ADB:Koberstein, August

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Koberstein, August (Karl)“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 16 (1882), S. 360–363, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Koberstein,_August&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 11:16 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 16 (1882), S. 360–363 (Quelle).
August Koberstein bei Wikisource
Karl August Koberstein in der Wikipedia
Karl August Koberstein in Wikidata
GND-Nummer 116263938
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|16|360|363|Koberstein, August (Karl)|Erich Schmidt|ADB:Koberstein, August}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116263938}}    

Koberstein: August (Karl) K., Litterarhistoriker, geb. am 10. Januar 1797 zu Rügenwalde in Pommern als Sohn eines Schulmannes, der bald Pfarrer in Glowitz bei Stolp wurde, war von 1809–11 Extraneer im Stolper Cadetteninstitut, besuchte seit dem Frühjahr 1812 das Berliner Friedrich Wilhelmsgymnasium, studirte vom Herbst 1816 an in Berlin und hörte außer mathematischen Collegien besonders die philologischen, archäologischen, philosophischen und geschichtlichen Vorlesungen F. A. Wolf’s, Böckh’s, Tölken’s, Solger’s, Hegel’s und Wilken’s. Nach dem Freiwilligenjahr wurde er am 3. Aug. 1820 als dritter Adjunct in der königl. Landesschule Pforta eingeführt, der er trotz manchem lockenden Ruf fast 50 Jahre treu blieb, und lehrte zunächst vornehmlich Mathematik und Geschichte, bis er Ostern 1824 zum Professor des Deutschen und Französischen aufrückte. Unter dem Schulmonarchen David Ilgen erkämpfte K. dem deutschen Unterricht die Gleichberechtigung neben den classischen Sprachen und begründete ihn auf neuer breiter Basis, selbst immer tiefer in die junge deutsche Philologie eindringend. Seine besonnene Erstlingsarbeit „Ueber das wahrscheinliche Alter und die Bedeutung des Gedichts vom Wartburger Kriege“, 1823, fand in Lachmann einen strengen, aber anerkennenden Richter. Der Anregung J. Grimm’s folgend, lieferte er 1828, 1842 (dies Mal lateinisch) und 1852 Schulprogramme über die Sprache des österreichischen Dichters Peter Suchenwirt: Lautlehre, Declination, Conjugation, und als Beitrag zum Jubiläumsprogramm 1843 eine Abhandlung über die Betonung mehrsilbiger Wörter [361] in Suchenwirt’s Versen; methodische Untersuchungen, die eine vernachlässigte Periode erhellen halfen. Er kam mit Grimm, Lachmann und anderen Meistern des Fachs in briefliche Verbindung und übernahm allmählich selbst auf litterarhistorischem Gebiet eine Führerrolle. Auf den sommerlichen „Vogelweiden“ zu Kösen war er der Mittelpunkt eines Kreises von Germanisten aus Halle, Leipzig, Jena und Weimar. Mit encyklopädischer Bildung, einem überaus glücklichen Gedächtniß, eisernem Fleiß, hingebender Andacht für das kleinste und jugendlicher Begeisterung für die Heroen der Dichtung ausgestattet, im Altdeutschen wohlbeschlagen, in der neueren deutschen Litteratur bewandert wie wenige, in fremden Litteraturen heimisch, ward er ein imponirender Lehrer, ein unermüdeter glücklicher Forscher. 1827 erschien, Ilgen gewidmet, der „Grundriß zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen“, 288 Seiten Text und Anmerkungen, in 203 Paragraphen, deren letzter bezeichnend in Tieck und Kleist gipfelt, solid gearbeitet, ein erwünschtes selbständiges Lehrbuch, 2. Aufl. 1830, 3. Aufl. 1837. Die vierte Auflage 1847–66 zeigt das schmächtige Werk zu einem gewaltigen dreibändigen Compendium erweitert, mit einem Mißverhältniß freilich zwischen Text und Fußnoten und einer ungleichen Behandlung des Mittelalters und der Neuzeit. Ersteres wird rasch erledigt, das 15. und 16. Jahrhundert zu knapp und trocken abgethan, voller fließt die Quelle für das Zeitalter des großen Kriegs, das 18. Jahrhundert wird bis in die fernsten Winkel beleuchtet; die Glanzpartie war die Geschichte der Romantik, ein sicherer Baugrund für ihren spätern Darsteller Haym. Trotz der Zerstückelung, die uns einen Namen durch mehrere Bände zu verfolgen zwingt, ist das Werk didaktisch ausgezeichnet. Ueberall nüchterne Objectivität; die Dichtgattungen werden klar auseinandergehalten, die Entwickelung der Verskunst mit musterhafter Akribie dargelegt, die Geschichte der Sprache stets berücksichtigt, der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis durch die Analyse ästhetischer Lehrbücher und Abhandlungen vor Augen geführt, der Widerstreit der Parteien illustrirt, der Schatz der Zeitschriften und Briefwechsel durch fortlaufende Citate ausgebeutet, der Einfluß des Auslands sowol als der politischen Entfaltung Deutschlands, sonderlich Preußens nach Gebühr untersucht, eine Fülle genauester Detailangaben gehäuft. Koberstein’s Lebensarbeit, in der stillen Abgeschiedenheit des Saalthales, ohne die stete Hülfe einer großen Bibliothek geschaffen, wird immer dankbar benutzt werden. Von den flinken Ausschreibern, die ihm wol gar ihre Compilationen widmeten, pflegte er blos zu sagen: „der ist auch bei mir gewesen“. Die Vollendung der fünften Auflage ward ihm leider nicht mehr gegönnt. Er war bis zu der tödtlichen Krankheit daran thätig. Bartsch übernahm die Arbeit (erschienen in fünf Bänden mit Register 1873), ordnete Text und Anmerkungen besser und erwarb sich um die ersten Theile ein Verdienst.

Koberstein’s erste Lehrjahre fallen in die Epoche, wo die Schlegel die Litteraturgeschichte befruchteten, Solger docirte und Tieck auf der Höhe stand. Von dieser Zeit her blieb K. der Kultus Goethe’s, den er auch persönlich kennen lernte, Shakespeare’s und Tieck’s, zugleich eine Abneigung gegen Schiller’s Jambenstücke. Im „Grundriß“ gelassen sammelnd und sichtend, jede subjective Färbung meidend, verrieth er mündlich seine Sympathien und Antipathien sehr lebhaft. Er lachte über Max und Thekla, er verachtete Heine, er verehrte Lessing und war Klopstock, so sehr er ihn als Mitschöpfer der neuen Dichtersprache schätzte (vgl. seine Rede zur Pförtner Säcularfeier, Leipzig 1843, und einen gleichzeitigen Brief an Tieck in Holtei’s Sammlung) abhold. Werth war ihm vor anderen Heinrich v. Kleist, dessen Briefe an die Schwester Ulrike er 1860 mit einer grundlegenden Einleitung herausgab. Neben Goethe stand ihm Tieck. Ihn wünschte und hoffte er in der Werthschätzung des Publicums Schiller’s Platz erobern zu sehen [362] und schrieb in diesem Sinn aus vollster Ueberzeugung – denn Complimente lagen diesem Manne von seltener Wahrhaftigkeit durchaus fern – an Tieck, den er öfters in Dresden besuchte. Koberstein’s Frau wurde die Freundin Dorotheens. Er hatte ein großes verständnißvolles Interesse für das Theater, das er in Berlin zur Zeit Iffland’s etc. fleißig besuchte; der flüchtige Gedanke des Studenten, selbst sich der Bühne zu widmen, zeugt auch von romantischem Einfluß. In der Schule Tieck’s wurde K. ein ausgezeichneter Vorleser. Sein Heinrich IV., Zerbrochener Krug, Gestiefelter Kater, Partien aus Münchhausen oder den Pickwickiern, aber auch Odoardo, Tellheim, Goethes Fischerin etc. waren die Leistungen eines Künstlers. Das Organ noch im letzten Jahre mächtig, die Gestalt voll und stattlich; fein gefältelte Jabots alter Mode trug er bis an sein Ende. Charakter, Erfahrung, ein erstaunliches präsentes Wissen erwarben ihm überall Respect, seine humoristische Unterhaltungsgabe machte ihn zum beliebten Gesellschafter. Er war nicht immer unparteiisch, aber nie selbstisch, sondern hülfreich, opferwillig, treu und bei einem männlichen Gefühl seines Werthes bescheiden. Seine Lehrmethode zeigte ein sehr individuelles Gepräge und stellte hohe Anforderungen, auf deren Befriedigung er mit Strenge hielt. In Untersecunda wurde mittelhochdeutsche Grammatik getrieben („Laut- und Flexionslehre der mittel- und neuhochdeutschen Sprache in ihren Grundzügen“, 1862, letzte Auflage von Schade besorgt); in Obersecunda Metrik und Poetik, Nibelungen mit Einleitung über die Heldensage und über Lachmann’s Liedertheorie, der er bis zu seinem Ende mit Entschiedenheit anhing; in Prima: höfisches Epos und Walther mit mancherlei Excursen, auf zwei Semester vertheilt die Litteraturgeschichte, Disputationen, die er aufs anregendste leitete. Er sprach vortrefflich. Seine Kritik der Aufsätze – drei im Halbjahr – war ein Bollwerk gegen den Schwulst und den Borg. Privatlectüre mußte eifrig betrieben werden. Auch war es eine Ehrensache in Obersecunda die „echten Strophen“ der Nibelungen durchzuarbeiten. Aller Pedanterie fremd, wehrte er die Alleinherrschaft des Kirchner’schen Geistes ab. Er war lange Jahre hindurch erster Professor, 1855 Rectoratsverweser. Die Behörden, obenan Joh. Schulze, zeichneten ihn aus, die Collegen, unter ihnen im letzten Jahrzehnt Corssen, Keil, Steinhart, Peter, ehrten ihn als Oberhaupt. 1857 verlieh ihm die philosophische Fakultät der Universität Breslau das Diplom eines Ehrendoctors (quod Germanicarum litterarum historiam studio diurno et fructuosissimo exploravit librisque egregiis illustravit), 1870 ernannte ihn die Göttinger gelehrte Gesellschaft zum Ehrenmitglied.

Seit 1849 besorgte er die neuen Auflagen von N. Bach’s deutschem Lesebuch, Abtheilung 1–4, 1865 den dritten Theil von J. W. Loebell’s Entwickelung der deutschen Poesie von Klopstock’s erstem Auftreten bis zu Goethe’s Tode (III: G. E. Lessing). In das Weimarische Jahrbuch Hoffmann’s und Schade’s spendete er eine Reihe seiner Vorträge, gehalten in der Naumburger Litteraria. Zum Theil auch separat erschienen wurden sie vereinigt als „Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und Aesthetik“, Leipzig 1858: saubere Essays über das gemüthliche Naturgefühl in der deutschen Lyrik bis Goethe, die Vorstellung vom Fortleben der menschlichen Seelen in Pflanzen, Goethe’s Euphrosyne, Hans Sachsens poetische Sendung, Iphigenie, die Einführung und Beurtheilung Shakespeare’s in Deutschland bis 1773 (vgl. Pförtner Rede vom 23. April 1864, Jahrbuch der deutschen Shakespearegesellschaft, 1865, S. 1 ff.), alte litterarische Denkmäler aus Thüringen und Hessen, Preußens Antheil an der Neugestaltung der deutschen Dichtung. K., dessen Gymnasialzeit in die Freiheitskriege fällt, war Preuße mit Leib und Seele und begeisterter Anhänger des Herrscherhauses. Wie würden ihn die Erfolge des Jahres 1870 mit stolzer Freude erfüllt haben! Aber im Sommer 1869 begann der bis dahin kerngesunde Greis zu kränkeln, [363] mußte seine Lehrthätigkeit mehrmals unterbrechen und im Januar 1870 zur Tochter nach Kösen übersiedeln, wo er am 8. März 1870 starb. Er ruht neben der Gattin auf dem Friedhof der Pforte. Das Ecce hielt ihm am 12. März Rector Peter in würdigster Weise (gedruckt Potsdam 1870). Auf den 3. August 1870 wäre Koberstein’s 50jähriges Jubiläum gefallen.