesie und von den Bedingungen des dichterischen Gestaltens. Schon frühzeitig hatte er das Ziel einer „nationalen Ethik“ als untrennbar bezeichnet von einer zusammenfassenden Betrachtung dessen, was allen Völkern gemeinsam ist. Die Mehrzahl seiner litterargeschichtlichen Arbeiten enthält Versuche, welche auf genaueste Scheidung des überlieferten und des individuellen, auf intime Beobachtung des dichterischen Processes, auf die Ermittelung der ältesten Poesie und die einfachsten Urformen der einzelnen Gattungen hindrängen. Dazu treten die Erörterungen über das, was S. als „äußere und innere Form“ bezeichnet, das Verhältniß zwischen Dichter und Publicum und zahlreiche andere Dinge, welche die bisherige Aesthetik vernachlässigt oder von denen sie doch die historische Forschung ausgeschlossen hatte. Die Aufgabe, welche sich S. mit seiner „Poetik“ stellte und die in dem groß angelegten, aber ungleichmäßig ausgeführten, zum Theil nur skizzirten Collegienheft energisch in Angriff genommen ist, läßt sich nur mit der vergleichen, welche Jacob Grimm im J. 1819 gelöst hat: wie das Erscheinen der „Deutschen Grammatik“ der Autorität der normativen Sprachlehre ein Ziel setzte, so sollte auch an die Stelle der regelgebenden Aesthetik eine empirisch begründete „Poetik“ des Thatsächlichen treten, die Kluft, welche die Aesthetik von der Litteraturgeschichte jetzt schärfer als zuvor zu trennen schien, sollte zum Heile beider ausgefüllt werden. – Was uns S. in dem Torso dieses großen Lieblingsplanes hinterlassen hat, das sind Fermente, welche die litterarhistorische Wissenschaft auf Generationen hinaus in Gährung erhalten werden.

[113] Ein abschließendes Urtheil über die Bedeutung Scherer’s ist selbstverständlich heute – und noch auf lange Zeit hinaus unmöglich. So wenig der Inhalt irgend eines seiner Bücher auch nur bei seinen Schülern kanonische Geltung besitzt, so wenig ist eines von ihnen überwunden. Alle stehen sie noch heute im Mittelpunkte einer lebhaften, oft leidenschaftlichen Discussion, von allen gehen noch heute die förderndsten Anregungen aus, und die Zeit ist gar nicht abzusehen, wo auch nur eines als völlig überwunden dem wissenschaftlichen Streite entrückt werden könnte. Denn das ist der eigenste Werth von Scherer’s Schriften, daß sie mit dem Nachweis falscher Resultate keineswegs überholt oder gar beseitigt sind. S. selbst war nicht stolz auf sogenannte glatte Ergebnisse: die Auffindung einer Quelle, die Feststellung eines Datums reizte ihn nur gelegentlich und vorübergehend, ja er leugnete den Ehrgeiz ganz ab, bestimmt fixirbare Resultate mit seinem Namen gekennzeichnet in der Wissenschaft fortlebend zu wissen. Hat er doch oft genug ein Feld verlassen, wo die Halme erst eben im Aufschießen waren, und andern die Ernte preisgegeben, wo er gesäet hatte. Die Aufstellung der Probleme, die Fixirung der Aufgaben und weiterhin die wissenschaftliche Methode und ihre specielle Ausbildung für die einzelnen Gebiete – das war es, was ihn am meisten reizte. Sobald er Wege und Waffen kannte, überließ er es andern, sich häuslich einzurichten und neidete ihnen nicht den reinlichen Gewinn. In der Stellung einer Fülle neuer Fragen, in der Eröffnung einer Menge neuer Aussichten liegt nicht zum wenigsten Scherer’s Bedeutung; er war dazu befähigt durch die Universalität seines Wissens und seiner Arbeit, berufen und berechtigt, weil er selbst für die Verfeinerung der philologischen Technik und die Erweiterung ihres Gebietes das beste gethan hatte.

Seine Stärke und seine Schwäche lag in der entscheidenden Betonung des Philologen gegenüber dem Philosophen. Selbst im Besitze einer guten philosophischen Bildung war er philosophischer Betrachtungsweise doch grundsätzlich abgeneigt. Er glaubte mit dem Handwerkszeug des Philologen überall durchkommen zu können und er hat darauf die größte Sorgfalt verwendet. Aber indem er auch aus Grammatik und Poetik die Psychologie fernhielt, gab er doch zuweilen Wege der Erkenntniß und Gesichtspunkte preis, für die der Philologe keinen Ersatz zu bieten vermag.

Scherer’s Persönlichkeit richtig zu würdigen ist nur befähigt, wer ihn nahe genug kennt, um die völlige Einheit des Gelehrten, des Schriftstellers und des Menschen zu erfassen. Seine Weltanschauung war der Determinismus: er gab ihm den Glauben an den engen, ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen und damit den Muth, sie auf empirischem Wege begreifen zu wollen. In früher Jugend hat er sich das höchste Ziel gesteckt, mit unerhörter, in keinem Augenblick nachlassender Anspannung seiner geistigen Kräfte hat er danach gerungen. So mochte er zwar nicht das mühselige Ansammeln wohlgesichteten Materials, wohl aber diejenigen gering achten, die darin den Triumph der Wissenschaft erblickten. Von dieser Seite aber kamen gleich beim Beginn seiner öffentlichen Laufbahn Kränkungen und Chicanen, und er lernte zeitig genug erkennen, daß „wahrhaft gut und menschlich nur die Beschäftigung mit großen wissenschaftlichen Interessen erhält“. Er war eine starke Individualität, sich seines Strebens und seiner Kräfte wohlbewußt, aber sein ganzes Leben hindurch hat er sich dagegen wehren müssen, mit der Philisterelle gemessen zu werden, und es war sein schmerzlichster Kummer, daß auch Müllenhoff ihm nicht voll gerecht wurde.

Das Kleinliche und Banausische war ihm zuwider, wo immer er es antraf, [114] freudige Werthschätzung schlichter Tüchtigkeit, bewundernde Hingabe an bedeutende, große und gute Menschen war ihm Natur und Herzensbedürfniß. Neben einem starken Selbstbewußtsein fand doch die Eitelkeit keinen Platz. Seinen lebendigen, oft unruhigen Stil haben manche manierirt gefunden, und es ist allerdings Thatsache, daß er ihn sich bewußt angeeignet hat in der Schule von Macaulay und Emerson, nicht ohne das directe Vorbild Herman Grimm’s: aber er hat sich diesen Stil eben angepaßt, weil er seinem eigensten Wesen entsprach, dieser nervösen Unruhe, die doch immer auf das wesentliche hindrängt, nie beim nebensächlichen verweilt, nie zerstreut ist und nie zerstreuend wirkt. Aehnlich wie S. schrieb war sein Vortrag auf dem Katheder, wo er meist von einem ausgearbeiteten Heft hinweg sprach: in kurzen Sätzen, lebendig und mit innerem Anteil, oft mit Wärme, niemals pathetisch. Man wurde beständig in Athem erhalten, und wenn gelegentlich die Sicherheit des Ausdrucks über eine Schwierigkeit hinwegteuschen konnte, so traten gleich darauf andeutende Ausblicke und scharf formulirte Fragen an den Zuhörer heran.

Alles manierirte Wesen war ihm fremd und unsympathisch, und sein heftiges Widerstreben gegen die Kunstrichtung Richard Wagner’s wie gegen gewisse Erscheinungen des modernen Realismus waren in dieser Abneigung begründet. Der künstlichen Erneuerung des deutschen Alterthums, allen chauvinistischen Spielereien und Strebereien trat er mit Jacob Grimm’s Entschiedenheit entgegen. Wohl war er von der Herrlichkeit germanischer und altdeutscher Poesie begeistert, und er las Stücke wie das Hildebrandslied und den Schluß des Beowulf nie ohne innere Erregung, aber der heilige Schauer der Ehrfurcht überkam ihn nicht und die – wahrhaftige – Trauer seines Lehrers Müllenhoff um den Untergang des germanischen Geistes blieb ihm fremd. Nie hat er künstlich in sich eine Stimmung erzeugt oder nach außen affectirt, die andere wohl wie ein germanistisches Priestermäntelchen umwarfen, wenn sie im Heiligtum der deutschen Vorzeit walteten. Er freute sich der Errungenschaften der modernen Cultur und würde für den Preis der Erhaltung unserer alten Heldenlieder niemals den Faust oder die Lyrik Goethe’s hingegeben haben. So steht er auch als ein durch und durch moderner Mensch, dem das deutsche Alterthum nur als nothwendiger Hintergrund und im festen Zusammenhange mit der geistigen Fortentwickelung der Nation hingebender Arbeit werth schien, im Eingang einer neuen Zeit.

Als Vorläufer einer Gesammtausgabe der „Kleinen Schriften“ hat K. Burdach „Wilhelm Scherer’s Schriften“ mit mustergiltiger Sorgfalt verzeichnet, viele anonyme kleinere Arbeiten erst ermittelt (als Manuscript gedruckt. Berlin, Weidmann 1890). – Die zahlreichen Nekrologe zählt Erich Schmidt im Eingang seines Nachrufs, Goethe-Jahrbuch Bd. IX, 259 ff. auf. Vgl. besonders: J. Baechtold, Allgem. Zeitung (Augsburg) 1886, 3. Sept. – F. Bechtel, Bezzenberger’s Beiträge zur Kunde der indogerm. Sprachen XIII, 163 ff. – O. Brahm, Frankfurter Zeitung 1886, 16., 17. Sept. – K. Burdach, Nationalzeitung 1886, 3., 6., 9. Nov. – W. Dilthey, Deutsche Rundschau XIII (1886), 1, 132 ff. – H. Grimm, Deutsche Litteraturzeitung 1887, No. 3.– R. Heinzel, Zeitschr. f. d. östr. Gymn. 1886, H. 11. – J. Hoffory, Westermann’s Monatshefte LXII (1887), S. 646 ff. – E. Martin, Internat. Zs. f. allg. Sprachwiss. 3, 217 ff. – P. Schlenther, Vossische Zeitung 1887, 23., 30. Jan. – A. Schönbach, Deutsche Zeitung (Wien), 1887, 14. April. – H. Speidel, Neue Freie Presse (Wien) 1887, 4. Sept. – Selbständig erschienen sind: A. Horawitz, W. Scherer. Ein Blatt der Erinnerung. Wien 1886. – Joh. Schmidt, Gedächtnißrede auf W. Scherer (gelesen in der Berliner Akademie am 30. Juni 1887), (Berlin 1887). – V. Basch, Wilhelm Scherer et la philologie allemande (Paris, Nancy 1889).


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Richard Heinzel (1838-1905), Germanist.
  2. Henry Thomas Buckle (1821-1862), englischer Historiker (= History of Civilization in England, 2 vol., London 1857-1861), daneben einer der besten englischen Schachspieler seiner Zeit.