ADB:Waitz, Georg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Waitz, Georg“ von Ferdinand Frensdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 602–629, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Waitz,_Georg&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 07:04 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Nächster>>>
Waitz, Theodor
Band 40 (1896), S. 602–629 (Quelle).
Georg Waitz bei Wikisource
Georg Waitz in der Wikipedia
Georg Waitz in Wikidata
GND-Nummer 119059142
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|40|602|629|Waitz, Georg|Ferdinand Frensdorff|ADB:Waitz, Georg}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=119059142}}    

Waitz: Georg W., deutscher Historiker, geboren am 9. October 1813 zu Flensburg, † am 24. Mai 1886 zu Berlin. Die Familie ist seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in Schmalkalden, Tambach, Waltershausen, Gotha nachweisbar; ihre Mitglieder begegnen als Kaufleute, Bürgermeister, Aerzte; nicht wenige auch als mit dem Bergwesen befaßt. Auch der demselben Geschlecht angehörige erst hessische, dann preußische Minister Johann Sigismund Waitz (von Eschen), der 1764 in den Reichsfreiherrenstand erhoben wurde, war von der Verwaltung des Bergwesens ausgegangen. Durch den Großvater von Georg W., der aus Schmalkalden zur Leitung eines Bergwerks nach Norwegen berufen wurde, ist die Familie nach dem Norden verpflanzt worden. Er heirathete in dritter Ehe eine Norwegerin. Von seinen zehn Söhnen ließ sich einer, Georg Christopher, in Norwegen geboren, als Kaufmann in Flensburg nieder und heirathete eine Flensburgerin Maria geb. Hansen. Die schwankenden Verhältnisse der kriegerischen Zeit zerstörten den Wohlstand der Familie und zwangen ihr Haupt zu mannigfachem Wechsel der Thätigkeit und des Aufenthalts. So wurde [603] die Mutter von vorwiegendem Einfluß auf die Erziehung auf die Erziehung und Ausbildung des Knaben, der mit Ausnahme einer kurzen in Altona verlebten Zeit, wo der Vater die Gründung der Armencolonie Friedrichsgabe leitete, in Flensburg aufwuchs, erst die Bürgerschule, seit Ostern 1826 das unter der Direction von Friedrich Karl Wolff, einem Schüler Vossens, stehende Gymnasium besuchte. In Schule und Haus war alles ganz und ausschließlich deutsch. Die Schüler lernten auf dem Gymnasium dänisch, ohne Abneigung, aber der Lehrer erklärte sie wiederholt insgesammt für unfähig die dänische Aussprache zu fassen. Unter seinen Lehrern rühmt W. besonders G. Th. Francke, der seine Liebe zu geschichtlicher Lectüre und geschichtlichen Studien gefördert habe. Schon in dieser Zeit lernte er Niebuhr’s römische Geschichte kennen. Das Buch fesselte ihn so, daß er es wieder und wieder las; es gewann ihn der Geschichte. Dem Landsmann Niebuhr nachzueifern, wurde sein Ideal, und wenn er sich auch dem Mittelalter zuwandte, so bestimmte doch Niebuhr seine Vorliebe für Verfassungsgeschichte. Auch den Rath nahm W. von ihm an, den er später in seinen Doctorthesen so ausgedrückt hat: nemo historicus nisi juris cognitione imbutus, und ließ sich, als er Ostern 1832 die Universität Kiel bezog, als stud. jur. immatriculiren. Das Convictexamen, eine ernsthafte Prüfung, die das den Herzogthümern fremde Maturitätsexamen wenigstens für die akademische Beneficien Beanspruchenden ersetzte, bestand er gleichzeitig mit dem Theologen M. Baumgarten und erhielt den ersten Grad: vorzüglich würdig, wie ihn seit A. Trendelenburg niemand erlangt hatte. Er hörte außer den Juristen Falck und Kierulff philosophische und philologische Collegien bei Nitzsch, Twesten, Olshausen, J. E. v. Berger und Michelsen, der in Kiel eine geschichtliche Professur bekleidete. Ostern 1833 ging er nach Berlin. Wie in Kiel als Jurist immatriculirt, war er auch hier auf eine möglichst vielseitige Ausbildung bedacht. Die Namen Ranke und Lachmann, Savigny und Homeyer bezeichnen die wichtigsten Richtungen seiner Studien. Es war ihm vergönnt, Schleiermacher’s letzte Vorlesung über Politik zu hören. Den schönen Nachruf, den Ranke in der Vorlesung dem großen Theologen widmete, verdankt man der Aufzeichnung von W. (Ranke, S. W. 53, 265). Der Mittelpunkt seiner Studien wurde aber bald Ranke. Bei ihm hörte er alle Vorlesungen. Er wurde ihm Lehrer und Freund zugleich und bestimmte ihn die Geschichte zu seinem Berufe zu machen. Als W. Ostern 1835 nach einem bei seinen Eltern, die nach Kopenhagen übergesiedelt waren, zugebrachten Winter nach Berlin zurückkehrte, ließ er sich bei der philosophischen Facultät einschreiben. Neben Ranke hörte er Wilken, trieb unter seiner Anleitung Paläographie und Diplomatik und nahm auch an dessen Uebungen theil, in denen besonders Quellen aus dem Anfang des Mittelalters gelesen wurden und W. seine erste historische Abhandlung, über Alarich, schrieb. Wie er in Kiel sich unter Justus Olshausen mit Sanskrit beschäftigt hatte, so ließ er sich in Berlin von Lachmann in die germanistischen Studien einführen und lernte von ihm die Grundsätze kritischer Edition. Die von Ranke veranstalteten Uebungen brachten ihn mit einem Kreise von Genossen zusammen, der für die Entwicklung der deutschen Geschichtsforschung so bedeutsam werden sollte. Die Wahl der 1834 von der philosophischen Facultät auf Ranke’s Vorschlag gestellten Preisfrage: das Leben und die Thaten K. Heinrich’s I. erwies sich als besonders glücklich und folgenreich. W. Giesebrecht, Köpke, Siegfr. Hirsch und W. bewarben sich um den Preis; W., der den Kopenhagener Winter zur Ausarbeitung benutzt hatte, gewann ihn, während Hirsch das Accessit erhielt (3. August 1835). Für Köpke und Giesebrecht wurde die Aufgabe der Anlaß, ihre Arbeit auf deutsche Geschichte zu concentriren, und sich mit W., Dönniges, Hirsch und Wilmans auf Ranke’s Anregung zu einem gemeinsamen Unternehmen zu vereinigen. Nachdem Raumer [604] die Geschichte der Hohenstaufen, Stenzel die der fränkischen Kaiser bearbeitet hatte, war die für Bildung und Weltstellung des deutschen Reichs so überaus wichtige sächsische Periode vernachlässigt geblieben. Diese Lücke auszufüllen war Ranke’s Absicht, aber nicht durch eine jenen Büchern sich an die Seite stellende Geschichte der Zeit, sondern durch eine kritische Durcharbeitung und Sichtung der gesammten Ueberlieferung und Zusammenfassung des Bewährten in einer chronologischen Darstellung. Das war offenbar eine nicht bloß nützliche, sondern durchaus nothwendige Arbeit und zugleich eine solche, an der sich zweckmäßig mehrere, so verschieden sie sein mochten, betheiligen konnten. Jene Sechs, die sich zur Herausgabe der Jahrbücher des deutschen Reichs unter den sächsischen Kaisern verbanden, bilden den Anfang dessen, was man die Rankische Schule genannt hat. Alles junge Männer, in den Jahren 1812–16 geboren; bis auf W. geborene Preußen, die Mehrzahl Berliner. „Brennender Eifer zu lernen, zu entdecken, zu schaffen war bei uns allen“; „mit unserm gemeinsamen Werke wollten wir dem genialen Lehrer, seiner Schule und uns selbst Ehre machen“: so hat eins der Mitglieder später jene Zeit geschildert. Die Genossen übten unter sich scharfe Kritik. Vor allem nahm W., der vorgeschrittenste unter ihnen, der auch für alle übrigen Abtheilungen gründliche Studien machte, die Freunde in Zucht, und jeder hatte ihm, wie sie selbst anerkennen, vieles zu danken. Er arbeitete dann auch nicht bloß die Preisarbeit über Heinrich I. für den erweiterten Zweck um, sondern übernahm auch, als Dönniges seinen Theil, K. Otto I. von 951 bis 973, wegen Abreise nach Italien unvollendet abliefern mußte, die Fertigstellung durch Zusätze in Text und Noten und Zufügung von Excursen. Waitz’ Studienzeit schloß die Promotion am 18. August 1836 ab. Seine Dissertation „de chronici Urspergensis prima parte, ejus auctore, fontibus et apud posteros auctoritate“ erkannte die Selbständigkeit des ersten Theils gegenüber den spätern Fortsetzungen und Ekkehard von Aura als seinen Verfasser. Mit dieser Erstlingsschrift betrat W. das Gebiet der Quellenkritik, das ihm soviel zu danken haben sollte. Im Herbst 1836 begann für W. die Gesellenzeit, nach guter alter Weise zugleich eine Wanderzeit. Mit einer Empfehlung Ranke’s ausgestattet, wandte er sich an Pertz in Hannover mit dem Wunsche, unter die Mitarbeiter der Monumenta Germaniae historica zu treten, die eben damals sich der Periode zuwandten, mit deren Quellen sich W. bei seinen Studien vorzugsweise beschäftigt hatte. Kritisch-philologische Schulung besaß W. in so ausreichendem Maße, daß Lachmann von seiner Mitarbeiterschaft eine heilsame Ergänzung dessen erwartete, was die letzten Bände der Monumenta hatten vermissen lassen. Zu Anfang September 1836 stellte sich W. in Hannover vor, und die Verhandlungen mit Pertz führten rasch zu einem günstigen Ergebniß. Nachdem W. seine Verhältnisse in Kopenhagen geordnet hatte, siedelte er nach Hannover über, das nun 5½ Jahr sein Wohnsitz wurde. Pertz erkannte bald, welch unschätzbare Kraft er an W. gewonnen, übertrug ihm die Bearbeitung des Widukind und gewährte ihm bald auch einen Einfluß auf die Redaction des Ganzen, insofern als er seinen Beirath über Aufnahme und Behandlung der Autoren in Anspruch nahm. W. setzte das für die Zwecke der Monumenta angelegte Directorium der geschichtlichen Quellen des deutschen Mittelalters fort und unterzog sich all den großen und kleinen Arbeiten seiner Stellung gewissenhaft und umsichtig. Das Verhältniß zu Pertz war durchaus befriedigend, nach Waitz’ Zeugniß nie durch die geringste persönliche Differenz getrübt. Durch Pertz wurde W. auch in die ihm befreundeten Kreise der hannoverschen Gesellschaft eingeführt, von deren Leben die Erinnerungen des Oberschulraths Fr. Kohlrausch ein so freundliches Bild entwerfen. Auch in die politischen Interessen, die seit 1837, dem Regierungsantritt Ernst August’s, die hannoversche Welt bewegten, wurde W. hineingezogen. Gelegentlich einer Reise, [605] die ihn 1837 zweimal nach Göttingen führte, knüpften sich Beziehungen zu den Brüdern Grimm und zu Dahlmann an. Gerade in den Tagen, da der Protest der Sieben sich vorbereitete, verweilte W. in ihren Kreisen. Seine Briefe aus Hannover brachten nach Göttingen neben wissenschaftlichen Mittheilungen auch politische Nachrichten über den Fortgang des Kampfes um das Staatsgrundgesetz. Mit Göttingen verband ihn noch eine zweite, mit der Jahrbücherarbeit zusammenhängende Angelegenheit. In den Rankischen Uebungen hatte man sich bei Untersuchung der Quellen der sächsischen Zeit von der Unechtheit des von J. F. Falcke bei seinen Arbeiten über Corvey benutzten und von dem Oberamtmann Wedekind zu Lüneburg nach einer Copie der königlichen Bibliothek zu Hannover in seinen „Noten zu einigen Geschichtschreibern des Mittelalters“ Bd. I (1821) herausgegebenen Chronicon Corbejense überzeugt. Die Kunde von diesen Untersuchungen hatte Wedekind, der an der Echtheit festhielt, veranlaßt, einen Preis auszusetzen und die Entscheidung des Streits der königlichen Societät der Wissenschaften zu übertragen. W. und Hirsch, die sich zu einer gemeinsamen Arbeit verbunden hatten, trugen den Sieg davon, nicht bloß über Klippel von Verden, der die Echtheit verfochten hatte und zu verfechten fortfuhr, sondern auch über Schaumann, der wie sie die Unechtheit erkannt und Falcke als den Fälscher ermittelt hatte, aber hinter ihnen, wie das von Jacob Grimm zu Ende 1838 erstattete Gutachten ausführte, an Ordnung, Ruhe und Consequenz der Beweisführung zurückgeblieben war. Mit dem Eintritt von W. nahm das Werk der Monumenta einen neuen Aufschwung. Das Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, von dem seit 1831 nichts erschienen war, brachte in dem 1838 ausgegebenen 5. und 6. Hefte des Bd. VI von W. eine größere Untersuchung über die Hersfelder Annalen und einen kurzen Aufsatz aus einem Quellengebiet, dem er sein ganzes Leben hindurch sein Interesse bewahrt hat. Schon als Student hatte er sich mit einer Berliner Hs. des Heinrich von Herford beschäftigt; jetzt zeigte er, wie Hermann Korner diesen Autor ausgeschrieben, dann aber willkürlich falsche und verwirrende Quellencitate hinzugefügt habe. Größere Reisen für die Monumenta führten W. 1837 nach dem südlichen Frankreich, October 1839 bis August 1840 nach Paris, Herbst 1841 nach Thüringen. Alle diese Reisen brachten reichen wissenschaftlichen Ertrag, über den W. in den Bänden VII und VIII des Archivs (1839 und 1843) berichtete, kamen aber nicht bloß dem nächsten Zweck, den Editionen der Monumenta, zu Gute. Durch Dr. Knust, den W. bei seiner Ankunft in Paris noch antraf, auf einen Codex wahrscheinlich noch des vierten Jahrhunderts aufmerksam gemacht, fand er in dessen Randschrift eine Arbeit des Auxentius, die über die Lehre und wichtige Lebensumstände seines Lehrers Ulfilas Nachricht gab, und veröffentlichte sie in der Abhandlung: „über das Leben und die Lehre des Ulfila“ (Hannover 1840). 1841 entdeckte er in einer Hs. der Dombibliothek zu Merseburg aus dem 9. Jahrh. zwei jetzt unter dem Namen der Merseburger Zaubersprüche bekannte Gedichte. W. überbrachte sie J. Grimm, der in seinem ersten vor der Berliner Akademie gehaltenen Vortrage am 3. Februar 1842 den Fund mittheilte und besprach, der „durch den gerechtesten Zufall demselben Gelehrten überwiesen worden, der voriges Jahr gleich unerwartet wichtige Beiträge zu dem Leben des Ulfilas lieferte“ (Kl. Schriften II 2). Zugleich traten Waitz’ Arbeiten an den Monumenten mit den 1839 und 1841 publicirten Bänden III und IV der Scriptores an die Oeffentlichkeit: als die erste und wichtigste die Ausgabe der res gestae Saxonicae des Widukind. Arbeiten wie diese hatten den jungen Gelehrten so bekannt gemacht, daß man nach Kiel, als Michelsen eine Professur in Jena angenommen und der König den Facultätsvorschlag, Dahlmann zu seinem Nachfolger zu machen, rundweg abgelehnt hatte, im Februar 1842 W. als ordentlichen Professor der Geschichte berief. W. trat das Amt erst [606] im October an und arbeitete den Sommer noch für die Monumenta in Berlin, wohin Pertz inzwischen übergesiedelt war. Bei Schelling, der seit dem Herbst 1841 in Berlin philosophische Vorlesungen hielt, zu denen sich zahlreiche Zuhörer einfanden, die längst die Studentenjahre hinter sich hatten, nahm W. im Sommer 1842 eine Vorlesung über Philosophie der Mythologie an und wurde in der Familie Schelling’s, der mit Ranke besonders gern verkehrte, bekannt. Er verlobte sich mit Schelling’s zweiter Tochter Clara; in den ersten Tagen des October fand die Hochzeit statt. Der Schwiegervater bezeichnet in einem Briefe an seinen Bruder W. als einen jungen Mann, der das Glück gehabt habe früh bekannt zu werden und durch einige glückliche Entdeckungen sich auszuzeichnen; was aber mehr werth, sei sein reiner Charakter, sein fester bewußter Wille und das Liebevolle in seiner Natur. Wurden auch in Kiel die Arbeiten für die Monumenta weitergeführt und in den Bänden V und VI der Scriptores, die 1844, und Band VIII, der 1848 erschien, die Chronik des Ekkehard, der Annalista Saxo, die Gesta Treverorum, Marianus Scotus, um nur die Hauptbeispiele zu nennen, veröffentlicht, so traten doch jetzt neue Aufgaben in den Vordergrund. W. las Geschichte des Mittelalters, vaterländische Geschichte, die ihm von Kopenhagen aus zur Pflicht gemacht war. Dazu kamen kürzere Vorlesungen über Themata, auf die ihn seine verfassungsgeschichtlichen Studien führten: über Tacitus’ Germania, lex Salica, deutsche Alterthümer, deutsche Reichsverfassung, altdeutsches Gerichtswesen. Seine Quellenstudien führten ihn der Opposition zu, die sich, mit Löbell’s Gregor von Tours (1839) anhebend, in den letzten Jahren immer stärker gegen K. F. Eichhorn, dessen Staats- und Rechtsgeschichte noch das Gebiet beherrschte, geltend gemacht hatte. Durch den Aufenthalt in Paris war W. mit den hervorragenden französischen Geschichtsforschern und ihren Werken über die fränkische Zeit bekannt geworden. Alles das wirkte zusammen, um ihm bei der Feier der tausendjährigen Wiederkehr des Friedens von Verdun im J. 1843, zu der er durch ein Programm: „über die Gründung des deutschen Reichs durch den Vertrag von Verdun“ (Kiel 1843) einlud – die Festrede hielt Droysen – den schriftstellerischen Gedanken an eine deutsche Verfassungsgeschichte einzugeben. Was er rasch und kühn begann, sollte das Werk seines Lebens werden. 1844 erschien der erste, 1847 der zweite Band der „deutschen Verfassungsgeschichte“. Zwischendurch als eine Beilage: „Das alte Recht der Salischen Franken“ (Kiel 1846), eine Ausgabe dieses Volksrechts in seiner ältesten Form verbunden mit einer Darstellung seines Inhalts. Die staatlichen Einrichtungen und das Leben des Volks in ihnen während der germanischen Zeit und der der Merowinger waren auf Grund der kritisch durchforschten und gesichteten Quellen geschildert. Gegen hergebrachte Lehrmeinungen war entschieden vorgegangen; das neue, was an die Stelle trat, umsichtig und besonnen aufgebaut. Kühne Combinationen und Constructionen waren vermieden, überall nichts mehr und nichts bestimmter oder sicherer vorgetragen, als es die Quellen zuließen. Ein Werk, wie es unsere Litteratur noch nicht kannte, das den Nachfolgern das Material lieferte zum Weiterbau wie zur Bekämpfung. Die erste Opposition erwuchs dem Werke von einem jüngeren Mitgliede der Rankischen Uebungen. Sybel’s Entstehung des deutschen Königthums (1844) erschien fast gleichzeitig mit der Verfassungsgeschichte und gab zu einer freundschaftlichen Polemik zwischen den beiden Verfassern Anlaß, die in der neu entstandenen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft geführt wurde. An der Zeitschrift, die von Adolf Schmidt, gleichfalls einem Mitgliede der Rankischen Uebungen und dem nächsten Freunde von Waitz in der Berliner Zeit, redigirt wurde und einen längst unter den historischen Freunden [607] erörterten Plan zur Ausführung brachte, betheiligte sich W. lebhaft. Sie veröffentlichte von ihm neben kritischen Aufsätzen Vorträge über die Entwicklung der deutschen Historiographie im Mittelalter (Bd. 2 und 4, 1844 und 1845), die in Kiel vor Collegen und andern Männern der Wissenschaft gehalten und, ehe man das Werk von Wattenbach besaß, das Beste waren, was über den Gegenstand existirte. Einen Anhang dazu bilden Briefe an den Herausgeber in Bd. 5 und 6 der Zeitschrift (1846) über deutsche Historiker der Gegenwart. Sie beschränken sich auf eine Schilderung der süddeutschen Geschichtsschreiber im Gegensatz der norddeutschen, die Heidelberger, die Oesterreicher, die Ultramontanen, die neuern Arbeiten zur Reformationsgeschichte und haben in ihrem Freimuth, wie J. Fr. Böhmer’s Briefe bezeugen, ins Ziel getroffen. – Für den Professor der Geschichte in Kiel erwuchs neben seinen Vorlesungen und litterarischen Arbeiten eine Aufgabe in der ihm traditionell obliegenden Fürsorge für die Landesgeschichte. W. führte gleich seinen Vorgängern und Nachfolgern das Secretariat der schleswig-holstein-lauenburgischen Gesellschaft für vaterländische Geschichte, setzte die von Michelsen begonnene Urkundensammlung fort, für die er den Abschluß des ersten Bandes, darunter die älteren Urkunden der Stadt Kiel, und erhebliche Theile des zweiten Bandes, bearbeitete, und übernahm die Redaction der Zeitschrift, die von 1844 an den neuen Titel der Nordalbingischen Studien erhielt. Als W. aus der Schule ins Leben trat, bewegte der hannoversche Verfassungskampf die Gemüther. Er nennt selbst diese Jahre für die Bildung seiner politischen Ansichten in vieler Beziehung bedeutend. Ungleich tiefer noch mußte ihn die nationale Bewegung erfassen, die durch den offenen Brief K. Christian’s VIII. vom 8. Juli 1846 in den Herzogthümern hervorgerufen wurde und in Kiel ihren Mittelpunkt fand. An der Abfassung der Denkschrift: „Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig“ (Hamburg 1846), zu der sich die Kieler Professoren des Rechts, der Geschichte und der Staatswissenschaften mit Ausnahme Paulsen’s, eines speciellen Landsmanns von W., verbanden, gebührte W. neben Falck und Droysen ein bedeutender Antheil. Als Helwing 1846 mit der Geltendmachung angeblich preußischer Erbansprüche auf Schleswig-Holstein hervortrat, antwortete ihm W. mit einer eingehenden Widerlegung in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik 1846, Nr. 106. Auf der Germanistenversammlung zu Lübeck im J. 1847 nahm er nur an der Debatte über die Veröffentlichung der Verhandlungen theil. Er wünschte eine raschere und allgemeiner zugängliche Publication als in Buchform. In Holstein habe man im Jahre zuvor jedem Wort gelauscht, das von Frankfurt herüber drang, aber das Buch, als es spät erschien, meistens enttäuscht aus der Hand gelegt. Durch eine kurze ständische Wirksamkeit kam W. mit der dänischen Regierung, obschon von ihr selbst zum Deputirten berufen, in Conflict. Die holsteinischen Stände hatten im Juli 1846 zur Wahrung des Landesrechts den Recurs an die Bundesversammlung ergriffen und vor Erledigung ihrer Beschwerden jede Berathung der Regierungsvorlagen in ihrer Mehrheit abgelehnt. Als die Regierung für die Mehrheitsmitglieder die Stellvertreter einberief und anstatt des Professors Christiansen W. zum Abgeordneten der Universität Kiel ernannte – das Recht der Ernennung stand ihr zu – erschien er zwar in Person, aber nur um sich dem Protest der Vorgänger anzuschließen. Der Landtag wurde infolge dessen aufgelöst. Eine Rede von Waitz bei einem Fackelzuge, den ihm die Studenten nach seiner Heimkehr brachten, zog ihm einen Verweis der Regierung zu. Mochte auch eine beruhigende Erklärung nachfolgen, daß das frühere Wohlwollen der Regierung in das Gegentheil umgeschlagen war, zeigte sich in der Unterlassung jedes Schritts, um den von Collegen und Schülern verehrten Lehrer dem Lande und seiner Hochschule, an denen er mit Liebe hing, zu erhalten.

[608] In Göttingen waren seit 1837 die historischen Studien, einst der Glanz der Georgia Augusta, verödet. Die Vertreter der Geschichte, Hoeck, Havemann, Schaumann, waren nicht geeignet, Zuhörer anzuziehen. Da man zunächst auf Hebung der alten Geschichte bedacht war, trug man sich mit dem Plane Droysen in Kiel zu gewinnen. Schon 1843 und erneut 1847 wurde auf die Anregung von Havemann darüber in Hannover zwischen dem Geh. Cabinetsrath Hoppenstedt, seinen Nachfolgern, dem Legationsrath Hanbury in Hamburg, der Berichte über Kiel einziehen mußte, und Kohlrausch verhandelt. Seit Mitte des Jahres läßt man, der Grund ist aus den Acten nicht ersichtlich, die erste Candidatur und die Rücksicht auf die alte Geschichte fallen und bewirbt sich um einen andern Kieler Historiker. Waitzens Bedenken gegen die Annahme lagen in der Anhänglichkeit an die vaterländische Universität, dem Gedanken, er könne ihr und dem Lande, gerade unter den Verhältnissen der Zeit noch nützen. Aber Kohlrausch prophezeite richtig: W. wird bald ebenso sehr an Göttingen hängen, als er jetzt an Kiel und Holstein hängt. Im Herbst 1847 war W. bei einer Anwesenheit in Hannover mit Kohlrausch und dem Regierungsrath Bunsen zusammen gewesen. Ende October kamen die Verhandlungen zum Abschluß: W. erhielt eine ordentliche Professur der Geschichte, Eintritt in die Honorenfacultät und einen Gehalt von 1400 Thalern zugesichtert. In dem Annahmeschreiben, das er am 26. October an den Geheimen Rath v. Falcke – kurz zuvor, nach dem Tode Stralenheim’s, hatte der König sein Cabinet unmittelbar mit der Wahrnehmung des Universitätscuratoriums betraut – richtete, hoffte er, daß es ihm gelingen möge, den alten großen Erinnerungen Göttingens gegenüber als ein nicht ganz unwürdiger Nachfolger verehrter Vorgänger erfunden zu werden, daß jener Geist echter Wissenschaftlichkeit und wahrer Freiheit, welcher dort unter dem Schutz erleuchteter Regenten herrschte, auch auf ihn übergehe und Kraft zur Erfüllung des schönen aber auch ernsten Berufes gebe. Der Cabinetsminister Ernst August’s wird die Erinnerung nicht bloß an das 18. Jahrhundert, sondern auch an Dahlmann gewiß mit einiger Verwunderung gelesen haben. Zu Ostern 1848 sollte W. sein Amt antreten, und er kündigte im Vorlesungsverzeichniß Geschichte des Mittelalters, deutsche Alterthümer und ein Publicum über die deutschen Grenzen an. Da brach die Revolution aus. W. stellte sich der provisorischen Regierung Schleswig-Holsteins zur Verfügung, arbeitete in Rendsburg unter dem Grafen Reventlou und wurde als Bevollmächtigter nach Berlin gesandt, um für die preußischen Truppen, die bereits in die Herzogthümer eingerückt waren, den Befehl zur Ueberschreitung der Eider zu erwirken. In Verhandlungen mit dem Ministerpräsidenten Camphausen und dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten H. v. Arnim, wo er mit den Mitgliedern des Fünfzigerausschusses Mathy und Schleiden zusammentraf, erreichte er den nächsten Zweck seiner Mission, blieb aber noch länger im Auftrag seiner Regierung in Berlin in litterarischer Thätigkeit und schrieb auf Aufforderung eines Mitgliedes des auswärtigen Ministeriums einen in die Preußische Staatszeitung aufgenommenen Artikel über den Eintritt Schleswigs in den deutschen Bund. Während seines Berliner Aufenthalts fanden die Wahlen zum deutschen Parlament statt. Der Wahlbezirk Kiel erkor bei directem Wahlverfahren, wie es in den Herzogthümern angeordnet war, W. zum Abgeordneten gegen den Candidaten der demokratischen Partei, L. Stein, den spätern Wiener Nationalökonomen, damals außerordentlichen Professor in Kiel. Die Wahl, war sie auch ganz ohne sein Zuthun auf W. gefallen, war ihm sehr willkommen. Nachdem er in Göttingen am 13. Mai als Professor eidlich verpflichtet worden, begab er sich nach Frankfurt. An den Arbeiten der Nationalversammlung hat er ununterbrochen bis in den Mai 1849 theil genommen, eins der fleißigsten Mitglieder, [609] in den öffentlichen Versammlungen, wie in Commissionen thätig. Neben den großen das Parlament und die Nation bewegenden Angelegenheiten interessirten ihn die Formfragen, Debatten über Fragstellung, Reihenfolge der Abstimmungen. Der Partei des rechten Centrums, des sogen. Casino, später des Weidenbusches angehörig, war er nichts weniger als ein Mann nach der Parteischablone. Unabhängig nach Charakter und Urtheil, ging er oft seinen eigenen Weg, ohne aber in Rechthaberei und Eigenwilligkeit zu verfallen. Gleich seine ersten Reden sorgten dafür, seine politische Stellung zu kennzeichnen und ihn bei der Linken gründlich unbeliebt zu machen. Den beständigen Angriffen auf Preußen setzte er die Dankbarkeit, die ihm die Herzogthümer schuldeten, den halben und ganzen republikanischen Gelüsten die unverblümte Erklärung entgegen, er halte die Republik nicht für einen Fortschritt, nicht für ein Symptom der Gesundheit und Kraft, sondern für ein Zeichen der Krisis und Krankheit, und sei stolz darauf, daß keiner seiner Landsleute, obschon direct und unter einer revolutionären Regierung erwählt, auf der linken Seite Platz genommen habe. In zwei Angelegenheiten war W. berufen, in den Vordergrund zu treten. Die eine war die schleswigholsteinsche. Die Verhandlung des 9. Juni, in der er zum ersten Mal die Tribüne betrat, war nur ein Vorgefecht. Die parlamentarischen Schlachten wurden im September geschlagen. W. stimmte am 5. mit Dahlmann für die Sistirung der zur Ausführung des Malmöer Waffenstillstandes getroffenen Maßregeln. Als der Waffenstillstand selbst in den Tagen des 14. bis 16. Septembers zur Berathung kam, beleuchtete W. scharf jeden Mangel des Vertrages, erklärte sich bei der Abstimmung aber doch für den Antrag seiner Landsleute Francke und Genossen, die nach Lage der Umstände den Vertrag nicht weiter beanstanden wollten. Dieser Gegensatz hat ihm zahlreiche Angriffe im Parlament und nachher noch zugezogen. Die von den Linken höhnten über die Logik vom 5. und 16. September, über die Unselbständigkeit des Erfinders der Selbständigkeit (als eines Erfordernisses des Wahlrechts). Aber auch Dahlmann klagte: W. spricht für mich und stimmt mit meinen Gegnern. Ihn tröstete das Wort des Generals v. Auerswald, des Opfers jener Tage, der nach der Abstimmung zu ihm trat: Sie haben durch ihr Votum die Einheit Deutschlands gerettet. Der kleine, von W. selbst erzählte Vorgang hat, so verständlich er ist, boshaften Gegnern oft zum Spotte gedient. W. glaubte mit seiner Abstimmung dem Bürgerkriege in Deutschland entgegengewirkt zu haben, blieb aber bis an sein Ende der Ansicht Dahlmann’s, daß, wenn die Versammlung in ihrer großen Mehrheit von Anfang an die kühne Aufgabe der Zeit kühn auf sich genommen hätte, es mit den schleswigholsteinschen wie mit den allgemeinen deutschen Dingen würdiger und gesegneter gestanden hätte. – Die zweite Angelegenheit war die deutsche Verfassungssache. Sie hatte ein Vorspiel an der Debatte über Errichtung einer provisorischen Centralgewalt. Als die Fluth der Meldungen zum Wort einer Reduction der Rednerliste nöthig machte, wurden W. und Mathy zu Sprechern ihrer Partei erwählt. W. erklärte sich für eine einheitliche Spitze, stimmte aber gleich Dahlmann, Beseler, Duncker auch nach Gagern’s kühnem Griff für eine Bestellung des Reichsverwesers durch die Regierungen unter Zustimmung der Nationalversammlung. Bemerkenswerth ist für Waitz’ politischen Entwicklungsgang der Satz seiner Rede vom 23. Juni: „ich werde ebensowenig wie die Republik die Schatten des Kaiserthums in der Paulskirche heraufbeschwören“. Als W. zum ersten Mal in der Paulskirche auftrat, berichtete Rümelin von einem neuen bedeutenden Sprecher, nicht Redner, den er kennen gelernt habe. Dasselbe drückt R. v. Mohl aus, wenn er ihn unter die beweisführenden Redner der Versammlung zählt und dahin charakterisirt: [610] „W. erschien uns immer als der reinlichste und einer der klarsten Redner; Gedankengang und Anordnung war so abgerundet und fertig, der Vortrag so ruhig, daß die Rede dem Zuhörer wie ein schöner Druck mit gehörigen Absätzen, Ueber- und Unterschrift vor dem geistigen Auge stand; er war der redende Schriftsteller“. In dem Verfassungsausschuß bildeten die vier Professoren Dahlmann, Beseler, Droysen und W., die dem Ausschusse während seiner ganzen Dauer angehörten, einen festen Kern. Daß Dahlmann mit Beseler und W. eine Subcommission gebildet habe, ein Lehrer mit zwei Schülern, wie J. Fr. Böhmer höhnte, ist der Thatsache wie dem Urtheil nach unbegründet. So befreundet W. auch Dahlmann war, in ihren politischen Zielen und den Wegen dahin sind sie oft auseinandergegangen. Nannte sich Dahlmann einen Unitarier, so verhehlte W. nicht sein Bestreben, was die Einheit fordere auszugleichen mit dem, was das Bestehen der Einzelstaaten bedinge. Am deutlichsten mußte sich dieser Gegensatz in der Oberhauptsfrage äußern. Die Natur des Bundesstaats verlangte nach Waitz’ Meinung zwar ein einheitliches Oberhaupt, aber nicht nothwendig ein erbliches. Bei der ersten Abstimmung über die Erblichkeit der Reichsoberhauptswürde (23. Januar 1849) enthielt er sich deshalb der Abstimmung. Sein eigener Antrag, je auf zwölf Jahre ein Oberhaupt aus den Regenter der sechs größten deutschen Staaten durch Wahl der Nationalversammlung zu bestellen, erhielt aber nur 14 Stimmen gegen 442. Von wesentlicher Einwirkung auf Waitz’ Verhalten bei der ersten Lesung war die Rücksicht auf Oesterreich. Von ihm rührte der Ausspruch her: wir wollen lieber den schwerern Bau mit Oesterreich als den leichten ohne dasselbe. Dabei dachte er nicht etwa wie ein Theil der Versammlung an einen Eintritt oder auch nur an eine Verbindung mit Gesammt-Oesterreich. Er hat es deutlich genug ausgesprochen, daß Deutschland sein Interesse an die Gesammtmonarchie Oesterreich weder in ihrer centralisirten noch in ihrer föderativen Gestalt knüpfen könne, daß auch nicht, wie Gagern gemeint, die auswärtigen Verhältnisse Deutschlands und Oesterreichs zusammenfielen. Es war zur Zeit und namentlich in Frankfurt nichts weniger als populär zu erklären, wie W. es that, Deutschland habe kein Interesse, daß die Lombardei bei Oesterreich, Italien abhängig und zerrissen bleibe. Auf den deutschen Theil Oesterreichs machte W. ein Recht geltend. „Der deutsche Bund ist nur die Continuität des Reichs, und keinem hat es freigestanden, ob er beitreten wollte oder nicht; und wir sind wieder die Continuität[WS 1] dessen, was war, und keinem steht es frei, ob er zu uns gehören will oder nicht.“ Aber in der Debatte über den Welcker’schen Antrag (19. März 1849) gab er zu sich getäuscht zu haben in seiner Hoffnung, die Deutsch-Oesterreicher würden die Verbindung mit Deutschland höher stellen als die mit der Gesammtmonarchie. „Jede Erklärung aus Oesterreich hat der Erblichkeit neue Stimmen gewonnen; ich selbst bin diesen Weg gegangen.“ Mag auch die Erblichkeit über die Bedürfnisse des Bundesstaats hinausgehen, er bekannte jetzt einzusehen, daß nur die Erblichkeit ihn sichern könne. Durch strenge eigene Prüfung, aus der neuen und neuesten Geschichte lernend, unter dem Druck der gebieterischen Nothwendigkeit war er ein Erbkaiserlicher geworden und betheiligte sich in diesem Sinne an allen Abstimmungen und Schritten der Partei. Er mußte es dann allerdings über sich ergehen lassen, wenn ihn Berger von Wien als den scharfen Vertheidiger der unzerreißbaren historischen Continuität Deutschlands und Oesterreichs apostrophirte, der jetzt mit dem Kaiserschnitt Deutsch-Oesterreich von Deutschland trennen wolle, ähnlich wie sein Schwiegervater Schelling schon einen Monat früher vor der tödtlichen Amputation gewarnt hatte, die nur einen Scheinkörper schaffen werde, ohne allerdings positiv etwas besseres vorschlagen zu können als ein sehr unklar gedachtes Triasproject. Für zwei wichtige Abschnitte [611] der Verfassung fungirte W. als Berichterstatter des Ausschusses: für den von der Gewähr der Reichsverfassung und für das Wahlgesetz. So wenig Schwierigkeiten es machte, den ersten Abschnitt zur Annahme zu bringen, so große stellten sich dem zweiten entgegen. Der Entwurf des Wahlgesetzes war von einem ausführlichen schriftlichen Bericht begleitet, den W. später in seine „Grundzüge der Politik“ aufgenommen hat. Seine Eigenthümlichkeit bestand darin, daß er das active Wahlrecht auf selbständige Männer beschränkte und als nicht selbständig gewisse Berufsclassen, nämlich Dienstboten, Handwerksgehülfen, Fabrikarbeiter und Tagelöhner, zu behandeln vorschlug. Die wirthschaftlich abhängigen Classen der Bevölkerung sollten von dem Wahlrecht ferngehalten werden, weil sie das Recht nicht nach eigenem Ermessen, sondern nach dem Willen eines andern ausüben würden. So berechtigt es war, das vieldeutige Erforderniß der Selbständigkeit durch ein festeres Merkmal zu ersetzen, so wenig hat das von W. vorgeschlagene Ersatzmittel Anklang gefunden. Die Mitglieder der eigenen Partei Waitzens erklärten sich dagegen und bei der Abstimmung erhielt der Antrag nur 21 Stimmen gegen 422. Glücklicher war Waitz’ Bericht in seiner entschiedenen Befürwortung des directen Wahlmodus. Für die öffentliche Stimmabgabe ergriff W. selbst das Wort, während er für die übrigen Theile des Gesetzes seinen Bericht hatte sprechen lassen, und zahlte der Linken die Angriffe heim, deren Gegenstand er in der vorausgehenden Debatte so reichlich geworden war; aber die geheime Stimmabgabe gewann eine bedeutende Mehrheit. So selbständig W. in seinem ganzen Denken und Handeln war, so bereitwillig schloß er sich allen Schritten an, die dazu dienten, die Reichsverfassung zu Stande zu bringen und machte an seinem Theile den Appell wahr, mit dem er einen seiner Berichte unter dem rauschenden Beifall des Centrums und der Rechten geschlossen hatte: „gründen Sie, meine Herren, die Einheit Deutschlands, dann werden sie auch der Freiheit den festen Grund gelegt haben“. Er hat sich dann, in den Ausschuß zur Durchführung der Reichsverfassung gewählt, die verzweifelte Mühe gegeben, dieser Aufgabe zu dienen und zugleich dem Andrängen der Linken gegenüber den Boden der Gesetzlichkeit zu wahren. Als die Arbeit sich als vergeblich herausstellte, hat er in seiner Partei zum Austritt gedrängt und ist dann am 20. Mai mit 64 andern, Dahlmann, Simson, Beseler, Gagern an der Spitze, aus der Paulskirche ausgeschieden. Er ging nach Göttingen zur Uebernahme seines akademischen Amts. Im Juni betheiligte er sich an der Versammlung in Gotha und schloß sich ihrer Erklärung zu Gunsten der Dreikönigsverfassung an. Einige Artikel zur Vertheidigung dieser Verfassung, die er für die von Herm. Baumgarten redigirte, in Braunschweig erscheinende Reichszeitung schrieb; zwei Flugschriften über den Frieden mit Dänemark, im Juli und im Herbst 1849 verfaßt, die zweite nach einem Besuche der Herzogthümer; zwei Artikel der Göttinger gelehrten Anzeigen und daraus besonders abgedruckt, gegen die dänischen Publicisten Wegener und Velschow gerichtet (Gött. 1850 u. 1852), waren die letzten Ausläufer politischer Thätigkeit für lange Zeit.

Am 14. Juni 1849 begann W. seine Wirksamkeit in Göttingen mit einer dreistündigen Vorlesung: Einleitung in die deutsche Geschichte. Erst vom folgenden Winter an trat er in die volle Docententhätigkeit ein, die er dann ununterbrochen bis Michaelis 1875 fortgesetzt hat. Seine ersten Vorlesungen waren ein fünfstündiges Colleg über deutsche Geschichte und ein vierstündiges über Politik, die seit Roscher’s Weggang nicht mehr gelesen war und von ihm auf Rath von Collegen angekündigt wurde. In den folgenden Semestern traten hinzu: Geschichte des Mittelalters, neuere Geschichte Deutschlands und der deutschen Staaten seit der Mitte des 18. Jahrh., allgemeine Verfassungsgeschichte und [612] deutsche Alterthümer im Anschluß an Tacitus’ Germania. Später nach 1866 las er auch: deutsche Geschichte von 1815 bis 1865 oder, wie er nachher abgrenzte, von 1806 bis 1866. Zu öffentlichen Vorlesungen wählte er: Einleitung in die deutsche Geschichte und deutsche Geschichte im Reformationszeitalter. Die eigenartigste unter Waitz’ Vorlesungen war die über allgemeine Verfassungsgeschichte. Sie beschäftigte sich, das Alterthum nur in einer einleitenden Uebersicht berührend, mit der Verfassungsentwicklung der Völker, die besonders prägnante Bildungen des staatlichen Lebens hervorgebracht haben, und verfolgte sie und ihren Zusammenhang durch Mittelalter und Neuzeit. Es war das eine Vorlesung, um die andere Universitäten Göttingen beneiden durften; wiederholt ist W. der Wunsch nach Veröffentlichung kundgegeben worden. – Regelmäßig hielt W. jedes Semester zwei ordentliche Vorlesungen, eine früh um acht, eine nachmittags um vier Uhr. Seine Vorträge erfreuten sich eines lebhaften und fleißigen Besuchs. Er brachte es zuwege, daß auch Juristen wieder historische Vorlesungen hörten, nachdem es in dem Göttingen der vierziger Jahre dahin gekommen war, daß sich zu Vorlesungen über deutsche Rechtsgeschichte keine Zuhörer mehr fanden. „Nie hinreißend, waren seine Vorlesungen immer fesselnd“, hat einer seiner Zuhörer seine Art und Weise treffend charakterisirt. Sein Vortrag war der beste Lehrvortrag, den man hören konnte; reich an Inhalt, schlicht in der Form, wohlgeordnet, bestimmt in kurzen Sätzen vorgetragen. W. hatte ein schönes volles Organ, dessen Kraft in den Vorlesungen nicht hervortrat. Er sprach sehr gleichmäßig, und nur mitunter, bei innerer Bewegunng des Redners, gerieth die Stimme in ein leises Schwingen. Einzelne Eigenheiten des Dialekts waren bemerkbar. Obschon er detaillirt ausgearbeitete Hefte besaß, brauchte er auf dem Katheder nur kurze Aufzeichnungen über den Gang des Vortrags mit den nöthigen Quellencitaten und Litteraturangaben. Er stellte an den akademischen Vortrag die gewiß berechtigte Forderung, er müsse dem Zuhörer nicht bloß die Ergebnisse der Forschung bieten, sondern auch den mühsamen Weg zeigen, auf dem sie erlangt sind; etwas von dem Ernst der Wissenschaft kundgeben, nicht bloß eine Unterhaltung sein. Die penible Abwägung des Sichern und des bloß Wahrscheinlichen und der verschiedenen Grade der Wahrscheinlichkeit, auf die er in seinen Schriften so hohen Werth legte, ließ er in der Vorlesung mehr zurücktreten gegen eine abgerundete, feste Darstellung. Der Vortrag war rein sachlich, hielt sich fern von dem traditionellen akademischen Beiwerk, vermied das Persönliche, auch wo es zu polemisiren galt. Den größten Einfluß gewann W. durch seine historischen Uebungen, die er wöchentlich einmal, Freitag Abends 6 bis gegen 8 Uhr, als die Theilnehmerschaft stieg, in getrennten Abtheilungen zwei Mal hielt. Die Zahl der gleichzeitig Theilnehmenden ließ er nicht gern über zehn anwachsen. Er legte Schriftsteller wie Adam von Bremen, Widukind oder einzelne Urkunden wie die Constitutionen K. Friedrich’s II. von 1220 und 1232, Stellen der lex Salica, des Sachsenspiegels u. dgl. zur Interpretation vor; es wurden verfassungsgeschichtliche Fragen besprochen oder Quellenvergleichungen angestellt. W. nahm von den Arbeiten, die ihn gerade beschäftigten, Anlaß, den einen oder andern Punkt zur Debatte zu bringen, und es war bei ihm keine Redensart der Höflichkeit, wenn er versicherte, aus den Uebungen auch reiche Anregung für sich empfangen zu haben. Den größten Theil der Zeit nahmen die eigenen Arbeiten der Zuhörer in Anspruch. W. kritisirte sie genau, aber durchaus wohlwollend, mit liebevollem Eingehen in jedes Thema und die Individualität jedes Bearbeiters. Er vermied es Aufgaben zu stellen, wenn er auch gelegentlich auf untersuchungsbedürftige Gegenstände hinwies oder zu dem von dem Theilnehmer vorgeschlagenen Thema sich zustimmend oder abrathend äußerte. Er warnte stets vor zu früher Beschäftigung mit einer [613] einzelnen Forschungsaufgabe und verlangte zunächst vielseitige Ausbildung, insbesondere auch neben den historischen Studien rechts- und staatswissenschaftliche. Unter den Theilnehmern der Uebungen überwogen anfangs Philologen und Juristen, erst allmählich bildeten solche, die das Geschichtsstudium zu ihrem Hauptberuf machen wollten, einen größern Bestandtheil. 1867 zählte W. bei einer Dauer der Uebungen von reichlich dreißig Semestern im ganzen 145 Theilnehmer. Die Jahre bis 1875 brachten noch einen starken Zuwachs. Mustert man die Listen, so findet man eine große Zahl von Namen, die sich später schriftstellerisch hervorgethan haben, überwiegend im Gebiete der Geschichte des Mittelalters und hier mehr der Geschichtsforschung als der Darstellung zugewandt. Zahlreich sind Professoren der Geschichte aus ihrer Mitte hervorgegangen, auch nicht wenige Professoren der juristischen Facultät. Auch nachdem viele von Waitz’ Schülern jung oder im besten Mannesalter weggestorben sind, mögen gegenwärtig noch einige dreißig Professuren an deutschen Universitäten innehaben. Staats- und Stadtarchive, die großen wissenschaftlichen Unternehmungen der Monumenta, der Münchner Historischen Commission, des Vereins für hansische Geschichte haben aus ihren Reihen ihre besten Kräfte gewonnen. Die werthvollen Dissertationen, die aus den Uebungen hervorgingen, die große Zahl quellenkritischer Untersuchungen, zu denen sie W. selbst veranlaßten, verschafften den Uebungen einen großen Ruf, so daß Göttingen für mittelalterliche Historiker eine Zeit lang das Bildungscentrum war. Geschichtslehrer anderer Universitäten wiesen ihre Zuhörer an W.; wo es noch eine zusammenhangende landsmannschaftliche Gesinnung gab, wie unter den Deutschen der Ostseeprovinzen, zog einer den andern durch sein Beispiel nach sich. So wenig W. mit seinem nationalen oder religiösen Bekenntniß zurückhielt, so haben sich doch zahlreiche Katholiken zu seinen wärmsten Anhängern gezählt, und wie er selbst den französischen Gelehrten wie Benj. Guérard von seinem Pariser Aufenthalte her zeitlebens Dankbarkeit bewahrt und Guizot’s Arbeiten mit hoher Achtung genannt hat, sc haben auch Ausländer, namentlich Franzosen zu seinen Füßen gesessen, und Gabriel Monod hat in seinem schönen Nachrufe begeistert von seiner Studienzeit unter Waitzens Leitung berichtet. Die Uebungen hatten nichts von einem Seminar an sich, selbst der Name wurde vermieden. Es war nichts officielles dabei; es gab keine Preise, keine besondere Büchersammlung und Hülfsmittel. In Waitzens großem Studirzimmer um den runden Tisch vor seinem Sopha kamen die Theilnehmer zusammen. Alles beruhte auf der Gewährung durch den Lehrer und dem Maße von Fleiß und Begabung, das die Zuhörer mitbrachten. W. war durchaus nicht einseitig für die Ausbildung der Historiker auf diesem Wege eingenommen. Er wies selbst darauf hin, daß ihn weder Dahlmann noch Niebuhr noch Ranke gegangen seien, und wenn es auch das Bestreben des Lehrers sei „den jungen Kräften ein bischen Zucht, was man höflicher Methode nennt, beizubringen“, doch nicht Geist und Kunst der Geschichte und Geschichtschreibung gelehrt werden könne.

Der Thätigkeit in Vorlesungen und Uebungen ging eine reiche litterarische Wirksamkeit zur Seite. Der Zusammenhang mit der politischen Thätigkeit der letzten Jahre zeigt sich in dem ersten Thema, das W. in Angriff nahm: „Schleswig-Holsteins Geschichte in drei Büchern“ (2 Bde., Gött. 1851–54). Das Werk ist unvollendet geblieben; das dritte für die Zeit von 1660 ab bestimmte Buch ist nie geschrieben, weil W. nicht die Gelegenheit fand, die archivalischen Quellen zu benutzen, von deren Existenz und Wichtigkeit für den noch ausstehenden Theil er wußte. Die „Kurze Schleswig-Holsteinsche Landesgeschichte“ (Kiel 1864), bietet einen unvollkommenen Ersatz, denn das größere Buch, mag es auch ohne Citate und Quellenbelege erschienen sein, war eine gelehrte Arbeit, aus [614] den neueren urkundlichen und chronikalischen Publicationen der Deutschen und Dänen und vielfach aus Archivalien, die W. erst selbst gesammelt hatte, erwachsen. Die Nachforschung in den Archiven für die Zwecke dieses Buchs führte zur Entdeckung wichtigen Materials für die Geschichte einer Zeit, da der Versuch, die alten Tage der Hansa zu erneuern, mit den Bestrebungen der Reformation zusammentreffend Lübeck zum Mittelpunkte einer europäischen Verwicklung machte. Das Archiv zu Brüssel, die norddeutschen Archive, insbesondere das von Lübeck, die Publicationen von Paludan-Müller aus dänischen Archiven lieferten den Stoff, den W. in dem Werke: „Lübeck unter Jürgen Wullenwever und die europäische Politik“ (3 Bde., Berl. 1855–56) verwerthete. Eine Nachwirkung aus der Frankfurter Zeit, von der W. selbst bekennt, er habe in ihr auch für seine Wissenschaft mehr gelernt als in manchem Jahr gelehrter Arbeit, ist erkennbar in der Abhandlung: „Das Wesen des Bundesstaats“, zuerst erschienen in der (Kieler) Allgemeinen Monatsschrift für Wissenschaft und Litteratur 1853, wiederabgedruckt in den „Grundzügen der Politik“. Anknüpfend an die Arbeiten von Tocqueville, auf die Bunsen in Frankfurt die Parteifreunde zuerst aufmerksam gemacht hatte – auch Tocqueville selbst war vorübergehend in Frankfurt anwesend – fand er das Wesen des Bundesstaats in einer Theilung der staatlichen Aufgaben zwischen dem Centralstaat und den Gliedstaaten, die beide in ihrer Sphäre souveräne seien, eine Ansicht, die die wissenschaftliche Forschung von da ab beherrschte, bis die Praxis Nordamerikas und Deutschlands zu einer Revision des Begriffs führte. Wie W. bei Uebernahme des Collegs über Politik bemerkte, er werde es nur wesentlich historisch lesen können, so ist auch sein Buch: „Grundzüge der Politik nebst einzelnen Ausführungen“ (Kiel 1862), so wenig es sich auch in historische Begründungen einläßt, aus einer geschichtlichen Betrachtung seines Gegenstandes erwachsen. Mit maßvollem historischen Sinn sind die Lehrsätze aufgestellt, aber, wie schon damals eine Recension H. v. Treitschke’s hervorhob, mit feinem Verständniß für das Werden der Dinge auch das erkannt, was der niemals stillstehende Gang der Geschichte heraufführt. Neben diesen der politischen Geschichte gewidmeten Arbeiten nahm W. wieder auf, was einst seinen Ruhm in der wissenschaftlichen Welt begründet hatte, die Arbeit an der deutschen Verfassungsgeschichte. Außer kritischen Referaten über neuere Arbeiten dieses Gebiets, die er in mehreren Artikeln der Allgemeinen Monatsschrift 1854 erstattete, bildeten Vorläufer die in den Abhandlungen der königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen veröffentlichten Untersuchungen: über die altdeutsche Hufe (1854) und über Anfänge der Vasallität (1856). 1860 und 1861 erschienen dann der dritte und vierte Band der deutschen Verfassungsgeschichte, in denen die karolingische Zeit behandelt ist. Die Arbeit an den großen wissenschaftlichen Werken war fortdauernd begleitet von einer kritischen Thätigkeit in den Göttinger gelehrten Anzeigen und in der historischen von Sybel herausgegebenen Zeitschrift. W. war eine kampffrohe Natur. An Schmidt’s Zeitschrift hatte er einst auszusetzen, daß sie zuviel darstellende Arbeiten bringe. Bei Begründung der Historischen Zeitschrift im J. 1859 freute er sich nicht am wenigsten darauf, mit dem einen oder andern der Freunde über Fragen der Methode oder der Auffassung einen Strauß zu bestehen. Gleich das erste Heft brachte einen Aufsatz von ihm, der unter der Ueberschrift: Falsche Richtungen Front machte gegen den Dilettantismus, den falschen Conservatismus, das Entstellen der Wahrheit um der Partei willen. Aber bezeichnend für Waitzen objectives Wesen ist in dem ganzen Aufsatze kein Name als Vertreter einer der bekämpften Richtungen genannt. Der Kreis der Schriften, mit denen sich seine kritischen Referate beschäftigen, zeigt den weiten Umfang seines wissenschaftlichen [615] Interesses. Die neuern Erscheinungen im Gebiete der ältern deutschen und französischen Geschichte; die Vermehrung des Schatzes der mittelalterlichen Quellen durch Chroniken, Urkundenbücher und Regestensammlungen; nordische und norddeutsche Geschichte: alles das verfolgt er aufmerksam. Aber auch zahlreiche Erscheinungen der neuern Geschichte hat er besprochen; so namentlich Schriften über den dreißigjährigen Krieg, den zu bearbeiten sein früh gefaßter und lang festgehaltener Plan war, über die Theilungen Polens u. a. m. Besonders gern beschäftigte er sich mit Schriften über das Universitätswesen, seitdem er einst in Kiel einen ausführlichen Bericht über die Zustände der Universität und deren wünschenswerthe Verbesserung erstattet hatte. Waitz’ litterarische Kritiken erfreuten sich eines großen Ansehens. Vollständig vertraut mit dem geschichtlichen Material, namentlich dem stets anwachsenden Schatze mittelalterlicher Geschichtsquellen, und den zahlreichen kritischen Fragen, die sich daran knüpfen, war er im Stande, jeder neuen Erscheinung ihre rechte Stelle in der Wissenschaft anzuweisen. Wie er gewissenhaft in seinen Schriften die Arbeiten der Frühern, auch die unscheinbarsten berücksichtigte, so erhielt er sich durch Lectüre und Recensiren in genauster Kenntniß der Fortschritte der neuern Litteratur. Eine Schwäche entging ihm nicht leicht, und er wußte, daß unter Umständen das Schweigen ein Unrecht sein kann. Er verstand aber auch anzuerkennen, und der kleinste Beitrag, war er nur von echter Wissenschaftlichkeit erfüllt, fand bei ihm Beachtung. Man möchte wünschen, die lehrreichen Recensionen mit sonstigen kleinen Schriften des Verfassers in einer bequemer zugänglichen Gestalt benutzen zu können, als in den verschiedenen Jahrgängen gelehrter Zeitschriften.

Die Göttinger Jahre hatten W. zu einem der anerkanntesten Lehrer und Schriftsteller im Gebiete der deutschen Geschichte gemacht. Hatte er sich bei Uebernahme der Göttinger Professur gewünscht, im Geiste der alten großen Lehrer der Universität wirken zu können, so war es ihm gelungen, Göttingen wieder zu einem der ersten Sitze historischer Studien zu machen. Schon im December 1851 suchte ihn König Maximilian II. von Baiern durch den alten Freund Dönniges für München zu gewinnen. Aber W. blieb jetzt und später, als man in Tübingen nach Pauli’s Weggang an ihn dachte, Göttingen treu. Für manchen der Studirenden war Göttingen und W. identisch, und Monod erzählt, daß man im Kreise seiner Studiengenossen statt von Georgia Augusta von Georgia Waitzia gesprochen habe. Auch im Kreise seiner Collegen nahm W. einen der hervorragendsten Plätze ein, so viel ältere Mitglieder die Universität auch damals zählte. In der Gesellschaft der Wissenschaften, die ihn schon 1849 zum Mitgliede erwählte, war er bald einer der arbeitsamsten Genossen. Nach dem Tode Gieseler’s im Sommer 1854 wurde W. Vorsitzender des Verwaltungsraths der Wedekind’schen Preisstiftung für deutsche Geschichte. In beiden Stellungen hat W. sehr fruchtbar gewirkt, nach der wissenschaftlichen wie nach der administrativen Seite gleich tüchtig. In den Schriften der Societät hat er eine große Zahl werthvoller Abhandlungen und Aufsätze veröffentlicht und hier wie in der Wedekindstiftung durch Stellung von Aufgaben anregend wie durch die sachkundige und gerechte Beurtheilung der Bewerbungsschriften und Zuerkennung der Preise fördernd gewirkt. Von früh auf ein Freund der Bücher und des Bücherwesens, hat er der Göttinger Bibliothek seine Theilnahme zugewandt und ihre Interessen nach Kräften vertreten. In der Selbstverwaltung der Universität war W. eine überaus geschätzte Kraft, ein Mann, der zu arbeiten liebte und zu arbeiten verstand, selbst aufmerksam war und aufmerksam controllirte. Viermal wurde er durch das Vertrauen seiner Collegen zur Führung des Prorectorats (Rectorats) berufen, zuerst 1857–59, dann wieder in der besonders schwierigen Zeit 1866 bis 1868. Sein Aeußeres, die Kraft seiner Rede, seine geschickte Feder machten [616] ihn zum gewiesenen Repräsentanten der Corporation. Wo es Adressen zu redigiren, Ansprachen zu halten galt, lenkte sich der Blick auf ihn. Diese autoritative Stellung war man auch auswärts anzuerkennen bereit. Im Sommer 1865 wurde er von Göttingen zum Wiener Universitätsjubiläum, 1872 nach Straßburg zur Einweihungsfeier entsandt; beide Mal erwählten ihn die Vertreter der deutschen Universitäten zu ihrem Sprecher. Als König Maximilian von Baiern 1859 die historische Commission bei der Akademie zu München schuf, wurde W. zur begründenden Versammlung eingeladen und im nächsten Jahre zum Mitglied ernannt. Er versäumte keine der Jahresversammlungen, betheiligte sich lebhaft an den Berathungen und der Führung der Geschäfte und hatte nicht bloß für sein eigenes Ressort Interesse, sondern für alle Arbeitszweige der Commission. So hat er z. B. über jeden Band der Städtechroniken alsbald nach seinem Erscheinen eingehend in der Historischen Zeitschrift berichtet. Auch als er später die Direction der Monumenta übernahm, verringerte sich seine Theilnahme für die Arbeiten der historischen Commission nicht, war er vielmehr auf steten Zusammenhang zwischen beiden Unternehmungen bedacht. Als besondere Aufgabe war ihm die Leitung des neuen von der Commission geschaffenen Organs, der Forschungen zur deutschen Geschichte, überwiesen. Vom Jahre 1862 bis 1886 sind 26 Bände dieser Zeitschrift erschienen, die sich sofort einen der angesehensten Plätze in der deutschen Geschichtslitteratur erwarb und bis zuletzt behauptete. Wie sein Aufsatz über den Kampf der Burgunder und Hunnen, den historischen Hintergrund des Nibelungenliedes, sie eröffnete, so weisen alle Bände Beiträge von seiner Hand auf. Mit den Gedächtnißworten Giesebrecht’s auf W. schließt die Zeitschrift ab. Für die „Jahrbücher der deutschen Geschichte“ bearbeitete er 1863 seinen König Heinrich I. neu und hatte die Freude eine dritte Ausgabe zur fünfzigjährigen Jubelfeier des Buchs 1885 Ranke überreichen zu können. Wie er hier zu einer Arbeit seiner jungen Jahre zurückgekehrt war, so hat er auch fortgesetzt den Zusammenhang mit den Monumenten aufrecht erhalten und in der Kieler wie in der Göttinger Zeit einzelne früher von ihm vorbereitete Schriftsteller zur Veröffentlichung gebracht, ebenso wie er auch von Göttingen aus noch die Urkundensammlung seiner Heimat durch eine Fortsetzung gefördert hat. Ueberblickt man diese ganze Thätigkeit, so wird man von Bewunderung vor dieser grandiosen Arbeitskraft erfüllt. Dabei war W. nicht etwa einer von den Gelehrten, die weltfremd in ihrer Studirstube leben. Schon wer ihn hier aufsuchte, fand nicht einen grämlichen Professor, den es verdrießt in seiner Arbeit gestört zu werden. Man traf ihn stets am Schreibtisch, aber jedem seiner Schüler, der mit einem ernsten Anliegen an ihn kam und, sei es auch nur um das Cavet für die Leihscheine der Bibliothek zu erbitten, begegnete er mit Freundlichkeit, war er mit Rath und That behülflich. Bei aller äußern Kühle doch eine warmherzige Natur, an dem Leben im Großen wie im Kleinen theilnehmend. Haupt einer zahlreichen Familie – nach dem Tode seiner ersten Frau im Herbst 1857 hatte er sich im Sommer 1861 mit der jüngsten Tochter des Generals v. Hartmann in Hannover wiederverheirathet – war er voll liebevoller Fürsorge für jedes der Seinen. An der Geselligkeit der Universitätskreise betheiligte er sich lebhaft. Nicht blos den Gang der politischen Ereignisse, auch die Entwickelung der schönen Litteratur verfolgte er mit regem Interesse. Einen Beweis liefert sein Buch „Caroline“ (2 Bde., 1871) und dessen Ergänzung: „Caroline und ihre Freunde“ (1882). Zwanzig Jahre hatte er an den Briefen gesammelt, deren Originale sich im Schelling’schen Nachlasse, in der Gotter’schen Familie in Gotha, in dem Nachlasse A. W. Schlegel’s erhalten hatten, und dadurch ein viel vortheilhafteres Bild der geistvollen Frau (s. A. D. B. XXXI, 3) gewonnen, als bis dahin üblich war. Das bewog ihn zu seiner Publication, durch [617] die er, der so viele Geschichtsquellen der ernsten Wissenschaft erschlossen hatte, auch die schöne Litteratur um ein werthvolles, alsbald das größte Interesse erregendes Besitzthum bereicherte. Das Räthsel, daß ein Mann allen diesen Aufgaben gerecht werden konnte, löste sein Ausspruch: er habe sich niemals übermäßig angestrengt, sei nur anhaltend in seiner Arbeit gewesen. Durch die ernste und consequente Arbeit seiner Jugend hatte er einen Fonds gründlichsten Wissens gesammelt, in den sich alles Neue leicht einordnete, der alles Neue leicht nach seinem Werth oder Unwerth zu schätzen befähigte. Dabei verstand er die große Kunst, jeden Augenblick auszukaufen. Als er sich von seinen Eltern vor dem Eintritt bei den Monumenten verabschiedete, benutzte er die Zeit, um die Handschriften der Bibliothek und des Archivs in Kopenhagen zu untersuchen. Während des Frankfurter Parlaments fand er die Muße, für das schleswig-holsteinsche Urkundenbuch die Urkunden für den Druck zu revidiren.

Die an den Tod König Friedrich VII. von Dänemark (15. Nov. 1863) sich knüpfende Bewegung rief den alten Kämpfer für Schleswig-Holsteins Recht und Ehre aufs neue ins Feld. Mit Wort und Schrift trat er für die Sache seiner Heimath ein. In einer Volksversammlung zu Göttingen im December, auf der großen Landesversammlung zu Hannover am 10. Januar 1864 war er der Redner, der die vorgelegten Resolutionen begründete. Die dem Druck übergebene Göttinger Rede, eine auch ins Dänische übersetzte Flugschrift: Das Recht des Herzogs Friedrich von Schleswig-Holstein, eine fortlaufende Betrachtung: über die gegenwärtige Lage der schleswig-holsteinschen Angelegenheit im April- und Maiheft der Preußischen Jahrbücher von 1864 ermahnten immer und immer wieder Regierungen und Volk die Gelegenheit wahrzunehmen und das Recht, das klare Recht zur Geltung zu bringen. In kurzen markigen Sätzen legte die genannte Flugschrift das Recht des Herzogs dar und faßte alles in den Worten zusammen: nie sind das Recht des Fürsten und das Recht und der Wille des Volkes besser in Einklang gewesen als in dieser Sache. Auf ihrer Vereinigung beruht aller Halt staatlicher Ordnung. Als die früher schon einmal vorgetragenen Erbansprüche Preußens auf die Herzogthümer aufs neue in Zeitungsartikeln angepriesen wurden, ließ er die 1846 gegen Helwing’s Schrift gerichtete Recension wörtlich wieder abdrucken; und als darauf Helwing in einer besonderen neuen Schrift antwortete, eine kurze und schlagende Widerlegung in Aegidi’s Zeitschrift für deutsches Staatsrecht (1867) erscheinen. Um eine rasche und gedrängte Belehrung über die historischen Verhältnisse der Herzogthümer zu geben, schrieb er die „Kurze schleswig-holsteinsche Landesgeschichte“ (Kiel 1864). So erfreut er über die Befreiung der Herzogthümer von der dänischen Herrschaft war, die Behandlung der Rechtsfrage schmerzte ihn tief. Er hatte keine feudale Ader, wie damals Ranke meinte; und er verkannte nicht, daß ein neu in Selbständigkeit erstehendes Schleswig-Holstein sich in den gewichtigsten Beziehungen dem preußischen Staate anschließen mußte, aber mit der dem Recht widerstreitenden Annexion vermochte er sich nicht zu befreunden. W. war so bundesstaatlich gesinnt wie ehedem, nur daß die Wendung, die die preußische Politik seit Jahren genommen hatte, ihn Oesterreich mehr als früher angenähert hatte. Als zu Anfang der sechziger Jahre die Parteien aufs neue mit ihren Programmen hervortraten, meinte er, wenn er überhaupt etwas unterschriebe, würde er die Erklärung Heinrich’s v. Gagern unterschreiben, der auf dem Abgeordnetentage in Weimar, September 1862, sich für eine durch Oesterreich und Preußen zu bildende Centralgewalt ausgesprochen hatte. Die Verfassung des Frankfurter Fürstentages beurtheilte er durchaus nicht so abfällig wie andere Politiker. Danach wird seine Haltung gegenüber den Ereignissen von 1866 erklärlich. Das Einrücken der preußischen Truppen in Göttingen, die Auflösung des hannoverschen [618] Staats, dessen Mängel ihm nicht verborgen waren, erfüllten ihn mit Trauer. Ununterbrochen fortgesetzte Arbeit brachte ihn über die schweren Tage hinweg. Von aller Theilnahme an welfischen Demonstrationen blieb er fern; für den Gedanken an eine Restauration war er nicht zu haben. Erst das Kriegsjahr 1870 bewirkte eine Wiederannäherung an die politischen Zustände der Gegenwart. Freudig folgte er den Siegen des deutschen Heeres, in dem seine Landsleute, seine Verwandten, seine Schüler fochten. Wie hätte das Herz des Mannes, der schon vor Jahren in seinen Vorlesungen gesagt hatte: wir dürfen die Stammesgenossen im Elsaß nicht zu lange warten lassen, nicht höher schlagen sollen, als Straßburg wiedergewonnen wurde, als Metz fiel! „Wir leben in einem Heroenzeitalter“, leitete er damals einen Toast bei einem akademischen Abschiedsmahle ein. Er verfaßte die Adresse, welche die Universität im Februar 1871 an den Kaiser nach Versailles richtete, und hielt die Ansprache an die Studirenden bei dem Feste der Universität für ihre aus dem Felde heimkehrenden Mitglieder im Juli 1871. Aber bezeichnend sprach er in jener Adresse neben der hohen Freude der Universität über die Wiederherstellung eines deutschen Reichs auch die Hoffnung aus auf die Heilung der Wunden, auf die Versöhnung des alten Zwiespalts zwischen dem Streben nach Einheit und nach Selbständigkeit der Stämme und Landschaften. Auch an dem Einweihungstage der Universität Straßburg, den er als einen Tag pries, dessen gleichen die Geschichte unserer deutschen Universitäten, ja des deutschen Volkes nicht gesehen, schloß seine Rede mit dem Wunsche, die neue Hochschule möge ihre Wirksamkeit nicht blos über die ausbreiten, welche der deutschen Zunge angehören, sondern auch ihre Friedenshand zu den Nachbarvölkern ausstrecken, mit denen wir in gemeinsamer Thätigkeit für Bildung und Humanität verbunden sind.

Die Wiederaufrichtung des Reichs führte für W. eine durchgreifende Aenderung seiner ganzen Lebensstellung herbei. Das Unternehmen der Monumenta Germaniae historica bedurfte dringend einer Reform. Seit Auflösung des Deutschen Bundes war seine materielle Unterlage unsicher geworden, mit dem Altern seines Leiters Pertz hatte die wissenschaftliche Führung ihre Kraft und ihr altes Ansehn verloren. Als man zu einer neuen Organisation schritt und das Reich sich mit Oesterreich zur Dotirung verband, war in den Kreisen der Sachverständigen nur eine Stimme darüber vorhanden, wer an die Spitze des neugestalteten Unternehmens zu rufen sei. Neben seiner Meisterstellung in der Wissenschaft und seinem organisatorischen Talent war der Umstand entscheidend, daß W. die alten freundschaftlichen Beziehungen zu Pertz bewahrt und, wenn auch ohne Antheil an der Leitung, allein unter allen Mitarbeitern nie aufgehört hatte, für die Monumenta thätig zu sein. So war er der rechte Mann, die Brücke von dem Alten zum Neuen zu schlagen. Für den Vorsitzenden der neuen Centraldirection verlangte aber das neue vom Bundesrath genehmigte Statut, daß er seinen Wohnsitz in Berlin habe. Nachdem W. schon für das Wintersemester 1875/76 Urlaub erhalten hatte, um die ihm übertragenen Functionen zu übernehmen, schied er mit dem 1. Januar 1876 aus seiner Göttinger Stellung aus. In Berlin, wohin man ihn schon 1870 und aufs neue 1872 und zwar als Professor zu berufen beabsichtigt hatte, hat er zwar anfangs noch Uebungen gehalten, nicht aber gelesen, wenn er auch als Mitglied der Akademie dazu berechtigt gewesen wäre. Länger als dreißig Jahre hatte er auf dem Katheder gestanden. Daß er in rüstigster Kraft, noch nicht 65 Jahr alt, das Lehramt aufgab, erklärte er den verwundert Fragenden damit, daß er nichts so sehr scheue, als ein alter Professor zu werden. Als er am 6. Juli 1876, von dem ehemaligen Göttinger Collegen E. Curtius begrüßt, seine Antrittsrede in der Akademie hielt, bezeichnete er zweierlei als seine Aufgabe: Die Monumente und [619] die deutsche Verfassungsgeschichte. Der Vorsitz in der neuen Centraldirection galt ihm nicht bloß als eine Verwaltungsstelle; er erkannte darin die Aufforderung, zu den Beschäftigungen zurückzukehren, die zwar nie ganz aufgegeben waren, aber doch seit Jahren hinter andern zurückgestanden hatten. Er wandte aufs neue eine angestrengte und consequente Thätigkeit an die kritische Edition von Geschichtsquellen und allem, was zur Vorbereitung und Ausführung erforderlich war. Im Frühjahr 1876 machte er eine mehrmonatliche Reise nach Rom, Neapel und Monte Cassino. Im August 1877 ging er mit Reinhold Pauli nach England, arbeitete im Britischen Museum, in der Bibliothek des Sir Thomas Philips in Cheltenham und in Oxford, wo er in der Bodleyana das Original der Pöhlder Annalen fand. Obschon W. zum ersten Mal nach England kam, gönnte er sich doch wenig Zeit für Land und Leute, sondern arbeitete angestrengt, wobei ihm Pauli mit seiner Kenntniß aller englischen Verhältnisse hülfreich zur Seite stand. Nach Mitte September reiste W. von England nach Paris, dessen Bibliotheken ihm altbekannt, aber doch jetzt und erneut im Herbst 1880 noch immer ungehobene Schätze darboten. In den letzten Jahren beschäftigte ihn besonders die Entstehung und Zusammensetzung des Liber pontificalis, der amtlichen Geschichte der Päpste. Hauptsächlich im Interesse dieser Edition suchte er im April 1884 aufs neue Italien auf, nachdem er schon im Herbst zuvor gelegentlich einer Erholungsreise Handschriften in Mailand und Verona verglichen hatte. Vier Wochen arbeitete er in der Vaticana, froh der erleichterten Benutzungsweise und der verlängerten Arbeitszeit, mit einem Fleiß und einer Ausdauer, die alle in Erstaunen setzte. Im Frühjahr 1885 untersuchte er in Kopenhagen die Handschriften der dänischen Geschichtsschreiber in der königlichen und der Universitätsbibliothek. Die Resultate dieser Vorarbeiten legte W. im „Neuen Archiv“ in der Form von Reiseberichten, Handschriftenbeschreibungen, Quellenuntersuchungen nieder. Diesen Vorbereitungen entsprach dann auch der Erfolg. Die Monumenta nahmen unter Waitz’ Leitung einen neuen Aufschwung. Für die Direction der einzelnen Abtheilungen traten ihm die sachkundigsten Männer zur Seite, die gleich ihm nicht blos leiteten, sondern auch eifrig mitarbeiteten. W. selbst hatte den Hauptteil des Ganzen, die Scriptores, übernommen. Davon erschienen in den Jahren seiner Direction zehn Bände, fast jedes Jahr ein starker Band: von der Folioausgabe die Bände 24 bis 27, die die staufische und ältere habsburgische Periode weiterführten, und die zu Nachträgen der ersten Bände bestimmten Bde. 13–15; von der neuen in Quart edirten Serie drei Bände. W. selbst hatte von den großen und kleinen Chroniken, die die drei Nachtragsbände füllen, eine erkleckliche Zahl, namentlich aber die wichtige, einst schon von Bethmann und Pertz vorbereitete Ausgabe des Paulus Diakonus und anderer langobardischer Geschichtsquellen in einem Bande der neuen Quartausgabe (1878) bearbeitet. Erst nach Waitz’ Tode erschienen in Bd. 29 (1891) die von ihm herausgegebenen Auszüge aus dänischen Geschichtsschreibern. Eine besondere Aufmerksamkeit wandte die neue Direction den Handausgaben der Scriptores zu. Früher nur dürftig als Schulausgaben ausgestattet, alles gelehrten Apparats entbehrend, wurden sie jetzt in wissenschaftlich brauchbarer Gestalt publicirt, ohne ihre alte Handlichkeit zu verlieren. Von den 15 neuen Octavausgaben hat W. selbst zehn bearbeitet und sie dazu benutzt, wo die Texte der Monumente inzwischen veraltet waren, bessere an die Stelle zu setzen und der Forschung zugänglich zu machen. Mit Genugthuung konnte W. in seinen alljährlich erstatteten Berichten den gedeihlichen Fortgang der Arbeiten auch in den übrigen Abtheilungen des großen Unternehmens constatiren. Die unüberlegten Angriffe, die O. Lorenz alsbald nach Waitz’ Tode gegen seine Editions- und Redactionsweise richtete, wurden scharf und [620] schlagend von Weiland, Wattenbach und Holder-Egger zurückgewiesen. Eine Anfrage des Bundesrathes nach Aussichten auf den Abschluß des Werkes beantwortete ein Bericht von W. vom 28. November 1884 würdig dahin, daß bei Schaffung der neuen Organisation nicht bloß eine vorübergehende Bewilligung von Geldmitteln beabsichtigt sein könne, sondern die Begründung einer dauernden und wesentlichen, den schriftlichen Denkmälern der älteren deutschen Geschichte gewidmeten Institution des Deutschen Reiches. Die zweite Aufgabe, die Weiterführung der deutschen Verfassungsgeschichte, gelang ihm bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. Schon in der Göttinger Zeit war mit dem V. und VI. Band (1874 und 1875) die Darstellung der Reichsverfassung seit der Mitte des 9. Jahrhunderts begonnen. Die Bände VII und VIII (1876 und 1878) brachten die noch fehlenden Theile der Verfassung in der bezeichneten Periode. Zugleich wurden neue Auflagen der früheren Bände nöthig. Die beiden ersten Bände, schon 1865 und 1870 neu aufgelegt, erfuhren 1880 und 1882 eine dritte Auflage, die Bände III und IV eine zweite 1883 und 1885. Diese neuen Auflagen zeugten alle davon, wie der Verfasser fortgesetzt sein Buch unter seiner Pflege hielt, wie er gewissenhaft jede Vermehrung aus neuen Quellenpublicationen nachtrug und zu jeder neuen Bearbeitung des Stoffes Stellung nahm. Aus seinem Nachlasse hat auf Grund seines Handexemplars eine bereicherte Ausgabe von Band V durch Prof. Zeumer veröffentlicht werden können. Eine vollständige deutsche Verfassungsgeschichte in dem Sinne der Waitz’schen Arbeit zu schaffen, lag über die Kraft eines Menschen hinaus. W. mußte sich zufrieden geben, eine Darstellung der staatlichen Verhältnisse des deutschen Volkes in der älteren Zeit geliefert und mit dem Ziel, bis zu dem er vorgedrungen, einen gewissen Abschluß erreicht zu haben. Für eine bisher von den Rechtshistorikern völlig vernachlässigte Periode war hier das in Chroniken und hunderten von Urkundensammlungen zerstreute Material möglichst vollständig gesammelt und zu einem Aufbau verwandt, der, mochte er sich oft mit bloßen Umrissen begnügen müssen, zum ersten Male unternommen wurde. Neben diesem großen Werke liefen in gewohnter Weise Abhandlungen her, die in der Berliner Akademie gelesen wurden, Recensionen in der Historischen Zeitschrift, Aufsätze für die Forschungen. Für die Allgem. Deutsche Biographie schrieb er eine große Anzahl werthvoller Artikel, theils aus seinem mittelalterlichen Arbeitsgebiete, theils aus der nordischen Geschichte, dann aber auch zur neueren Geschichte Hannovers oder zur Erinnerung an Männer, die ihm im Leben nahe gestanden hatten (Georg Julius v. Hartmann, Hirsch, Junghans, Knust). Am 13. Mai 1885 hielt er in der Aula zu Kiel die Gedächtnißrede für Dahlmann, die reich an einzelnen Mittheilungen aus seinem persönlichen Verkehr mit dem Gefeierten ist. Begeistert sprach er von dem Reich und seinem glorreichen Kaiser; wer sich ihrer erfreue, solle Dahlmann’s in hohen Ehren gedenken. „Wer hätte nicht gewünscht, es wäre ihm vergönnt gewesen, die deutsche Flagge auf mächtigen Kriegsschiffen wehen zu sehen, die unsere Küsten schützen und Deutschlands Namen an den entferntesten Gestaden anderer Erdtheile zu Ehren bringen“. Wenige Wochen zuvor, als der 70. Geburtstag des Fürsten Bismarck gefeiert wurde, hatte W. ihm im Auftrage der Centraldirection der Monumente die ehrfurchtsvollsten Glückwünsche dargebracht, und sich gefreut, in der Halle des Reichskanzlers die Studenten, Burschenschaften und Corps, einen der ersten Plätze einnehmen zu sehen. Die glänzende Staatskunst des Reichskanzlers hatte ihn, wie er einst gegen einen französischen Zuhörer äußerte, zu einem jugendlichen Enthusiasten für Bismarck gemacht. Wenn er sich gleichwohl nicht an der Adresse betheiligt hat, welche die Glieder der alten erbkaiserlichen Partei dem Fürsten bei jener Gelegenheit übersandten, so hielt ihn seine principielle Abneigung gegen [621] Adressen zurück und der Umstand, daß einem Theil des von seinem Freunde Max Duncker herrührenden Entwurfs seine, namentlich zu Anfang in Frankfurt eingenommene, Stellung nicht entsprach; seine Befriedigung und Freude über das wenngleich auf anderen Wegen erreichte Ziel erklärte er aber ausdrücklich in dem ablehnenden Schreiben.

Ein Mann, dem Ranke schon 1844 gesagt hatte: was Sie auch unternehmen, ich bin sicher, es wird immer trefflich ausfallen, und dessen Unentbehrlichkeit bei einer Berathung in München er zwanzig Jahre später nicht bloß mit der Geltung seines Wortes im Kreise der Fachgenossen, sondern auch mit dem Gewicht seines Namens in der Nation motivirt hatte, bedurfte der äußeren Ehren und Anerkennungen nicht. Aber sie haben seinem Wirken nicht gefehlt. Schon 1860 bei dem Jubiläum der Berliner Universität war er deren juristischer, 1874 bei der Jubelfeier der historischen Uebungen Ehrendoctor der Theologie in Göttingen geworden. 1871 wurde ihm der bairische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst verliehen. 1874 zum Geheimen Regierungsrath ernannt, wurde er 1885 stimmführender Ritter des Ordens pour le mérite. So hoch er auch im Leben stieg, seine schlichte Natur blieb dadurch unberührt. Es war nichts pomphaftes, nichts gemachtes an ihm. In einer Zeit aufgewachsen, die ihre Aufgaben noch ohne viel Aufhebens und Zeitungsgeräusch löste, konnte er sich auch im späteren Leben an seinem stillen, aber darum nicht weniger erfolgreichen Wirken genügen lassen. W. war von imponirender Gestalt, hoch und breit gewachsen, von raschem und energischem Gang; das Gesicht war blaß und voll, die sehr kurzsichtigen Augen klein und tiefliegend, ihr Blick ruhig und durchdringend. Die Abbildungen geben zu sehr den Eindruck der letzten Lebensjahre wieder, in denen das Gesicht sehr abgemagert war. Von ungemein kräftiger Constitution, erfreute er sich bis zuletzt vollster körperlicher Rüstigkeit und geistiger Frische. Er war nie ernstlich krank gewesen. Die ersten Anzeichen der verfallenden Kraft zeigten sich im Winter 1885 auf 1886. Am 1. April las er noch in der Akademie eine Abhandlung über die Bedeutung des Mundium im deutschen Recht. In den Tagen des 13.–15. April leitete er, wenngleich unter großer Anstrengung, die Plenarversammlung der Centraldirection. Der Bericht, den er darüber erstattete, war seine letzte Arbeit. W. starb in der zwölften Stunde des 24. Mai. Der Arzt constatirte Anämie des Gehirns als Todesursache. Es fehlten wenige Wochen bis zu Waitz’ fünfzigjährigem Doctorjubiläum, zu dessen Feier sich schon seine Schüler und seine Freunde gerüstet hatten. Die ihm zugedachte Festschrift, aus 28 Beiträgen seiner Zuhörer bestehend, erschien im Herbst, von L. Weiland bevorwortet, als „Historische Aufsätze zum Andenken an G. Waitz“. Auch zwei seiner französischen Schüler, G. Monod und M. Thevenin, weihten die ihm zum Jubiläum bestimmten Abhandlungen seinem Andenken. An die Stelle des von Freunden und Schülern, die sich schon bei seinem siebzigsten Geburtstage zur Stiftung seines von L. Knaus gemalten Porträts vereinigt hatten, beabsichtigten Ehrengeschenks trat eine von F. Hartzer ausgeführte Marmorbüste Waitz’, die in den Tagen des Göttinger Universitätsjubiläums von 1887 im großen historischen Saale der Bibliothek, dem Heroon, wie ihn der Minister von Goßler damals genannt hat, aufgestellt wurde. In dankbarer Erinnerung an die Förderung, welche die Geschichte seiner Stadt durch W. erfahren, hatte sich der Senat von Lübeck mit einem namhaften Beitrage bei dieser Widmung betheiligt. Eine hansische Ehrung nicht minder würdiger Art war es, wenn der Bremer Senat eine Spende edelsten Rheinweins aus seinem Rathskeller dem Altmeister Ranke und W. zur Stärkung auf ihrem Krankenlager überreichen ließ.

Ein großer Gelehrter war mit ihm heimgegangen, ein Meister im Gebiete der [622] Geschichtsforschung. Sein halbes Leben hat er in selbstverleugnender Arbeit an die Quellen der deutschen Geschichte gewandt. Ihr Verhältniß zueinander, ihre Herkunft, die Selbständigkeit und Zuverlässigkeit ihres Inhalts zu bestimmen, sie in getreuen und brauchbaren Ausgaben herzustellen, war ein Verdienst für Gegenwart und Nachwelt zugleich. Er hat sich nicht an der Kritik der von alters her überlieferten Quellen genügen lassen. Nicht wenige hat er aus dem Dunkel hervorgezogen, in das rechte Licht gesetzt, ihre von der herrschenden Kritik verkannte Echtheit gerettet. Es genügt an das Carmen de bello saxonico zu erinnern, dessen Untersuchung in den Uebungen zur Wiederanerkennung des Ligurinus führte; oder an die Herausgabe der Lebensbeschreibung des Herzogs Knud Laward von Schleswig und der Schrift de praerogativa Romani imperii des Osnabrücker Scholasters Jordanus (Abhdlgn. der Gött. Ges. der Wiss. aus den J. 1870, 1858, 1868). Von der Nothwendigkeit eines tüchtigen Handwerkszeugs für den geschichtlichen Arbeiter überzeugt, gestaltete er die einst von Dahlmann als Grundriß für seine Vorlesungen über deutsche Geschichte bestimmte Schrift von wenigen Bogen zu einem stattlichen Bande um, der Dahlmann-Waitz’schen Quellenkunde, die eine reichhaltige und wohlgeordnete Uebersicht über die Quellen und Bearbeitungen der deutschen Geschichte gewährt: ein Buch, das sich so nützlich erwiesen hat, daß nach 1869 bei Waitz’ Lebzeiten noch zwei neue, die Aufgabe immer erweiternde Auflagen (1874 und 1883) erforderlich geworden sind und E. Steindorff in einer 6. Auflage (1894) das Werk auf dem gleichen Wege weitergeführt hat. So unbestritten Waitz’ Meisterschaft im Gebiete der Geschichtsforschung dasteht, so mancherlei Angriffe hat seine Thätigkeit als Geschichtsschreiber erfahren. Man wirft der Verfassungsgeschichte vor, daß ihre Darstellungen nicht bestimmt, nicht greifbar, nicht zusammenhängend genug die Vorgänge oder Zustände der Vergangenheit zur Anschauung brächten. So unsicher, so fließend, wendet man ein, können die staatlichen Verhältnisse nicht gewesen sein. Der Tadel übersieht, daß das Maß bei der Festigkeit und Bestimmtheit, das für die öffentlichen Ordnungen heute verlangt wird, nicht im deutschen Mittelalter gefordert wurde. Das feste Knochengerüst der Gesetze fehlte ganzen Jahrhunderten, und in Zeiten, da es vorhanden war, trennte eine weite Kluft das Leben und das geschriebene Gesetz. Eben das staatliche Leben, nicht den Inhalt der Gesetze darzustellen war aber die Aufgabe. Jener Vorwurf führt auf einen Grundzug in Waitz’ wissenschaftlicher Natur. Es widerstrebte ihm, mehr zu sagen, als die Quellen gestatteten. Möglicherweise waren die Einrichtungen bestimmter, zusammenhängender, durchgreifender. Aber die hinterlassenen directen und indirecten Zeugnisse lassen ein Mehr an sicherer Behauptung nicht zu. Was darüber ist, beruht auf Muthmaßung, Wahrscheinlichkeit, Combination. Wo W. nicht ganz auf sie verzichtet, trägt er sie mit einschränkenden Zusätzen, Partikeln u. dgl. vor. Er weiß wol, daß er dadurch die Kraft der Darstellung schwächt. Aber ist sie, fragt er, oder die geschichtliche Wahrheit das Höchste? Er zog einen unvollständigen Bau einem Bau von zweifelhafter oder gar trügerischer Vollständigkeit vor. Wer wie er so manche glänzende Combination, und darunter Combinationen, die dreißig Jahre und länger die Wissenschaft beherrschten, hatte zusammenstürzen sehen und selbst an dem Sturze mitgeholfen, hielt es wissenschaftlich für gebotener, festzustellen, was man wisse und was man nicht wisse, als die Brücke zu schlagen zwischen beiden Gebieten durch Rückschlüsse aus der nachfolgenden Entwicklung, durch Folgerungen aus dem rechtlich oder wirthschaftlich Möglichen, aus dem Zweck eines Instituts. Es ist ein Gegensatz der Methoden, wie er in der verschiedenen Beurtheilung der ältesten agrarischen Verhältnisse durch W. und durch G. Hanssen, wie er nachher in der Polemik mit Roth über die Entstehung [623] des Lehnswesens hervortritt. Studien auf dem Gebiet der deutschen Rechtsgeschichte haben W. von früh auf beschäftigt. Homeyer, dem er zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum eine kleine Schrift: „Urkunden zur deutschen Verfassungsgeschichte“ (Kiel 1871) überreichte, verehrte er als den Lehrer, der ihn in das Studium des deutschen Rechts eingeführt hatte. Er schwankte wol eine Zeit lang, ob er sich nicht berufsmäßig der deutschen Rechtsgeschichte, oder, wie er es nachher bei seinem Eintritt in die Berliner Akademie ausdrückte, ob er sich der deutschen Geschichte oder dem deutschen Recht vorzugsweise zuwenden solle, denn davon, daß beide sich in Wahrheit nicht trennen lassen, sei er schon damals wie heute überzeugt gewesen. Aufmerksam verfolgte er die germanistische Litteratur und von seiner Ausgabe der lex Salica an hat er einer Anzahl deutscher Rechtsaufzeichnungen kritische Untersuchungen gewidmet. Seine Vorliebe für rechtsgeschichtliche Studien bezog sich aber jederzeit mehr auf den Stoff als die Methode der Germanisten, und aus ihrem Arbeitsfelde war es das öffentliche Recht und der unter seinem Einfluß stehende Theil des Privatrechts, was ihn anzog. Hier hat er nach zwei Seiten gewirkt, er hat, um Sohm’s Worte zu gebrauchen, „mit den früheren Forschungen abgeschlossen und neue Wege gebahnt“. Wie leicht erklärlich, hier nicht gleich erfolgreich wie dort. So, um nur einiges hervorzuheben, hat seine Auffassung des deutschen Königthums als einer wesentlich aus germanischer Grundlage erwachsenen Institution gegen die Sybel’s, der sie auf Einwirkung des fremden Rechts zurückführen wollte, die Oberhand gewonnen. Waitz’ Ansicht dagegen, daß den Deutschen von jeher Privateigenthum am Ackerlande bekannt gewesen sei, hat der gemeinsamen Opposition der Juristen und Nationalökonomen nicht Stand halten können. So siegreich die Verfassungsgeschichte die Aufstellungen von Savigny über die ständischen Verhältnisse, die von Eichhorn über die Bedeutung des Gefolgwesens als des treibenden Moments in der Völkerwanderung, den neuen Reichsgründungen und dem ganzen Feudalwesen, widerlegt hat, so sehr ist ihre eigene positive Begründung des Lehnswesens durch Paul Roth wirksam angegriffen worden. Grade hier hat sich am stärksten der Gegensatz der Methoden offenbart, die des Juristen, die scharfe Unterscheidungen statuirt, bewußtes staatliches Eingreifen annimmt, wo der Historiker alles sich allmählich entwickeln läßt. Eine Ausgleichung zwischen diesen Gegensätzen war nicht möglich. So gewissenhaft W. auch in den nachfolgenden Auflagen seines Buches die neuen Untersuchungen berücksichtigte, völlige Umarbeitungen vornahm, die Resultate blieben im ganzen dieselben wie früher. Konnte er mit Brunner’s Untersuchungen in allem wesentlichen übereinstimmen und sich ihre Ergebnisse dankbar aneignen, so mußte er Roth und durchgehends auch Sohm gegenüber an den früher entwickelten Ansichten festhalten. Die größere Schneidigkeit, welche Arbeiten wie die von Sohm in die Untersuchung einführten, veranlaßte ihn nicht, seinen vorsichtigen Standpunkt aufzugeben. Er meinte mit zunehmendem Alter, eher zu bestimmt als zu unbestimmt in seiner Darstellung gewesen zu sein. Was der Geschichtsschreiber durch seine vorsichtige Methode und durch seinen Mangel an sinnlicher Ausdrucksweise an Glanz und Kraft einbüßte, ist der Geschichtswissenschaft zu Gute gekommen; denn ihr mußte zunächst mehr als mit einem zusammenhängenden und glänzenden Geschichtsbilde gedient sein mit einer kritisch gesichteten, vollständigen und wohlgeordneten Feststellung des Thatbestandes historischer Vergangenheit. Damit war die Grundlage geschaffen, auf der sich die nachfolgende Forschung und Darstellung für lange Zeit sicher fortbewegen und ausbilden konnte. Werke solcher Art sind nicht dazu angethan, ihrem Verfasser einen populären Namen zu verschaffen. Kaum über die Kreise der Fachmänner werden sie hinausdringen. In hastigen Zeiten wie den unsern kann sich, wer nicht Historiker oder Rechtshistoriker ist, nicht in ein vierbändiges Werk [624] vertiefen, um die Reichsverfassung vom 9. bis zum 12. Jahrhundert kennen zu lernen. Das frühere Mittelalter und das Thema einer Verfassungsgeschichte lassen zudem keine eingehende Schilderung von Persönlichkeiten zu, deren Auftreten und Eingreifen einem Geschichtswerke erst Leben und Farbe gibt. Aber auch, wo W. wie im Wullenwever oder der Geschichte Schleswig-Holsteins das Gebiet der neueren Geschichte betreten hat, haben ihn mehr als die einzelnen Persönlichkeiten die politischen Bewegungen im Ganzen, der Gang der diplomatischen Unterhandlungen, die Zustände und ihre Entwicklung beschäftigt. Verschiedentlich hat W. geschichtliche Darstellungen für populäre Zwecke unternommen, so in den Deutschen Kaisern von Karl dem Großen bis Maximilian I. (Deutsche Nationalbibl., hrsg. von Ferd. Schmidt, Bd. V., Berlin 1862) und in Göttinger Historikern von Köhler bis Dahlmann (in: Göttinger Professoren, Gotha 1872). Beide, aus Vorträgen, die vor einem größeren Göttinger Publicum gehalten sind, hervorgegangen, gewähren eine vorzügliche Uebersicht, sind aber doch nur dem Leser recht dienlich, der den Stoff bereits kennt. Ihm bieten sie durch die kraftvolle Zusammenfassung der darin verborgen liegenden Studien, durch ihre Kunst, mit wenig Worten viel zu sagen, einen wahren Genuß. Blieb es W. nach der ganzen Art seiner schriftstellerischen Thätigkeit auch versagt, bei einem größeren Publicum Eingang zu gewinnen, so hat er doch innerhalb seiner Wissenschaft nach allen Richtungen hin durch Wort und Schrift anregend gewirkt. Sein weiter Umblick erkannte, was noth that. Konnte er selbst nicht dem Bedürfniß abhelfen, so benutzte er die in seiner Hand befindlichen Mittel andere zu solcher Arbeit zu bestimmen. Lange hatte er sich mit dem Gedanken an eine Geschichte der deutschen Historiographie getragen. 1853 stellte auf seine Veranlassung die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften eine entsprechende Preisaufgabe, die Wattenbach’s Werk eigenthümlich selbständig und zugleich in wissenschaftlich und praktisch so befriedigender Weise löste, daß von 1858 bis 1893 sechs Auflagen des Buches nöthig geworden sind. Die Editionen der Chroniken des Heinrich von Herford und des Hermann Korner, welche die Wedekindstiftung in Göttingen 1859 und 1895 bewerkstelligt hat, sind aus Preisaufgaben hervorgegangen, die von W. gestellt und von ihm selbst durch Handschriftenbeschreibung und andere Quellenuntersuchungen gefördert waren. In den Aufsätzen: Falsche Richtungen und Wie soll man Urkunden ediren? (Histor. Zeitschr. I und IV) berieth er die Mitarbeiter über die zu vermeidenden und die einzuschlagenden Wege geschichtlicher Thätigkeit. W. hat sich zeitlebens viel mit dem historischen Vereinswesen beschäftigt, den über und unter der Erde sich breitmachenden Dilettantismus bekämpft und war deshalb auch von der Germanistenversammlung in Lübeck zum Mitglied einer Commission gewählt, die sich der Reform und einer Organisation der historischen Vereine Deutschlands annehmen sollte. Ist das auch ohne Resultat geblieben, so kann er sich doch des Erfolges rühmen, zur Reorganisation des germanischen Museums in Nürnberg mitgewirkt und dem 1870 begründeten Hansischen Geschichtsverein zu seiner erhöhten Bedeutung verholfen zu haben. Bei der constituirenden Versammlung in Lübeck zu Pfingsten 1871 trat er bei der Berathung der Statuten dafür ein, daß der Verein, der durch Herausgabe einer Zeitschrift und Veranstaltung von Jahresversammlungen zunächst nur eine Vereinigung der hansischen Studien bezweckte, die große Editionsarbeit eines hansischen Urkundenbuches und der Hanserecesse von 1430 ab, bis wohin die Münchener Commission die Herausgabe zu führen beschlossen hatte, auf sich nahm und die städtischen Gemeinwesen, die einst die Hanse gebildet hatten, zu dauernder finanzieller Subvention des Unternehmens zu gewinnen suchte: eine Aufgabe, die nach ihren beiden Seiten hin glücklich gelöst wurde. – Vor allem ist Waitz’ anregende Thätigkeit seinen zahlreichen Schülern zu Gute gekommen. Sie hörten [625] nicht bloß Vorlesungen bei ihm, sie lernten an seinem Beispiele selbständig und fruchtbar arbeiten, das Einzelne und Kleine nicht der genauen Erforschung unwerth achten, aber sich stets des Zusammenhanges mit dem Großen und Ganzen bewußt bleiben. Er war für sie mehr als ihr Lehrer, er war ihr väterlicher Berather, ihr leuchtendes Vorbild. Für wie viele der jungen Männer, die seit Ende der fünfziger Jahre ins Leben hinaustraten, war es entscheidend, daß sie W. kennen gelernt hatten! Er hat sie nicht in den Beruf des öffentlichen Lehrers oder des historischen Schriftstellers gedrängt, nicht einmal zu solchem Lebensweg gerathen, aber die hohe Gesinnung, womit er der Wissenschaft diente, hat sie in dem Berufe, den sie selbst ergriffen, gestählt. Die geschichtliche Wahrheit aus ihren zuverlässigsten Quellen zu schöpfen, nicht im Dienst einer Partei oder einer im voraus feststehenden Tendenz, sondern um ihrer selbst willen: das war, was er lehrte und durch sein Beispiel bethätigte. Allen, die ein ernstes Streben zeigten, hat er sein Interesse gewahrt, weit über die eigentlichen Lehrjahre hinaus ist er ihnen ein treuer Berather geblieben, und viele von ihnen haben seinem Wort keine geringe Förderung auf ihren Wegen zu danken gehabt. Sein Wesen hatte gewiß nichts von dem an sich, was gemeinhin liebenswürdig heißt; er hatte eher etwas zurückhaltendes, kühles und vornehmes, wie es die Natur des Norddeutschen und nicht am wenigsten die des Schleswigholsteiners mit sich bringt. Aber selten ist ein Lehrer von seinen Schülern verehrt und geliebt worden, wie W. Die Lauterkeit seines ganzen Wesens, die Zuverlässigkeit seines Charakters, die Ueberzeugung, daß er, unbeirrt durch persönliche Rücksichten oder gar egoistische Motive, rein sachlich urtheile, die Theilnahme, die er jedem der vielen widmete, gewannen die jugendlichen Herzen alle, wie seine Lehren ihren Geist. Wenn Fr. Kohlrausch von Waitzens Berufung nach Göttingen eine gesunde erhebende Einwirkung auf die Studirenden erwartet und seine Hoffnung nicht auf den Gelehrten allein, sondern namentlich auf den Menschen gesetzt hatte, so hat sich diese Hoffnung vollauf erfüllt. Es war die Verbindung von Lehre und Leben, was ihm so großen Einfluß auf seine Schüler, so hohe Achtung und Verehrung bei allen, die ihm näher traten, verschaffte. Wissenschaft und Leben standen bei ihm in untrennbarem Zusammenhang. Von dem Studium der Geschichte erhoffte er nicht bloß Mehrung der Kenntnisse, sondern auch eine Sicherung und Stärkung des Charakters. Eine lebendige Kenntniß der Vergangenheit sollte fähig machen zur unbefangenen Würdigung der Gegenwart. Er hat nichts so sehr bekämpft, als die Vergangenheit an dem Maßstabe der Gegenwart zu messen, aber nichts so sehr erstrebt, als die Erkenntniß der Vergangenheit zum Verständniß der Gegenwart zu verwerthen. Kein Theil der Geschichte mußte dazu so geeignet sein wie die der staatlichen Verhältnisse. Auf sie, die Verfassungsgeschichte, eine Disciplin, als deren Schöpfer er angesehen werden darf, gründete er eine Politik, für die er den Ehrennamen der historischen in Anspruch nahm. Alle seine Vorlesungen hatten die deutsche Geschichte zum Mittelpunkte. Ihr diente er mit allen Kräften, weil sie eben die vaterländische war. In Schleswig, unter dänischer Herrschaft geboren, hat er nie ein anderes Bewußtsein gehabt, als daß Deutschland sein Vaterland sei. Er hat oft von den Bewohnern der Grenze gesprochen, wie sich unter ihnen wol die Nationalität am schärfsten auspräge. Er war selbst ein Beispiel dafür; einen bessern Deutschen als ihn konnte es nicht geben. Als um sein Heimathland mit den Waffen gekämpft wurde, war es dem patriotischen Manne Bedürfniß, sich mit der Darstellung seiner Geschichte zu beschäftigen. Er hat dabei durch die That sein eigenes Wort bewährt, daß es der Beruf der Historie sei, der vaterländischen Gesinnung und dem wissenschaftlichen Ernst genug zu thun. Die Zeit, da er sich an der praktischen Politik betheiligt hatte, mochte er [626] in seinem Leben nicht missen, so bereitwillig er auch ihre Irrthümer eingestand. „Es war ein schöner Traum, binnen wenigen Frühlingsmonaten Einheit und Freiheit Deutschlands begründen zu können, eine vermessene Hoffnung, Deutschland werde, wenn in den Strudel der Revolution hereingezogen, wie aus einem Bade frisch und gekräftigt hervorgehen. Das Scheitern der Bewegung war aber nicht nur ein Unglück, sondern auch eine Schuld, und diese mußte gesühnt werden.“ Er schämte sich nicht durch die Ereignisse und die in ihnen gemachten Erfahrungen belehrt zu sein, verzichtete aber auf die Kunst derer, die das am meisten schmähen, wofür sie früher am eifrigsten gewirkt haben, und so unhistorisch sind, die später gewonnene Einsicht in frühere Perioden zurückzuversetzen. Mit dem Schmerz und der Enttäuschung eines Deutschen aus Schleswig hatte er die Zeit seit 1849 durchlebt, aber sich durch ihre Erfahrungen nicht verbittern noch in seinen Grundzügen wankend machen lassen. Seiner Anhänglichkeit an die constitutionelle oder, wie er lieber sagte, die verfassungsmäßige Monarchie gibt der Aufsatz der Preußischen Jahrbücher: über das Königthum und die verfassungsmäßige Ordnung (1858), in den Grundzügen der Politik wiederholt, Ausdruck. In dem Zusammenwirken von König und Volk erblickt er den großen durch die Germanen in die Geschichte eingeführten Staatsgedanken, in seiner Verbreitung ihre historische Mission. Dies erkannt zu haben, preist er als das Verdienst Montesquieu’s, mochte ihn auch die beschränkte Unwissenheit moderner angeblicher Staatsmänner schmähen. Den Gedanken verfolgt er von den Zeiten des Tacitus durch die Wandelungen der Geschichte bis zu dem constitutionellen Königthum der Gegenwart, dessen Entstellungen von Rechts und von Links her er freimüthig bekämpft. Er unterschrieb nicht den Ausspruch Jacob Grimm’s, den er in der Gedächtnißrede auf ihn (1863) mittheilte: je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich. Wenigstens den Hauptsatz in dem Credo der Demokraten, das allgemeine Wahlrecht, hat er, wie sein Aufsatz: über die Bildung einer Volksvertretung in dem von A. von Haxthausen veranlaßten Werke: das constitutionelle Princip (1864) zeigt, nach wie vor als den gefährlichsten Feind aller Freiheit und Ordnung, auch der socialen, da es die niedere Handarbeit zum ausschlaggebenden Element im Staate erhebt, angesehen, und die modernen Erfahrungen waren nicht geeignet, ihn davon zurückzubringen.

Wer das Leben, das W. selbst in aller Schlichtheit und Reichhaltigkeit bis 1862 geschildert hat, überblickt, ist überrascht von seinem consequenten Verlauf. Das Ziel, das sich der Schüler gesetzt, verfolgt der Jüngling, erreicht der Mann unbeirrt. Und als er es erreicht, ist es ihm immer nur ein Antrieb zu neuer, erfolgreicher Thätigkeit. Er kennt kein Ausruhen, kein Nachlassen in der Arbeit. Und wie seine Thätigkeit nie ermattet, so bleibt sich auch seine Gewissenhaftigkeit stets gleich. Wo er Hand anlegt, geht er gründlich zu Werke und führt das Begonnene mit Energie durch. Maßvoll im Urtheil, ist er entschieden im Thun. Die Eigenschaften, die schon den Jüngling auszeichnen, bleiben ihm durch alle Lebensstadien, wie die mikroscopischen Züge der Handschrift des Dreißigjährigen dieselben sind wie die des Siebzigjährigen. „Man soll es mir einst in meiner Lebensgeschichte als ein Verdienst anrechnen, daß ich dazu beigetragen habe, eine Kraft wie die Ihre für das Studium der Geschichte zu entscheiden“, schrieb ihm Ranke schon im J. 1844. Von der Verehrung für Ranke war sein ganzes Leben durchzogen. Alle Auflagen seines Hauptwerkes hat er ihm gewidmet. Seitdem sie in dem Ernst der Studien sich gefunden, sind beide immer in Berührung geblieben, lange in brieflichem Verkehr, dann auch im mündlichen Gedankenaustausch, wie ihn das alljährliche Zusammentreffen in München brachte, endlich auch wieder im Zusammenleben an demselben Orte, an dem Ausgangspunkte. Kein Lob hat W. so sehr erfreut als der Ausspruch Ranke’s: Ihre Schüler sind auch [627] meine Schüler, und es war eine Gabe gewiß ganz in seinem Sinne, als ihm seine Schüler bei der Feier des 25jährigen Bestehens der Uebungen im August 1874 die von Drake’s Hand geschaffene Marmorbüste Ranke’s überreichten. Als ob selbst der Tod die Verbindung der beiden Männer nicht zerreißen mochte, sanken sie fast gleichzeitig auf das Krankenlager. „Was macht denn der treue Waitz?“ war eine der letzten Aeußerungen Ranke’s. Nur um einen Tag getrennt starben sie. Wol konnte Ranke das Herz höher schlagen, wenn er Schüler wie die seinen um sich sah. Als ihm Sybel und W. 1877 bei seinem sechzigjährigen Doctorjubiläum gratulirten, vermißte er nur Giesebrecht, um seine Gloire als Lehrer vollständig zu machen. Sie und die übrigen Schüler galten ihm als seine litterarische Familie. Er hat es beinah übel empfunden, daß unmittelbar nach Waitzens Verfassungsgeschichte Sybel mit seiner Entstehung des Königthums hervortrat und gemeint, Concurrenzen dieser Art müßten künftig vermieden werden. Verbindungen gleich segensreicher Art sind selten in der deutschen Litteratur; denn diese war frei von jeder Kameraderie. Bei aller Freundschaft und persönlichen Anhänglichkeit wie verschieden in den wichtigsten Dingen waren der Lehrer und die Schüler und die Schüler unter einander! In Wissenschaft und Leben haben sie oft genug mit einander gekämpft. Bei aller Bewunderung Ranke’s und seines tiefen Eindringens in das geschichtliche Leben aller Zeiten und Völker war W. doch keineswegs gemeint, sein Urtheil gefangen zu geben und seiner diplomatisch-historischen Methode zu unterwerfen. Er sah in der Rankischen Geschichtsschreibung nicht das Höchste und Letzte, was sich erreichen lasse. Dahlmann’s Eingreifen in die moderne Geschichtswissenschaft ergänzt ihm, was Ranke geleistet, und bereitwillig erkennt er die Leistungn der modernen politisch-nationalen Geschichtsschreibung, die auf Dahlmann’s Anregung zurückgeht, an, wenn er auch nicht blind ist gegen die Gefahren, die bei falscher Anwendung der Vorzüge jener Richtung entstehen können. An einem Hause Göttingens erinnern die Marmortafeln an Dahlmann und an W. Zweimal war W. der Nachfolger Dahlmann’s auf dem Lehrstuhle der Geschichte, in Kiel und in Göttingen. Dahlmann näher getreten zu sein, rechnete er zu seinen werthvollsten Lebenserinnerungen. Zwischen dem persönlichen und dem litterarischen Wirken der beiden Männer lassen sich mancherlei naheliegende Parallelen ziehen. Was sie verbindet, ist vor allem die gemeindeutsche Richtung, wie sie Ranke einmal genannt hat, der nationale Sinn, das Betonen von Recht und Moral in der Beurtheilung historisch-politischer Vorgänge, wie sie bei W. in Aufsätzen über die Theilung Polens hervortritt (Histor. Ztschr. III und VI), die die Geschichtsschreiber mahnen, über der von Friedrich dem Großen mit erschreckender Offenheit dargelegten Staatsraison die Rücksichten des Rechts nicht zu vergessen. Aber neben den Berührungspunkten zwischen W. und Dahlmann gibt es genug, was sie trennt. Man braucht bloß eine Seite von Dahlmann und von W. neben einander zu lesen, um des Gegensatzes zwischen diesen Naturen inne zu werden und zugleich zu erkennen, was W. wiederum Ranke annähert. Diese Stellung von Waitz zwischen Ranke und Dahlmann ist nicht das Resultat einer schwächlichen Vermittlung, sondern die natürliche Folge seiner ganzen Entwicklung und der vollen Selbständigkeit seines Wesens. Auch den Koryphäen der Wissenschaft gegenüber hat er sie zu wahren gewußt, wo er sie auf irrigen Wegen glaubte. Sein Auftreten gegen Jacob Grimm’s Hypothese von der Identität der Geten und Gothen (Verf.-Gesch. Bd. II) und die allgemeine Bemerkung, die er in der Gedächtnißrede auf J. Grimm über dessen historische Untersuchungsweise macht, sind ein Zeugniß dafür. Es ist der Geist vollster wissenschaftlicher Unparteilichkeit, der ihn leitet. Objectiv, ohne Voreingenommenheit steht er den Quellen wie den Forschungen und Darstellungen der Zeitgenossen gegenüber. Die Verwunderung Böhmer’s über [628] die edelgesinnten Preisrichter, die seine Regesten es nicht entgelten ließen, daß sie an mancher seiner Ansichten Anstoß nehmen mußten, und sie mit dem Preise der Wedekindstiftung krönten, ist bezeichnender für den Gekrönten als für die Richter. In dem zu Anfang der sechziger Jahre zwischen Ficker und Sybel geführten Streite über die Bedeutung des Kaiserthums für die deutsche Staatsentwicklung stimmte er weder mit Ficker’s Verherrlichung des Kaiserthums noch mit Sybel’s Verurtheilung. Er forderte vor allem, die historische Wissenschaft unbeirrt von den Stimmungen und Wünschen der Gegenwart zu erhalten. Der Erfolg, in dem Sybel den alleinigen Maßstab für die Beurtheilung geschichtlicher Verhaltnisse erblickt, könne nicht das sittliche Urtheil und auch nicht allein das politische Urtheil bestimmen. Eine Ansicht, die ein Institut von großer eigenthümlicher Bedeutung kurzweg verdammt und für alles Ungünstige im politischen Leben der Nation verantwortlich macht, erschien ihm geradezu trostlos. Daß aber alles Streben nach Unparteilichkeit gegenüber der Verblendung vergeblich ist, hat W. selbst erfahren, wenn er von ultramontaner Seite als preußischer Geschichtsmonopolist verketzert und der einseitigsten Parteitendenz in unverhülltester Form beschuldigt worden ist – und zwar auf Grund seiner Quellenkunde, eines Verzeichnisses von Quellenangaben und Büchertiteln. Mag es auch ein Zufall gewesen sein, daß Waitz’ erste wissenschaftliche Arbeit König Heinrich I. galt. Er hätte keinen würdigeren, ansprechenderen Ausgangspunkt finden können. Zu ihm ist er wiederholt zurückgekehrt, noch zuletzt in dem Jahre vor seinem Tode. In der früher erwähnten Adresse an Kaiser Wilhelm I. ging W. aus von der durch die Umgebung Göttingens nahegelegten Erinnerung an den Herrscher sächsischen Stammes, der das Königthum zuerst in wahrhaft nationaler Weise begründete. Von dem besonnenen, gemäßigten, klaren Wesen des Königs, das sich feste Ziele steckt und mit Umsicht und Aufwand aller Kraft verfolgt: davon war auch etwas in seines Geschichtsschreibers Persönlichkeit nach ihrer wissenschaftlichen wie nach ihrer menschlichen Seite. Man darf von diesem Leben mit dem Wunsche scheiden, den einer seiner Schüler bei seinem Tode äußerte: mögen die wissenschaftlichen Tugenden und die, die den Menschen zierten, zum Heile der idealen Bildung forterben!

Die Grundlage bildet neben der hinter der Doctordissertation befindlichen Vita die bis 1862 reichende Selbstbiographie, die W. der oben S. 624 angeführten Schrift: „Deutsche Kaiser“ vorangestellt hat. Einiges in den beiden Flugschriften: über den Frieden mit Dänemark. Alberti, Lexikon d. schleswig-holst. Schriftsteller II, 526 u. Forts. II, 530. E. Steindorff, bibliograph. Uebersicht über G Waitz’ Werke etc. (Gött. 1886). Nekrologe von Waitz’ Schülern: v. Bippen, Weserztg. v. 30. Mai 1886. Ermisch, wiss. Beil. der Lpz. Ztg. 1886 Nr. 45. Frensdorff, Vortrag b. d. Vers. des Hansischen Gesch.-Vereins z. Quedlinburg am 15. Juni 1886 (Hans. Gesch.-Bl. XIV). Grauert, Histor. Jahrb. d. Görres-Gesellschaft VIII (Münch. 1886), S. 48. Kluckhohn, Allgm. Ztg. 1886 Oct. 2 u. ff. Nr. 273, 275, 293, 298, aufgenommen in Kluckhohn’s Vorträge u. Aufsätze (1894). G. Monod, Georges Waitz in: A la mémoire de Mr. le prof. G. W. Hommage respectueux de ses anciens élèves Gabriel Monod et Marcel Thévenin (Paris 1886). Alfred Stern, die Nation, Jg. 3, Nr. 37; ders. Gedächtnißrede auf Ranke u. Waitz. Zürich 1887; L. Weiland, Rede, gehalten am 4. Dec. 1886 (Abhdlgn. der Götting. Ges. der Wiss., Bd. XXXIII). Nachrufe v. Freunden, Collegen u. a.: H. v. Sybel, Köln. Ztg. v. 26. Mai 1886. Nr. 145 (wieder abgedr. in Histor. Ztschr. N. F. XX, 482). Wattenbach, Gedächtnißrede auf W. (Abhdlgn. der Berl. Akad. 1886, gelesen am 1. Juli). Giesebrecht, Histor. Zeitschr. 1887, N. F. XXII, 184 (wiederholt Forschgn. XXVI, 660); Sitzungsber. der Münchener Akad. 1887, S. 277. G. Blondel in Nouv. revue histor. de droit français et étranger X (Paris 1886), p. 441. Carstens [629] in Zeitschr. der Gesellsch. f. schlesw.-holst.-lauenb. Gesch. XVII (Kiel 1887), S. 367.
Zur Gesch. der Familie: Strieder, Hessisches Gelehrtenlexikon XIV. – Berliner Studienzeit: Giesebrecht, Erinnerungen an Köpke (Raumer-Riehl, Histor. Taschenbuch 1872). Vahlen, Lachmann’s Briefe an M. Haupt (1892), S. 13. – Hannover; Beziehgn. zu Pertz: Dümmler, Waitz und Pertz (N. Archiv XIX [1894], S. 271). Kohlrausch, Erinnerungen a. meinem Leben (Hannov. 1863), S. 317, 325. Ippel, Briefw. zw. Grimm, Dahlmann, Gervinus I 294, 303, 350, 461. – Kiel: (Plitt), Aus Schelling’s Leben III (1870), S. 175 ff. Schleiden, Erinnerungen e. Schlesw.-Holsteiners I (1890), 158, 181, 239; II (1891), 24. – Frankfurt: Die Schriften über das deutsche Parlament. (R. Mohl) deutsche Vierteljahrsschr. 1850, Heft 2, 21. Rümelin, aus der Paulskirche (Stuttg. 1892), S. 12. Springer, Dahlmann II, 295, 335. – Göttingen, die histor. Uebungen: G. Waitz, die histor. Uebungen zu Göttingen. Göttingen 1867. Die Jubelfeier der histor. Uebgn. zu Göttingen am 1. Aug. 1874 (als Msc. gedruckt). Koppmann, Herm. Hildebrand (Mitthlgn. aus d. Gesch. Livlands etc. XIV [Riga 1890], S. 502.) Frensdorff, Ludw. Weiland (Hans. Gesch.-Bl., Jg. 1894, III). – Berlin, Die Direction der Monumenta: Waitz, Pertz und die Monumenta (N. Archiv II, 175). Wattenbach, O. Lorenz und G. Waitz (das. XIII). Weiland, Quellenedition und Schriftstellerkritik (Histor. Zeitschr., N. F. XXII, 310). Holder-Egger, Die Mon. Germ. u. ihr neuster Kritiker. Hannover 1888. Elisabeth Pauli, R. Pauli (Halle 1895), S. 316 ff. – Ranke, Sämmtl. Werke LIII, 326, 429, 492, 502, 644 ff. Janssen, Böhmer’s Leben I, 306; II, 447; III, 174. (H. v. Treitschke), Liter. Centralbl. 1863, S. 33. Mitthlg. über die oben S. 620 u. erwähnte Adresse v. Geh. Rath. Prof. Haym in Halle. – R. v. Raumer, Gesch. d. germ. Philol., S. 639. – v. Wegele, Gesch. d. deutschen Historiographie, S. 1057. – Bluntschli, Gesch. d. allg. Staatsr. S. 584. – Acten des Gött. Univ. Curatoriums. – Eigene Erinnerungen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Im Original Druckfehler Continuiät.