ADB:Wackernagel, Philipp
Unger’schen Officin Beschäftigung gefunden, sich am 24. October 1790 mit Agnes Sophie Schulze aus Altona verheirathet hatte. Philipp war das dritte Kind und der älteste Sohn aus dieser Ehe; der dritte Sohn war der um sechs Jahre jüngere Wilhelm W. (s. u. S. 460). Die Eltern lebten in beschränkten Verhältnissen, die durch die allgemeine Noth der Kriegszeit noch drückender geworden waren. Der Verdienst des Vaters, der seit dem Jahre 1806 Criminalcommissar geworden war, reichte nicht aus, und die Sorge für die fünf Kinder ließ der Mutter nicht die Möglichkeit, durch Goldstickerei, [453] seine Kunst, in der sie sehr geübt war, das Fehlende ausreichend zu verdienen. So mußten die Kinder nach Kräften mit für ihren Unterhalt sorgen. Philipp trat als Schüler des „grauen Klosters“ in die Currende, d. h. den Knabenchor, der bei besonderen Gelegenheiten oder auch ohne besondere Aufforderung hin und her in den Straßen der Stadt Choräle sang; er ward auf diese Weise schon früh mit dem geistlichen Lied und seiner Bedeutung für das Volksleben bekannt. Außerdem war er als Schreiber für einen Rechtsanwalt thätig, eine Arbeit, die ihm bald eine unerträgliche „Schreibfron“ zu sein schien. Dagegen brachte Erholung für Leib und Geist die Theilnahme an den Turnübungen, die Jahn (s. A. D. B. XIII, 663), der selbst Lehrer am grauen Kloster war, seit dem Jahre 1811 zunächst für die Schüler dieser Anstalt eingerichtet hatte; unser W. ward bald ein Liebling Jahn’s, für dessen Bestrebungen – körperliche Ausbildung und sittliche Reinheit zum Zweck der Erziehung zu Vaterlandsliebe und Glauben – er sich aus voller Seele begeisterte. Als der Vater am 11. November 1815 gestorben war, konnte W. nicht auf dem Gymnasium bleiben; um Weihnachten 1816 ging er aus Obertertia ab, um nun ganz als Schreiber in die Dienste eines Juristen zu treten, wozu er wegen seiner schönen Handschrift geeigneter schien als zu einem andern praktischen Beruf. Doch wurde er nicht lange danach auf Jahn’s Empfehlung von Plamann (s. A. D. B. XXVI, 222) als Lehrer und als Schüler in seine Erziehungsanstalt aufgenommen; hier ward ihm nun auch Gelegenheit, sich vollends zum Besuch der Universität vorzubereiten. Daß er im Frühjahr 1819, um die Zeit, als er seine akademischen Studien beginnen wollte, in Jahn’s Hause Karl v. Raumer (s. A. D. B. XXVII, 420), der damals Professor der Mineralogie in Breslau war, kennen lernte, ward für sein weiteres Leben von entscheidender Bedeutung. Diesem gefiel er so gut, daß er ihn zu sich nach Breslau kommen ließ und fortan Vaterstelle an ihm vertrat. W. wohnte im Hause bei Raumer, zusammen mit Hans Ferdinand Maßmann (s. A. D. B. XX, 569[WS 1]), mit dem er schon von Berlin her befreundet war. Unter Raumer’s Anleitung studirte er nun deutsche Grammatik und Litteratur, aber auch Naturwissenschaften und besonders Mineralogie; er wandte sich also grade den Wissensgebieten zu, auf denen auch Raumer selbst besonders thätig war. Als aber bald darauf gelegentlich der Turnerverfolgungen auch W. demagogischer Umtriebe verdächtig und in Untersuchung gezogen ward, verließ er Raumer’s Haus und nahm in einer polnischen Familie bei Landsberg in Oberschlesien eine Stelle als Hauslehrer an; aber in dieser ihm wenig zusagenden Umgebung ward sein Heimweh nach dem Raumer’schen Hause so groß, daß man ihm in Gottes Namen zurückzukommen gestattete. Um diese Zeit etwa veranlaßte ihn Raumer auch zu hymnologischen Studien, womit er denn das Feld betrat, auf dem er hernach und dann bis an sein Lebensende seine eigentliche Lebensarbeit fand. Zunächst trieb er dieses Studium neben dem der deutschen Sprachwissenschaft, der Mineralogie und der Pädagogik; das Verbindende für diese anscheinend so fern voneinander liegenden Fächer war das, was ihm immer mehr bewußt und grade auch durch den Verkehr mit Raumer die Grundlage alles seines Denkens und Strebens ward, die deutsche und lutherische Gesinnung; in der lutherischen Kirche sah er die Blüthe des deutschen Wesens; dieses zu erkennen und an seinem Theil zu fördern dienten ihm nicht nur die andern genannten Gegenstände, denen er seinen Fleiß zuwandte, bei welchen es leicht verständlich ist, sondern auch die Naturwissenschaften, wie er sich ihren Betrieb und ihre Aufgabe dachte. Und daß er es auf allen diesen Gebieten zu mehr als gewöhnlichen Leistungen gebracht hat, wird sich nicht leugnen lassen. – Auch Raumer hatte gelegentlich der Demagogenverfolgungen viele persönliche Unannehmlichkeiten zu ertragen (vgl. A. D. B. XXVII, 422) und ward endlich [454] im Zusammenhange damit im J. 1819 von Breslau nach Halle versetzt. W. konnte ihn nicht sogleich dorthin begleiten, weil er in Breslau ein Jahr Stadtarrest hatte. Als dieser im Juni 1820 aufgehoben ward, eilte auch er nach Halle, um seine Studien in der Nähe seines lieben v. Raumer fortzusetzen. Ihn beschäftigte hier zunächst besonders die Krystallkunde; zu einem Werke Raumer’s über dieselbe gab er in einem besonderen Buche die Netze zu den Krystallmodellen mit erläuterndem Text bei Reimer in Berlin heraus, die erste Arbeit, die von ihm im Druck erschien, der bald einige andere mit Resultaten eigner Forschungen unter dem Titel „Mineralogische Bruchstücke“ in der Zeitschrift „Isis“ folgten, in der er auch mehrere Recensionen veröffentlichte. W. nahm in diesen Arbeiten schon eine selbständige Stellung ein, die von den Fachgenossen nicht mehr ignorirt werden konnte. – Noch einmal sollte er dann mit Raumer an einen andern Ort ziehen. Dieser gab, da er infolge seiner Stellung zu den Burschenschaften den Behörden in Preußen verdächtig ward, seine Stellung in Halle zu Ostern 1823 auf und ward Lehrer an der privaten Erziehungsanstalt des Rector Dittmar in Nürnberg; hierhin folgte ihm W., nachdem er in Berlin sein Dienstjahr abgemacht und im Sommer 1824 dort noch wieder sich den Studien gewidmet hatte, im Herbst 1824 als Lehrer an derselben Anstalt, deren Vorsteher Raumer inzwischen geworden war. Die äußern Verhältnisse waren nicht glänzend; desto anerkennenswerther und tüchtiger waren die Leistungen. Neben Raumer und W. war Friedrich Heinrich Ranke (s. A. D. B. XXVII, 237) der bedeutendste Lehrer; diese drei vertheilten die Hauptfächer unter sich; W. fielen außer der Mathematik und den Naturwissenschaften auch Schreiben, Zeichnen und Turnen zu. Mit den bedeutendsten Männern in Nürnberg und Erlangen fand ein reicher Verkehr statt, und das ganze Leben war ein mannichfach angeregtes und förderndes. W. bewies hier zuerst seine große pädagogische Begabung. Trotz der vortrefflichen Lehrer und der guten Erfolge konnte die Anstalt finanziell nicht bestehen; im Herbst 1826 mußte Raumer sie eingehen lassen. Er bekam im Frühjahr 1827 einen Ruf als Professor der Mineralogie nach Erlangen. W., der in dieser Zeit wieder sich besonders mit mineralogischen Arbeiten beschäftigte, die in Kastner’s Archiv für die gesammten Naturwissenschaften erschienen, wurde unter Vorlage dieser und seiner früheren in der Isis erschienenen Abhandlungen von der philosophischen Facultät in Erlangen, noch ehe Raumer ihr angehörte, zum Doctor promovirt. Er wünschte nun zur Grundlage für spätere Arbeiten die mineralogischen Sammlungen in England und Frankreich zu besuchen und wandte sich zu diesem Behufe an das preußische Ministerium mit der Bitte um ein Reisestipendium. Professor Chr. Sam. Weiß in Berlin, der seine hervorragende Begabung für die Krystallographie erkannte, empfahl ihn dringend dazu. Aber statt des gewünschten Stipendiums erhielt W. eine Anstellung als Lehrer an dem Kölnischen Realgymnasium in Berlin (Sommer 1827) und nicht lange darauf auch eine interimistische Anstellung an der neuen Berliner Gewerbeschule. Beiden Schulen stand Director Karl Friedrich v. Klöden (s. A. D. B. XVI, 203) vor, den W. schon vom Plamann’schen Institute her kannte. Nachdem W. noch vor der wissenschaftlichen Prüfungscommission ein Examen bestanden hatte, erhielt er im Herbst 1828 an der Gewerbeschule eine feste Anstellung. Er ward nun besonders für den deutschen Unterricht angestellt und erhielt bei einer Erweiterung der Schule diesen in allen Classen bis Secunda einschließlich, so daß er jetzt nur einen Theil des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichtes behielt. Um den Unterricht im Deutschen recht fruchtbar zu machen und, soweit es für eine solche Schule paßte, mit einer Einführung in die Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur verbinden zu können, gab W. seine deutschen Lesebücher heraus; zuerst erschien im J. 1832 [455] die „Auswahl deutscher Gedichte nach den nationalen metrischen Formen derselben“, in der 2. Auflage 1836 durch einen Anhang von Kirchenliedern vermehrt; 3. Aufl. 1838, alle drei Auflagen Berlin, Duncker & Humblot. Sodann erschien im J. 1837 als zweiter Theil des Werkes das „Handbuch deutscher Prosa“ (Berlin bei Reimer). In der Vorrede zum ersten Theil sprach er sich eingehend über seine kirchliche Stellung, in der zum zweiten über seine pädagogischen Grundsätze aus. Nachdem er bei der Jubelfeier der Uebergabe der Augsburgischen Confession am 25. Juni 1830 in der Schule die Festrede gehalten, verheirathete er sich am 28. Juli 1830 mit Auguste Harleß aus Nürnberg, der Schwester des nachmals so bekannten Theologen Gottfried Christoph Adolf Harleß (s. A. D. B. X, 763); an demselben Tage ward die Schwester seiner Frau mit Pfarrer Valentin Strobel[1] getraut. Wackernagel’s Haus in Berlin ward bald der Sammelplatz vieler, namentlich süddeutscher Studenten und Candidaten, die dort Anregung und Förderung fanden; an den „offenen Abenden“ versammelten sich dort bei einfachster Bewirthung – man mußte satt kommen – immer eine größere Anzahl solcher, die später in der Theologie, Kunst oder Litteratur sich einen Namen erworben haben; ja auch manche schon damals bekannte Größe fehlte nicht. Auf dem Grunde einer ernsten christlichen Ueberzeugung, auf welchem das ganze Leben des Hauses erbaut war, aber mit Theilnahme an allem, was Kunst und Wissenschaft Großes und Edles boten, und nicht ohne die Würze des Scherzes fand ein lehrreicher und genußreicher Verkehr statt. an den die Theilnehmenden noch nach Jahrzehnten dankbar zurückdachten. In einem andern Kreise, der sich um v. Winterfeld sammelte, in den W. und seine Frau eintraten, ward vor allem die Musik, ganz besonders der christliche Choral und die Kirchenmusik gepflegt. – Nachdem W. über zehn Jahre in dieser Stellung unter sichtbarem Segen, wenn auch nicht ohne mancherlei Enttäuschungen, wie sie in jeder amtlichen Stellung vorkommen, gewirkt hatte, that er das, was er später mehrfach selbst einen „Schwabenstreich“ nannte, er gab diese Stellung auf, um als Lehrer an ein Privatgymnasium in Stetten bei Stuttgart, zu dessen Leiter sein Schwager Strobel[1] erwählt war, zu treten. Diese Anstalt war dazu gegründet worden, um die humanistischen und die realistischen Studien inniger mit einander zu verbinden als das in den staatlichen Anstalten geschah; sie stand dabei auf dem Grunde eines positiven evangelischen Bekenntnisses. Das alles sagte W. sehr zu. Und so war es nicht nur die Rücksicht auf seine Frau, der das Zusammensein mit der Schwester eine freundliche Aussicht bot, was ihn bewog, an diese Anstalt zu treten. Er hoffte auch wol außerdem, dort mehr Zeit zu eigenen wissenschaftlichen Arbeiten zu finden, als das in Berlin möglich war; so zog er mit Frau und sechs Kindern Ostern 1839 nach Stetten, wo er fünf Jahre zugebracht hat. Da die Anstalt zugleich eine Erziehungsanstalt war, in der zehn bis zwölf Zöglinge unter der besonderen Aufsicht eines Lehrers standen, so konnte W. hier seine pädagogischen Gaben ganz besonders verwerthen. Daneben wurden denn nun auch seine wissenschaftlichen Arbeiten wesentlich gefördert, vor allem seine hymnologischen. Im J. 1841 erschien, die Vorrede ist datirt vom 1. October 1840, „Das deutsche Kirchenlied von Martin Luther bis auf Nicolaus Herman und Ambrosius Blaurer“ (Stuttgart bei Liesching). Es ist das erste Werk dieser Art, in welchem dem deutschen Kirchenlied von seinen ersten Anfängen an aufs genauste nachgegangen wird und alles aus den ersten Quellen, Handschriften und Originaldrucken zusammengestellt wird, ein Werk mühsamsten Fleißes, das allgemeine Anerkennung fand und auch bisher nur durch das spätere, größere Werk Wackernagel’s übertroffen worden ist. Eine weitere Frucht seiner hymnologischen Studien war sodann seine Ausgabe der geistlichen Lieder von Paulus Gerhardt [456] nach der bei dessen Lebzeiten erschienenen Ebeling’schen Folioausgabe von 1667 (Stuttgart bei Liesching s. a., Vorrede datirt vom 9. April 1843). Ferner stammen aus Wackernagel’s Wirksamkeit in Stetten die drei Theile seines „Deutschen Lesebuches“, Vorrede vom 8. August 1842, das er unter Beirath seines Freundes Karl Adolf Schmid (s. A. D. B. XXXI, 676 ff.), der damals Rector in Eßlingen war, für die untern Schulclassen ausarbeitete, und das während der nächsten 30 Jahre immer wieder in neuen Abdrücken und Auflagen erschienen ist. Eine Zugabe für Lehrer ist die als vierter Theil des Lesebuchs erschienene Abhandlung „Ueber den Unterricht in der Muttersprache“. In Wackernagel’s Leben brachte es eine große Veränderung, daß ihm von dem Vorsteher des Curatoriums der Anstalt zu Ostern 1844 seine Stellung gekündigt wurde, infolge wovon dann auch Strobel[1] seinen Abschied nahm und die Anstalt bald einging. W. fand mit Frau und neun Kindern durch die Mutter eines seiner Zöglinge in Stetten zunächst ein Unterkommen auf Schloß Kalteneck bei Holzgerlingen. Die unfreiwillige Muße konnte er zu eingehenderen Studien verwenden; mit ganz besonderem Eifer wandte er sich jetzt der Hymnologie wieder zu und zwar zunächst einer umfassenderen und genaueren Untersuchung der ersten Drucke der Kirchenlieder. Er wandte sich um eine Unterstützung zu diesen Arbeiten an Friedrich Wilhelm IV., die ihm auch zu theil wurde, so daß es ihm nun möglich wurde, eine Zeit lang in der Berliner Bibliothek und mit K. G. H. Freiherrn v. Meusebach, dem bekannten Forscher auf diesem Gebiete, arbeiten zu können. Im August 1845 ernannte der Herzog von Nassau W. zum Professor am Realgymnasium in Wiesbaden, wohin er im Herbst 1845 ging. Es waren wieder seine alten Fächer, Geometrie, Mineralogie und deutsche Sprache, in welchen er in den obern Classen zu unterrichten hatte, und in welchen er seine bekannte Meisterschaft bewährte. Dazu bot Wiesbaden an sich und durch seine Lage und auch durch den Verkehr mit den Kurgästen besondere Annehmlichkeiten; W. machte bedeutende Bekanntschaften und knüpfte neue Freundschaften, und es wird wol so sein, wie sein Biograph L. Schulze (vgl. unten) sagt, daß W. hier die schönste Zeit seines Lebens zugebracht hat. Freilich fiel in die Zeit seines Aufenthaltes in Wiesbaden auch das Revolutionsjahr, das ihm ein besonders schmerzliches war, das ihm aber auch Veranlassung zu besonderem Wirken wurde. Ihm war, wie allen tiefer Blickenden, deutlich, daß die Revolution ihren eigentlichen Grund im Abfall vom christlichen Glauben habe, und daß, wer das Vaterland gegen die hereinbrechenden Gefahren schützen wolle, das Volk wieder zum Glauben zurückführen müsse. Hierüber eine Besprechung mit Gleichgesinnten herbeizuführen, besuchte er die jährlich zwei Mal auf dem Sandhof bei Frankfurt a. M. tagende Conferenz von Geistlichen, auf der er mit zwei Freunden, Heller und Haupt, den Antrag stellte, zum Zusammenschluß gegen die Staat und Kirche gefährdenden Bestrebungen eine Versammlung aller Gläubigen in Deutschland zu berufen. Der Antrag wurde einer Commission übergeben, deren Vorsitzender W. ward. Die Commission berief nach Berathung mit Männern wie Dorner, Harleß u. A. zum 21. Juni eine größere Versammlung nach dem Sandhof; hier kamen acht und achtzig Männer zusammen, die dann besonders auf Wackernagel’s und Bethmann-Hollweg’s Ausführungen hin beschlossen, jene große Versammlung zu berufen; sie sollte im September in Wittenberg tagen und die bisherige Commission sollte die Vorbereitungen treffen. Das brachte für W. noch eine große Arbeit, namentlich eine viel Zeit und Mühe kostende Correspondenz; das Resultat war der erste deutsche Kirchentag, der am 21. Sept. 1848 in Wittenberg gehalten wurde. Aus dem Jahre 1848 stammen dann noch die Ausgaben der geistlichen Lieder Luther’s in ihrer Urgestalt mit den ursprünglichen Melodien und das schöne Büchlein „Trösteinsamkeit [457] in Liedern“ (Erlangen, Heyder u. Zimmer, 2. Aufl. 1851) mit der ernsten Vorrede (datirt vom Febr. 1849), in welcher er zeigt, wie die Unfähigkeit und Unlust zu singen mit dem Verfall des deutschen Volkslebens und der Verirrung des Volksgeistes zusammenhänge. – Im J. 1849 ward W. zum Director der Real- und der Gewerbeschule in Elberfeld erwählt. Da die Bestätigung der Wahl erst gegen Ende des Jahres erfolgte, trat er das neue Amt erst im März 1850 an. Von Anfang an hatte er hier neben entschiedenen Freunden, die ihn gerade um seiner lutherischen und conservativen Gesinnung willen schätzten, auch manche Feinde, die ihm seine Stellung erschwerten und seinem Wirken überall Hindernisse bereiteten. Es waren namentlich die Directorialgeschäfte, die ihm auf diese Weise verleidet wurden, sowol diejenigen, die den äußern Aufbau der Anstalten, namentlich die Organisation der Gewerbeschule betrafen, als die auf die innere Einrichtung der Schule bezüglichen; in letzterer Hinsicht hatte er z. B. unglaubliche Schwierigkeiten bei der Einführung einer in allen Classen gleichmäßig zu beobachtenden Orthographie zu bestehen. Er selbst gerieth dadurch immer mehr in eine krankhafte nervöse Aufregung, in welcher er auch oftmals zu weit ging. Namentlich sein Verhältniß zu den städtischen Behörden ward immer unleidlicher. Dennoch glaubte er einen Ruf, als Director eines in Usingen neu einzurichtenden Lehrerseminars nach Nassau zurückzukehren, der um diese Zeit in ihn sehr ehrender Weise und unter vortheilhaften Bedingungen an ihn erging, ablehnen zu müssen, namentlich auch aus dem Grunde, weil er meinte, das von ihm in Angriff genommene Werk der Umbildung der ihm anvertrauten Schule nicht unvollendet aufgeben zu dürfen; auch hatte er damals die Hoffnung, seine Stellung demnächst in eine staatliche verwandelt zu sehen, in welchem Falle er von den Streitigkeiten mit den städtischen Behörden befreit worden wäre. Aber diese günstige Wendung trat nicht ein. Dagegen ward sein persönliches Befinden durch alle die Aufregungen und Zerwürfnisse ein den Anforderungen des Amtes allmählich immer weniger genügendes; und nachdem er wegen nervöser Krankheitszufälle mehrfach seine Amtsführung hatte unterbrechen, ja zuletzt beinahe während eines Jahres hatte aussetzen müssen, beantragte er seine Pensionirung, die ihm dann auch im J. 1861 ertheilt wurde. Er zog nun nach Dresden, wo er noch 16 Jahre in einer „arbeitsvollen Ruhezeit“ lebte. In den Elberfelder Schulprogrammen hat W. in den Jahren 1851 bis 1856 noch vier naturwissenschaftliche Abhandlungen veröffentlicht, die dem Bedürfnisse der Schule entsprungen zeigen, daß seine alte Liebe zu diesen Studien noch nicht erloschen war. Doch wandte sich seine wissenschaftliche Thätigkeit in den letzten Jahrzehnten seines Lebens ganz besonders wieder der deutschen Litteratur und innerhalb dieser der Hymnologie zu. Von seinen Lesebüchern erschienen wiederholt neue Auflagen; er ergänzte sie durch die „Edelsteine deutscher Dichtung und Weisheit im 13. Jahrhundert“ (Frankfurt a. M. 1857); andere kleinere Arbeiten können wir hier übergehen. Mit einem ganz unvergleichlichen Fleiße aber und mit echt deutscher Ausdauer hat W. in allen diesen Jahren hymnologische Studien getrieben, und es ist wahrhaft staunenswerth, was der doch auch mit amtlichen Arbeiten reichlich belastete Mann auf diesem Gebiete geleistet hat. Sein Plan ging auf ein Dreifaches. Einmal galt es Vervollständigung und Ausgestaltung und Fortführung des im J. 1841 erschienenen Werkes, der Sammlung deutscher Kirchenlieder von den frühsten Zeiten an und einbegriffen die lateinischen Hymnen des Mittelalters, soweit sie für das deutsche kirchliche Leben und das deutsche Kirchenlied in Betracht kommen. Sodann kam es darauf an, namentlich von den gedruckten Kirchenliedern die ursprüngliche Gestalt zu ermitteln, was ohne Auffindung und Vergleichung der ersten Drucke nicht möglich war. Und schließlich sollten diese Arbeiten ihren Abschluß finden in einer Geschichte [458] des deutschen Kirchenliedes. Den letzten Theil dieser in sich zusammenhängenden dreifachen Aufgabe zu bearbeiten, ist W. nicht mehr ermöglicht worden; nur Andeutungen darüber, wie er sich die Geschichte des Kirchenliedes dachte, finden sich in seinen übrigen Werken, namentlich auch in den Vorreden zu den einzelnen Theilen seines gleich zu nennenden Hauptwerkes. Den zweiten Abschnitt der Arbeit brachte er zu einem vorläufigen Abschlusse in der „Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im 16. Jahrhundert“ (Frankfurt a. M. 1855, bei Heyder und Zimmer; Vorrede vom 20. Mai 1855). Dieses Werk bringt neben den diplomatisch genauen Titeln und Beschreibungen der alten Gesangbücher und Liederdrucke auch von S. 537 an die Vorreden zu den Gesangbüchern des 16. Jahrhunderts und in ihnen einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur Geschichte dieser Bücher und damit des geistlichen Liedes selbst. Die erweiterte Ausgabe der Lieder selbst schon im Druck erscheinen zu lassen, ward W. auch dadurch verhindert, daß sich kein Verleger finden wollte, der die Kosten der Herausgabe übernahm; sein „deutsches Kirchenlied“ von 1841 und seine „Bibliographie“ waren, wie er später sagte, mehr gelobt, als gekauft. Inzwischen gab er noch im J. 1855 (Stuttgart bei Liesching) Johann Hermann’s geistliche Lieder heraus mit einer ausführlichen Vorrede über die Lieder und das Leben Hermann’s. Aus Wackernagel’s Arbeiten für die sog. Eisenacher Gesangsbuchscommission, – der er ursprünglich angehört hatte, aus der er dann aber im April 1853 ausgeschieden war, weil seine Ansichten über die der Commission gestellte Aufgabe und das vorhandene kirchliche Bedürfniß von denen der übrigen Mitglieder der Commission abwichen, – entstand sein in vielfacher Hinsicht ausgezeichnetes „Kleines Gesangbuch geistlicher Lieder für Kirche, Schule und Haus“, (Stuttgart 1860 bei Liesching). Das kleine Buch enthält in sauberem Druck mit abgesetzten Zeilen 224 Lieder mit den Melodien; zum Verständniß und zur Rechtfertigung dienen dem Büchlein am Schluß hinzugefügte kurze Anmerkungen, die zugleich beweisen, wie bis ins kleinste hinein W. aus den Quellen arbeitete. Um die neue Ausgabe seines „deutschen Kirchenliedes“ erscheinen lassen zu können, mußte er sich endlich entschließen, dem Rathe vieler Freunde zu folgen und eine Subscription auf dasselbe zu eröffnen; wenn eine hinlängliche Anzahl von Subscribenten gewonnen sei, wollte B. G. Teubner in Leipzig den Verlag übernehmen. So erging denn im Mai 1861, gerade um die Zeit, in der W. seine Stellung in Elberfeld aufgegeben hatte, eine Einladung zur Subscription, unterzeichnet von den bedeutendsten Theologen und Sprachforschern; innerhalb Jahresfrist hatte das Werk eine so große Anzahl von Subscribenten gefunden, daß der Druck beginnen konnte. W. war inzwischen bei der 50jährigen Jubiläumsfeier der Universität in Breslau nicht zum mindesten wegen seiner Verdienste um die Hymnologie ehrenhalber zum Doctor der Theologie ernannt worden. Er widmete sich nun in Dresden hauptsächlich der Herausgabe dieses Werkes. Es erschien in fünf starken Bänden in Lexikonoctav in den Jahren 1864 bis 1877 unter dem Titel: „Das deutsche Kirchenlied von der ältesten[WS 2] Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius“. Der erste Band brachte 656 lateinische Hymnen und Sequenzen und eine bedeutende Bereicherung des früheren Werkes zur Bibliographie des Kirchenliedes (579 Nummern). Der zweite Band enthielt das deutsche Kirchenlied des Mittelalters, und die drei folgenden das Kirchenlied des 16. Jahrhunderts (bis 1603), auch das der Secten und der römisch-katholischen Kirche. Zwischen dem ersten und zweiten Bande gab W. als erstes Heft zur niederländischen Hymnologie „Lieder der niederländischen Reformirten aus der Zeit der Verfolgung im 16. Jahrhundert“ (Frankfurt a. M. [459] 1867 bei Heyder und Zimmer), heraus, eine Arbeit, die ihm nebenbei bei seinen hymnologischen Studien erwachsen war. Es ward ihm sodann die Freude, sein großes Hauptwerk zu Ende führen zu können; schon seit einigen Jahren an einem Herzleiden, verbunden mit Asthma, kränkelnd, erlebte er gerade noch die Vollendung des Druckes des fünften Bandes; die Vorrede mußten seine Söhne schreiben; er starb nach einem langen und schweren Leiden am 20. Juni 1877 zu Dresden, fortwährend bis an sein Ende, soweit seine Kräfte es gestatteten, mit seinen Liedern beschäftigt.
Wackernagel: Philipp Karl Eduard W., gewöhnlich nur Philipp W. genannt, bekannt als Mineralog, Pädagog und vor allem als Hymnolog, wurde am 28. Juni 1800 zu Berlin geboren und starb am 20. Juni 1877 zu Dresden. Sein Vater war der Buchdrucker Johann Wilhelm W., der, am 28. Jan. 1765 in Jena geboren, seit dem Jahre 1788 in Berlin lebte und, nachdem er hier in der- Philipp Wackernagel’s Leben ist mehrfach von Professor D. Ludwig Schulze in Rostock geschildert worden; auf seinen Arbeiten beruht auch die vorliegende Darstellung. Zuerst erschien nach Wackernagel’s Tode in der Allg. luth. Kirchenzeitung von Luthardt, 1878, Nr. 2 u. 3, ein Lebensbild; sodann veröffentlichte Schulze eine Monographie: Philipp Wackernagel nach seinem Leben und Wirken für das deutsche Volk und die deutsche Kirche, Leipzig 1879, bei Dörffling u. Franke, mit einem Bildniß Wackernagel’s; und schließlich ist noch von Schulze der Artikel in der 2. Auflage der theologischen Realencyklopädie, Band 16, S. 588 bis 601. – Für die Jugendzeit Philipp Wackernagel’s ist noch zu vgl.: Wilhelm Wackernagel, Jugendjahre 1806 bis 1833, von Rudolf Wackernagel, Basel 1885.
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ a b c S. 455. Z. 12 u. 30 v. o. und S. 456 Z. 12 v. o. l.: Strebel. [Bd. 45, S. 675]