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ADB:Wackernagel, Wilhelm (Germanist)

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Artikel „Wackernagel, Wilhelm“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 460–465, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wackernagel,_Wilhelm_(Germanist)&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 22:47 Uhr UTC)
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Wackernagel: Wilhelm W., Germanist, wurde am 23. April 1806 zu Berlin als Sohn eines aus Jena stammenden evangelischen Buchdruckers geboren. Der Vater, der längere Jahre als Factor und Mittheilhaber der Unger’schen Officin vorstand, übernahm im Geburtsjahre seines jüngsten Sohnes das Amt eines Criminalcommissärs, starb aber schon im J. 1815; 1818 folgte ihm die Mutter ins Grab. Unter dem Schutze und der Fürsorge von vier ältern Geschwistern verlebte Wilhelm eine nicht sorgenfreie, aber im ganzen doch glückliche, liebewarme und von freundlichen Sonnenstrahlen vielfach durchleuchtete Jugend. Früh erkannten die Angehörigen die entschiedene Begabung ihres Jüngsten: besonders die Schwestern, auf denen die Erwerbssorgen ruhten, und der älteste Bruder Philipp, der selbst mit der Noth des Daseins ringend, nicht müde wurde, den banausischen Absichten eines harten und engherzigen Vormunds entgegen zu wirken und den gelegentlich verzagenden Wilhelm zum Ausharren und Emporstreben anzuspornen. Dieser wurde zwar wegen einiger Knabenstreiche aus dem Gymnasium zum Grauen Kloster ausgeschlossen und mußte noch hinterher an Stelle körperlicher Züchtigung 3 Tage Haft in der Stadtvogtei abbüßen: für den Plan einer neuen Eintheilung und Verfassung Deutschlands, den er (13jährig !) in einem Brief an Philipp entwickelt hatte; aber doch öffneten ihm gute Zeugnisse eine Freistelle am Friedrichs-Werder’schen Gymnasium, das er vom Herbst 1820 ab besuchte. In den Schuljahren hat ihn Hans Ferdinand Maßmann, der seine Freundschaft von Philipp auf Wilhelm übertrug, als Turner, Patriot und Kenner der altdeutschen Litteratur in seine Richtung gezogen, ohne jedoch dauernden Einfluß zu behalten.

Im Herbst 1824 bezog W. die Berliner Universität. Das Studium der deutschen Vorzeit, vor allem der altdeutschen Sprache und Litteratur stand im Vordergrunde seiner Interessen: er wird einer der ersten Berufsgermanisten gewesen sein, ohne freilich daneben die classische Philologie zu vernachlässigen, in die ihn Böckh einführte und die ihm durch die Personalunion, wie sie Lachmann verkörperte, die beste Lehrmeisterin ward. W. begann mit Litteraturgeschichte und Mythologie bei v. d. Hagen, gehörte aber vom Sommer 1825 ab zu den eifrigsten Schülern des soeben von Königsberg herversetzten Lachmann. Mehr noch als dies zweite muß das dritte Semester für ihn bedeutsam geworden sein: im Winter 1825/26 hörte er bei Lachmann die Interpretation des Nibelungenliedes, das er doch schon im vorausgehenden Sommer bei v. d. Hagen belegt hatte. Die innere Loslösung von v. d. Hagen und Maßmann wird schon damals erfolgt sein, und sie war um so vollkommener, als auch Lachmann’s sittliche Persönlichkeit einen mächtigen und für Wackernagel’s spätere Lebensführung entscheidenden Eindruck ausübte.

Während der Studienzeit wichen die Sorgen ums tägliche Brot nicht von ihm, aber in einem Leben voller Entbehrungen bewahrte, ja stählte er die Elasticität seines Geistes und entwickelte ein Selbstgefühl, das nur vorübergehend ungünstig nach außen gewirkt zu haben scheint. Der rasche Fortschritt seiner Sprachkenntnisse und die gute, frohe Laune die aus allen gedruckten und ungedruckten Urkunden dieser Entwickelungsperiode spricht, erregen Bewunderung, wenn man daneben liest, wie er sich durch alle diese Jahre mit Copiren, Stundengeben und ein paar dürftigen Beneficienn ernährte. Nachdem er zu Weihnachten 1826 die Lehrer und Freunde durch eine scherzhafte Mystification „Zwey Bruchstücke eines unbekannten mittelhochdeutschen Gedichtes“ geneckt und glücklich genasführt hatte, ließ er im J. 1827 mehrere kleine Gelegenheitsdrucke folgen, die zum Theil bereits Lieblingsgegenstände seiner spätern Studien behandeln oder ans Licht [461] ziehen, wie die frühmhd. Lyriker („Kiurenbergii et Alrammi Gerstensis carmina“) und die geistliche Prosa („Spiritalia theotisca“). Seine erste größere Arbeit behandelte noch im gleichen Jahre „Das Wessobrunner Gebet und die Wessobrunner Glossen“: sie war hauptsächlich gegen die Brüder Grimm gerichtet, und wenn sie, wol mit Unrecht, jedes heidnische Element aus dem Denkmal wegleugnete, so bahnte sie doch der höheren Kritik den Weg, indem sie bestrebt war, die verschiedenen Theile scharf zu sondern. Auch in den grammatischen Excursen offenbarte sich durchweg der Geist und die Methode Lachmann’s neben reicher Belesenheit und selbständigem Urtheil. Und der Philologe, der sich 21 jährig so verheißend in die Wissenschaft vom deutschen Alterthum einführte, war zugleich ein Poet, der ernste und heitere Stimmungsbilder in formgewandten Strophen wie in lockeren Vagantenliedchen wiederzugeben wußte, der vielgeplagte Handschriftencopist, der den Winter 1827/28 über auf einer Kegelbahn in der Lindenstraße hauste, gab im folgenden Sommer die „Gedichte eines fahrenden Schülers“ heraus (1828) und wurde in einer „humoristischen Trippelallianz“ recht eigentlich als der „Triarier des Humors“ gepriesen. Er hatte an allem Gesunden, was die Nachblüthe der Romantik damals hervorbrachte, genießend, urtheilend und schaffend lebendigen Antheil und betheiligte sich auch an dem fröhlichen Kampfe gegen den ersten professionellen Vertreter des jüdischen Zeitungswitzes als Mitverfasser der Schrift „Otto Bellmann und Berlin. M. G. Saphir und die intellectuelle Bildung. Ein namenloses Pamphlet“ (Berlin 1828).

Die Herzen der Menschen öffneten sich ihm leicht, und bald war er auch als Gelehrter des günstigen Urtheils aller Berufenen sicher. Nur wünschte ihm Lachmann etwas mehr Festigkeit und Kritik, hätte ihn gern bei einer größeren Editionsaufgabe wie dem Titurel festgehalten und sah nicht ohne Sorge, wie sich W. in diesen Jahren mehr und mehr zu zersplittern schien. Diese Ausbreitung und Vielseitigkeit seiner Interessen tritt besonders während eines 1½ jährigen Aufenthaltes in Breslau zu Tage, zu dem Hoffmann von Fallersleben die Anregung gegeben hatte, nicht ohne dem Freunde die Aussicht auf eine Professur zu erwecken. Die Zugehörigkeit zur „Zwecklosen Gesellschaft“ und zum Künstlerverein förderte die poetische Production, brachte ihn als Recensenten in nahe Beziehung zum Theater und regte die Beschäftigung mit allerlei Fragen der bildenden Kunst an, woraus schon damals der Entwurf und die ersten Anfänge einer Geschichte der Glasmalerei erwuchsen; im intimen Verkehr mit Karl Witte dehnte er seine Studien auch auf die romanischen Sprachen aus, und der rastlose, stets unternehmungslustige Hoffmann v. Fallersleben zog ihn in allerlei zum Theil weitaussehende Pläne litterarhistorischer und lexicographischer Natur hinein, weckte aber auch sein Interesse für das reiche Gebiet der mittelalterlichen Realien. So hat dieses Verhältniß, das zu Anfang des Jahres 1830 einen unerfreulichen Abschluß fand, unzweifelhaft viel dazu beigetragen, dem wissenschaftlichen Gesammtbild Wackernagel’s frühzeitig jene Vielseitigkeit zu verleihen, die ihm eine eigenartige Zwischenstellung zwischen Lachmann und Jac. Grimm anzuweisen scheint. Der unmittelbare wissenschaftliche Ertrag der Breslauer Zeit ist großen Theils niedergelegt in der von Hoffmann v. Fallersleben herausgegebenen „Monatsschrift von und für Schlesien“ und im ersten Bande von dessen „Fundgruben“: Die lexicographisch-syntactische Abhandlung über „Die mittelhochdeutsche Negations-Partikel ne“ freilich (Fundgr. 1, 269—306), deren Werth bis jetzt unerloschen ist, war zum großen Theil noch unter den Augen Lachmann’s entstanden; W. hatte auf sie seine Promotionspläne gebaut, die aber auch in der Folgezeit noch keine Verwirklichung fanden, bis sie im Frühjahr 1833 glücklich durch die Ehrenpromotion von Göttingen aus überflüssig gemacht wurden.

Auf das freie, an künstlerischen Anregungen reiche Breslauer Litteratenleben [462] folgten wieder Jahre harter Frohnarbeit in Berlin. Für ein Schulamt hatte W. aus mehr als einem Grunde die Lust verloren, zum Bibliotheks- und Archivwesen fand er keinen Zugang, trotzdem ihm die besten Empfehlungen vor allem Lachmann’s zur Seite standen – es sieht fast so aus, als hätte ihm der Schülerbrief vom Jahre 1819 noch immer im Wege gestanden, und jedesfalls hat Johannes Schulze ihm gegenüber den vielgerühmten Scharfblick nicht bewiesen. So ging es denn abermals ans Copiren, Corrigiren, Uebersetzen und Stundengeben. Zwischendurch fand er freilich Zeit, seine weitausholende und grundgelehrte Studie über die „Geschichte des deutschen Hexameters und Pentameters bis auf Klopstock“ (Berlin 1831) abzuschließen und mit sicherm Schritt und kühnem Blick das Gebiet der vergleichenden Grammatik zu betreten. Der Aufsatz „Ueber Conjugation und Wortbildung durch Ablaut im Deutschen, Griechischen und Lateinischen“ (in Seebode’s und Jahn’s Archiv für Phil. u. Päd. I, 17–50 [1831]) mag immerhin mit einer Hauptthese, der durchgehenden Analogie des Verbal- und Nominalablauts auch in der Bedeutung, übers Ziel hinausgeschossen sein, er war unbedingt für die Jugendperiode der Sprachvergleichung, in der Jac. Grimm und Franz Bopp noch wie einsame Säulen emporragten, eine bedeutsame Leistung, und es ist schwer zu begreifen, daß er fast spurlos vorübergegangen und auch in der lebhaften Discussion, die ein Jahrzehnt später mit Holtzmann und Jacobi beginnt, fast unbeachtet geblieben ist. Er hätte es wohl verdient, in den „Kleinen Schriften“ wieder abgedruckt zu werden. – Unter den Freundschaften dieser letzten Berliner Zeit, wo W. der bekannten „Mittwochsgesellschaft“ beitrat, war keine für beide Theile fördernder als die mit Karl Simrock, die schon vor der Abreise nach Breslau geknüpft, jetzt innig und fest erstarkte und W. mehr und mehr von dem seelischen Drucke befreite, den seine äußere Lage, wie vor allem die betrübenden Erlebnisse der letzten Breslauer Zeit hervorgerufen hatten. Die beiden haben als Dichter eine nahe Verwandtschaft, und diese tritt, seit ihr Verkehr ein lebhafterer wird, noch mehr hervor: W. erweitert jetzt den Kreis seiner Poesie durch epische Dichtungen und Zeitgedichte, Simrock beginnt die Nachlässigkeit der Form abzustreifen, die seinen Jugendgedichten anhaftete, und hat gewiß als Gelehrter, der dem Dilettantenthum nur langsam entwuchs, von Niemandem soviel gelernt wie von dem Freunde W. Ein Denkmal dieses Bundes ist die Uebersetzung der Gedichte Walther’s von der Vogelweide (Berlin 1833), zu der W. reichhaltige „Anmerkungen“ beisteuerte – einen Commentar, der lange unveraltet geblieben ist.

Das Frühjahr 1833 brachte W. endlich die Befreiung aus Ungewißheit und Noth: durch Vermittlung von Basler Freunden aus der Studienzeit her bekam er die Stelle eines ord. Professors der deutschen Sprache und Litteratur an der Universität Basel, mit der ein Lehramt für das gleiche Fach am Pädagogium verknüpft war. Am 17. Mai 1833 hielt er hier seine akademische Antrittsrede, und er ist der kleinen Universität und dem Gemeinwesen, an das ihn seit 1837 auch das Ehrenbürgerrecht und die Verheirathung mit einer Schweizerin fesselte, treu geblieben, obwol ihm die ehrenvollsten Berufungen mehrfach einen großen Wirkungskreis in Aussicht stellten: auf der Höhe des Lebens hat er die germanistischen Fachprofessuren von München und Wien, ja die seiner Vaterstadt Berlin ausgeschlagen. Er nahm in seiner neuen Heimath regen Antheil zunächst mehr an gemeinnützigen Bestrebungen, später auch am politischen und kirchlichen Leben. Seit 1856 und, zeitweise durch die vorgeschrittenen Liberalen verdrängt, zuletzt wieder 1868 gehörte er dem großen Rath des Kantons an. Für die Weckung und Pflege des historischen wie des Kunstsinns hat er das Beste gethan, und die „mittelalterliche Sammlung“, heute ein Stolz Basels, ist durch ihn gegründet und dem Herzen und Verständniß seiner neuen Landsleute nahe gebracht worden. Von der Rede [463] über „Die Verdienste der Schweizer um die deutsche Litteratur“, mit der er sich 1833 einführte, bis zu der gelehrten Monographie „Johann Fischart von Straßburg und Basels Antheil an ihm“, die, in der Krankenstube entstanden, erst nach seinem Tode erschien (Basel 1870), ist selten ein Jahr vergangen, das nicht von der engen Verknüpfung seiner wissenschaftlichen Interessen mit der Vergangenheit Basels und der oberrheinischen Lande in größern und kleinern Arbeiten Kunde gegeben hätte. Eine zweite Ehe, die W. nach dem Tode der ersten Frau mit Maria Sarasin schloß, verband seine Familie noch enger mit den Basler Geschlechtern, und die Söhne haben die Treue gewahrt, die der Vater ihrer Heimathstadt geschworen hatte.

Wackernagel’s Vorlesungen umfaßten, mit alleiniger Ausnahme des Nordischen, das Gesammtgebiet der deutschen Philologie und Alterthumskunde und darüber hinaus vergleichende Grammatik des Deutschen, Griechischen und Lateinischen, anfangs auch vergleichende Grammatik der romanischen Sprachen. Von ihrem innern Reichthum wie von ihrer strengen, wolabgewogenen Form haben wir ein treffliches Beispiel in den Vorlesungen über „Poetik, Rhetorik und Stilistik,“ die L. Sieber aus seinem Nachlaß herausgegeben hat (Halle 1873); aber auch aus der „Geschichte der deutschen Litteratur“ und der Uebersicht über die Geschichte der altdeutschen Predigt („Altdeutsche Predigten und Gebete“, Basel 1876, S. 291 ff.), die Max Rieger aus seinem Nachlaß herausgegeben und selbständig ergänzt hat, kann man sich ein Bild davon machen, denn beide sind direct aus Vorlesungen erwachsen. Die Interpretation ganzer Litteraturwerke und ausgewählter Proben stand im Mittelpunkte seines Unterrichts: und ein wie feinsinniger Ausleger besonders mittelhochdeutscher Dichtung W. war, das zeigt uns die commentirte Ausgabe des „Armen Heinrich“ (herausgegeben von W. Toischer, Basel 1885), die das unübertroffene Muster einer Interpretation für Anfänger darstellt. Auch die Ausgabe des Walther von der Vogelweide, zu der er sich 1862 mit Max Rieger verband, geht im Grunde auf die vielfach geübte Interpretation seines Lieblingsdichters zurück. In der Weise Uhland’s ging Wackernagel’s Lehrthätigkeit über den Vortrag der strengen Wissenschaft hinaus auf Uebungen im Stil und in der freien Rede; ja auch die poetischen Neigungen und Erzeugnisse seiner Studenten pflegte er zu leiten und durch Kritik und Zuspruch zu fördern. In ihm selbst versiegte die poetische Ader niemals, und wenn er auch seit dem stattlichen Bande der „Neuen Gedichte“ (1842), den „Zeitgedichten“ (1843) und dem „Weinbüchlein“ (1845) seine Poesien nicht mehr sammelte, so brachte die Auswahl der „Gedichte“, die S. Vögelin 1873 veranstaltet hat, doch auch noch manch hübsches Stück der späteren Zeit ans Licht. Und wie W. für die Sänger gesungen hat, das haben zahlreiche Compositionen bewiesen. Am besten sind ihm immer neben humoristischen die rein lyrischen Lieder geglückt.

Daß W. so treu und zäh an Basel haftete, macht ihm persönlich gewiß nur Ehre, es bleibt aber immerhin zu bedauern, daß ein Gelehrter seines Ranges, der zugleich ein höchst anregender und eminent gewissenhafter Lehrer war, auf einen so kleinen Wirkungskreis beschränkt blieb. Denn wenn er in Basel auch stets, über die Grenzen seiner Facultät hinaus, die Tüchtigsten um sich schaarte, aus dem Reiche fand doch nur selten einer den Weg zu ihm: als Wackernagel’s bedeutendster Schüler wird Max Rieger zu gelten haben. Nach Jacob Grimm’s Tode konnte W., nach dem Werth und dem Umfang seiner Gesammtleistung gemessen, als der erste der Germanisten gelten. Ihn wählte die Münchener Histor. Commission an Grimm’s Stelle zum Mitgliede und der Orden „pour le mérite“, als dessen Träger er ebenfalls Grimm’s Nachfolger wurde, fiel gewiß einem Würdigen zu. Und er hat diese Ehrenstellung bis an sein Ende besessen: größere Leistungen von jüngern Gelehrten traten erst hervor oder drangen [464] doch erst durch, als er, am 21. December 1868, nach längerer Krankheit gestorben war.

Wackernagel’s Lehrthätigkeit so nachdrücklich zu betonen, obwohl ihre Erfolge äußerlich nicht in einer wissenschaftlichen Schule oder Gruppe hervortreten, hat sein Biograph besonders auch darum die Pflicht, weil er an der Stelle einer großen wissenschaftlichen Schöpfung, wie sie sonst der Träger eines bedeutenden Gelehrtennamens zu sein pflegt, hier in erster Linie ein „Lesebuch“ nennen muß. Wackernagel’s „Deutsches Lesebuch“, das in 3 Theilen zuerst zu Basel I 1835, II 1836, III 1841 und 1843 erschien, ist freilich nicht nur ein Werk, das bei umfassender Gelehrsamkeit eine hohe Reife des historischen wie des ästhetischen Urtheils bekundet, sondern es enthält zugleich einen nicht unwesentlichen Theil seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit. So ist es denn auch, besonders nachdem der I. Theil als „Altdeutsches Lesebuch“ von ihm noch mehrfach neu bearbeitet worden ist, bis heute nur in Einzelheiten veraltet und jedesfalls als Ganzes unersetzt. Nirgends hat sich W. so als Schüler Lachmann’s bewährt, wie in der kritischen Herrichtung der in reicher Fülle hier vereinigten Proben altdeutscher Dicht- und Prosawerke, denen nicht selten erst durch W. der Platz angewiesen worden ist, den sie dann stillschweigend in der Litteraturgeschichte behalten haben. Der großen Anthologie deutscher Prosa von 1500–1842, welche die beiden Bände des III. Theils bieten, ist der verdiente Erfolg nicht zu Theil geworden. – Losgelöst aus dem Lesebuch I hat W. später das „Altdeutsche Wörterbuch“, das in der Knappheit und Schärfe seiner Bedeutungsangaben musterhaft ist. Und als eine Ergänzung des Lesebuchs war schließlich auch die „Geschichte der deutschen Litteratur“ gedacht, welche 1848 zu erscheinen begann und mit dem 3. Heft 1855 ins Stocken kam; Ernst Martin hat 1872 eine Titelauflage mit Inhaltsverzeichniß und Register ausgestattet, 1879 den ersten Band neu bearbeitet und selbständig einen zweiten hinzugefügt, mit dem das Werk 1894 zum Abschluß gelangt ist. Wackernagel’s eigene Darstellung reichte bis ins 17. Jahrhundert; es war neben Koberstein’s Grundriß, dessen I. Band kurz vorher in 4. Auflage erschienen war, die erste philologisch-historische Darstellung der älteren Litteratur und durch die allseitige Beherrschung des Stoffes wie durch die Originalität der Gesammtauffassung und den Reichthum eigener Gesichtspunkte und Hinweise diesem höchst achtbaren Vorgänger unbedingt überlegen. Aber es war ein ernstes und strenges Buch: alles einzelne in Beziehung zum Ganzen gesetzt, und dies Ganze wieder fast zu reich mit Einzelheiten ausgestattet. Es war weder ein Buch zum Lesen noch ein Buch zum Nachschlagen, es wollte und will noch heute studirt sein, aber es lohnt ein eindringendes Studium auch jetzt noch. Das Erscheinen des Werkes fiel in eine ungünstige Zeit: noch ehe die 3. Lieferung herauskam, war der Nibelungenstreit ausgebrochen, der auf Jahre hinaus die Interessen der deutschen Philologen absorbirte. So ist es gekommen, daß manche werthvolle Anregungen, die Wackernagel’s Litteraturgeschichte brachte, erst nach langen Jahren zum Gegenstande der Discussion geworden sind: so seine von Lachmann principiell abweichende Auffassung des altdeutschen Verses als zweihebig, nicht vierhebig: Wackernagel’s Schüler Vetter und Rieger haben sie später nicht ohne Eindruck verfochten; so die Ansicht vom späten und fremden Ursprung der deutschen Liebeslyrik, die 1863 Müllenhoff bekämpfte, 1881 Wilmanns wieder aufnahm. Diese letztere These kannte man schon aus einem 1846 erschienenen Buche Wackernagel’s: „Altfranzösische Lieder und Leiche“, als dessen Hauptzweck W. direct den Erweis derselben bezeichnet hatte. Allerdings enthielt dies Werk, hinter einer Auswahl von Gedichten aus der Berner Liederhs., einen solchen Reichthum grammatischer und litterarhistorischer Excurse, daß sein Werth ganz und gar nicht von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit jener Hypothese abhängig ist.

[465] Während sich so der eine Theil von Wackernagel’s wissenschaftlicher Lebensarbeit um den akademischen Unterricht und das Lesebuch gruppirt, wird ein anderer durch die drei Bände zur Darstellung gebracht, in welchen Moritz Heyne (Leipzig 1872–1874) die „Kleinen Schriften“ Wackernagel’s vereinigt hat. Es ist eine Auswahl, nicht die volle Zahl. Das größere, und vielfach ein dauerndes Interesse beanspruchen die Abhandlungen des 1. Bandes, welche der deutschen Alterthumskunde und Kunstgeschichte angehören, und die des 3., der der Sprachkunde gewidmet ist. Die ausgeführte litterarhistorische Charakteristik, von der der 2. Band einige Proben bringt, war nicht eigentlich Wackernagel’s Stärke, und die Vorträge über die „Geschichte des deutschen Dramas bis zum Anfange des 17. Jahrhunderts“ zeigen neben einigen anregenden historischen Betrachtungen doch keinen scharfen Blick für die eigentlich litterargeschichtlichen Aufgaben. Dagegen stellen die Beiträge zu den mittelalterlichen Realien und zur Sprachkunde, welche durchweg erst dem reifern Mannesalter (1846–1868) angehören, nach Inhalt und Form und nicht zum mindesten schon in der Stoffwahl Wackernagel’s Eigenart im günstigsten Lichte dar. Abhandlungen wie die über „Gewerbe, Handel und Schifffahrt der Germanen“ (1853); über das Glücksrad und die Kugel des Glücks (1848), über die Getränke (1848), über das Schachspiel (1846), über die Spiegel (1861), über Farben- und Blumensprache (1863/64) im Mittelalter und manche andere zeugen von einer Beherrschung der urkundlichen, litterarischen, sprachlichen Quellen und einer Vertrautheit mit dem Leben und Weben, Sinnen und Schaffen unserer Altvordern, wie sie gleich intim auch Jac. Grimm nicht nachgerühmt werden kann, an dessen Festschriften und akademische Abhandlungen wir sonst vielfach erinnert werden. Mit der größern Schrift „Die deutsche Glasmalerei“ (Leipzig 1855) und dem Programm über die goldene Altartafel von Basel (1857) betrat W. direct das Gebiet der Kunstgeschichte. Näher blieb er dem Altmeister mit Arbeiten wie der über „Die Lebensalter“ (Basel 1862), der Behandlung der deutschen Appellativnamen (1859) oder der Umdeutschung fremder Wörter (1861), vor allem mit der köstlichen Jubelschrift „Ἔπεα πτερόεντα“. Wir begreifen bei der Lectüre dieser eindringenden Studien, wie ihren Verfasser schließlich auch das Problem des „Ursprungs der Sprache“ (1866) locken mußte, wir freuen uns von Herzen an der Derbheit, mit der ein Gelehrter von diesem Reichthum des Wissens und der Einsicht in einer Schulrede (1854) die „deutsche Pedanterei“ bekämpft, und an dem Humor, mit dem er sich in der einzigartigen Abhandlung „Die Hündchen von Bretzwil und von Bretten“ über eine weit verbreitete Unart der Mythencombination und Mythendeutung lustig macht.

Sal. Vögelin in der Zs. f. d. Phil. 2, 329–342 = Kleinere Schriften von W. Wackernagel 3, 434–442. – Verzeichniß der Schriften und Vorlesungen ebd. 442-449. – Rud. Wackernagel, Wilhelm Wackernagel, Jugendjahre 1806–1833 (Basel 1885). – Raumer 597 ff.