ADB:Otfrid von Weißenburg

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Artikel „Otfrid“ von Ernst Martin in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 529–535, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Otfrid_von_Wei%C3%9Fenburg&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 08:18 Uhr UTC)
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Otfrid, Mönch zu Weißenburg, der erste deutsche Dichter, dessen Name zugleich mit seinem Werke auf uns gekommen ist; ja, wir können sagen, einer der ersten deutschen Dichter überhaupt, wenn wir diesen Ausdruck im alten Wortsinne fassen. Dichten ahd. tihton, aus dem lateinischen dictare entlehnt, bedeutet [530] eigentlich „schriftlich abfassen“. Eine für das Schreiben bestimmte deutsche Poesie gab es erst seit der Zeit Karls des Großen, da die alte Volksdichtung stets mündlich vorgetragen und fortgepflanzt worden war. Daß es auch zu Otfrid’s Zeit noch als etwas Neues galt, deutsche Dichtung sogleich schriftlich abzufassen, läßt der Dichter selbst erkennen, in dem 1. Cap. seines I. Buches, welches überschrieben ist: „Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit“. Er rechtfertigt sich gegen die Ansicht, daß nur die lateinische Dichtung der Aufzeichnung werth sei; sei doch auch die deutsche Sprache fähig, Stoffe zu behandeln und Formen anzunehmen, welche jener vorbehalten zu sein schienen.

Indem O. als einer der ersten in Deutschland ein Werk der Kunstdichtung, und wohl zuerst ein so großes unternahm, eröffnete er eine Bahn von unabsehbarer Ausdehnung. Es ist nur eine wohlverdiente Gunst des Schicksals, daß uns dies Werk in ganz vorzüglicher Erhaltung überliefert ist. Wir haben drei Handschriften und Bruchstücke einer vierten: abgesehen von der früher in Freising, jetzt in München befindlichen, welche um 900 abgeschrieben ist, sind alle übrigen ohne Zweifel unter den Augen des Dichters abgefaßt, eine von ihnen, die jetzt der Wiener Hofbibliothek angehörige, zeigt Correcturen, die ihrer Art nach nur von O. selbst herrühren können, sowie Stücke, die von derselben Hand geschrieben sind. Ueberzeugend legen dieses Verhältniß die photolithographischen Nachbildungen (noch besser die Photographien selbst) dar, welche O. Erdmann in den Schriften der Berliner Akademie 1880 veröffentlicht hat. Alle drei Handschriften zeigen freilich eine sehr ähnliche und zwar außerordentlich sorgfältige Ausstattung. Die Wiener Hs., Otfrid’s Handexemplar, ist noch dazu mit Zeichnungen geschmückt, welche Christi Einzug in Jerusalem, Abendmahl und Kreuzigung darstellen, und welche, so roh sie auch sind, doch als die ältesten Reste der deutschen Malerei auch in der Kunstgeschichte eine hervorragende Stelle beanspruchen dürfen (Abbildungen in Schilter’s Thesaurus zu 1, 240. 256 und in verkleinertem Maßstab bei Piper in Kürschner’s Nationalbibl. I. 1884). Die Hochhaltung Otfrid’s, welche sein Werk so sorgfältig bewahrt hat, ist auch auf die philologische und litterarhistorische Forschung übergegangen. Er hat zuerst das gelehrte Interesse erregt, welches seit der Humanistenzeit auch das deutsche Alterthum umfaßt: Trithemius nannte O. und sein Gedicht, das er irrthümlich in mehrere Werke zerlegte, aber der Zeit nach richtig bestimmt hat, im Catalogus virorum illustrium, Mainz 1495. Beatus Rhenanus berichtete über die damalige Freisinger Handschrift in den libri III rerum Germanicarum 1531. Dann erschien 1571, zu Basel, die erste Ausgabe, welche auf Grund einer Abschrift des Augsburger Arztes, P. Gasser (s. A. D. B. Bd. VIII. S. 396), aus der jetzt zu Heidelberg befindlichen Handschrift von Matthias Flacius veranstaltet wurde, aus theologischem Interesse, das noch dazu an ein Mißverständniß des Titels anknüpfte. Flacius’ Text wurde wiederholt von Schilter im Thesaurus Antiquitatum Teutonicarum I, Ulm 1728. Nach der wissenschaftlichen Begründung der deutschen Philologie durch die Brüder Grimm und Lachmann wandte sich die Forschung auch unserem Dirchter von neuem zu, an welchem Lachmann zuerst die Gesetze der althochdeutschen Verskunst und Betonung nachwies (Abh. der Berliner Akad. 1831 ff. Lachmann, Kleinere Schriften 1, 358 ff.), 1831 erschien die Ausgabe von Graff mit dem willkürlich gewählten, aber auch jetzt noch zuweilen gebrauchten Titel Krist. Einen sorgfältigen Abdruck der Wiener Hs. mit Angabe der sonstigen Varianten gab Kelle 1856, dem als II. Band die Grammatik (Formen- und Lautlehre) 1869, als III. ein Glossar 1881 folgten; eine Uebersetzung hatte Kelle 1870 veröffentlicht. Nach der Heidelberger Handschrift gab einen Text mit Varianten und Commentar Piper 1878 (2. Ausgabe 1882), II. Band (Glossar) 1884. Wiederum die Wiener Handschrift liegt [531] der Ausgabe von Erdmann (Halle 1881) zu Grunde, von welchem auch Untersuchungen über die Syntax der Sprache Otfrieds, 1874. 1876 erschienen sind. Die Menge der kleinen Arbeiten über O., insbesondere die metrischen, kann hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden.

Ueber Otfrid’s Leben stehen uns kaum andere Quellen zu Gebote, als die, welche schon Trithemius besaß: des Dichters eigene Angaben. Denn auch darin ist er Kunstdichter, daß er über seine persönlichen Verhältnisse sowie über seine dichterischen Ansichten und Absichten Näheres mittheilt. Er thut dies in mehreren Begleitscheiben zu seiner Dichtung, von denen eines, lateinisch und in Prosa abgefaßt, das ganze Werk dem geistlichen Vorgesetzten des Dichters, dem Erzbischof Liutbert von Mainz, zur kirchlichen Beurtheilung zustellt, während die übrigen, in deutschen Strophen mit akrostichischer Anordnung, Theile des Werkes oder das Ganze an Freunde und Gönner empfehlen. Die Freunde sind zwei St. Galler Mönche, Hartmuat und Werinbert, die Gönner der Bischof Salomo von Konstanz und König Ludwig der Deutsche. Liutbert ward Erzbischof 863, Ludwig starb 876; aus der Erwähnung der fridosamo ziti in der Zuschrift an den letzteren dürfen wir schließen, daß Otfrid’s Gedicht 868 fertig ward, nachdem die von Ludwigs gleichnamigem Sohne verursachte Empörung niedergeworfen war: darauf spielt wohl auch der Vergleich König Ludwigs mit David an.

O. bezeichnet sich selbst als Mönch und Priester zu Weißenburg, womit nur die im Speiergau gelegene Abtei gemeint sein kann. Hier scheint er um 825 eingetreten zu sein, s. Piper, libri confraternitatum St. Galli, Berlin 1882, S. 72. In den Urkunden des Klosters Weißenburg erscheint er mehrmals, auch als Ausfertiger, insbesondere in einer vom J. 851, s. Zeuß, traditiones Wizenburgenses, Speier 1842 S. 196. Als ein ausgezeichneter Lehrer der Klosterschule zu Leucopolis wird O. gerühmt in dem lateinischen Gedichte, welches Dümmler in der Zeitschrift für deutsches Alterthum 19, 117 herausgegeben hat.

In dieser Thätigkeit zeigte O. sich als würdiger Schüler des Hrabanus Maurus, dessen Unterweisung genossen zu haben O. in der Zuschrift an Liutbert bekennt. Hraban hatte ja die von Alcuin im Reiche Karls des Gr. neugepflanzten Studien nach Deutschland übertragen und in der Klosterschule zu Fulda, die er auch als Abt noch bis 842 leitete, die vorzüglichsten Gelehrten der nächsten Zeit ausgebildet, so auch Otfrid’s Freunde, die St. Galler Hartmuat und Werinbert. Möglicherweise war auch Salomo, der von 839 an den Bischofsstuhl von Constanz inne hatte, in Fulda ein Lehrer Otfrids, der ihn als solchen dankbar preist.

In Fulda haben auch die litterarischen Bestrebungen, denen Otfrid’s Evangelienbuch diente, ihren Mittelpunkt. Es sollte die evangelische Geschichte dem deutschen Volke näher gebracht werden. Das bezweckt die Uebersetzung der Evangelienharmonie des Tatian, welche gegen 825 in Fulda selbst verfaßt wurde; das bezweckt auch die unter dem Namen Heliand bekannte Bearbeitung dieser Evangelienharmonie in altsächsischen allitterirenden Versen. Wie deren Verfasser, nur in weit größerem Umfange benutzte O. den Commentar Hrabans zum Evangelium Matthäi. Merkwürdig ist die Uebereinstimmung zwischen Tatian 45, 2, Heliand 2025, Otfrid 2, 8, 17, wo überall Jesu Wort an seine Mutter zu Cana: quid tibi et mihi est, mulier? dahin geändert wird, daß er sagt, was geht das uns beide an (daß der Wein hier ausgeht).

Es wird anzunehmen sein, daß Hraban zu den hochbewährten Männern gehörte, welche O. zu seiner Dichtung veranlaßten; von seinen St. Galler Freunden gibt er dies deutlich an. Außerdem nennt er Liutbert gegenüber eine matrona Judith, welche ihn dringend dazu aufgefordert habe. Man hat an die Kaiserin [532] Judith gedacht, welche allerdings ihren Gemahl Ludwig den Frommen nicht nur durch Schönheit und Geist, sondern auch durch ihre Theilnahme an seinen theologischen Studien fesselte. Auch hätte die Kaiserin O. in Fulda oder Weissenburg sehen können, wo sie verschiedentlich gewesen ist. Aber der Titel matrona wäre doch für sie zu gering. Und so ist wohl eher eine gleichnamige Nichte der Kaiserin, die Mutter des mit O. befreundeten Mönches Hartmuat als die Hauptveranlasserin der Dichtung Otfrids anzusehen.

Als den Wunsch derer, die ihn antrieben, gibt O. an, es solle „der Vortrag dieser Lectüre (hujus cantus lectionis) doch ein wenig das Spiel der weltlichen Stimmen unterdrücken“. O. stellt sich hiermit in einen ganz bestimmten Gegensatz zur Volkspoesie. Nur das Christliche ist erlaubt, nur das Geistliche schön. Der Dichter des Heliand wollte die vor kurzem erst bekehrten Sachsen dadurch für das Christenthum gewinnen, daß er dessen heiligen Geschichten und Lehren so gut als möglich Gestalt und Farbe der alteinheimischen Heldendichtung gab: O. wendet sich an die längst christlich erzogenen Franken, er will ihnen als deutscher Dichter den biblichen Inhalt so bieten, wie er in der lateinischen Unterweisung der Klosterschule geformt wurde und seine Zierde in den aus dem Texte gezogenen Mahnungen und Deutungen fand. Insbesondere liebt er die allegorische Auffassung der biblischen Geschichten, wie er es nennt, den sens oder sin zu entfalten, wobei er sich übrigens an die Musterexegeten der damaligen Theologie, Beda, Alcuin, Hraban anschloß. Manches davon wird auch uns sinnig und gemüthvoll erscheinen, wie die Deutung des irdischen Heimwehs aus dem elilenti, aus der Fremde, auf das Verlangen nach der himmlischen Heimath, anderes dagegen als gesucht und sogar geschmacklos. Ganze Capitel sind diesen Deutungen und Mahnungen gewidmet und Mystice oder Spiritaliter oder Moraliter überschrieben. Derartig sind namentlich die Einleitungs- und Schlußcapitel der einzelnen Bücher, die er als Praefatio oder Conclusio bezeichnet. Auch die Zahl der Bücher ist auf einen mystischen Grund zurückgeführt: es sind 5, wie es fünf Sinne gibt, welche der Dichter durch die Lectüre seines Werkes zu reinigen und zu heiligen wünscht. Das erste enthält die Jugend Jesu bis zur Taufe, das II. seine Lehre, das III. die wichtigsten Wunder, das IV. die Leidensgeschichte, das V. Auferstehung, Himmelfahrt und jüngstes Gericht.

Daß er die mittleren Stücke zuletzt, und schon ermüdet, abgefaßt habe, gibt er selbst an. Doch hat er den Schluß des Ganzen erst später angefügt und ebenso in den ersten Büchern noch manches offenbar erst nachträglich eingeschaltet.

Die früher fertig gewordenen Theile sind mit den Zueignungen an Bischof Salomo und die St. Galler Mönche veröffentlicht worden. Es wird darüber gestritten, ob diese oder jener die Stücke des ersten Buches erhalten haben. Für die erstere Möglichkeit spricht, daß diese Stücke „die Merkmale einer noch unfesten Kunstübung, die Unregelmäßigkeiten des Versbaues“ in besonderem Maße tragen (Müllenhoff, Zu den Denkmälern deutscher Poesie und Prosa, 2. Aufl. S. 290) und daß ebenso in der Widmung an die Sangaller das Akrostichon nur für die letzte Halbzeile den Schlußbuchstaben berücksichtigt, während die übrigen Widmungen auch die vorletzte ganz genau mit demselben Buchstaben schließen. Die Anordnung der Widmungen in den Handschriften des ganzen Werkes ist natürlich nach den Rangverhältnissen der Adressaten vorgenommen worden.

Als Titel des Ganzen hat man Evangeliorum liber anzusehen, wenn schon diesem Titel, der dem ersten Buch vorausgeht, in der Wiener Handschrift später ein Primus zugesetzt worden ist. In der lateinischen Zueignung spricht der gewissenhafte Dichter, weil er in seinem Werke nicht den ganzen Inhalt der Evangelien behandelt hat, von diesem als pars evangeliorum, und im Gedichte selbst [533] von evangeliono deil; aber als Titel wäre wohl auch ihm dies unpassend erschienen.

Gewissenhaft gibt er auch am Rande seiner Handschriften die Bibelstellen an, welche er in deutsche Verse umsetzt. Ja, von der Größe und Schönheit des Grundtextes und von seiner eigenen Unfähigkeit sie wiederzugeben, durchdrungen, mahnt er wiederholt den Leser zu jenem selbst zu greifen. Wo die Auffassung der biblischen Geschichte eine verschiedene war, wie bei der Zahl der Jahre, welche das Kind Jesu in Aegyptern zubrachte, stellte er die abweichenden Ansichten einander gegenüber (1, 19, 23 ff.). Uebrigens benutzte er für die Kindheitsgeschichten auch die apokryphen Evangelien. Ausdrücklich nennt er an anderen Stellen die Kirchenväter Augustinus, Gregorius, Hieronymus (5, 14, 27 ff. und 5, 25, 69) als seine Gewährsmänner.

Wie für den Stoff, so hat auch für Auffassung und Behandlung O. sich dieselben Meister gewählt, die in der lateinischen Dichtung der Geistlichen und des karolingischen Hofes ausschließlich gepriesen und nachgeahmt wurden. Er nennt selbst Virgil, Lucan, Ovid und von christlichen Dichtern Juvencus, Arator, Prudentius. In wiefern er von den beiden letztgenannten beeinflußt ist, hat Olsen in der Zeitschr. f. deutsch. Alterth. 29, 242 ff. untersucht. Ebenso stammen manche Ausdrücke und Wendungen Otfrid’s aus Hymnen, die er ebenso wie der Helianddichter benutzte, s. die Ausleger zu 3, 6, 36. Wenn O. am Schluß seines Werkes (5, 25) davon spricht, sein Segel niederzulassen und die Ruder einzuziehen, so erinnert das an Theodulf’s Verse an die Richter, 955. 956, welche ihrerseits aus Ovid AA. 1, 772 Ex P. 5, 2, 42 geschöpft sind.

Noch weiter geht die stilistische Abhängigkeit von diesen Meistern. Otfrid’s Anrede an das elilenti 1, 18, 25 ff. läßt sich nur mit der Art vergleichen, wie Virgil Aen. 3, 56 zur auri sacra fames spricht. Die Neigung größere Zahlen in kleinere zu zerlegen (s. Erdmann zu 1, 3, 36) findet sich bei Ovid z. B. Metam. 2, 496 ter quinque. Otfrid’s Wendung Thara zua fuagi I, 1, 72 erinnert an Metam. 3, 136 Huc adde. Ebenso lieben beide Dichter die Epanaphorn, die Widerholung einzelner Worter und Verse.

Leider entschädigt dieser fremde Schmuck nicht dafür, daß O. den festen Halt aufgegeben hat, welchen die alteinheimische Poesie mit ihren Formeln gewährte. Mühsam schreitet der Dichter vorwärts. Flickwörter und Flickzeilen müssen zum Reim und zur Strophenausfüllung helfen. Schwerere Gedanken kommen zuweilen unverständlich heraus. So ist z. B. das I. Capitel des I. Buches vielfach aus der lateinischen Zueignung erst klar zu machen.

Den vollen Gegensatz auch in dieser Beziehung gibt der Heliand mit seiner Fülle von anschaulichen Ausdrücken und eindringlichn Redewendungen. Ob O. dies Gedicht gekannt habe, hat insbesondere E. Behringer, Krist und Heiland, Würzburger Programm (auch Berlin 1870) untersucht. Aber die Uebereinstimmungen sind aus der Benutzung gemeinsamer Quellen und aus dem allgemein deutschen Sprachgebrauch jener Zeit genügend zu erklären. Und O. hätte dieses Vorgängers doch irgendwie gedenken sollen, wenn er ihn gekannt hätte.

Mit einem anderen allitterirenden, aber kleineren Denkmal, dem Muspilli, hat O. einen Vers gemeinsam 1, 18, 9, der noch dazu aus der sonstigen Form seines Gedichtes herausfällt. Allein die Formel ist weitverbreitet: s. Müllenhoff zu den Denkmälern III, 14. Ebenso beruht die Verwandtschaft von O. 1, 7, 27, 28 mit dem Bittgesang an den h. Petrus (Denkm. IX, 7, 8) wol auf einer vielbenutzten Wendung des christlichen Volksgesanges.

Dagegen kann wol nicht bezweifelt werden, daß O. das uns unvollständig erhaltene Gedicht von Christus und der Samariterin (Denkm. X) gekannt und benutzt hat: die Uebereinstimmungen sind zahlreich und auffallend. Freilich [534] läßt ein Vergleich gerade dieses Gedichts mit O. 2, 14 unseren Dichter in recht ungünstigem Lichte erscheinen.

Dieser Hinweis auf ältere reimende, strophische Gedichte in deutscher Sprache genügt, um die Behauptung zu widerlegen, daß O. seine metrische Form selbst erfunden habe. Der Vers ist noch dazu die alte epische Langzeile von zweimal vier Hebungen, von denen O. zwei in jeder Halbzeile durch Accente hervorzuheben pflegt. O. gebraucht die Strophe von zwei Langzeilen unvermischt mit anderen Strophenformen. Zuweilen wiederholt er einzelne Strophen und Strophengruppen refrainartig; auch sonst ist eine Gruppirung nach bestimmten Strophenzahlen ersichtlich. Deutet dies schon auf eine Bestimmung zum Singen, so ist überdies einigen Stellen in der Handschrift die Neumierung übergeschrieben. Andererseits sorgt der Dichter für das Auge, indem er in den Zueignungen Anfangs- und Schlußbuchstaben der Strophen zu Doppelakrostichen verbindet, geradeso wie dies Ermoldus Nigellus gethan, mit dem O. in Straßburg am bischöflichen Hofe zusammengetroffen sein könnte.

Das Band der Halbzeilen ist der Reim, auch dieser schon vor O. in der althochdeutschen Poesie bekannt, aber wohl auch wie die Strophe durch die lateinischen Hymnen empfohlen. Otfrid’s Reim ist freilich noch mehr Assonanz, wenn schon zuweilen auf zwei Hebungen ausgedehnt. S. Zarncke, Berichte der sächs. Gesellsch. der Wissensch. 1874, S. 34–39 und das Reimverzeichniß von Ingenbleek, Quellen und Forschungen XXXVII, Straßburg 1880. Ingenbleek stellt auch die Fälle zusammen, in welchen O. dem Reim zu Liebe ungewöhnliche Wortformen gebraucht. Für den Reim kam ihm übrigens sehr zu Statten die Manigfaltigkeit und Fülle des Vocalismus in seiner Mundart. Es ist dies die der Weißenburger Gegend, wie sich aus der Uebereinstimmung mit den Formen der deutschen Namen in den Urkunden des Klosters sowie denen des Weißenburger Katechismus vom Ende des 8. Jahrhunderts ergibt (Müllenhoff, Vorrede zu den Denkmälern, 2. Aufl. S. XVI). Diese Mundart, die südfränkische, verbindet mit der fränkischen Vorliebe für weiche Consonanten die reiche Entfaltung der alemannischen Vocale, für welche insbesondere ia und ua anstatt io und uo bezeichnend ist. Dazu kommt bei O. die Vocalharmonie, wonach die Vocale der Endsilben die der vorhergehenden Ableitungs- und selbst Stammsilben bestimmen: liub lieben liaben liabomo sind Formen desselben Wortes.

Zu dieser weichen, melodischen Sprache stimmt der persönliche Charakter, der sich in Otfrid’s Auffassung seines Gegenstandes zeigt. Man hat ihn nicht mit Unrecht als frauenhaft bezeichnet und gern die hierher gehörigen Stellen hervorgehoben: die Beschreibung der Mutterfreuden der heiligen Jungfrau, den Wunsch des Dichters, Gott möge seine Fehler so strafen wie eine Mutter, die ihr Kind züchtigt, aber es vor jeder fremden Hand schützt, die Vergleichung der Sehnsucht, mit welcher die Jünger nach dem auferstandenen Christus ausschauen, mit der des Liebenden, der die Geliebte erwartet (vgl. insbesondere Scherer, Geschichte des Elsasses).

Damit steht nicht in unversöhnlichem Gegensatze das lebhafte Gefühl des Dichters für die Größe seines Volkes, für die innige Treuverbindung zwischen König und Volk. In jenem Capitel I, 1 hebt sich aus der übrigen unbeholfenen Erörterung das Lob des Frankenlandes und des Frankenvolkes glänzend heraus. Patriotismus ist auch die Triebfeder für Otfrid’s Dichtung, die Griechen und Römern gegenüber auch das einzige noch den Franken fehlende Lob, Christus in der eigenen Sprache zu besingen, für sie gewinnen will. So schildert O. auch mit Begeisterung den Heldenmuth des Petrus, der mit dem Schwert allein, ohne Schild und Speer, sich unter die Schergen stürzt, die seinen Herrn gefangen nehmen. Aber auch Christus erscheint als treuer Führer seines Volkes. [535] Daß er als Kind nach Aegypien flüchtet, wird entschuldigt; habe er doch später sich für sein Volk geopfert, thaz kuning ander ni duat (1, 20, 34): ein Beweis, daß O. nicht als Schmeichler seines irdischen Herrn die Königstreue feiert. Solche mehr lyrische Stellen, und andere, wie die prachtvolle Schilderung der Verkündigung Mariae, werden immer von neuem den Leser gewinnen und für so manche stockende, stammelnde Erörterung entschädigen.

Daß O. auf die Dichtung seiner und der folgenden Zeit eingewirkt habe, ist kaum anzunehmen. Uebereinstimmungen einzelner Gedanken und Wendungen in späteren Gedichten mit Stellen seines Werkes beweisen noch nicht, daß jene aus diesem schöpften. Eine solche Nachwirkung hätte auch die Ungunst der unmittelbar nachfolgenden Jahrzehnte abschneiden müssen, in denen das Geschlecht Karls des Großen unter unfähigen Herrschern seinem Ende entgegenging und die Schöpfungen Karls den schwersten Stürmen ausgesetzt waren. Eine Vorahnung dieses Geschickes glaubt man schon in der auf die himmlische Heimath gerichteten Sehnsucht unseres Dichters zu empfinden. Seine Poesie muthet uns an wie eine Frühlingsblüthe, die der zurückkehrende Frost zu vernichten im Begriffe steht.

Die ältere Litteratur über O. bespricht gut H. Hoffmann, Fundgruben I (Breslau 1836) S. 38 ff. – Bibliographisches Verzeichniß auch der späteren in Piper’s Ausgabe Bd. I und II. – Außer den oben angefüührten Schriften wären für die litterarhistorische Würdigung noch hervorzuheben: Lachmann, Art. Otfrid in Ersch und Gruber’s Encyclopädie, 1833 (Kl. Schr. 1, 449 ff.) – Wackernagel, Elsäss. Neujahrsblätter, 1847 (Kl. Schr. 2, 193). – Lechler in den Theolog. Studien und Kritiken, 1849, S. 305 ff. – F. Rechenberg. Otfrid’s Evangelienbuch, Chemnitz 1862.